Versuch über die arten der verständlichkeit

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Versuch iiber die Arten der VerstKndlichkeit. Von Kurt Schneider. (Aus der Psychiatrischen Klinik der Universit~t KSln [Direktor: Professor Dr. G. Aschaffenburg].) (Eingegangen am 11. Januar 1922.) Dic folgenden Ausfiihrungen sind nicht Ergebnisse abstrakter Spe- kulation, sondern ti~glicher klinischer Erfahrung, verbunden mit der Aufgabe des Lehrers, diese Erfahrung begrifflich gefa~t mitzuteilen. Man erinnert sich, dal] Jaspers 1) das ,,Erkl~ren" dem ,,Verstehen", die ,,Kausalzusammenhi~nge" den ,,verst~tndlichen Zusammenh~ngen" gegenfiberstellt. Von den letzteren soll hier die Rede sein; wenn wir also schlechthin yon ,,Verstehen" reden, meinen wir weder das statisehe (phi~nomenologisehe) noch das blott denkende (rationale) Verstehen (etwa der logischen Zusammenhi~nge eines Wahnsystems), noch das unmittelbare Verstehen, be~ser ,,Erfassen" yon Seelischem in kSrper- lichen Ausdruckserseheinungen, sondern das g e ne ti s c h e Verstehen, ,,das subjektive evidente Erfassen der seelischen Zusammenh~tnge yon innen." Es haben sich verschiedene Mil]verst~i.ndnisse ergeben, die der Anerkennung der met]lodischen Unterscheidung von kausalen und ver- sti~ndlichen Zusammenhiingen im Wege stehen. Eines liegt aussehlieit- lich auf der Seite des Lesers : J a s per s hat sich wiederholt eindeutig da- hin ausgesprochen, dai~ das Vezstehen das Erkli~ren niemals unter- binde n diirfe, dal~ es lediglich ein ,,Plus" bedeutet, das noeh hinzu- kommt. So f~llt alle Kritik, die sich gegen die Formulierung: ,,Ent- weder erkl~ren --oder verstehen" wendet, in sich zusammen. Ein anderes Mi[tverst~ndnis dagegen liegt tiefer und seheint mir in der Tat anf Sehwierigkeiten hinzuweisen, die die ganzen Verh~ltnisse kompli- zierter gestalten, als sie Jaspers gesehen hat. Wie so oft, tragen ~qui- vokationen die Schuld an diesem MiBverst~ndnis. Nicht als ob Kron- feld 2) reeht h~tte, welm er Jaspers vorwh~t, dai~ das ,,Versti~ndlich" einmal im Sinne einer besonderen Qualiti~t des Z u s a m m e n h a n g e s, 1) Allgemeine Psychopathologie 2. A. Berlin 1920. 2) Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis, Berlin 1920, S. 359.

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Versuch iiber die Arten der VerstKndlichkeit.

Von

Kurt Schneider.

(Aus der Psychiatrischen Klinik der Universit~t KSln [Direktor: Professor Dr. G. Aschaffenburg].)

(Eingegangen am 11. Januar 1922.)

Dic folgenden Ausfiihrungen sind nicht Ergebnisse abstrakter Spe- kulation, sondern ti~glicher klinischer Erfahrung, verbunden mit der Aufgabe des Lehrers, diese Erfahrung begrifflich gefa~t mitzuteilen.

Man erinnert sich, dal] J a s p e r s 1) das ,,Erkl~ren" dem ,,Verstehen", die ,,Kausalzusammenhi~nge" den ,,verst~tndlichen Zusammenh~ngen" gegenfiberstellt. Von den letzteren soll hier die Rede sein; wenn wir also schlechthin yon ,,Verstehen" reden, meinen wir weder das statisehe (phi~nomenologisehe) noch das blott denkende (rationale) Verstehen (etwa der logischen Zusammenhi~nge eines Wahnsystems), noch das unmittelbare Verstehen, be~ser ,,Erfassen" yon Seelischem in kSrper- lichen Ausdruckserseheinungen, sondern das g e ne t i s c h e Verstehen, ,,das subjektive evidente Erfassen der seelischen Zusammenh~tnge yon innen." Es haben sich verschiedene Mil]verst~i.ndnisse ergeben, die der Anerkennung der met]lodischen Unterscheidung von kausalen und ver- sti~ndlichen Zusammenhiingen im Wege stehen. Eines liegt aussehlieit- lich auf der Seite des Lesers : J a s pe r s hat sich wiederholt eindeutig da- hin ausgesprochen, dai~ das Vezstehen das Erkli~ren niemals u n t e r - b i n d e n diirfe, dal~ es lediglich ein , ,P lus" bedeutet, das noeh hinzu- kommt. So f~llt alle Kritik, die sich gegen die Formulierung: ,,Ent- weder erkl~ren - - o d e r verstehen" wendet, in sich zusammen. Ein anderes Mi[tverst~ndnis dagegen liegt tiefer und seheint mir in der Tat anf Sehwierigkeiten hinzuweisen, die die ganzen Verh~ltnisse kompli- zierter gestalten, als sie J a s p e r s gesehen hat. Wie so oft, tragen ~qui- vokationen die Schuld an diesem MiBverst~ndnis. Nicht als ob K r o n - f e ld 2) reeht h~tte, welm er J a s p e r s vorwh~t, dai~ das ,,Versti~ndlich" einmal im Sinne einer besonderen Qualiti~t des Z u s a m m e n h a n g e s,

1) Allgemeine Psychopathologie 2. A. Berlin 1920. 2) Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis, Berlin 1920, S. 359.

32& K. Schneider:

dann wieder als eine besondere Art der E r k e n n b a r k e i t aufbrete -- denn die Methode des Erfassens jener letzten Wesenszusammenhinge i s t eben das Verstehen, wie das Erkl~ren die Methode des Erfassens kau- saler Zusammenhinge ist. Vielmehr liegt das MigverstSndnis darin, dab in der Folge -- und zum Teil auch bei J a s p e r s selbst -- das ,,Verstind- lieh" oft im Sinne des f i i r d e n B e o b a e h t e r g e n e t i s e h N a e h e r l e b - b a r e n gebraucht wurde. Ve r s t i~nd l i eh b e d e u t e t a l so das e i n e M a l e i n e n l e t z t e n W e s e n s z u s a m m e n h a n g , das a n d e r e M a l e i n i n d i v i d u e l l e s s u b j e k t i v e s K r i t e r i u m . Es empfiehlt sieh daher, um diese Gefahren der :~quivokation zu vermeiden, fiir die ,,versti~nd- lichen Zusammenhi~nge" im ersteren Sinne den aueh anderswo iiblichen Ausdruck , , S i n n z u s a m m e n h ~ n g e " zu nehmen, und im zweiten Gebrauche yon , , g e n e t i s c h n a c h e r l e b b a r " zu reden. Aueh ganz abgesehen yon dell durch diese :~quivokationen bedingten Gefahren ist es ja folgeriehtiger, Erkl i ren -- Verstehen und Kausalzusammenhinge -- Sinnzusammenh~nge gegeniiberzustellen; denn nennt man diese ,,ver- st~ndliche" Zusammenhhnge, so mfiBte man sprachlogisch die ersteren ,,erklirliehe" Zusammenh~tnge heiBeni).

Nehmen wir ftir die erwi~hnten letzten Wesenszusammenh~nge des Geistes den Ausdruek ,,Sinnzusammenhinge", und fiir die jeweilige M6gliehkeit, etwas genetiseh zu verstehen, den Ausdruek ,,genetiseh naeherlebbar", so sehen wit gleieh, dab die beiden Begriffe sieh nieht deeken. Nieht alle Sinnzusammenhinge k6nnen t a t s i e h l i e h naeher- lebt werden; so kann -- um wieder die ~quivokation zu gebrauehen -- eine sehizophrene Psyehose durehgehend ,,verst~indliehe Zusammen- hSmge" haben (ira Sinne der Sinnzusammenh~nge) und doeh k6nnen diese ZusammenhS~nge vielleieht tatsiehlieh yon keinem Mensehen ,,verstan- den" werden (ira Sinne des genetiseh Naeherlebbaren.) Und weiter bezieht sieh nieht jedes Verstehen (ira Sinne yon genetisehem Naeh- erleben) auf verstSmdliehe Zusammenhinge (ira Sinne yon Sinn- zusammenh~ngen), denn Sinnzusammenh~nge verbinden immer I n- h a l t e ; genetiseh naeherlebbar k6nnen aber aueh die Beziehungen yon F o r m e n zu Inhalten sein.

Dies soll veransehaulieht werden. Wit gliedern eine Psyehose in das bloge D a s e i n und in ihr S o s e i n , und das Sosein wieder in das Sosein als I n h a l t , und das Sosein als jeweilige F o r m, als Daseinsweise. Das sehliehte Dasein ist niemals verst~ndlieh, weder im Sinne der Sinn- zusammenh~inge noeh im Sinne des Naeherlebbaren. Aueh hier t iuseht der populi~re Spraehgebraueh; man kann keinesfalls naeherlebend ver- stehen, da[~ jemand naeh einem Eisenbahnungliick eine Psyehose be-

i) Ich habe reich selbst friiher einmal, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 59, 228, ffir ,,-r Zusammenhinge" ausgesprochen. Ich sah damals die hier erSrterten Gefahren noch nicht.

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kommt; das vcird nur d e n k e n d erkannt. Anders Inhalt und Form. Was man mit dem I n h a l t einer Psychose meint, darfiber dfirfte kein Zweifel sein; nehmen wir als Beispiel einen erotischen Komplex. Dieser kann nun in der verschiedensten Weise gegeben sein; als Gedanke, Er- innerung, Hoffnung, Traurigkeit, Wahnidee, Sinnest~iusehung usw. Diese Daseinsweise heiBen wir hier die F o r m des Komplexes. Sie daft nicht verweehselt werden mit der Form der Psychose im k l i n i s e h e n Sinne oder mit der Form des kSrperlichen A u s dr u c k s, wie Benehmen, Ge- barden. Der Inhalt ist das Gebiet des Sinngesetzlichen; dieser Inhalt k an n auch verst~ndlich sein im Sinne des genetisch Nacherlebbaren, b r a u c h t es aber nicht zu sein: so kann etwa die J~uBerung eines Schizo- phrenen sinngesetzlich mit anderen Inhalten zusammenhangen, ohne dab sie irgendein Mensch verstehen kann. Eine Schizophrene sprach dauernd in zun~chst durchaus ,,unverst~ndlicher" Weise yon , ,Wotan"; dies schien mir so lange sinnlos, bis ich nach Tagen erfuhr, dal3 der Hund der Anstalt, aus der sie gekommen war, Wotan hiel3. Die Beziehung von Form zu Inhalt nun ist niemals verst~indlieh im Sinne der Sinnzusammen- h~nge, die immer Inhalte verbinden, kann aber verst~indlich sein im Sinne des genetiseh Nacherlebbaren. Einzelne yon diesen Formen - etwa die Angst -- kann ich im konkreten Fall genetisch nacherlebend aus den Inhalten verstehen, in einem anderen Falle jedoch nieht. Und andere dieser Formen kann ich fiberhaupt nicht genetisch nacherleben. Ieh kann vielleicht ,verstehen", dab ein Liebeskomplex als Traurigkeit, als Hoffnung auftri t t ; ich kann aber genetisch hie verstehen, dal~ er als kSrperliche Beeinflussung, als Wahnidee, gegeben ist. Auf diese fiber- haupt nieht genetisch nacherlebbaren Formen kommt es uns hier der Deutliehkeit wegen besonders an.

Zur Verdeutlichung in aller Kfirze zwei Beobachtungen: 1. Ein 36 j~ihriges Fraulein aus dem Mittelstande liebt den Besitzer einer Fabrik, in deren Bureau sie arbeitet. Sie meint, er interessiere sich ffir sie, be- merkt bald, dab die Leute iiberall yon der Sache wissen und sprechen, hSrt die Stimme des Geliebten, begegnet ihm aueh auf einer Reise, weiB, dal3 er, der in Wirklichkeit niehts ahnt, ihr gut ist, daI~ aber die Leute ihr Gliick hintertreiben.

In diesem Falle, der im Groben durchaus dem Typus des sensitiven Beziehungswahns entspricht, sind die Inhalte der Psychose sinngesetz- lich mit der Liebe zu dem Fabrikherrn verbunden, also in d i e s e m Sinne ,,verst~tndlich", und auBerdem sind diese Sinnzusammenh~nge ffir den Beobaehter nacherlebbar. Die F o r m , in der dieser Komplex au~tritt, als Sinnest~uschungen, als Wahnideen, ist jedoch im Sinne des gene- tisch Nacherlebbaren nicht verstandlich.

2. Eine 29j~thrige Litauerin wurde im Kriege yon einem deutschen Soldaten angesteekt. Er verlie3 sie; sie schrieb ihm aber nach K51n,

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dab die Krankheit , die behandelt worden war, wieder da sei, und sie kein Geld habe, sieh behandeln zu lassen. Er sehrieb ihr, sie solle nach KSln kommen und sich bier behandeln lassen. Sie reiste tats~chlieh yon Litauen nach KSln, besuchte den frfiheren Soldaten und win'de yon ihm, der zudem verheiratet war und allem Anschein naeh nicht gedacht hatte, dab sie Ernst machen wfirde, im Stich gelassen. Sie wurde als Obdach- lose festgenommen und nahm verzweifelt im Polizeigewahrsam Arsenik, das sie mitgebracht hatte.

An diesem Fa]le sehen wir eine ,,Verst~ndlichkeit" der I n h a l t e sowohl im Sinne der Sinnzusammenhi~nge wie des Nacherlebbaren und auBerdem eine verst~ndliche Verbindung yon Inhal t und F o r m im Sinne des •acherlebbaren.

Unser wesentlichstes Ergebnis war also eine Trennung der Verst~nd- lichkeit im Sinne der Sinnzusammenh~tnge, die stets nur auf Inhal te Bezug hat, v o n d e r Verst~ndlichkeit im Sinne des genetisch Naeherleb- baren, die nicht nur den Zusammenhang yon Inhal t und Inhalt , sondern auch den yon Inhal ten und Formen betreffen kann. Nun ist gerade diese genetische Verst~ndlichkeit der Beziehung zwischen Inhal t und F o r m yon der grSBten Bedeutung, vor allem ffir die Prozel]diagnose, ja fiir die Diagnose der Psychose iiberhaupt. Das ,,Neue", das den ProzeB yon der Entwicklung unterscheidet, ist durchaus nieht stets, ja, vielleicht n ie ein AufhSren der sinngesetzlichen Zusammenhiinge der I n h a l t e, ein Abbrechen der Sinnkontinuiti~t, sondern t in AufhSren der Nacher- lebbarkeit der F o r m in bezug auf den Inhalt . Und so ist tatsi~chlich die Frage, ob die ,,versti~ndliehen Zusammenhiinge" im Sinne der S i n n- z u s a m m e n hi~ n g e unterbrochen sind, zur ProzeBdiagnose nieht zu brauchen. Dies sieht man am deutlichsten beim Beziehungswahn. Neh- men wir den uns allen durch G a u p p s 1) VerSffentliehung so lebendigen Fall Wagner : nieht die S i n n z u s a m m e n h ~ n g e der Inhal te sind irgend- wo unterbrochen, ja sie sind.sogar fiir den Beobaehter durchaus nach- erlebbar, sondern die F o r m als W a h n ist kS, dig wit nicht genetiseh nacherleben, nicht aus den Inhal ten ableiten, nicht ,vers tehen" kSnnen. Darum darf man wohl solche Bilder auch nicht ohne weiteres ,,in die Gruppe der einfiihlbaren psychogenen Erkrankungen auf konstitutionell psychopathiseher Grundlage" einreihen. Entwicklungen und nicht- psychotische Reaktionen sind auch in d er F o r m genetisch nacherlebbar, d. h. wir k5nnen verstehen, dab wir, wenn wir so wiiren, und es uns so ginge, auch so erleben wiirden. Hun aber ergibt, sich, dab aueh das Verstehen in diesem z w e i t e n Sinne des genetiseh Nacherlebbaren der Beziehung von Inhal t zu Inhal t und Form zu Inhalt , zur ProzeB- diagnose nicht g r u n d s ~ t z l i e h zu gebrauehen ist. Denn kS ist eben

1) Zeitschr. f. d. ges. Neuroh.u. Psychiatr. 69, 169.

Versuch fiber die Arten der Versti~ndlichkeit. 327

trotz w ei t g e h e n d e m Gomeinsamen subj ektiv und relativ. Gerade da, woes darauf ankommt, wird sich das Subjektive und Individuelle dieses Verstehens st6rend bemerkbar machen. Ahnlich verh~ilt es sich ja auch mit der Beurteilung der ,Nati ir l ichkeit" der Ausdruckserscheinungen, in denen wir fremde Erlebnisse unmit telbar wahrnehmen und erfassen. Man wird, vollends da diese Dinge aucb ffir andere Psychosen gelten, also nach wie vor versuchen mfissen, in der Struktur des vorliegenden Er- lebnisses selbst den schizophrenen Charakter zu finden - - eine noch sehr were und unendlich schwierige Aufgabe ftir die phi~nomenologische Psychologie.

Z. f. d. g. Neut. u. Psych. LXXV. ~2