VALENTIN TOMBERG - DIE GROSSEN ARCANA DES TAROT - Band 2

download VALENTIN TOMBERG - DIE GROSSEN ARCANA DES TAROT - Band 2

of 176

description

2. Band:8. Brief – Die Gerechtigkeit – Das Arcanum des Gleichgewichts;9. Brief - Der Eremit – Das Arcanum des Gewissens;10. Brief – Das Schicksalsrad – Das Arcanum der gefallenen Natur;11. Brief - Die Kraft - Das Arcanum der Jungfrau;12. Brief - Der Aufgehängte - Das Arcanum des Glaubens

Transcript of VALENTIN TOMBERG - DIE GROSSEN ARCANA DES TAROT - Band 2

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    195

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    196

    Achter Brief

    DIE GERECHTIGKEITDas Arcanum des Gleichgewichts

    Mikro- und makrokosmisches Gleichgewicht Das Gesetz WirklichkeitGottes und Abstraktionen von Gott Das 1. Gebot Intuition Billigkeit Richtet nicht! Berechtigtes Urteilen und Entscheiden Quantitt undQualitt Die ewige Hlle Die Inkarnation Christi Griechen und Juden,Realisten und Nominalisten Die drei Motive des Strebens nach Wissen ber die katholische Kirche Hermetik und Kirche Hermetik undWissenschaft Jesus Christus und der Logos.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    197

    DIE GERECHTIGKEIT

    Das Arcanum des Gleichgewichts

    Der Sohn und der Geist, das ist alles,was uns zugebilligt ist.Was die absolute Einheit oder den Vater angeht,so hat ihn niemand in dieser Welt sehen knnen,noch wird er ihn sehen, es sei denn in der Achtheit,die tatschlich der einzige Weg ist,auf dem man bis zu ihm gelangen kann.

    Saint-Martin

    Quis custodiat custodes wer berwacht die Bewacher?(Grundlegendes Problem der Jurisprudenz)

    Lieber Unbekannter Freund,

    das siebte Arcanum lehrte uns, wie das innere Gleichgewicht erreicht wird: dasachte lehrte uns, wie dieses Gleichgewicht, einmal erreicht, bewahrt wird, unddas neunte schlielich zeigt uns die Methode oder den Weg, der sich demerffnet, der es verstanden hat, das Gleichgewicht zu erreichen und zubewahren. Mit anderen Worten: Das siebte Arcanum sagt uns, wie dasGleichgewicht (oder die Gesundheit) zu erreichen ist; das achte Arcanum zeigtuns den Mechanismus des mikro- und makrokosmischen Gleichgewichts; dasneunte Arcanum lehrt uns den Weg des Friedens oder den mittleren Wegder ausgewogenen spirituellen Entwicklung, der der Hermetik, aufgefat alsSynthese von Mystik, Gnosis, Magie und Wissenschaft, eigen ist.

    Das Kartenbild des achten Arcanums zeigt eine zwischen zwei Sulenauf einem gelben Stuhl sitzende Frau in einer roten Tunika, die von einemblauen Mantel bedeckt ist. In ihren Hnden hlt sie ein gelbes Schwert undeine gelbe Waage. Ihr Haupt trgt eine dreiteilige, von einer Kroneberragte Tiara.

    Das Ganze ruft die Idee des Gesetzes hervor, das hineingestellt istzwischen die freie Handlung des individuellen Willens und die Essenz desSeins selbst. Der Mensch kann aus freiem Willen handeln das Gesetzreagiert auf seine Handlung mit sichtbaren und unsichtbaren Wirkungen.Hinter dieser Reaktion aber stehen Abgrund und Tiefe der letztenWirklichkeit, des ens realissimum, des Thomas von Aquin, welche denReaktionen des Gesetzes Universalitt, Regelmigkeit undUnabnderlichkeit verleiht. Das Gesetz ist zwischen die Freiheit desMenschen und die Freiheit Gottes gesetzt.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    198

    Es hat seinen Sitz zwischen zwei Sulen: der des Willens (Jakin) und derder Vorsehung (Boas). Es handelt nicht, es reagiert nur. Deshalb ist esdurch eine Frau dargestellt und nicht durch einen Mann. Die Krone, die dieFrau trgt, weist darauf hin, da sie ihre Wrde und Aufgabe von obenerhlt, vom hchsten Wesen, von der Vorsehung. Die Waage und dasSchwert, die sie in Hnden hlt, weisen hin auf das, was sie htet (dasGleichgewicht) und wie sie es htet (Sanktion des Gleichgewichts) imBereich der freien individuellen Willen. So spricht sie:

    Ich sitze auf dem Richterstuhl, der zwischen den individuellen Willender Wesen und dem universalen Willen des Seins steht. Ich bin die Hterindes Gleichgewichtes zwischen dem Individuellen und dem Universalen.Ich habe die Macht, es jedesmal wiederherzustellen, wenn es verletzt ist.Ich bin die Ordnung, die Gesundheit, die Harmonie, die Gerechtigkeit.

    Die Waage weist auf das Gleichgewicht oder die Ordnung, Gesundheit,Harmonie und Gerechtigkeit hin, und das Schwert bedeutet die Macht, esjedesmal wiederherzustellen, wenn der individuelle Wille wider denuniversalen Willen sndigt.

    Das ist der allgemeine Sinn des Kartenbildes, der gleich zu Anfang derMeditation ber das achte Arcanum gleichsam ins Auge springt. Indessen istder allgemeine Sinn obwohl viele ihn als Ziel ihrerErkenntnisanstrengungen betrachten nur das Vorzimmer zum hermetischenSinn. Denn dieser findet sich nicht in der Allgemeinheit, welche man durch denProze der Abstraktion erhalten hat, sondern vielmehr in der Tiefe, die mandurch die Methode des Eindringens erlangt. Die allgemeinen, auf demWege der Abstraktion erhaltenen Antworten sind in Wirklichkeit nurFragen oder gestellte Aufgaben zum tieferen Eindringen. Denn je abstraktereine allgemeine Idee ist, desto oberflchlicher ist sie. Die allgemeinste undabstrakteste Idee in der Philosophie ist die des Absoluten (z. B. bei Hegel);aber sie ist zugleich auch die oberflchlichste der Welt. Indern sie allesbedeutet, drckt sie nichts aus. Sie knnen wohl sterben und ebenso leben fr Gott; aber Sie werden niemals als Mrtyrer fr das Absolute sterben.Denn sterben fr das Absolute luft darauf hinaus, fr nichts zu sterben.Die Idee des Absoluten ist der Schatten der Schatten, whrend der lebendigeGott das Urbild der Urbilder ist. Urbild der Urbilder, das will sagen: derallumfassende Vater.

    Eine der Bedeutungen des ersten Gebotes:Du sollst keine anderen Gtter haben als mich (Ex 20, 3)

    ist, da man nicht an die Stelle der geistigen Wirklichkeit Gottes dieintellektuelle Abstraktion von Gott setzen darf. Man sndigt also gegen daserste Gebot, wenn man anstelle des feurigen, leuchtenden und von Lebenvibrierenden Allwesens das Prinzip oder die abstrakte Idee setzt, sei

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    199

    es als erste Ursache (causa prima), sei es als das Absolute, die inWahrheit nur verstandesmig zurechtgeschnittene Bilder oder geistigeGtzenbilder sind, welche der menschliche Intellekt geschaffen hat.

    Sndigen also auch wir nicht gegen das erste Gebot, und setzen wir nicht an dieStelle der Gerechtigkeit verstandesmig zurechtgeschnittene Bilder von ihroder abstrakte Ideen. Vertreten wir andererseits aber auch nicht die Sacheder intellektuellen Bilderstrmer, die in jeder begrifflichen Vorstellung undjeder abstrakten Idee nur Gtzenbilder sehen wollen. Denn alle Begriffe und alleabstrakten Ideen knnen Ikonen oder heilige Bilder werden, wenn man sie nichtals Ende betrachtet, sondern als Anfang des Weges der Erkenntnis derspirituellen Wirklichkeit. Hypothesen spielen im Bereich des intellektuellenLebens nicht die Rolle von Gtzenbildern, sondern vielmehr von heiligen Bildern.Denn niemand nimmt eine Hypothese als absolute Wahrheit an, ebenso wieniemand ein heiliges Bild als absolute Wirklichkeit anbetet. Trotzdem sindHypothesen darin fruchtbar, da sie uns zur Wahrheit fhren, indem sie uns inder Gesamtheit unserer Erfahrung leiten ebenso wie auch die Ikonen oderheiligen Bilder befruchtend sind, indem sie uns zur Erfahrung derspirituellen Wirklichkeit fhren, die sie reprsentieren. Eine Ikone ist derAnfang des Weges zur geistigen Realitt; sie ersetzt sie nicht wie imGtzendienst , sondern gibt den Impuls und die Richtung zu ihr. Ebensoersetzen begriffliche Vorstellung und abstrakte Idee nicht die spirituelleWahrheit, sondern geben vielmehr den Impuls und die Richtung zu ihr.Vermeiden wir also die Scylla und Charybdis von Gtzendienst undintellektuellem Ikonoklasmus, und nehmen wir abstrakte Ideen alsHypothesen, die zur Wahrheit fhren, und Bilder oder Symbole als unsere Fhrerzur Wirklichkeit. Begehen wir also nicht den Irrtum, ein Symbolerklren zu wollen, indem wir es zurckfhren auf einige allgemeineabstrakte Ideen, oder den Irrtum, eine abstrakte Idee konkretisieren zuwollen, indem wir sie in eine Allegorie einkleiden, sondern suchen wir diepraktische spirituelle Erfahrung der Wahrheit und der Wirklichkeit mittelsabstrakter Ideen und konkreter Bilder. Denn der Tarot ist ein System oderOrganismus von spirituellen bungen; er ist in erster Linie praktisch. Wenn eres nicht wre, wrde es kaum der Mhe lohnen, sich mit ihm zu beschftigen.

    Nehmen wir also das Arcanum Die Gerechtigkeit als Aufforderung zurBemhung unseres Bewutseins in der Intention, die Wirklichkeit zu erfahren,welche dieses Arcanum darstellt, und die Wahrheit zu verstehen, die esausdrckt. Zunchst ist es ntig, darauf hinzuweisen, da die Wirklichkeitund die Wahrheit der Gerechtigkeit sich im Bereich des Urteils offenbaren.Denn in irgendeiner Sache ein Urteil zu fllen kommt auf das Bestreben hinaus,die Gerechtigkeit zu finden. Nicht nur die Richter an den Gerichtshfenurteilen; jedermann urteilt, soweit er denkt. Wir alle, insofern wir denkendeWesen sind, sind Richter. Denn jedes Problem, jede Frage, die wir zu lsenversuchen, gibt in Wirklichkeit Anla fr eine Sitzung unseres innerenTribunals, wo die Fr und Wider gegenbergestellt und erwogen werden,

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    200

    bevor das Urteil gefllt wird. Wir alle sind Richter, gute oder schlechte, aberwir sind es, und wir ben das Richteramt fast unaufhrlich aus vom Morgenbis zum Abend. Das Gebot: Richtet nicht! kme also darauf hinaus, auf dasDenken zu verzichten. Denn denken ist richten. Wahr und falsch,schn und hlich, gut und schlecht sind Urteile, die wir desfteren am Tage fllen. Jedoch: eine Sache ist richten, eine andereverurteilen. Man richtet Phnomene und Handlungen, aber man kann nichtdie Wesen als solche richten, denn dies wrde die Richtkompetenz desurteilenden Denkens berschreiten. Man soll also nicht die Wesen richten, weilsie fr das richtende Urteil des Denkens unzugnglich sind, das nur auf diephnomenale Erfahrung gegrndet ist. So ist das negative Richten ber dieWesen oder deren Verurteilung in Wirklichkeit nicht mglich, und in diesemSinne hat man das christliche Gebot zu verstehen: Richtet nicht! d. h.richtet nicht die Wesen, verurteilt nicht! Denn wer verurteilt, mat sich ein Amtan, zu dem er unfhig ist. Er lgt, wenn er ein Urteil als Wahrheit undWirklichkeit hinstellt, das jeder Grundlage entbehrt. Man kann also wohl zuseinem Nchsten sagen: Du handelst wie ein Verrckter! Wer aber zu ihmsagen wrde: Du bist verrckt!, verdient bestraft zu werden mit dem Feuerder Hlle (Mt 5, 22).

    Man mu also wissen, was man wirklich wei und wessen man unkundigist, wenn man ein Urteil fllt. Man kennt nie das numenale Wesen des anderenoder seine Seele.

    Darum erstreckt sich kein menschliches Urteil oder Gericht auf die Seele.Und die Intuition? Bedeutet sie nichts? Gewi, sie existiert und sie bedeutet

    sehr wohl etwas. Allerdings klagt die Intuition niemals an, weil sie eineForm der Wahrnehmung ist, welche aus der Sympathie und der Liebehervorgeht. Sie spielt immer die Rolle der Verteidigung, des Anwalts. Da siedie Seele der Wesen wahrnimmt, sieht sie nur das Ebenbild Gottes in ihnen.Indem sie dieses sieht und wei, da die Seele des Snders immer das ersteOpfer aller Snden und Verbrechen ist, welche er begehen knnte, kann dieIntuition keine andere Rolle spielen als die des Anwalts. Der Ausspruch allesverstehen, heit alles verzeihen bezieht sich auf das innere Verstndnis, d.h. das intuitive, und nicht auf das uere oder das phnomenale unddiskursive Verstndnis. Die erschtternde Formel fr die Rolle der Intuitionbei der Ausbung der Gerechtigkeit ist uns in der Bitte des gekreuzigtenMeisters gegeben:

    Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. (Lk 23, 34).Diese Worte weisen auf drei Tatsachen hin:

    1. Was sie tun, ist unter phnomenalem Gesichtspunkt verbrecherisch;2. das Urteil ist an den Vater bergeben;3. dies wird begleitet vom Pldoyer: Vergib ihnen, das gegrndet ist auf

    die durch intuitive Wahrnehmung erlangte Gewiheit, da sie nicht wissen,was sie tun.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    201

    Dank der Anerkennung der Rolle der Intuition der Vernunft, die sich vonder Erforschung und Feststellung der Tatsachen durch den Verstandunterscheidet, wurde dessen strikte Gerechtigkeit in der Jurisprudenz derLnder, die die Grundstze des rmischen und angelschsischen Rechtsangenommen haben, ergnzt durch die Billigkeit (aequitas).

    Das strikte Recht wird durch den Verstand gefunden, wenn er dieTatsachen mit dem geltenden Gesetz verglichen hat. Die Billigkeit ist das, wasdie Vernunft am strikten Recht zu modifizieren fr notwendig befindet,nachdem sie es mit ihrer intuitiven Wahrnehmung des menschlichen Wesensverglichen hat, dessen Schicksal auf dem Spiel steht. Um der Billigkeit oderdem intuitiven Urteil der Vernunft Geltung zu verschaffen, wurde in derRechtsprechung der christlichen Zivilisation das Geschworenengerichteingefhrt. Vor dem Christentum gab es kein Geschworenengericht. Weder dieFrau des Pilatus noch die

    groe Menge des Volkes und Frauen, die ihn beweinten und beklagten(Lk 23,27),

    hatten Stimme im Tribunal des Pilatus. Die damalige Jury konnte nurweinen (wie die Frauen von Jerusalem) oder sich im geheimen mit dem Richterbesprechen (wie die Frau des Pilatus). Damals weinte die Billigkeit in denStraen von Jerusalem, und die Intuition der Vernunft flsterte Warnungenin das Ohr des Pilatus durch den Mund seiner Frau. Die Abwesenheit derGeschworenen als gerichtliches Organ der Billigkeit aber war es, die denRichter Pilatus ntigte, zu einer in der Justiz ungeheuerlichen Handlung seineZuflucht zu nehmen, nmlich auf sein Richteramt zu verzichten und es auf denAnklger zu bertragen, indem er seine Hnde wusch.

    Nun wird Gerechtigkeit nur in dem Falle gebt, wenn alle zur Sachegehrigen Tatsachen fr und wider den Angeklagten durch den Verstandfestgestellt, erwogen und errtert und sodann dem Urteil der Vernunftbergeben werden. Die drei Aufgaben der Justiz: Untersuchung, Verhandlungund Entscheidung entsprechen den drei Stufen des Erkennens demhypothetischen, argumentierenden und intuitiven die Platon als (doxa)oder hypothetische Meinung, (dianoia) oder auf Argumentenaufgebauter Schlu und (epistm) oder intuitiveWahrnehmung bezeichnet. In der Tat, die von der Untersuchung festgestelltenund aufgefhrten Fakten bilden fr Anklage und Verteidigung die Grundlageihrer Hypothesen schuldig bzw. nicht schuldig. Die anschlieendeVerhandlung verfolgt das Ziel, zu einem begrndeten Schlu aufgrund derzugunsten der einen oder der anderen Hypothese vorgebrachten Argumente zugelangen. Die von der Jury gefllte Entscheidung ist grundstzlich als Ergebnisder Bemhung des Bewutseins zu verstehen, sich ber den bloen Anscheinder Tatsachen und den Formalismus der logischen Argumentation zu erhebenzu einer intuitiven Wahrnehmung des Sachverhalts vom rein menschlichenStandpunkt aus. Die Billigkeit hat also das letzte Wort.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    202

    Man kann daher sagen, da der Vorgang des Ausbens der menschlichenGerechtigkeit in der vereinten Anstrengung aller drei Erkenntnisvermgen desmenschlichen Wesens besteht: der Fhigkeit, Hypothesen zu bilden auf derGrundlage der durch die Sinne gelieferten Fakten (doxa), der Fhigkeit zulogischer Argumentation oder zum intellektuellen Erwgen des Fr und Widerdieser Hypothesen (dianoia) und schlielich der Fhigkeit der Intuition(epistm).

    Nun ist die Struktur der menschlichen gerechten Gerechtigkeit nur einEbenbild oder eine Analogie der Struktur der kosmischen gttlichenGerechtigkeit und kann es nur sein. Die jdische Kabbala hebt dies klarerhervor als irgendeine andere traditionelle Strmung, die mir bekannt ist.

    In der Kabbala besteht das System, das Baum der Sephiroth genanntwird, aus drei Sulen: die rechte, linke und mittlere. Die rechte Suleoder die der Barmherzigkeit umfat die Sephiroth Chochmah (Weisheit),Chesed oder Gedullah (Gnade, Mitleid und Herrlichkeit bzw. Majestt) undNezach (Sieg oder Triumph). Die linke Sule oder die der Strenge wirdgebildet von den Sephiroth Binah (Intelligenz), Geburah oder Pahad (Strengeund Furcht) und Hod (Ruhm oder Ehre). Die Sephiroth der mittleren Sulesind Kether (Krone), Tiphereth (Schnheit), Jesod (Fundament) und Malkuth(Knigreich oder Reich).

    Die rechte Sule wird oft bezeichnet als Sule der Gnade oder desErbarmens, whrend die linke Sule den Namen Sule der Strenge fhrt.Nun entsprechen diese beiden Sulen (die der Sohar als die des metaphysischenGuten und Bsen betrachtet) unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit derVerteidigung und der Anklage, whrend die mittlere Sule der Billigkeitentspricht. Das System der zehn Sephiroth ist auf ein beweglichesGleichgewicht gegrndet mit der Tendenz, im Falle da eine augenblicklicheUnordnung sich herausgebildet hat, es wieder herzustellen. Es ist das Systemder Waage.

    Eine Waage in ihrem einfachsten Zustand besteht aus einer unbeweglichenAchse (einer Mittelsule), gewhnlich vertikal, einem Waagebalken, der mitdieser Achse ein T oder ein Kreuz bildet, und zwei Waagschalen, die an denuersten Enden des Waagebalkens aufgehngt sind.

    Die Waage zeigt drei fundamentale Beziehungen auf:

    1. Das Gleichgewicht zwischen den Waagschalen schafft ein Verhltnis derWechselbeziehung;

    2. die gemeinsame Aufhngung der Waagschalen an einem Sttzpunkt unddie Lagerung des ganzen Systems auf einer Sttze deuten auf ein Verhltnisder Unterordnung hin;

    3. die verschiedene Rolle der beiden Waagschalen beim Wiegen fhrtzwischen den entgegengesetzten Enden zu einer Differenzierung, dank derensich eine Orientierung in einer Art flieender Bewegung herausbildet.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    203

    Daher handelt es sich im System der Sephiroth um das System einer Waage,das gleichzeitig in den vier Welten oder Ebenen eingerichtet ist: der Welt derEmanation (`olam ha aziluth), der Welt der Schpfung (`olam ha beriah),der Welt der Gestaltung (`olam ha jezirah) und der Welt der Handlung(`olam ha asiah) sowohl im vertikalen Sinne, d. h. der Waage, die dasGleichgewicht festsetzt und wiederherstellt zwischen dem, was oben, und dem,was unten ist, wie im horizontalen Sinne, d. h. der Waage, die dasGleichgewicht aufrechterhlt zwischen der rechten und der linken Seite, derSeite der Gnade und jener der Strenge. Das Wiegen vollzieht sich also mittelszweier Waagschalen rechts und links und zweier Waagschalen oben undunten. Das Werk der Waage rechts-links ist das Gesetz der Gerechtigkeit,welche das Gleichgewicht zwischen der individuellen Freiheit der Wesens undder universalen Ordnung aufrechterhlt. In letzter Analyse ist es das KARMAals das Gesetz, das die Begleichung der gegenseitigen Schulden der Wesenregiert. Das Werk der Waage Himmel-Erde geht aber ber die Gerechtigkeitdes Karma hinaus; denn diese Waage ist die der Gerechtigkeit der Gnade.

    Gratia gratis data ... die frei geschenkte Gnade. Die Sonne leuchtetgleicherweise ber Gute und Bse. Ist das gerecht? Ist es eine Gerechtigkeit derGnade, die hher ist als die schtzende, verteilende und strafendeGerechtigkeit des Gesetzes? So ist es. Es gibt die erhabene andereGerechtigkeit der Gnade, die der Sinn des Neuen Testamentes ist. Denn dasAlte Testament verhlt sich zum Neuen Testament wie das Karma zur Gnade.Auch die Gnade bedient sich der Waage, d. h. der Gerechtigkeit. Es ist dieWaage, deren eine Schale auf der Erde und deren andere im Himmel ist.

    Das Gebet des Herrn, das Vaterunser, enthllt uns das Prinzip derGerechtigkeit der Gnade und der Operation des Wiegens mit der WaageHimmel-Erde. Dort heit es:

    ... vergib uns unsere Schuld,wie auch wir vergeben unsern Schuldigern (Mt 6, 12),

    und dann fgt der Meister hinzu:Wenn ihr nmlich den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird auch

    euch euer himmlischer Vater vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nichtvergebt, so wird euer Vater auch eure Verfehlungen nicht vergeben (Mt 6,14f).

    Der Meister ist deutlich hinsichtlich der zwischen Himmel und Erdewirkenden Waage. Euer Vater wird euch nicht vergeben, wenn ihr nicht denMenschen vergebt das ist das Gesetz, das ist das unfehlbare undunerbittliche Wirken der Waage Erde-Himmel. Da diese Waage nicht alleindie Vergebung verwaltet, sondern auch den ganzen Bereich der Geschenke vonoben, aus der Flle des Heiligen Geistes, geht aus den Worten des Meisters imEvangelium ber das Gebet des Herrn klar hervor:

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    204

    Wenn nun ihr, die ihr bse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wit,wieviel mehr wird euer Vater im Himmel Heiligen Geist denen geben, die ihnbitten (Lk 11, 13).

    Die Sonne leuchtet ber Gute und Bse in gleicher Weise; aber man mu dieFenster der dunklen Kammer ffnen, damit ihr Licht dort hineinfallen kann.Das Licht der Sonne ist durchaus nicht von uns geschaffen oder von uns verdient.Es ist ein reines Geschenk gratia gratis data. Allerdings mu man die Fensterffnen, damit die Sonne in unsere Wohnung eintritt, ebenso wie man dieAugen ffnen mu, um sie zu sehen. Der praktische Sinn der Waage Himmel-Erde ist derjenige des Zusammenwirkens mit der Gnade. Die menschlicheBemhung ist also auf keinen Fall umsonst im Bereich des Wirkens derGnade. Weder die Erwhlung von oben allein (Calvinismus) noch der Glaubevon unten allein (Luthertum) gengen den Anforderungen der Waage Himmel-Erde. Ob wir erwhlt sind oder nicht, Glauben haben oder nicht, wir mssenzum Beispiel den Menschen ihre Schulden hier unten vergeben, damit unsoben unsere Schulden vergeben werden. Es gibt eine Wechselbeziehung nicht des Maes, sondern der Natur zwischen der unteren Schale Bemhungund der oberen Schale Geschenk der Waage Himmel-Erde. DieWechselbeziehung zwischen der Bemhung unten und dem Geschenk vonoben ist nicht, ich wiederhole es, die des Maes oder der Quantitt, sonderndie der Substanz oder der Qualitt. Die Vergebung nur einer einzigen Schulddes anderen meinerseits kann die Vergebung von tausend Schulden gleicherArt fr mich zur Folge haben. Die Waage Himmel-Erde wiegt nicht dieQuantitt; ihr Wirken gehrt ganz in den Bereich der Qualitt. Darum gibt esberhaupt keine quantitative Gerechtigkeit in der Beziehung zwischen denBemhungen von unten und den Gaben von oben. Die letzteren bersteigenimmer das Ma der quantitativen Gerechtigkeit. Es ist wichtig, dies zuverstehen, vor allem hinsichtlich der ins Auge springenden Ungerechtigkeitder ewigen Hlle, die durch ein oder mehrere, das ist unbedeutend zeitlichbegrenztes Leben verursacht werden kann.

    Die ewige Hlle ist indessen nur unter rein quantitativem Gesichtspunktungerecht. Man vergleicht die begrenzte Zahl der Jahre des Lebens oder derLeben auf Erden mit der unbegrenzten Zahl der Jahre der Ewigkeit undgelangt so zu dem Schlu, da das Ma der Bestrafung in keinem Verhltnissteht zu dem Ma des Vergehens und da es folglich keine Gerechtigkeit gibt.Doch betrachten wir das Problem der ewigen Hlle nicht unter demGesichtspunkt der Quantitt (was absurd ist, denn in der Ewigkeit gibt es keineZeit), sondern vielmehr unter dem der Qualitt.

    Wie verhlt es sich dann mit diesem Problem?Die Antwort, zu der wir kommen, wenn wir die quantitative

    Wechselbeziehung zwischen Zeit und Ewigkeit preisgeben, lautet: Wer immerin die Region der Ewigkeit ohne einen Tropfen Liebe eintritt, der betritt dieewige Hlle. Denn leben ohne Liebe ist die Hlle. Und ohne Liebe in derRegion der Ewigkeit leben heit in der ewigen Hlle leben.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    205

    Die Hlle ist der Zustand der Seele, die unfhig ist, aus sich herauszutreten;sie ist der uerste Egozentrismus, die bse und dunkle Einsamkeit, d. h. dieendgltige Lieblosigkeit, sagt N. A. Berdjajew.

    Dieser subjektive Zustand der Seele ist weder lang noch kurz er istebenso intensiv, wie es die Ewigkeit ist. Ebenso ist die Glckseligkeit, die einHeiliger in der Schau Gottes erlebt, so intensiv wie die Ewigkeit, obwohl siefr den, der bei der Ekstase des Heiligen mit einer Uhr in der Hand zugegenist, nur einige Minuten whren mag. Die Region der Ewigkeit ist die derIntensitt, die die Mae der Quantitt bersteigt, die wir der Zeit und demRaum entnehmen. Ewigkeit ist keine unendlich lange Dauer; sie ist dieIntensitt der Qualitt, die, wenn man sie mit der Zeit vergleichen und so indie Sprache der Quantitt bersetzen wrde, nur mit einer unendlichen Dauervergleichbar wre. N. A. Berdjajew sagt darber:

    In der Erfahrung unseres irdischen Lebens wird uns das Erleben der Leidenzuteil, die uns als endlose erscheinen; nur diese Leiden, die nicht Minute,Stunde oder Tag, sondern Unendlichkeit dauern, erscheinen uns alsHllenqualen ... Diese Unendlichkeit der Qualen kann objektiv einenAugenblick, eine Stunde oder einen Tag dauern; die Qualen aber, die dieseQualitt der Unendlichkeit haben, werden als Hllenqualen empfunden undbezeichnet ...

    Ewige Wahrheit ist in den Worten Origenes enthalten, da Christus ansKreuz geschlagen bleibt und Golgatha nicht eher aufhrt, als bis das letzteGeschpf aus der Hlle gerettet wird.

    Was kann man dem anderes hinzufgen als: Amen?Die ewige Hlle ist der Zustand der in sich selbst eingekerkerten Seele,

    aus dem sie keine Hoffnung hat herauszukommen. Ewig bedeutet in diesemFalle ohne Hoffnung. Alle Selbstmorde, die von Verzweifelten begangenwerden, geben Zeugnis von der Wirklichkeit der ewigen Hlle alsSeelenzustand. Bevor ein Mensch Selbstmord begeht, erfhrt er den Zustandvlliger Verzweiflung, d. h. die ewige Hlle. Darum zieht er das Nichts demZustand der Verzweiflung vor. Das Nichts ist also seine letzte Hoffnung.

    Die ewige Glckseligkeit, der Himmel, ist dagegen der Zustand derSeele, die von grenzenloser Hoffnung erfllt ist. Es ist keine Glckseligkeit,die whrend einer unendlichen Zahl von Jahren andauert; die Intensitt derHoffnung ist es, die ihr die Qualitt ewig verleiht. Ebenso ist es dieIntensitt der Verzweiflung, die dem mit Hlle bezeichnetenSeelenzustand die Qualitt ewig verleiht.

    Die Angst von Gethsemane, die das Schwitzen von Blut veranlate, warewig. Jene Nacht, die Nacht von Gethsemane, bema sich nicht nach Stunden.Sie war sie ist unmebar, also ewig. Wegen ihrer Ewigkeit schwitzte er Blutund nicht wegen einer zeitlichen, also vorbergehenden Prfung. Er kennt dieewige Hlle aus eigener Erfahrung, und weil er aus ihr herausgekommen ist,haben wir die Frohe Botschaft, da nicht allein der Tod besiegt ist durch dieAuferstehung, sondern auch die Hlle durch Gethsemane.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    206

    Die Majestt des Sieges ber die Hlle, verkndet durch die Worte: Ichbin es, lie die Mnner der Kohorte und die Schergen der Hohenpriester undPhariser, die gekommen waren, um ihn gefangenzunehmen, auf ihr Angesichtniederfallen (Jo 18, 6). Auch die Seele des Origenes hat sich niedergeworfenangesichts des Sieges ber die ewige Hlle und wurde ergriffen durch dieOffenbarung, die enthalten ist in den Worten Ich bin es von demjenigen,der gerade aus der ewigen Hlle herausgekommen war. Daher wuteOrigenes mit Gewiheit, da es keine Verdammten geben wird am Ende derWelt und da auch der Teufel ja, auch er gerettet werden wird. Wer immerber das Blutschwitzen von Gethsemane meditiert hat und ber die WorteIch bin es, die den ewigen Sieg ber die ewige Hlle verknden, weiebenfalls mit Gewiheit, da die ewige Hlle zwar als Realitt existiert, dasie aber leer sein wird in der Erfllung der Zeit.

    Der Schwei des Blutes in Gethsemane dort ist der Ursprung desOrigenismus, dort ist die Quelle seiner Inspiration. Die Frohe Botschaft vomewigen Sieg ber die ewige Hlle wurde jedoch weder von den Griechen,welche die Weisheit suchen, noch von den Juden, die Wunder sehen wollen,verstanden. Sie kann nur von den Christen verstanden werden. Denn dieGriechen verneinen die Wirklichkeit der ewigen Hlle als unvereinbar mitder Idee eines Gottes, der zugleich gut und allmchtig ist. Die Juden haltensich an die ewige Verdammnis, d. h., sie bestehen auf der bevlkerten ewigenHlle, weil andernfalls Gott, dem Richter, die absolute Macht der Bestrafungfehlen wrde. Sie verneinen die Unendlichkeit der gttlichen Liebe. Alleindie Christen nehmen die Torheit und Schwachheit des Kreuzes an undverstehen sie, d. h. die Torheit und Schwachheit des Werkes derunendlichen Liebe, das durch kein anderes Mittel vollbracht wird als durchdie Liebe selbst. Fr sie heiligen die Mittel nicht nur nicht den Zweck,sondern diese mssen mit ihm identisch sein. Die Christen wissen, da dieLiebe niemals durch Strenge und Furcht gelehrt und gelernt werden kann. Sieergreift die Herzen unmittelbar durch ihren Wert, ihre Schnheit und ihreWahrheit, whrend die Furcht vor der Hlle und der ewigen Verdammnisbisher die Liebe in keinem einzigen menschlichen Herzen aufblhen lie undes auch niemals tun wird. Nicht die Strenge der strikten Gerechtigkeit lehrtuns die Liebe des Vaters des verlorenen Sohnes, sondern vielmehr das Festder Freude, mit dem der Sohn von ihm empfangen wurde.

    Allerdings werden die Griechen sagen, da der Vater im voraus wute,da der Sohn zurckkehren wrde, weil dieser eben keine andere Wahl hatte,und da daher alles nur scheinbar ein Drama ist. Die Art, wie der Vaterhandelt, war eine List der Vernunft (Hegel). Und die Juden werdensagen, da es die Macht des Vaters war, die in der Seele des verlorenenSohnes handelte und ihm befahl, zum vterlichen Haus zurckzukehren, unddieser unwiderstehlichen Macht konnte er nur gehorchen.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    207

    So bleiben die Freude und das Willkommensfest des Vaters unbegreiflichsowohl fr die Anbeter der Weisheit Gottes (die Griechen) als auch fr dieAnbeter seiner Macht (die Juden). Ihr Sinn ist nur begreiflich fr die Anbeterder Liebe Gottes (die Christen). Sie verstehen, da die Geschichte desVerlorenen Sohnes ein wirkliches Drama der wirklichen Liebe und derwirklichen Freiheit ist und da die Freude und das Fest des Vaters echt sind,ganz wie das Leiden des Vaters und auch das des Sohnes, das ihrerWiedervereinigung vorausging, echt waren. Sie verstehen darber hinaus,da die Geschichte des Verlorenen Sohnes die Geschichte des ganzenmenschlichen Geschlechtes ist und da die Geschichte desMenschengeschlechtes ein wirkliches Drama der wirklichen gttlichen Liebeund der wirklichen menschlichen Freiheit ist.

    Griechen, Juden, Christen Anbeter der Weisheit, der Macht und derLiebe Gottes! Es gibt immer viele Griechen und viele Juden im Schoeder Kirche und des Christentums im allgemeinen. Sie sind verantwortlich fralle Hresien des Glaubens und der Moral, und sie verursachen dieSpaltungen und Schismen in der universalen christlichen Gemeinschaft. Sowurde die zentrale Tatsache der gttlichen Liebe, die Fleischwerdung desWortes und die Person des Gottmenschen, von Anfang an das besondereObjekt der Versuche von Juden und Griechen, sie in eine Tatsache derMacht oder der Weisheit umzuformen. Jesus Christus ist nur der Messias,der gesalbte und auserwhlte Mensch, der von Gott gesandt ist, lehrten dieJuden (die Ebioniten und Kerinthianer), welche die gttlicheFleischwerdung als unvereinbar mit der Allmacht Gottes verneinten. DasWort ist Fleisch geworden, aber es ist nicht Gott; es ist sein Geschpf, lehrtendie Juden des 4. Jahrhunderts, die Schler des Arius, inspiriert von derIdee, da die Macht Gottes gengt, um ein Geschpf von solcherVollkommenheit zu schaffen, da es imstande sein wrde, das Werk des Heilszu vollbringen, ohne da Gott selbst sich inkarniert.

    Es gibt zwei Personen in Jesus Christus, eine gttliche und einemenschliche, sagten die Griechen, bekannt unter dem Namen Nestorianer,die einen unberwindlichen Abgrund zwischen der absoluten gttlichenWeisheit und der relativen menschlichen Weisheit sahen und die nichtzugestehen konnten, da die erstere sich mit der letzteren ohne Verminderungund Verfinsterung vereinigt. Es gibt nur eine einzige Natur in JesusChristus, lehrten dagegen die Juden, bekannt unter dem NamenEutychianer, die blind waren fr die Vereinigung beider Naturen, dergttlichen und der menschlichen durch die Liebe, ohne da die eine sich inder anderen verliert oder da sich beide verlieren, indem sie eine dritte Naturgebren. Sie meinten, die Vereinigung beider Naturen knne nur substantiellsein und die gttliche Allmacht knne dieses alchimistische Wunder derVerschmelzung der beiden Naturen sehr wohl substantiell vollbringen.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    208

    Die darauf folgenden Juden, bekannt als Monophysiten undJakobiten, griffen die Lehre des Eutychianismus wieder auf und grndetenihre eigenen Kirchen.

    Zugleich verneinten die Griechen, die berzeugt waren, da es nurentweder Weisheit oder Unwissenheit gibt die erstere reiner Geist und dieletztere Materie die Realitt der beiden Naturen im Gott-Menschen unddamit die Realitt der Inkarnation selbst, weil die Inkarnation der Weisheit ihreHerabsetzung auf den Zustand der Unwissenheit mit sich bringen wrde.Darum lehrten die Doketen (der Name, den man ihnen beilegte), da dieMenschheit des WORTES nur scheinbar war, da also der Krper Jesu Christinur ein Phantom war.

    Der Grieche Apollinaris (4. Jahrhundert) hielt es fr ntig, das Verhltniszwischen den beiden Naturen zu ndern und die Gegenwart der menschlichenNatur in Jesus Christus um ein Drittel einzuschrnken. So lehrte er, da dievollstndige menschliche Natur aus drei Prinzipien bestehe: Krper, Seele(Psyche) und Geist (Pneuma), whrend die Menschheit in Jesus Christus nuraus zwei Prinzipien bestehe Krper und Seele, da sein menschlicher Geistersetzt worden sei durch das gttliche Wort. Hier sieht man wiederum dasselbegriechische Bestreben, die gttliche Weisheit unversehrt und nichtverdunkelt durch das menschliche Element bewahren zu wollen.

    So bemhten sich die Griechen, hingegeben an die Sache derberlegenheit der Weisheit, und die Juden, hingegeben an die derberlegenheit der Macht Gottes, im Laufe der Jahrhunderte das Prinzip derLiebe zu entthronen zugunsten der Prinzipien, sei es der Weisheit, sei es derMacht.

    Der Kampf um das Prinzip der Liebe, der im Altertum begonnen hat,setzte sich whrend des Mittelalters und danach fort; er setzt sich noch heutefort rings um die Kirche, im Schoe der Kirche und im Innern der Seele jedeseinzelnen Christen. Denn was war der Kampf zwischen den extremenRealisten und den extremen Nominalisten im Schoe der mittelalterlichenund modernen Schule (Scholastik) anderes als der Kampf zwischenGriechen (Realisten) und Juden (Nominalisten)? Und der Kampfzwischen Rationalisten (ratio nobilior potestas) und Voluntaristen(voluntas nobilior potestas) im Schoe derselben Schule? Fr dieRealisten und Rationalisten waren Ideen objektive Wirklichkeiten undGottes Vernunft war seinem Willen bergeordnet, whrend fr dieNominalisten und Voluntaristen die Ideen nur Namen waren, unterdie man die Phnomene einordnet, ntzliche Abstraktionen hinsichtlich derEinordnung der Phnomene, und Gottes Willen war seiner Vernunftbergeordnet. Also ist fr die letzteren Gott an erster Stelle allmchtigerWille, whrend er fr die ersteren vor allem Vernunft von unendlicher Weisheitist.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    209

    Und die Liebe Gottes? Dieses dritte, in hchstem Mae christliche Prinziphielt das Gleichgewicht im Laufe der Jahrhunderte und hlt es noch immer,indem sie die vllige Spaltung und den Verfall der Christenheit verhtet.Soweit es im Schoe der Christenheit Frieden gibt, wird es nur dem Prinzipdes Primats der Liebe verdankt.

    Denn der vllige Sieg des Realismus mit seinem Glauben an dasAllgemeine auf Kosten des Individuellen wrde das Christentum in Strengeund Grausamkeit erstickt haben. Dies hat sich mit gengender Deutlichkeit inder historischen Tatsache der Inquisition offenbart, denn diese war diepraktische Schlufolgerung aus dem Grunddogma des Realismus: DasAllgemeine ist dem Individuellen bergeordnet und die dementsprechendhandelte.

    Und der vllige Sieg des Nominalismus wrde das Christentum in derRelativitt von individuellen und persnlichen Meinungen, Glaubensrichtungenund Offenbarungen zersplittert haben, bis es zu Staub zerfallen wre. DieHunderte von protestantischen Sekten und von Glaubensweisen, zu glauben imSchoe dieser Sekten, beweisen es mit absoluter Sicherheit.

    Nein, insofern es Einheit im Raum (Kirche) und in der Zeit (Tradition) desChristentums gibt, geht sie weder auf realistische Strenge noch aufnominalistische Nachsicht zurck, sondern auf den Frieden des Ausgleichszwischen griechischer und jdischer Tendenz, den herzustellen undaufrechtzuerhalten der christlichen Tendenz der Liebe gelungen war. Wenndem nicht so wre, wrde die ganze christliche Welt jetzt in zwei Lagergespalten sein in ein Lager, wo man ersticken wrde in hugenottischerLangeweile und puritanischer Strenge, einer Art Calvinismus (Calvin warRealist), und in ein Lager, wo jede Familie oder sogar jeder einzelne einekleine Religion und eine kleine Privatkirche haben wrde (Luther warNominalist), so da das Christentum als solches nur eine Abstraktion seinwrde, nur ein Name oder ein Wort (mere vox oder flatus vocis).

    Um diese Dinge geht es, wenn man sich dem Problem der Waage stellenwill. Man begegnet denselben Konflikten wie ganz allgemein imChristentum so auch im Schoe der hermetischen oder okkultistischenTradition und Bewegung. Auch dort gibt es Griechen, Juden undChristen. Die Juden suchen dort Wunder, d. h. Tatsachen der magischenRealisation, und die Griechen trachten nach einer absoluten Theorie, die sichzu den exoterischen Philosophien so verhalten wrde, wie die Algebra zurArithmetik. So praktizierten Martines de Pasqually und der Kreis seinerJnger die zeremonielle Magie mit der Absicht, bis zur Beschwrung desAuferstandenen selbst zu gelangen. Hone-Wronski dagegen hatte einabsolutes System der Philosophie der Philosophien ausgearbeitet, das dazudienen sollte, innerhalb seines Rahmens jede Philosophie der Vergangenheit,Gegenwart und Zukunft zu verstehen und an den ihr eigenen Platz zu stellen.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    210

    Fabre dOlivet und Saint-Yves dAlveydre (der Verfasser des Systems derHauptkriterien von allen philosophischen, religisen und wissenschaftlichenLehren der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) reprsentieren diegriechische Tendenz par excellence in der hermetischen oder okkultistischenBewegung. Eliphas Levi und die Verfasser der Schriften ber praktischeMagie und Kabbala, die sein Werk im 19. und 20. Jahrhundert bis heutefortsetzten, reprsentieren dagegen die jdische Tendenz.

    Louis-Claude de Saint-Martin trennte sich, nachdem er mit dem intimenKreis der Schler von Martines de Pasqually zusammengearbeitet hatte, vondem Kreis und dem Werk seines Meisters. Er tat es als Freund, nicht alsGegner, und ohne im geringsten an der Realitt der in diesem Kreis gebtenMagie zu zweifeln. Er tat es, weil er den inneren Weg gefunden hatte,dessen Erfahrungen und Verwirklichungen von grerem Wert sind als dievon Magie, Theurgie, Nekromantie und knstlichem Magnetismus.

    Diese Arten von Klarheiten (Ergebnisse der Ausbung von Riten derhohen Theurgie) sollen denen gehren, die direkt berufen sind, davonGebrauch zu machen, auf Anordnung Gottes und zur Offenbarung seinesRuhmes. Und wenn sie auf diese Art berufen sind, gibt es nichts, was Anlagbe, sich zu beunruhigen ber ihre Unterweisung, denn sie empfangen dann,ohne jede Unklarheit, tausendmal mehr Begriffe und tausendmal sicherereBegriffe als diejenigen, die ein einfacher Amateur wie ich ihnen auf diesenGrundlagen geben knnte.

    Davon zu andern reden wollen, und noch dazu ffentlich, heit ganzunntig eine eitle Neugierde erregen und mehr fr den Ruhm desSchriftstellers als zum Nutzen des Lesers arbeiten. Wenn ich nun in meinenalten Schriften Unrecht dieser Art begangen haben sollte, wrde ich es nochverstrken, wenn ich weiter darauf bestehen sollte, auf der Stelle zu treten. Sowerden meine neuen Schriften viel von der zentralen Einweihung sprechen,die durch unsere Vereinigung mit Gott uns alles lehren kann, was wir wissensollten, und weit weniger von der beschreibenden Anatomie dieser heiklenPunkte, ber die Sie meine Meinung hren mchten, sagt Saint-Martin ineinem 1797 datierten Brief.

    Er hatte die echte Theurgie im Bereich des inneren, spirituellen Lebensgefunden und verlie folglich die zeremonielle oder uere Theurgie.

    Andererseits begab sich Saint-Martin nicht auf den Weg des grandiosenintellektuellen Abenteuers, ein absolutes philosophisches System zu schaffen.Er blieb praktisch; er wechselte nur die Form der Praxis und whlte anstelleder zeremoniellen Magie die geheiligte oder gttliche Magie, die aufmystischer Erfahrung und gnostischer Offenbarung beruht. Er, Saint-Martin,reprsentiert die dritte Tendenz in der hermetisch westlichen Bewegung diechristliche.

    Wie das Christentum im allgemeinen hat sich auch die Hermetik nurdeswegen nicht vllig zersetzt, weil die Christen in ihrem Schoe dasGleichgewicht zwischen Juden und Griechen halten. Wenn dem nicht so

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    211

    wre, htten wir jetzt zwei Schrifttmer und zwei gegenstzliche Bewegungen,die als Verbindendes nur einige Spuren der ehemals gemeinsamenTerminologie htten. Die eine Strmung, die griechische, wrde vielleichteinmal bei dem Archeometer der vergangenen, gegenwrtigen und zuknftigenArcheometer ankommen, und die andere Strmung, die jdische, bei derzodiakalen Operation der Beschwrung der zwlf Throne.

    Indessen findet sich die Quelle des Lebens und der Lebensfhigkeit derganzen hermetischen Strmung im Lauf der Zeitalter weder in der intellektuellenTheorie noch in der magischen Praxis. Sie wird durch Hermes Trismegistos, denvorchristlichen Weisen, in dem Dialog Asclepius, genau bestimmt:

    Ich kann es dir tatschlich wie prophetisch erklren: Nach uns wird eskeine aufrichtige Liebe zur Philosophie mehr geben, die einzig in demVerlangen besteht, die Gottheit durch regelmige Kontemplation und heiligeFrmmigkeit besser zu erkennen. Denn viele verderben sie schon durch alleArten von Sophismen ... Sie vermischen sie mit verschiedenen intelligiblenWissenschaften, mit der Arithmetik, der Musik und der Geometrie. Aber diereine Philosophie, diejenige, die nur abhngt von der Liebe zu Gott, darf sichfr andere Wissenschaften nur in dem Mae interessieren, als diese ... siehinfhren, die Kunst und die Weisheit Gottes zu bewundern, anzubeten undzu segnen ... Die Gottheit mit einfachem Herzen und einfacher Seele anbeten,die Werke Gottes verehren, dem gttlichen Willen Dankbarkeit zu erweisen,der allein die Flle des Guten ist, das ist die Philosophie, die von keiner blenNeugierde des Geistes befleckt wird.

    Versetzen wir diese Aussage der vorchristlichen Hermetik in die christlicheZeit, mit allen Umwandlungen, die dieses Versetzen mit sich bringt, und wirhaben die ewige Wurzel der Hermetik, die Quelle ihres Lebens und ihrerLebensfhigkeit. Der zitierte Text erscheint, wenn man ihn unter demGesichtspunkt der Wissensbereicherung betrachtet, als recht banal, ja als dieBanalitt selbst. Jeder fromme und auf seine fromme Unwissenheit stolzeZisterziensermnch des 12. Jahrhunderts htte Verfasser dieses Textes seinknnen.

    Betrachten wir ihn aber unter dem Gesichtspunkte des Willens, nehmenwir ihn als Anweisung zum Handeln zum tausendjhrigen Handeln derVergangenheit und der Zukunft , was sagt er uns dann?

    Er sagt uns zunchst, da es drei verschiedene Grundimpulse gibt, die jenerArt von menschlicher Bemhung zugrunde liegen, welche das Gebude derWissenschaft und Philosophie zu bauen sucht, der Bemhung des Strebens nachErkenntnis. Diese sind:

    1. Die Neugierde, bei der man erkennen will, um zu erkennen, gem demPrinzip lart pour lart.

    2. Die Ntzlichkeit, bei der man zu der Bemhung der Forschung desExperiments und der Erfindung durch die menschlichen Lebensbedrfnissegefhrt wird, die Arbeit fruchtbar zu machen, die Gesundheit zu erhalten und

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    212

    das Leben zu verlngern.3. Die Ehre Gottes, bei welcher es weder Neugierde noch praktischen

    Nutzen gibt. Vielmehr fhrt, wie der groe Palontologe unserer Zeit, PierreTeilhard de Chardin sagt, die unermeliche Kraft der gttlichen Anziehung ...in unser geistiges Leben ein hheres Prinzip der Einheit ein, dessenbesondere Wirkung darin besteht, die menschliche Anstrengung zu heiligen.

    Nun gibt es Wissen, um zu wissen, Wissen, um dem Nchsten zu dienen, undWissen, um Gott mehr zu lieben. Das Wissen, um zu wissen, lt sich letztlichzurckfhren auf das Versprechen der Schlange im Paradies:

    Ihr werdet sein wie Gtter, die Gutes und Bses erkennen. (Gen 3, 5).

    Auf diesen Weg lt sich also der Mensch um seiner eigenen Ehre willenein. Darum verurteilen die alte Hermetik, die kabbalistische jdische Hermetikund die christliche Hermetik einmtig die Neugier oder das Wissen, um zuwissen, als eitel, vermessen und unselig. So heit es in einem Auszug aus demheiligen Buch des Hermes Trismegistos mit dem Titel Kore Kosmu Tochter(oder Mndel) der Welt:

    Es ist ein khnes Werk, den Menschen geschaffen zu haben, dieses Wesenmit aufdringlichen Augen und schwatzhafter Zunge, dazu bestimmt, zuzuhrendem, was ihn nichts angeht, mit inquisitorischem Geruchssinn, und der mit seinerfrchterlichen Fhigkeit des Berhrens bis zum Exze alles ermessen wird. Ist eres, den du, o Schpfer, beschlossen hast, von jeder Sorge frei zu lassen, er, der inseiner Verwegenheit die schnen Mysterien der Natur betrachten soll? ... DieMenschen werden die Wurzeln der Pflanzen ausreien und die Eigenschaftender Sfte untersuchen. Sie werden die Arten der Steine erforschen, und siewerden diejenigen Lebewesen, die noch keinen Verstand haben, in ihrer Mitteffnen, was sage ich, sie werden ihresgleichen sezieren in ihrem Verlangen, zuuntersuchen, wie sie gebildet worden sind ... Sie werden sogar erforschen, wassich in der Tiefe der unzugnglichen Heiligtmer verbirgt. Sie werden dieWirklichkeit bis in die Hhe verfolgen, begierig, durch ihre Beobachtung zuerfahren, welches die festgesetzte Ordnung der Himmelsbewegung ist ... undwerden sich dann, diese Unglcklichen, bewaffnet mit aufdringlicherFrechheit, nicht bis zum Himmel erheben?

    So lautet die Anklage des Dmons Momus,ein Geist, ganz erfllt von Kraft, jeder Besorgnis trotzend sowohl durch

    die Wucht des Krpers als auch durch die Macht seines Denkens

    gegen den inquisitorischen Geist des Menschengeschlechtes.

    Doch die Verteidigung der menschlichen Erkenntnisfhigkeit durch HermesTrismegistos in der seinem Sohne TAT gewidmeten Abhandlung, die DerSchlssel heit, lautet:

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    213

    ... der Mensch ist ein gttliches Lebewesen, das nicht verglichen werdendarf mit den brigen irdischen Lebewesen, sondern mit denen von oben imHimmel, die man Gtter nennt. Oder vielmehr, wenn man wagen darf, dieWahrheit zu sagen, noch oberhalb dieser Gtter ist der Mensch, der wirklicheMensch, zu Hause oder wenigstens besteht vllige Machtgleichheit zwischenden einen und den anderen. Tatschlich wird keiner der himmlischen Gtter dieGrenze des Himmels berschreiten und auf die Erde herabsteigen; der Menschdagegen erhebt sich sogar bis zum Himmel und mit ihn aus und wei, wasim Himmel, was oben ist, und was unten ist, und er lernt alles brige mitGenauigkeit und, hchstes Wunder, er hat noch nicht einmal ntig, die Erdezu verlassen, um sich oben einzurichten, so weit erstreckt sich seine Macht!Man sollte schon wagen, es auszusprechen: der irdische Mensch ist einsterblicher Gott, der himmlische Gott ein unsterblicher Mensch.

    Soweit also Anklage und Verteidigung. Das sich daraus ergebende Urteil ist,da das Wissen, um zu wissen, das Momus, der Anklger, im Auge hatte, zuverurteilen ist, denn Momus hat recht, insofern man seine Anschuldigung aufden Antrieb bezieht, der nach Wissen, um zu wissen strebt. Andererseits istdie von Hermes Trismegistos vorgebrachte Verteidigung, insofern sie sich aufden Gebrauch der erkennenden Fhigkeit bezieht, sei es zur Ehre Gottes, sei esfr den Dienst am Nchsten, gut begrndet und gerecht. Es gibt also ein legitimes,sogar rhmliches Wissen und ein widerrechtliches, eitles, aufdringliches undvermessenes Wissen.

    Nun ist die Hermetik, ihre Seele und ihr Leben, der jahrtausendealteStrom in der Menschheitsgeschichte der Erkenntnis zur Ehre Gottes,whrend das Gebude der heutigen offiziellen Wissenschaften entweder derNtzlichkeit oder dem Verlangen nach Wissen, um zu wissen, also derNeugierde verdankt wird.

    Wir Hermetiker sind Theologen jener heiligen, Gott offenbarendenSchrift, welche die Welt heit, so wie die Theologen der heiligen, denlebendigen Gott offenbarenden Schriften insoweit Hermetiker sind, wie sieihr Bemhen der Verherrlichung Gottes weihen. Wie die Welt nicht nur einmaterieller Leib ist, sondern auch Seele und Geist, ebenso sind die heiligenSchriften nicht nur tote Buchstaben, sondern auch Seele und Geist. Darumist unsere dreifache Wissenschaft der dreifachen Welt der Verherrlichungder heiligen Dreifaltigkeit im Laufe der Jahrhunderte gewidmet, ganz wie esdie dreifache Wissenschaft der gttlichen Offenbarung durch die heiligenSchriften ist. Sind wir nicht aufgerufen, wir, die Theologen der Welt, undihr, die Theologen der heiligen Schriften, am gleichen Altar zu wachen unddie gleiche Aufgabe zu erfllen, die Lampe in der Welt nicht erlschen zulassen, die zur Ehre Gottes entzndet ist? Ist es nicht unsere gemeinsamePflicht, sie mit dem heiligen l menschlicher Bemhung zu versorgen,damit die Flamme niemals erlischt und immer Zeugnis gibt von Gott durcheben die Tatsache, da sie existiert und nicht erlischt von Jahrhundert zuJahrhundert?

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    214

    Ist nicht endlich die Zeit gekommen, wo wir Hermetiker unsRechenschaft geben sollten ber die unbestreitbare Tatsache, da wir es derKirche verdanken, da wir Luft haben zum Atmen und Platz, Obdach undZuflucht in dieser Welt des Materialismus, Etatismus, Nationalismus,Technologismus, Biologismus und Psychologismus? Insoweit die Kirchelebt, leben wir. Wenn erst einmal die Glockentrme der Kirchen zumSchweigen gebracht sind, werden auch alle menschlichen Mnder, die derEhre Gottes dienen wollen, zum Schweigen gebracht werden. Wir leben undsterben mit der Kirche. Denn zum Leben bedrfen wir der Luft zum Atmen,der Atmosphre der Frmmigkeit, des Opfers und der Anerkennung desUnsichtbaren als hherer Wirklichkeit. Diese Luft, diese Atmosphre in derWelt besteht in ihr nur dank der Kirche. Ohne sie wrde die Hermetik, wassage ich! jede idealistische Philosophie, jeder metaphysische Idealismuserstickt werden in Utilitarismus, Materialismus, Industrialismus,Technologismus, Biologismus und Psychologismus.

    Lieber Unbekannter Freund, stellen Sie sich die Welt ohne die Kirche vor, dieWelt der Fabriken, der Clubs, des Sports, der politischen Versammlungen, derUniversitten und Knste, die nur dem Nutzen oder der Erholung dienen, wo Sienirgends Worte des Lobpreises der heiligen Dreifaltigkeit oder der Segnung inihrem Namen hren wrden. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Sie niemals diemenschliche Stimme sagen hren werden:

    Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto, sicut erat in principio et nunc etsemper, et in saecula saeculorum Ehre sei dem Vater, dem Sohn und demHeiligen Geist, wie es war im Anfang so auch jetzt und allezeit und inEwigkeit,

    oder:

    Benedicat vos omnipotens Deus, Pater et Filius et Spiritus Sanctus Essegne euch der allmchtige Gott, der Vater und der Sohn und der HeiligeGeist.

    Eine Welt ohne Anbetung und ohne Segnung ... Wie wrde die psychischeAtmosphre dann allen Ozons beraubt sein, wie leer und kalt wrde sie sein!Glauben Sie, da die Hermetik dort existieren und auch nur einen einzigenTag leben knnte!?

    Machen Sie also Gebrauch von der Waage der Gerechtigkeit und wgenSie unparteilich. Wenn Sie es getan haben, werden Sie zweifellos sagen:Niemals werde ich in Gedanken, durch Wort oder Tat Steine gegen dieKirche werfen, denn sie ist es, die die menschliche Bemhung zur EhreGottes mglich macht, anregt und beschtzt. Da die Hermetik ein solchesBemhen ist, kann sie nicht existieren ohne die Kirche.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    215

    Wir Hermetiker haben nur die Wahl: entweder als Parasiten zu leben(denn nur dank der Kirche knnen wir leben), wenn wir fremd oder feindlichzur Kirche stehen, oder als ihre Freunde und treuen Diener, wenn wirverstehen, was wir ihr schulden, und angefangen haben, sie zu lieben.

    Es ist an der Zeit, da die hermetische Bewegung wirklichen undchristlichen Frieden mit der Kirche schliet und aufhrt, ihr quasi illegitimesKind zu sein, das ein halbgeduldetes Leben im Halbschatten der Kirchefhrt, und da sie endlich ein adoptiertes, wenn nicht gar anerkanntlegitimes Kind wird.

    Zum Lieben braucht es zwei. Mancher Anspruch ist aufzugeben, damitsich dies erfllt, aber es ist sicher, da, wenn beide in Frage kommendenParteien nur die Ehre Gottes im Herzen haben, sich alle Hindernisse auf demWeg zu diesem Frieden in Rauch auflsen werden.

    In Rauch aufgehen mge der Anspruch gewisser Hermetiker, die Autorittzu besitzen, eigenmchtig kleine Kirchen zu begrnden und Altar gegenAltar, Hierarchie gegen Hierarchie zu errichten.

    In Rauch aufgehen mge andererseits der Anspruch gewisser Theologen,das hchste Gericht ohne sptere Berufungsinstanz zu sein in allem, was dieEbenen der Welt oberhalb derjenigen der fnf Sinne betrifft. Die Lektion, die vonKopernikus und Galilei den Theologen erteilt wurde, die sich die Autoritt deshchsten Gerichts fr die sinnlich wahrnehmbare Welt anmaten, kann sichauf hheren Ebenen der Welt wiederholen, wenn der anmaende Geist derRichter Galileis auf anderen Ebenen der Welt erneut in Erscheinung tritt.Gewi sind die offenbarten, also absoluten Heilswahrheiten dem Lehramtder Kirche anvertraut, also der Auslegung, Erklrung und Darstellung durchkompetente Theologen; aber das unermeliche Gebiet, in dem das Heil sichauswirkt die physische, vitale, seelische und geistige Welt, ihre Struktur,ihre Krfte, ihre Wesen, ihre wechselseitigen Beziehungen, ihreUmwandlungen und die Geschichte ihrer Umwandlungen alle dieseAspekte des Makrokosmos und des Mikrokosmos und viele andere, sindsie nicht das Feld der Arbeit zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nchsten,fr all diejenigen, die diese Arbeit tun und nicht die ihnen vom Meisteranvertrauten Talente in der Erde vergraben und unntze Diener sein wollen(Mt 25, 14-30)?

    Wenden wir uns also an die Waage der Gerechtigkeit die zu gleicherZeit die Waage des Friedens ist , nehmen wir unsere Zuflucht zu ihr,weihen wir uns ihr, dienen wir ihr! Dann werden wir die universale undewige Magie der Gerechtigkeit fr das universale und allgemeine Wohl insWerk setzen. Denn wer die Waage der Gerechtigkeit anruft, wer sie alsMethode praktischer Schulung des Denkens, Fhlens und Wollens nimmt,fr den gilt die Seligpreisung der Bergpredigt:

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    216

    Selig, die hungern und drsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werdengesttigt werden (Mt 5, 6).

    Gesttigt, das besagt, die Gerechtigkeit wird gebt werden. Seien wiralso gerecht gegenber den Theologen, und sie werden uns gegenbergerecht sein. Anerkennen wir unsere gerechten Pflichten gegenber derKirche, und sie wird unsere gerechten Ansprche anerkennen. Das istwirklicher Friede, d. h. das Werk der Waage der Gerechtigkeit.

    Da wir uns auf den Weg der geistigen bung der Waage der Gerechtigkeitbegeben haben (denn alle Arcana des Tarot sind in erster Linie geistigebungen), haben wir diese bung auch grndlich und vollstndigauszufhren was nicht der Fall wre, wenn wir versumten, die Waage derGerechtigkeit in unserem Denken und unseren Herzen auf einen anderenBereich anzuwenden, in dem es noch keinen Frieden gibt und dieGerechtigkeit erst zu begrnden ist.

    Es ist der Bereich der Beziehungen zwischen der Hermetik und deroffiziellen Wissenschaft.

    Ebenso wie es an der Zeit ist, da die Hermetik Frieden schliet mit derKirche und ihren rechten Platz in ihrem Schoe findet, ist es auch an derZeit, da sie wirklichen Frieden mit der Akademie schliet und dort ihrengebhrenden Platz findet. Denn bisher ist die Hermetik in den Augen derAkademie nur ein illegitimes Kind, die Frucht der dunklen Verbindungeiner ihrer Berufung ungetreuen Religion mit einer ihren Berufungungetreuen Wissenschaft. Mit anderen Worten, die Hermetik ist eine schlechteMischung aus falscher Religiositt und einem falschen wissenschaftlichenGeist. Die Hermetiker sind in den Augen der Akademie nur eine Sippschaft,die sich aus schlechten Glubigen und schlechten Gelehrten rekrutiert.

    Machen wir noch einmal Gebrauch von der Waage der Gerechtigkeit! Ist dievorgetragene Kritik begrndet? Ja, sie ist es. Sie ist wohlbegrndet, weilsowohl die Kirche als auch die Akademie auf den drei heiligen Gelbden desGehorsams, der Armut und der Keuschheit ruhen, whrend wir Hermetiker unsals Hohepriester verhalten, ohne die Sakramente und die Zucht, die dazugehren, und als Akademiker ohne die Prfungen und die erforderlicheDisziplin. Wir wollen weder der religisen Disziplin gehorchen noch derjenigender Wissenschaft. Dabei ist es der Gehorsam oder die Disziplin , die dermoralischen Gre der Kirche und der intellektuellen Gre der Akademiezugrunde liegt.

    Die Askese der Akademie erfordert Gehorsam gegenber der Autoritt derTatsachen, der strengen Beweisregeln und der Zusammenarbeit, die Keuschheitin Form vlliger Nchternheit und die Armut in Gestalt der unterstelltenUnwissenheit als Ausgangspunkt jeglicher Forschungsarbeit. Ein wahrerGelehrter ist ein objektiver, nchterner Mensch, der offen ist fr jede Erfahrungund jeden neuen Gedanken.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    217

    Die Tatsache, da die wahren Gelehrten so selten sind wie die Heiligen derKirche, ndert nichts daran, da sie es sind, die die Wissenschaft reprsentieren.Denn nicht die Kranken und Krppel reprsentieren eine Familie, sondern ihregesunden Mitglieder.

    Nun ist wahre Wissenschaft die Disziplin der Objektivitt, der Nchternheitund des Fleies oder, mit anderen Worten, die Disziplin der Gelbde desGehorsams, der Keuschheit und der Armut.

    Denn man kann nicht fleiig sein, wenn man nicht arm ist, da Reichtumimmer Faulheit mit sich bringt. Man kann nicht nchtern sein, ohne Abscheu zuhaben vor allem, was berauscht darin besteht die Keuschheit und man kannnicht objektiv sein, ohne Gehorsam gegenber der Erfahrung und den strengenRegeln der Forschung.

    Dank der Praxis dieser drei heiligen Gelbde macht die Wissenschaftwirkliche Fortschritte. Dank ihrer schreitet sie fort in die Tiefe, d. h. in deneigentlichen Bereich der Hermetik. Sie hat drei groe Entdeckungen imBereich der Tiefe gemacht: sie ist in die biologische Tiefe eingedrungen undhat dort das Gesetz der Evolution entdeckt; sie ist in die Tiefe der Materieeingedrungen und hat dort die reine Energie gefunden; sie hat gewagt, in denBereich der seelischen Tiefe einzudringen und hat dort eine Welt vonokkultem Bewutsein entdeckt. Die drei groen Entdeckungen der Wissenschaft die Evolution, die Kernenergie und das Unbewute haben die Wissenschaftzu einer Mitarbeiterin, wenn nicht Rivalin der Hermetik gemacht aufgrund derTatsache, da sie in den Bereich eingetreten ist, welcher der Hermetik zu eigenist den Bereich der Tiefe.

    Die Hermetik teilt also jetzt ihren angestammten Bereich mit der Wissenschaft.Als Schwester oder als Rivalin? Das ist die Frage, von der alles abhngt.

    Alles hngt von unserer Entscheidung ab, der Entscheidung von uns heutigenHermetikern, uns entweder in den Dienst der Wissenschaft zu stellen bei ihremBemhen, die Region der Tiefen zu untersuchen, oder in Rivalitt mit ihr zutreten. Die Entscheidung zu dienen impliziert und erfordert den Verzicht auf dieRolle, eine esoterische und sakrale Wissenschaft zu reprsentieren, dieverschieden ist von der exoterischen und profanen. Es handelt sich darum, aufden Wunsch zu verzichten, Lehrstuhl gegen Lehrstuhl zu errichten, ganz wie essich der Kirche gegenber um den Verzicht handelt, Altar gegen Altar zustellen. Wenn die Hermetik beansprucht, eine Wissenschaft zu sein d. h. einallgemeingltiges und objektiv beweisbares Lehrgebude , kann sie nur eineschlechte Figur machen. Denn da sie wesentlich esoterisch, d. h. intim undpersnlich ist, kann sie nicht mit irgendeinem nennenswerten Erfolg die Rolleeiner allgemeingltigen, fr alle Welt beweisbaren Wissenschaft spielen.

    Der esoterische Charakter der Hermetik und die Allgemeingltigkeit derWissenschaft schlieen einander aus. Man kann nicht und soll nicht etwasIntimes und Persnliches, d. h. etwas Esoterisches, so darstellen, als ob es eineallgemeine, d. h. wissenschaftliche Gltigkeit habe.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    218

    Ja, auch ich wei mit hundertprozentiger Sicherheit, da es groeWahrheiten in der Hermetik gibt, aber diese Wahrheiten sind nichtwissenschaftlich, d. h. nicht allgemeingltig. Sie sind nur gltig fr einzelnePersnlichkeiten, die denselben Hunger und denselben Durst wie ich haben,dasselbe Ideal wie ich und, vielleicht, dieselben Erinnerungen an die ferneVergangenheit wie ich. Sie sind nur gltig fr die Mitglieder meinerFamilie, fr die Menschen, die ich meine Unbekannten Freunde nenne,und an die diese Briefe gerichtet sind.

    Die Hermetik ist keine Wissenschaft, die sich von anderen Wissenschaftenunterscheidet oder ihnen entgegengesetzt ist. Sie ist auch keine Religion. Sie istdie Einheit der offenbarten ebenso wie der durch menschliche Bemhungerworbenen Wahrheit im inneren Forum des persnlichen und intimenBewutseins. Da sie fr jeden die intime und persnliche Synthese von Religionund Wissenschaft ist, kann sie weder mit der einen noch mit der anderenrivalisieren. Der Bindestrich hat nicht die Funktion, die beiden Begriffe zuersetzen, die er vereinigt. Der wahre Hermetiker ist also derjenige, der sichselbst der doppelten Disziplin unterwirft jener der Kirche und jener derAkademie. Er betet und er denkt. Und er tut es mit der Glut und Aufrichtigkeiteines Sohnes der Kirche, wenn es sich um das Gebet handelt, und mit derDisziplin und dem Flei eines wissenschaftlich Arbeitenden der Akademie,wenn es sich um das Denken handelt. Ora et labora bete und arbeite ist seineFormel, wobei das Und der legitime Platz der Hermetik ist. Sie ist die geffneteTr im inneren Forum des Bewutseins zwischen dem Oratorium und demLaboratorium; sie ist die Tr zwischen beiden und nicht ein anderesLaboratorium oder ein anderes Oratorium.

    Ora et labora. Oratorium und Laboratorium vereint im inneren Forum derPersnlichkeit. Was ist das letztlich anderes als die Anwendung der Waageder Gerechtigkeit?

    Wenn man die Hermetik als Waage ora et labora versteht, impliziert diesmanche Richtigstellung von Denkgewohnheiten, die seit der zweiten Hlfte des19. Jahrhunderts in den Kreisen der Hermetiker Wurzel gefat haben.Folgendes Beispiel habe ich wegen seiner groen spirituellen Bedeutunggewhlt.

    Die christlichen Hermetiker sind sich ber die Einzigkeit der Mission undder Person Jesu Christus in der spirituellen Geschichte der Menschheit einig. Frsie verhlt sich Jesus Christus zu anderen spirituellen Meistern der Menschheit(Krishna, Buddha, Moses, Orpheus usw.) wie die Sonne zu den Planeten dessichtbaren Himmels. Hierin unterscheiden sie sich von den modernenTheosophen der Schule von Blavatsky und von den orientalisierendenOkkultisten und Esoterikern (Yoga, Vedanta, Sufi, Mazdadznan, Schule vonGurdjieff. Sie sind also Christen in dem Sinne, da sie die Einmaligkeit dergttlichen Inkarnation anerkennen, die Jesus Christus ist.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    219

    Zugleich ist in den Kreisen der zeitgenssischen Hermetiker die Tendenzausgeprgt, wenn nicht gar vorherrschend, sich mehr mit dem kosmischenChristus oder dem Logos zu befassen als mit der menschlichen Person desMenschensohnes, mit Jesus von Nazareth. Man schreibt dem gttlichen undabstrakten Aspekt des Gott-Menschen mehr Wichtigkeit zu als seinemmenschlichen und konkreten Aspekt.

    Nehmen wir also noch einmal die Waage der Gerechtigkeit zu Hilfe undwgen wir die Alternative: kosmisches Prinzip und konkrete Persnlichkeitdes Meisters.

    Betrachten wir zuerst, welche Auswirkungen oder Frchte das Streben nachErkenntnis des Logos und das nach Kontakt mit Jesus Christus, dem Meister,erfahrungsgem hervorbringen.

    In erster Linie mu man feststellen: nicht die Offenbarung oder Erkenntnisdes kosmischen Logos hat den neuen spirituellen Elan ausgelst, der sich inden Aposteln, Mrtyrern und Heiligen zeigte und den wir Christentumnennen, sondern das Leben, der Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Nicht imNamen des Logos hat man Dmonen ausgetrieben, Kranke geheilt und Toteauferweckt, sondern im Namen Jesu Christi (Apg 4, 12; Eph 1, 21; Phil 2, 9 ff),

    der ber alle Namen ist, auf da im Namen Jesu sich jedes Knie beuge imHimmel, auf der Erde und unter der Erde und jede Zunge zur Ehre Gottes desVaters bekenne: Jesus Christus ist der Herr (Phil 2, 9 ff).

    Der Kontakt mit der Person Jesus Christus war es, der den Strom der Wunderund Bekehrungen entfesselt hat. Und so ist es noch heute. Was den kosmischenLogos betrifft, so war seine Idee im Anfang des Christentums weder neu nochpackend. Die hellenistischen Hermetiker (siehe Poimandres), die Stoiker undPhilo von Alexandrien hatten darber fast alles gesagt, was man mitphilosophischen, gnostischen und mystischen Begriffen darber sagen kann.Der hl. Johannes beabsichtigte folglich nicht, in seinem Evangelium eine neueLogos-Lehre vorzutragen, sondern Zeugnis abzulegen von der Tatsache, dader Logos Fleisch geworden war und da er mitten unter uns gewohnt hat.

    Es ist jedoch Jesus Christus, der der Logos-Idee die Wrme und das Lebengegeben hat, die das lebendige Christentum schufen, whrend der Logos-Ideeder alten Weisen obwohl wahr diese Wrme und dieses Leben fehlten. Es gabzwar Licht, darin aber die Magie fehlte.

    Und so ist es noch heute.Philipp von Lyon (1849-1905), der Wundertter, schrieb alle wunderbaren

    Heilungen und andere Wunder dem Freunde zu: Ich tue nichts, als ihn freuch zu bitten, das ist alles, sagte er.

    Dieser Freund war Jesus Christus.Philipp von Lyon war der spirituelle Meister von Papus. Papus hatte

    noch einen anderen Meister, der sein intellektueller Meister war. Das war derMarquis Saint-Yves dAlveydre, der Verfasser der Missions und desArchomtre. Dieser hatte sich ganz dem Bemhen gewidmet, den Logos oder

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    220

    den kosmischen Christus zu verstehen und verstndlich zu machen. Zugleichdiente Philipp von Lyon, der Vater der Armen, dem Werk Jesu Christi durchHeilen, Pflegen und Erleuchten von Menschen aller sozialen Klassen (sowohlder kaiserlichen Familie von Ruland als auch der Arbeiter von Lyon), indem ersich zum Werkzeug Jesu Christi machte.

    Der eine gelangte zu der Erfindung eines intellektuellen Instruments desArcheometers , dessen er sich bediente, um die kosmische Logik des Werkesdes Logos in der Geschichte der Menschheit zu verstehen und auszudrcken;der andere aber machte sich selbst zum Instrument der gttlichen Magie JesuChristi, um seinem Nchsten zu dienen.

    Papus stand zwischen dem Meister des Panlogismus und dem Meister dergttlichen Magie. Er fand sich vor die Wahl gestellt zwischen dem Weg desLogismus von Fabre dOlivet, Hone-Wronski und Saint-Yves dAlveydre unddem Weg der gttlichen Magie des individuellen Kontaktes mit Jesus Christus,reprsentiert durch den reifen Eliphas Lvi, Philipp von Lyon und allechristlichen Heiligen. Hat er die Wahl zwischen diesen beiden Wegengetroffen? Ja und nein; er hat sie in dem Sinne getroffen, da er dieberlegenheit der Magie der Liebe ber die zeremonielle Magie begriff,und ebenso die berlegenheit des Kontaktes mit dem Meister sowohl ber allemagischen Ketten wie ber alle theoretischen Erkenntnisse des kosmischenLogos. Nein in dem Sinne, da er Saint-Yves dAlveydre und seinem Werknicht den Rcken gekehrt hat, sondern ihm treu geblieben ist bis zu seinemTode und ber seinen Tod hinaus was ihm in den Augen aller Menschen vonHerz zur Ehre gereicht, whrend das Handeln nach dem Grundsatz Das Fest istvorber, der Heilige vergessen nur betrben kann. Indessen ist die von Papuseingenommene Haltung gegenber den beiden Wegen und den beidenMeistern nicht nur menschlich nobel, sie enthllt noch etwas darber hinaus.

    Sie enthllt die Treue von Papus zur Hermetik. Denn die Hermetik ist derim individuellen menschlichen Bewutsein aufgerichtete Athanor (Schmelzofen),wo das Quecksilber der Intellektualitt in das Gold der Spiritualitt umgewandeltwird. Der hl. Augustinus handelte als Hermetiker, indem er den Platonismus inchristliches Denken umwandelte. Der hl. Thomas von Aquin handelte ebensoals Hermetiker, als er das gleiche mit dem Aristotelismus tat. Beide vollzogendas Sakrament der Taufe an dem geistigen Erbe Griechenlands. Dies ist genaudas, was Papus mit dem des Panlogismus von Saint-Yves dAlveydre undseiner Vorgnger tat oder im Begriff war zu tun , nachdem er seinemspirituellen Meister Philipp von Lyon, begegnet war. Es war weder einKompromi noch die Unschlssigkeit, Partei zu ergreifen, sondern vielmehr diehermetische Hoffnung, die Synthese von Intellektualitt und Spiritualitt zuvollenden. Diese innere Arbeit, deren Anfang ein herzzerreiender Konfliktzweier Gegenstze ist, hat Papus auf sich genommen. Wir knnen nicht mitSicherheit sagen, ob und inwieweit sein Bemhen von Erfolg gekrnt war; seinzu frher Tod hat uns der Mglichkeit beraubt, Zeugen der reifen Frchte desgeistigen Lebens von Papus zu werden.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    221

    Seine Bemhungen, als Bindeglied zwischen Philipp von Lyon und Saint-Yves dAlveydre zu dienen, waren auf dem ueren Forum nicht erfolgreich,obwohl hnliche Bemhungen von ihm bezglich einer groen Anzahl vonanderen Personen von Erfolg gekrnt waren, denn es war vorwiegend Papus,der Philipp von Lyon den Umgang mit Intellektuellen Okkultisten undMedizinern verschafft hat. Saint-Yves dAlveydre aber wollte Philipp wederin Lyon sehen, noch ihn zu sich einladen.

    So blieb das Werk von Papus unvollendet, wenigstens auf der sichtbarenEbene. Es ist die Synthese zwischen Intellektualitt und Spiritualitt, zwischenkosmischem Logos und Fleisch gewordenem Logos oder kurz, die christlicheHermetik als solche.

    Die christliche Hermetik ist eine Aufgabe und keine historischeGegebenheit. Das bedeutet, da es sich nicht um eine Renaissance derHermetik handelt (wie in den hellenistischen Epochen des 12., 15., 17. und 19.Jahrhunderts), sondern um ihre Auferstehung. Renaissancen sind Reminiszenzender Vergangenheit, wie sie von Zeit zu Zeit aus den Tiefen der menschlichenSeele an die Oberflche kommen, whrend Auferstehung die Berufung zu einemgegenwrtigen und zuknftigen Leben bedeutet, den Ruf zur Erfllung einerZukunftsmission, gerichtet an das, was in der Vergangenheit ewigen Werthatte, durch dieselbe Stimme, die Lazarus in das Leben zurckrief.

    Die spirituelle Geschichte des Christentums ist die Geschichte deraufeinanderfolgenden Auferstehung der Werte der Vergangenheit, die wrdigsind, ewig zu leben. Sie ist die Geschichte der Magie der Liebe, die die Totenauferweckt. So wurde der Platonismus wieder auferweckt, um fr immer zuleben, dank des belebenden Hauches desjenigen, der bis in alle Ewigkeit dieAuferstehung und das Leben ist: Ego sum resurrectio et vita (Jo 11, 25). Sowird auch der Aristotelismus am ewigen Leben teilhaben, und so wirdschlielich auch die Hermetik bis an das Ende der Welt leben und vielleichtber das Ende der Welt hinaus ...

    Moses und die Propheten leben und werden niemals sterben, denn sie habenihren Platz in der ewigen Konstellation des Wortes der Auferstehung und desLebens erworben. Die magischen Dichtungen und Gesnge von Orpheuswerden auferweckt werden und in alle Ewigkeit leben als Farbe und Ton desWortes der Auferstehung und des Lebens. Die Magie der Magier Zarathustraswird auferweckt werden und leben als ewiges menschliches Bemhen desStrebens nach Licht und Leben. Die von Krishna enthllten Wahrheiten werdensich dem Zuge der ins ewige Leben Zurckgerufenen anschlieen. Die altenkosmischen Offenbarungen der Rishis werden wieder aufleben und in derMenschheit von neuem den Sinn fr die Wunder des Blauen, des Weien unddes Goldenen erwecken ...

    Alle diese Seelen der spirituellen Geschichte der Menschheit werden einmalauferweckt, d. h. zurckgerufen, um sich mit dem Werk des Fleischgewordenen, gestorbenen und wieder auferstandenen Wortes zu vereinen, auf dadie Wahrheit seines Versprechens erfllt werde:

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    222

    Ich bin gekommen, damit nichts verlorengehe und alles das ewige Lebenhabe (Jo 6, 38 ff).

    So ist auch die Hermetik zum Leben berufen nicht blo als Reminiszenz,sondern als auferweckte. Diese Auferweckung wird stattfinden, wenn diejenigen,die ihr treu bleiben das heit, in denen Erinnerungen an ihre Vergangenheitlebendig sind , die Wahrheit verstanden haben werden, da der Mensch derSchlssel zur Welt ist und da Jesus Christus der Schlssel zum Menschen istund da Jesus Christus auch der Schlssel zur Welt ist und da die Welt sowie sie vor dem Sndenfall war und nach der Wiederherstellung wiederum seinwird das Wort ist und da das Wort Jesus Christus ist und da Jesus Christusden Vater offenbart, der Welt und Mensch bersteigt.

    Durch Jesus Christus gelangt man zum Wort oder Logos; durch das Wortoder den Logos versteht man die Welt; und durch das Wort und die Welt,deren Einheit der Heilige Geist ist, kommt man zur ewig wachsendenErkenntnis des Vaters.

    Das ist eine der Lehren aus der Waage der Gerechtigkeit, wenn man dieseals geistige bung nimmt. Sie kann uns aber noch manche andere Belehrungenerteilen, z. B. ber das Problem der Karma oder des Gesetzes des Gleichgewichtsin der Geschichte der Menschheit und in der Geschichte der menschlichenIndividualitt; ber das Problem der Beziehungen zwischen (historischer,biologischer, astrologischer) Schicksalsfgung, Freiheit und Vorsehung; berdas Problem der drei Schwerter (des Cherub von Eden, des Erzengels Michaelund des Engels der Apokalypse), ber das Problem der Sanktion im Werk deskosmischen Gerichts; schlielich ber das Problem der gnostischen Ogdoade(Achtheit). All diese Probleme verdienen gewi, unter der berschrift oderbesser noch: mit Hilfe der Waage der Gerechtigkeit behandelt zu wer- den.Tatschlich verdienen sie es nicht nur, sondern mssen oder mten unterdem Aspekt der Waage behandelt werden. Ich wei es wohl, mu aber daraufverzichten, weil ich nicht einen ganzen Band ber das achte Arcanum alleinoder 22 Bnde ber die zweiundzwanzig Arcana schreiben kann. Ich habe nurunternommen, Briefe ber die Arcana zu schreiben, und ein Brief darf kein Buchwerden. Daher mu ich leider auf das Schreiben ber viele Dinge ja ber diemeisten ber die ich gerne geschrieben htte, verzichten. Ich hege aber dieHoffnung, da die Methode des Gebrauchs der Waage der Gerechtigkeit, die ichin diesem Brief nur illustrieren wollte, mit Sympathie und Aktivittaufgenommen wird und da Sie, lieber Unbekannter Freund, diese wenn Siehier nicht behandelte Probleme erwgen anwenden werden. Wenn Sie das tun,werden Sie vielleicht nicht nur die Befriedigung und die Freude neuerErleuchtungen haben, sondern auch die, da Sie die Luft der Redlichkeit unddes moralischen Mutes zu unparteilicher Gerechtigkeit atmen. Vielleicht werdenSie auerdem noch die Erfahrung machen, die die am Ende des vorhergehendenBriefes aufgeworfene Frage beantwortet, nmlich: Welches ist die achte Kraft,die die sieben Krfte des Astralleibs ins Gleichgewicht bringt?

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    223

    Denn diese achte Kraft wirkt beim Erwgen und Urteilen mittels der Waageder Gerechtigkeit im inneren Forum unseres Bewutseins. Sie ist der achtePlanet oder der unbekannte Faktor, von dem in der Interpretation einestraditionellen astrologischen Horoskops mit den sieben Planeten soviel abhngtauch in der Auslegung der traditionellen charakterologischen Formel derKomposition und der Proportion des seelischen Organismus oder Charakters.

    Denn gleichgltig, ob es sich um ein astrologisches Horoskop oder um einecharakterologische Studie handelt, es gibt immer ein X, von dem der Gebrauchder astrologischen oder charakterologischen Gegebenheit abhngt. Das ist derFaktor des freien Willens, der der Regel der traditionellen Astrologie zugrundeliegt:

    Astra inclinant, non necessitant Die Sterne machen geneigt, aber siezwingen nicht.

    Dieselbe Regel gilt fr die mikrokosmische Astrologie oder dieCharakterologie. Auch dort ist der freie Wille der unbestimmbare Faktor, dernicht erlaubt, mit Gewiheit vorauszusagen, welche Partei ein Mensch miteinem durchaus determinierten Charakter unter den und den Umstndenergreifen wird. Denn nicht der Charakter ist die Quelle fr Urteil und bewuteWahl, sondern vielmehr jene Kraft in uns, die wgt und urteilt mittels derWaage der Gerechtigkeit. Die Freiheit ist eine Tatsache, die man erfhrt, wennman weder mit seinem Temperament (therleib) noch mit seinem Charakter(Astralleib) urteilt, sondern mit der Waage der Gerechtigkeit oder mitunserem Gewissen. Das franzsische Wort fr Gewissen (con-science) enthltdie Idee der Waage, denn es impliziert das Zusammen-Wissen, d. h. dasWissen um die Gegebenheiten der beiden Waagschalen, die an den Enden desWaagebalkens aufgehngt sind. Das Gewissen ist weder das Ergebnis noch dieFunktion des Charakters. Es ist oberhalb desselben. Dort und nur dort beginntund bleibt der Bereich der Freiheit. Man ist keineswegs frei, wenn man gemseinem Charakter oder seinem Temperament urteilt oder handelt; man ist eserst, wenn man gem der Waage der Gerechtigkeit oder dem Gewissen urteiltoder handelt. Die Gerechtigkeit, die Praxis der Waage, ist jedoch nur derAnfang eines langen Weges der Entwicklung des Gewissens und damit desWachsens der Freiheit.

    Das folgende Arcanum Der Eremit ldt uns zu der meditativen Bemhungein, die dem Weg des Gewissens gewidmet ist.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    224

    Neunter Brief

    DER EREMITDas Arcanum des Gewissens

    Der dritte Vater Die drei Erkenntnismethoden der Hermetik Die dreiAntinomien: Idealismus und Realismus; Realismus und Nominalismus;Glaube und empirische Wissenschaft Das Glaubensbekenntnis der Wis-senschaft Wissenschaft als Methode oder Weltanschauung Synthesevon Religion und Wissenschaft Die Gabe der vollkommenen Schwrze Die Klugheit Einsamkeit und Schweigen Der Eingeweihte Friede Wissen und Wollen Kontemplatives und aktives Leben Das Wanderndes Eremiten Lotosblumen Die sieben Ich-bin-Worte.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    225

    DER EREMIT

    Das Arcanum des Gewissens(Isis:) Neige dein Ohr, mein Sohn Horus,denn du hrst hier die geheime Lehre,die mein Ahne Kamephis von Hermes erfuhr,dem Schreiber von Denkwrdigkeiten,der alle diese Tatsachen berichtet;und die mich dann Kamephis lehrte,unser aller Vorfahr,als er mich ehrtemit der Gabe der vollkommenen Schwrze( ).

    Hermes Trismegistos Kore Kosmu

    Denn Trismegistos, der schlielich,ich wei nicht wie,fast die ganze Wahrheit entdeckt hat,beschrieb oft die Macht und Majestt des Wortes,wie es obiges Zitat erlutert, wo er (Hermes)die Existenz eines unaussprechlichen und heiligen Wortesverkndet, dessen Aussage das Ma der menschlichen Krfte bersteigt (quo fatetur esseineffabilem quendam sanctumque sermonem, cuius enarratio modum hominis excedat).

    Doch eng ist die Pforte und schmal der Weg,der ins Leben fhrt,und wenige sind es, die ihn finden (Mt 7, 14).

    Lieber Unbekannter Freund,

    Der Eremit! Ich freue mich, in der Reihe dieser Meditationsbriefe bei dieserehrwrdigen und geheimnisvollen Figur des einsamen Wanderers angekommen zusein, mit seinem roten Gewand unter dem blauen Mantel, der in seiner rechtenHand eine gelb- und rotfarbene Lampe hlt und sich auf einen Stab sttzt. Es istder ehrwrdige und geheimnisvolle Eremit, der der Meister der intimsten undgeliebtesten Trume meiner Jugend war, wie er brigens der Meister der Trumealler Jugend in allen Lndern ist, die begeistert wurde von dem Ruf, die engePforte und den schmalen Weg des Gttlichen zu suchen. Nennen Sie mir einLand oder eine Zeit, wo die wahrhaft junge, d. h. fr das Ideal lebende Jugendnicht immer wieder die Vorstellung von der Gestalt eines weisen und gutenVaters hatte, eines geistigen Vaters, des Eremiten also, der die enge Pfortedurchschritten hatte und auf dem schmalen Weg wandelt. Dem man sich ohneRckhalt anvertrauen und den man grenzenlos verehren und lieben konnte.Welcher junge russische Mensch zum Beispiel htte nicht eine Reise,gleichgltig von welcher Lnge und Dauer, unternommen, um einem Staretz zubegegnen, d. h. einem weisen und guten Vater, einem geistigen Vater, demEremiten?

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    226

    Welcher junge jdische Mensch aus Polen, Litauen, Weiruland, derUkraine und Rumnien htte es nicht ebenso gemacht, um einem chassidischenTsadik zu begegnen, das heit einem weisen und guten Vater, einem geistigenVater, dem Eremiten? Welcher junge Mensch in Indien wrde sumen, sichalle erdenkliche Mhe zu geben, um als Chela einen Guru zu finden und ihmzu begegnen, d. h. einem weisen und guten Vater, einem geistigen Vater, demEremiten?

    Und verhielt es sich anders mit der Jugend um Origenes, Clemens vonAlexandrien, den hl. Benedikt, den hl. Dominikus, den hl. Franz von Assisi,den hl. Ignatius von Loyola? War es anders mit der heidnischen Jugend vonAthen um Sokrates und Platon?

    Nicht anders war es auch im alten Persien um Zarathustra, Ostanes und dieanderen Reprsentanten der geistigen Dynastie der Magier, die von demgroen Zarathustra begrndet war. Nicht anders war es in Israel mit seinenPropheten-Schulen, seinen Nazorern und seinen Essenern. Und nicht anderswar es im alten gypten, wo die Gestalt des Grnders der Dynastie derweisen und guten Vter, die des Hermes Trismegistos, nicht allein frgypten, sondern auch fr die ganze griechisch-rmische Welt zum Urbildund Vorbild des weisen und guten Vaters geworden war des Eremiten!

    Eliphas Lvi hat die universale historische Bedeutung des Eremiten richtigempfunden. Darum konnte er die bewundernswerte Formulierung prgen:

    Der ist ein Eingeweihter, der die Lampe des Trismegistos, den Mantel desApollonios und den Stab der Patriarchen besitzt.

    In der Tat, der Eremit, der in der Vorstellung der jungen Jugend immerwieder auftaucht, der Eremit der Legende und der Eremit der Geschichte, wirdimmer der einsame Mann mit der Lampe, dem Mantel und dem Stab sein.Denn er besitzt die Gabe, Licht erstrahlen zu lassen in der Finsternis das istseine Lampe; er besitzt die Fhigkeit, sich abzusondern von den Strmungender kollektiven Stimmungen, Vorurteile, Sehnschte und Begierden, der Rasse,der Nation, der Klasse und der Familie, die Fhigkeit, den Miklang deslrmenden Kollektivismus um sich herum zum Schweigen zu bringen, um derhierarchischen Sphrenharmonie zu lauschen und sie zu verstehen das istsein Mantel; gleichzeitig besitzt er einen derart entwickelten Realittssinn,da er nicht nur mit zwei Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit steht,sondern sogar mit dreien. Er schreitet nur voran, nachdem er den Boden durchunmittelbare Erfahrung selbst und ohne jeden Mittler berhrt hat das ist seinStab. Er schafft Licht, er schafft Schweigen und er schafft Gewiheit gem dem Kriterium in der dreifachen bereinstimmung in der TabulaSmaragdina dessen, was klar ist, was in Harmonie mit der Gesamtheit deroffenbarten Wahrheiten ist und was Objekt der unmittelbaren Erfahrung ist:Verum, sine mendacio, certum et verissimum Es ist wahr, ohne Lge, sicherund gewi.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    227

    Verum sine mendacio das ist die Klarheit (die Lampe). Certum dasist die bereinstimmung dessen, was klar ist mit der Gesamtheit der anderenWahrheiten (Lampe und Mantel). Verissimum ist diebereinstimmung dessen, was klar ist, mit der Gesamtheit der anderenWahrheiten und mit der authentischen und unmittelbaren Erfahrung (Lampe,Mantel und Stab).

    Der Eremit reprsentiert also nicht nur den weisen und guten Vater, der einAbglanz des Vaters in den Himmeln ist, sondern auch die Methode und dieEssenz der Hermetik. Denn die Hermetik grndet sich auf diebereinstimmung von drei Erkenntnismethoden: der Erkenntnis a priori derVernunft (Lampe), der Harmonie des Ganzen durch die Analogie(Mantel) und der unmittelbaren authentischen Erfahrung (Stab).

    Die Hermetik ist also eine dreifache Synthese von drei Antinomien:

    1. die Synthese der Antinomie Idealismus Realismus;2. die Synthese der Antinomie Realismus Nominalismus;3. die Synthese der Antinomie Glaube empirische Wissenschaft.

    Insofern sie die Synthese dieser drei Antinomien ist die persnliche,wohlgemerkt, im inneren Forum des Gewissens eines jeden , indem sie diesejedesmal durch einen dritten Begriff ergnzt, ist ihre Zahl neun, und dasneunte Arcanum lehrt uns die drei Synthesen der drei Antinomien. Sehen wirjetzt, wie die Hermetik die Synthese dieser drei Antithesen oder Antinomienist.

    1. Die Antinomie Idealismus Realismus

    Sie lt sich auf zwei entgegengesetzte Formeln zurckfhren:Das Bewutsein oder die Idee geht jeder Sache vorher die Formel des

    Idealismus;

    undDas Ding (res) geht jedem Bewutsein oder jeder Idee vorher die

    Grundformel des Realismus.

    Der Idealist (z. B. Hegel) hlt jedes Ding fr eine Form des Denkens,whrend der Realist (z. B. Spencer) behauptet, da die Objekte derErkenntnis eine Existenz, unabhngig vom Denken oder vom Bewutseindes Subjekts der Erkenntnis haben. Der Realist sagt, da man auf demWege der Abstraktion Begriffe, Gesetze und Ideen von den Objekten derErkenntnis herleitet. Der Idealist dagegen sagt, da man auf dem Wegeder Konkretisierung Begriffe, Gesetze und Ideen des Subjektes derErkenntnis in die Objekte hineinlegt.

    Der Realist stellt die Theorie von der Wahrheit als sogenannterbereinstimmung auf, d. h., da Wahrheit die bereinstimmungzwischen Objekt und Intellekt ist. Der Idealist sttzt sich auf die Theorie

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    228

    von der Wahrheit als sogenannter Kohrenz, d. h., da Wahrheit derZusammenhang oder die Abwesenheit von Widersprchen bei derHandhabung der Ideen, Begriffe und Objekte (die nur Begriffe sind) durchden Intellekt ist.

    Gem dem Realismus ist wahr, was im Intellekt mit dem Gegenstandbereinstimmt. Gem dem Idealismus ist wahr, was ein zusammenhngendesSystem im Intellekt bildet.

    Die ganze Welt, genau widergespiegelt im Intellekt, ist das Erkenntnisidealdes Realismus. Die ganze Welt, wie sie die Postulate und Kategorien desIntellekts als ein einziges zusammenhngendes System widerspiegelt, ist dasErkenntnisideal des Idealismus.

    Die Welt fhrt das Wort, und der menschliche Intellekt hrt ihr zu,sagt der Realismus. Der Intellekt fhrt das Wort, und die Welt ist dessenWiderschein, sagt der Idealismus.

    Nihil in intellectu quod non prius fuerit in sensu Das Ding (res) gehtjedem Bewutsein oder jeder Idee vorher ist die jahrtausendealte Formeldes Realismus. Nihil in sensu quod non prius fuerit in intellectu DasBewutsein oder die Idee geht jeder Sache vorher ist die Gegenformel desIdealismus.

    Wer hat recht? Der Realismus mit seinem Idol des Dinges (res), das demDenken vorausgeht, und mit seinem urpersischen Dualismus von Finsternis(Ding) und Licht (Gedanke), der aus ihnen entspringt und geboren ist? Oderder Idealismus mit seinem Idol des menschlichen Intellekts, den er auf denThron Gottes setzt, und mit seinem pan-intellektuellen Monismus, in dem esweder Platz gibt fr die Vollkommene Schwrze der bermenschlichenWeisheit, die in dem geheiligten Buch des Hermes Trismegistos, betiteltKore Kosmu, erwhnt wird, noch fr die Finsternis des Bsen, derHlichkeit und der Illusion, die wir jeden Tag erfahren?

    Nein, werfen wir uns weder der Welt noch dem Intellekt zu Fen,sondern werfen wir uns anbetend nieder vor der gemeinsamen Quelle von Weltund Intellekt vor Gott. Vor Gott, dessen WORT zugleich sowohl das wahreLicht ist, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt (Jo 1, 9),als auch der Schpfer der Welt:

    Alles ist durch es geworden, und ohne es ist nichts geworden, wasgeworden ist (Jo 1, 3).

    Das Ding, die Welt das WORT ist deren Quelle. Der Intellekt, das Lichtdes Denkens auch deren Quelle ist das WORT. Darum ist die heidnischeHermetik der Vergangenheit wie auch die christliche der Gegenwart wederrealistisch noch idealistisch. Sie ist logistisch, weder auf das Ding noch auf denmenschlichen Intellekt gegrndet, sondern vielmehr auf den Logos, das WORTGottes, dessen objektive Offenbarung die urbildliche Welt der phnomenalenWelt, dessen subjektive Offenbarung das Licht oder das Urbild desmenschlichen Geistes ist.

  • Valentin Tomberg Die groen Arcana des Tarot Band-2

    229

    Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nichtergriffen (Jo 1, 5).

    Das bede