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328 VII. Die Publizistik der architectura civilis Die Verbreitung des Bautyps in Bauanleitungen und Musterbüchern In der Entwicklung des Walmdachhauses ließen sich bislang einzelne Berührungs- punkte unseres Bautyps mit Architekturtheoretikern und Architekturtraktaten beo- bachten. Es handelte sich um Bauten Sebastiano Serlios, um die Schriften Jacques Androuet Du Cerceaus zum französischen Schlossbau und um die in manchen Wer- ken der "architectura militaris" verbreiteten Kasernen. So liegt es bei einem berühm- ten Theoretiker wie Serlio nahe, zu überprüfen, ob er den Bautyp auch in seinen Schriften bearbeitete, wenn er ihn schon in der Praxis anwendete. Und in der Kon- sequenz gilt es, die Werke der "architectura civilis" oder "Zivilbaukunst" generell auf ihre Berücksichtigung der Walmdachhäuser hin zu untersuchen. Denn hätte das Walmdachhaus in bekannten Architekturbüchern verschiedener Epochen als vor- bildliches Muster Eingang gefunden, dann wäre dies neben dem "natürlichen" Ver- breitungsweg durch Beobachtung und Nachahmung bestimmter Vorbildbauten eine weitere Erklärung für die außerordentliche Verbreitung des Bautyps über Jahrhun- derte und Ländergrenzen hinweg und von den kreativen Zentren bis in die Provin- zen. 583 Ein Ergebnis können wir vorab zusammenfassen: Der Bautyp des Walmdachhauses findet in den Architekturtraktaten keine beweiskräftige kontinuierliche Berücksichti- gung und schon gar keine Propagierung, die seine Verbreitung hinlänglich erklären könnte. Er taucht allerdings als Besonderheit in vereinzelten bekannten und somit stärker rezipierten Traktaten und in anderen weniger bedeutenden Büchern auf. Gemäß der Intention dieser Traktate als Darstellungen von besonderen und fort- schrittlichen Bauweisen und Stilarten ihrer Zeit kommt unser Bautyp zumeist nicht in der populären Ausformung vor, die zum Zeitpunkt des Erscheinens des jeweiligen Werkes üblich war. Anders gesagt ist zu beobachten, dass die Autoren oft versu- chen, den Bautyp von dem zeittypischen Zustand, den sie selbst aus ihrem Alltag kennen, abzuwandeln, in der Absicht, ihn zu modernisieren oder zu individualisieren. Damit greifen sie jedoch nur gelegentlich der späteren Entwicklung voraus: Die Weiterentwicklung des realen Baugeschehens vollzieht sich oft in anderen als den propagierten Formen, was wenig überrascht. Wir grenzen unser Untersuchungsfeld ein, indem wir alle Werke aussondern, deren Titel auf ein Werk der Kriegsbaukunst oder ein sogenanntes Säulenbuch 584 schlie- ßen lässt, ebenso Architekturtraktate, die ausschließlich Geometrie, Perspektive,

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VII. Die Publizistik der architectura civilis

Die Verbreitung des Bautyps in Bauanleitungen und Musterbüchern

In der Entwicklung des Walmdachhauses ließen sich bislang einzelne Berührungs-punkte unseres Bautyps mit Architekturtheoretikern und Architekturtraktaten beo-bachten. Es handelte sich um Bauten Sebastiano Serlios, um die Schriften Jacques Androuet Du Cerceaus zum französischen Schlossbau und um die in manchen Wer-ken der "architectura militaris" verbreiteten Kasernen. So liegt es bei einem berühm-ten Theoretiker wie Serlio nahe, zu überprüfen, ob er den Bautyp auch in seinen Schriften bearbeitete, wenn er ihn schon in der Praxis anwendete. Und in der Kon-sequenz gilt es, die Werke der "architectura civilis" oder "Zivilbaukunst" generell auf ihre Berücksichtigung der Walmdachhäuser hin zu untersuchen. Denn hätte das Walmdachhaus in bekannten Architekturbüchern verschiedener Epochen als vor-bildliches Muster Eingang gefunden, dann wäre dies neben dem "natürlichen" Ver-breitungsweg durch Beobachtung und Nachahmung bestimmter Vorbildbauten eine weitere Erklärung für die außerordentliche Verbreitung des Bautyps über Jahrhun-derte und Ländergrenzen hinweg und von den kreativen Zentren bis in die Provin-zen.583

Ein Ergebnis können wir vorab zusammenfassen: Der Bautyp des Walmdachhauses findet in den Architekturtraktaten keine beweiskräftige kontinuierliche Berücksichti-gung und schon gar keine Propagierung, die seine Verbreitung hinlänglich erklären könnte. Er taucht allerdings als Besonderheit in vereinzelten bekannten und somit stärker rezipierten Traktaten und in anderen weniger bedeutenden Büchern auf. Gemäß der Intention dieser Traktate als Darstellungen von besonderen und fort-schrittlichen Bauweisen und Stilarten ihrer Zeit kommt unser Bautyp zumeist nicht in der populären Ausformung vor, die zum Zeitpunkt des Erscheinens des jeweiligen Werkes üblich war. Anders gesagt ist zu beobachten, dass die Autoren oft versu-chen, den Bautyp von dem zeittypischen Zustand, den sie selbst aus ihrem Alltag kennen, abzuwandeln, in der Absicht, ihn zu modernisieren oder zu individualisieren. Damit greifen sie jedoch nur gelegentlich der späteren Entwicklung voraus: Die Weiterentwicklung des realen Baugeschehens vollzieht sich oft in anderen als den propagierten Formen, was wenig überrascht.

Wir grenzen unser Untersuchungsfeld ein, indem wir alle Werke aussondern, deren Titel auf ein Werk der Kriegsbaukunst oder ein sogenanntes Säulenbuch584 schlie-ßen lässt, ebenso Architekturtraktate, die ausschließlich Geometrie, Perspektive,

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Baukonstruktion, Sakralbauten, antike Monumente oder Gartengestaltung behan-deln, also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit keine Beispiele unseres Bautyps erwarten lassen. Erfasst haben wir 196 eigenständige Titel deutschsprachiger, französischer, italienischer, englischer und holländischer Autoren mit Erstauflagen zwischen 1540 und 1840, denen noch 183 Wiederauflagen hinzugerechnet werden können. 177 dieser Titel konnten wir als Erst-, Wiederauflage oder Reprint sichten. Die Tatsache, dass unser Bautyp in der Mehrzahl dieser Traktate nicht vorkommt, ist als Nachweis für seine Besonderheit ein wichtiges Ergebnis dieser Untersuchung. Deshalb haben wir in der Bibliographie alle gesichteten Traktate aufgeführt und die-jenigen, die relevante Walmdachhäuser enthalten, mit Sternchen gekennzeichnet.

1. Sebastiano Serlio: Ein phänomenaler Grundstock

Nachdem Ende des 15. Jahrhunderts die ersten gedruckt publizierten Abhandlung-en585 über Baukunst von Alberti sowie Vitruv-Übersetzungen erschienen waren, konzentrierten sich auch die unmittelbar nachfolgenden Autoren hauptsächlich auf den Formenschatz antiker Tempel und den Kirchenbau. Erst der die französische Renaissance-Architektur vorantreibende Sebastiano Serlio schrieb das erste Archi-tekturbuch, das sich mit der bürgerlichen Alltagsarchitektur beschäftigt. Doch dieses retardierende Moment relativiert sich umgehend, da gleich diese ersten Abhandlung-en bürgerlicher Bauwerke mehrere Fassadenaufrisse enthalten, die den Walmdach-typ in seiner zweistöckigen, drei- und fünfachsigen Variante sowie in schlichter, weit-gehend auf die Proportionen konzentrierter Gestaltung vorstellen.

Die ersten fünf Bände von Serlios in unchronologischer Reihenfolge erschienenen sieben Büchern der Architektur befassen sich wie bis dahin üblich mit Geometrie, Perspektive, römischer Antike, klassischen Ordnungen und Kirchen. Das geplante, von 1541 bis 1549 bearbeitete, doch niemals erschienene Buch 6 behandelt bürger-liche Häuser. Es ist in zwei unterschiedlichen Manuskripten erhalten.586 Ein "außer-ordentliches" Buch ohne Zählung stellt Portale, Fenster und Triumphbögen dar; es wird als "Pseudo-Buch 6" geführt. Das in der offiziellen Zählung siebte Buch widmet sich römischen Befestigungen und Palästen, die teilweise Vorbilder für adelige und bürgerliche Wohnbauten abgeben. Trotz der Nichtveröffentlichung des Buches über bürgerliche Architektur geht die Serlio-Forschung davon aus, dass diese elemen-taren Entwürfe nicht nur im persönlichen Umfeld Serlios rezipiert wurden, sondern darüber hinaus bedeutenden Architekten anderer Länder und späterer Zeiten von Palladio bis Ledoux bekannt gewesen sein müssen.587 Tatsächlich wurden diese Entwürfe noch um 1700 offenbar als so bemerkenswert erachtet, dass sie erstmals

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als Buch veröffentlicht wurden, allerdings in einem improvisierten Layout mit wech-selnder Ausrichtung der Risse und ausgeschnitten wirkenden Einzeldarstellungen. Weil dieses Buch deutlich von den bekannten Manuskripten abweicht, nimmt man an, dass eine nicht erhaltene dritte Manuskriptvariante als Vorlage diente, oder dass der Kopist sich große Freiheiten herausnahm.588 Diese Grund- und Aufrisse dürften also als Anregungen für manche der ab 1550 realisierten Schlösser, Hôtels und Stadthäuser gedient haben.

510 Sebastiano Serlio: Stadthaus

Mit dem ab 1575 erschienenen Buch 7 ist die publizistische Breitenwirkung dann jedoch sicher. Wie bereits bei den nicht publizierten Manuskripten589 nehmen einige seiner Fassadenentwürfe den Pavillontyp des französischen Schlossbaus und mög-licherweise Traditionen der französischen Alltagsarchitektur auf. Sie lancieren ein vereinfachtes und regularisiertes Erscheinungsbild einer Hauptfassade (denn hin-sichtlich Grundriss und Gesamtanlage ist ein ganz anderes städtisches Hausmodell auf schmaler tiefer Parzelle dargestellt, wie es in Paris üblich war), das in nuce die Offiziershäuser Vaubans, die Pfarrhäuser des Barock, Goethes Gartenhaus oder das bürgerliche Wohnhaus Schmitthenners vorwegnimmt.590 Andere Entwürfe vari-ieren den Typ mit klassischen Ordnungen oder mit Eckquaderung, dekoriertem Portal und Fenstergiebeln.591 Serlio erläutert, dass er französische Gewohnheiten und Komfortvorstellungen mit italienischem Stil und Dekor verbinden wolle. Er schätzt die hohen französischen Dächer ausdrücklich für ihre Haltbarkeit, Schönheit und ihren Nutzwert.592 Auffällig sind zum Beispiel die äußersten Fenster öfter nach italienischem Usus nahe an die Hausecke gerückt, was den gleichmäßigen, aber auch etwas langweiligen Rhythmus sichert und sowohl die Möglichkeiten zur Möblie-rung des Raumes als auch die konstruktiv stabilisierende Aufgabe der Hausecke be-einträchtigt.

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Die Manuskriptentwürfe illustrieren die nationalen Unterschiede noch deutlicher, in-dem sie zur gleichen Bauaufgabe eine italienische und eine französische Variante vorführen. Dabei unterscheidet sich die italienische Hausform hauptsächlich durch ein niederes drittes Geschoss, ein flaches Walmdach und gerade Treppenläufe von den französischen Häusern mit steilen hohen Walmdächern, Lukarnen und Wendel-treppen. In der gleichen Art der Gegenüberstellung arbeitet Serlio Entwürfe für unter-schiedliche Hausgrößen aus, die er armen oder reichen Handwerkern, Händlern oder

513 Sebastiano Serlio: Stadthaus für einen reichen Bürger nach italienischer und französi- schen Gewohnheiten

511 Sebastiano Serlio: Haus für einen armen Handwerker

512 Sebastiono Serlio: Haus für einen reichen Bürger oder Händler

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Bürgern zuordnet sowie als Stadthäuser und ländliche Hofgüter variiert.593 Die Land-häuser weisen längliche, gereihte Zwei- bis Fünf-Felder-Grundrisse auf, deren En-filade durch einen schmalen Flur entlang der Eingangsfassade ergänzt wird. Dem-gegenüber erstrecken sich die Stadthäuser auf schmalen tiefen Parzellen mit seitlich direkt anschließender Nachbarbebauung. Auf ein Vorderhaus zur Straße folgt ein Innenhof mit umlaufendem Arkadengang, darauf ein Hinterhaus und schließlich ein umfriedeter Garten. Vorder- und Hinterhaus der französischen Variante entwickeln dabei jeweils unseren Vier-Felder-Grundriss mit mittigem Erschließungsflur, hier allerdings bei einer von unserem freistehenden und rundum befensterten Haustyp vollkommen abweichenden Hausanlage.

Die durch Schlösser wie Martainville oder Chenonceau vorexerzierte Anwendung dieses Grundrisses auf kompakte freistehende Baukörper übernimmt Serlio erstaun-licherweise nicht. Dafür entwirft er bei einigen Beispielen ein Vorderhaus mit öffent-licher Arkade im Erdgeschoss – ein Muster, das mit großer Wahrscheinlichkeit über 50 Jahre später als Vorbild für die Häuser der Place des Vosges in Paris diente.594

2. Jacques Androuet Du Cerceau: Schlossdeklinationen

Da Serlio seine Arbeit zur bürgerlichen Architektur nicht veröffentlichen konnte und erst 1575 einige Elemente daraus in das siebte Buch einarbeitete, kam ihm Jacques Androuet Du Cerceau 1559 mit seinen ersten zwei Bänden des zunächst als "De Architectura Opus" erschienenen "Livre d'Architecture" in der erstmaligen Publizie-rung unseres Bautyps zuvor. In Kapitel VI595haben wir diese Werke bereits behan-delt. Ihre Bedeutung beschränkt sich jedoch auf den Schlossbau. Weder in den zwei Bänden "Les plus excellens bastimens de France" von 1676 und 1579, die damals existierende Schlösser Frankreichs wiedergeben, noch im theoretischen Traktat "Les trois livres d'architecture" geht es um einfache bürgerliche Häuser.

Der dritte Band der "trois livres" behandelt zwar kleinere Schlösser und Landgüter, wie sie auch bürgerliche Bauherren errichteten, doch unser Bautyp kommt nur in Form eines Pavillonbauteils oder corps de logis von komplexen Schlossanlagen vor.596 Bemerkenswerterweise nimmt Du Cerceau niemals unseren Typgrundriss auf, wie ihn Serlio für Stadthäuser einführt.597 Die gleichwohl kompakten Einzelbau-körper der vorausgehenden Entwürfe der Stichsammlung und der beiden ersten Bände werden nicht durch regelmäßige Raumteilungen gegliedert, sondern aus irregulär gruppierten Appartementfolgen größerer Räume und kleinerer Kabinette mit eingefügten Verbindungsgängen und Treppenhäusern gebildet (Abb. 449-450). Die äußere Symmetrie findet damit keine Entsprechung in der Raumaufteilung. Selbst

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wenn ein Mittelpavillon eine zentrale große Halle birgt, liegt die in der Fassade mittige Eingangstür nicht zwangsläufig auch in der Mittelachse des Raumes.598 Dafür sind hier alle nur denkbaren asymmetrischen Aufteilungen eines längsrecht-eckigen Grundrisses, wie wir sie bei den späteren Amtshäusern ebenfalls antrafen, geradezu systematisch durchdekliniert. Während Serlios Darstellungen in unpräziser Linienführung und mit diletantisch proportionierten Wandöffnungen und Dachformen gestochen sind und zudem ein unrealistisches Loch-Wand-Verhältnis zugunsten der Fensterflächen vermitteln, erreichen Du Cerceaus Traktate eine sehr realistische Darstellung der Bauteilproportionen bis hin zu den Wandfeldgliederungen.

3. Pierre Le Muet: Realistische Synthese

Pierre Le Muet schafft 1623 eine Synthese, indem er den Aufriss von Du Cerceaus Schlosspavillons mit ihren ausgearbeiteten Proportionen und ihrer Materialdialektik zwischen Wandfläche, Gewände und Eckquaderung auf Serlios städtische Parzel-lengrundrisse überträgt. Seine Modellvarianten sind nun jedoch auf bescheidenere bürgerliche Verhältnisse zugeschnitten. Damit nimmt er die Impulse der königlichen Urbanisierungsprojekte Heinrichs IV. wie die Place des Vosges oder das Hôpital Saint Louis auf und entwickelt sie zu einem allgemein anwendbaren System weiter. Doch er stellt das bürgerliche Haus ebenfalls nicht frei, sondern reiht es ohne seit-liche Fenster in einen Straßenverband ein. Der hier abgebildete Aufriss zeigt einen zweigeschossigen Aufbau mit ausgebautem Dach- bzw. Drempelgeschoss. Der nie-dere Nebeneingang offenbart die Zweigeschossigkeit des äußerlichen Erdgeschos-ses, so dass insgesamt vier Etagen integriert sind. Bemerkenswerterweise wird selbst in diesem typisierten Aufriss die durch die Nebentür entstehende Asymmetrie durch den in Gegenrichtung versetzten Firstschornstein beantwortet.599

514 Pierre Le Muet: Stadthaus 515 Joseph Furttenbach: Bürgerliches Wohnhaus

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4. Joseph Furttenbach: Ein unscheinbarer Entwurf setzt Maßstäbe

Bisher fanden sich verschiedene Einzelaspekte unseres Bautyps, ohne in ihrer Ge-samtheit miteinander kombiniert zu sein: so einmal das Erscheinungsbild der Fas-sade und der Grundriss bei Serlio und Le Muet oder die Hausform bei Du Cerceau, ohne sich als freistehendes Einzelhaus zu emanzipieren. Salomon de Bray stellt 1631 ein weiterentwickeltes zweistöckiges siebenachsiges Palais mit mäßig hohem Walmdach und Pilastergliederung vor.600 Altertümlich wirken dagegen Joseph Furt-tenbachs Entwürfe von Renaissance-Palazzi für mitteleuropäische Verhältnisse von 1628: das hier gezeigte Patrizierhaus mit Bossenmauerwerk und gequaderten Rund-bogengewänden aller Fenster wirkt wie eine Variante von Michelozzos Palazzo Me-dici in Florenz, nur mit Walmdach.601 1667 ergänzt Furttenbach eine Reihe von Bau-gattungsheften um den Band "Gartenpallästlins-Gebäuw".602 Hier sind nun erstmals

516 Joseph Furttenbach: Gartenpalais

die Komponenten Bauform, Grundriss und Aufriss zu unserem Bautyp miteinander vereint. Dieser Entwurf entspricht zudem in der Hausgröße und dem daraus abgelei-teten Wand-Dach-Verhältnis den ab diesem Zeitraum realisierten Walmdachamts-häusern. Furttenbach befindet sich damit ganz auf der Höhe der Zeit, er erweist sich sogar als realistischer Visionär. Der Ausgleich zwischen Einfachheit und Repräsen-tation eines Landhauses teilt sich schon in der Bezeichnung Gartenpalais mit. Orna-mentierte Fenstergewände und Türportal sind daher ausdrücklich nur in illusionisti-scher Bemalung empfohlen. Ungewöhnlich und für die spätere Entwicklung des Bau-typs nicht vorbildlich ist der als Tenne sehr breit angelegte Mittelflur, der auf der Rückseite ein breites Tor zur Einfahrt von kleineren Wagen oder Kutschen bietet. In der Baupraxis vollkommen unüblich bleibt auch das breite dreiflügelige Fenster in der

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Mitte des Obergeschosses, das auch für jeweils ein Fenster der Schmalseiten ge-plant ist. Unüblich sind auch die im Obergeschoss vorgesehene Küche und der Abort, der hinter einem Flügel eines Fensters der Hauptfassade liegt. Furttenbach geht auch dezidiert auf die Berechnung der Abmessungen ein. Der wiedergegebene Entwurf zeigt eine Breite von zwei Dritteln der Länge; der Dachfirst und die Breite der Zimmerzonen betragen exakt ein Drittel. Die Bemessung erfolgt also mit Halbierung und Drittelung der Hausbreite, wie wir es auch beim Pfarrhaus am Weißensee mit Viertelungen beobachten konnten.603

5. Holländischer Pragmatismus

1648 veröffentlicht Philips Vingboons Pläne von neuen realisierten Gebäuden im Raum Amsterdam. Eine Vielzahl der kompakten Stadt- und Landhäuser folgt unse-rem Bautyp in Varianten von vier bis sieben Achsen und mit bis zu sechs Geschos-sen.604 Der hier abgebildete Aufriss zeigt ein schmuckloses rationalistisches und damit modernes Erscheinungsbild ante letteram. Typisch holländisch hat das leicht erhöhte Erdgeschoss eine für den übrigen Kontinent unübliche Raumhöhe, dessen Fenster mit Innenklappläden an der unteren Hälfte dargestellt sind. Durch den Kon-trast mit den quadratischen Obergeschossfenstern entsteht eine spannungsvolle und zugleich harmonische Wirkung im Zusammenklang von vertikal dominierter Fensterkomposition und horizontalem Baukörper. Zum rationalistischen unpräten-tiösen Erscheinungsbild trägt auch die flache Deckung der Gauben und ihre Platzierung ohne Betonung der Mittelachse bei. Unser Bautyp scheint in den Niederlanden eine solche Verbreitung gefunden zu haben, dass in manchen deutschen Architekturtraktaten von holländischer Bauweise, respektive hollän-dischen Dächern die Rede ist.605 Möglicherweise hat er sich von dieser Seefahrer-nation aus nach England und Nordamerika verbreitet.

517 Philips Vingboons: Stadthaus in Amsterdam

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6. Sprung von der Utopie des Bürgerlichen zur selbstverständlichen Normalität

Ausgerechnet der ungemein aktive Architekturpublizist Christoph Leonhard Sturm, der zu seiner Zeit viel gelesen wurde und auch in der Geschichte der Architektur-theorie viel Beachtung findet, steuert keine nennenswerten Bearbeitungen unseres Bautyps bei, ein einstöckiges Wachhaus mit Säulenvorhalle und eine langgestreckte niedere Meierei ausgenommen.606 In den von Sturm herausgegebenen, bis dahin unpublizierten Manuskripten von Nicolai Goldmann findet sich unser Bautyp 1696, modellhaft mit "Das Burgerliche WohnHaus" überschrieben, wiederum als städti-sches Parzellenhaus in einer 3G-3A-Variante.607 Der dreizonige Grundriss gibt den Durchgangsflur zugunsten einer zimmerbreiten Vorhalle auf, hinter der eine längs-ovale Wendeltreppe als Gebäudekern liegt – eine unrepräsentative und daher viel-leicht als dezidiert bürgerlich konzipierte Treppe. Alle drei Räume der Rückseite sind nur über die seitlichen Räume der Vorderseite erschlossen – eine Grundrissvariante, die sich in der Praxis nicht durchsetzte. Das dritte Geschoss ist halb so hoch wie die unteren Stockwerke und als Mezzanin für Dienstboten gedacht. Dieser Aufsatz eines Halbgeschosses dürfte eine Reaktion auf Le Muets Drempelgeschoss sein, gewissermaßen als Übersetzung in eine deutsche Version unter Verzicht auf die französischen Lukarnen.

518 Nicolai Goldmann: Bürgerliches Wohnhaus 519 Paulus Decker: Bürgerliches Wohnhaus

Paulus Decker übernimmt diesen Typ 1715 ganz unverblümt, indem er ihn in glei-cher Weise halb im Aufriss und halb im Schnitt darstellt, diesmal mit rundem Wen-

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deltreppenkern und auf einen fünfachsigen Bau mit Neun-Felder-Grundriss erwei-tert.608 Balthasar Neumann hinterließ ein nichtpubliziertes Projekt in einer 3G-6A- und einer 3G-7A-Variante – die ungerade von der Breit-, die gerade von der Schmal-seite erschlossen –, das diese Dienstbotenunterbringung unter dem gleichen Dach wie die Herrschaften aufgreift und sie noch utilitaristischer reformiert: Im ebenfalls niedrigeren Erdgeschoss des hier freistehenden Landhauses ist eine Wohnung für eine Bauernfamilie vorgesehen.609 Bauer und Herr verfügen zwar über getrennte Eingänge, benützen jedoch gemeinsame Flure und begegnen sich am Fuß des Treppenhauses. Um dem Standesunterschied zu genügen, zeigt das Erdgeschoss Stichbogenfenster und Eckquaderung, während die Obergeschosse gerade Stürze und Eckpilaster in Monumentalordnung aufweisen.610

520 Balthasar Neumann: Landhaus

Diese modellhaft gedachten Entwürfe illustrieren die Tendenz, Neuerungen einzu-führen, die sich in der Praxis nicht oder nur in Einzelfällen durchsetzten. Der Bautyp erscheint somit im Spiegel der Publizistik oft als eine besondere Ausnahmeerschei-nung. Zugleich finden sich aber auch Hinweise auf die Normalität des Bautyps im

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Alltag: wenn nämlich Sturm 1708 im "Civilbaukunst"-Kapitel einer Mathematikanlei-tung einen vollkommen normalen 2G-9A-Typ abbildet, um ihn als Bemessungsbei-spiel mit der Lineatur eines Werkfußrasters zu überziehen.611 Oder wenn Johann Friedrich Penther 1744 unseren pfarrhauskonformen 2G-5:3A-Typ mit Standard-grundriss verwendet, um die zusammenhängende Darstellung von Grundriss, Auf-riss und Schrägsicht in Parallelperspektive als Einführung in die Geometrie vorzu-führen.612 Unser Bautyp scheint urplötzlich zu alltäglich und zu normal geworden zu sein, um ihn eigenständig in einem auf Innovation zielenden kostspieligen Architek-turtraktat zu propagieren. Penther zeigt ihn nur noch als besondere Nutzung wie bei einem 2G-11A-Amtshaus; dafür entwickelt er den Typgrundriss in vielen Varianten weiter.

7. Englischer Palladianismus: Nur Herrenhäuser oder Bauernkaten

Wenige Entwürfe von Inigo Jones lancieren den Walmdach-Bautyp auf den briti-schen Inseln.613 Doch erst im 18. Jahrhundert erscheinen einige englische Traktate, die unseren Bautyp verarbeiten, ohne dass eine vergleichbare englische Architektur-publizistik vorausgegangen wäre, wie in Frankreich und Deutschland. Bei der Vor-stellung realisierter Häuser in William Adams "Vitruvius Scoticus" und Colen Camp-bells "Vitruvius Britannicus" finden sich dann zahlreiche Beispiele in verschiedensten Varianten.614 Die Pavillonbauweise des französischen Schlossbaus und die hollän-dische Architektur des späten 17. Jahrhunderts haben Anregungen zur Entwicklung

521 Johann Frierich Penther: Geometriebeispiel 522 Johann Friedrich Penther: Amtshaus

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der spezifischen englischen Bauformen gegeben, die als Palladianismus bezeichnet werden. Von Palladio ableitbar ist dabei jedoch nur die punktuelle Instrumentierung der Baukörper mit klassizistischen Architekturelementen wie Eingangsportiken, Drei-ecksgiebeln oder Kranzgesimsen. Diese schlank proportionierten Elemente in Hau-stein sind fast durchweg auf Baukörpern aus Sichtbackstein angewendet, so dass die rote Wandfläche viel stärker dominiert als in der französischen Brique-et-Pierre-Bauweise. Beliebt sind präzise skulptierte Eckquaderungen. Die englischen Walm-dächer sind durchweg halb so hoch wie auf dem Kontinent, so dass die Horizontale stärker betont wird. Gelegentlich verdecken sogar über dem Dachgesims stehende Brüstungen den Dachansatz. In der englischen Bauweise fallen die beträchtlichen Wandstärken mit großem Unterschied zu den nichttragenden Wänden auf. Sie die-nen auch der Aufnahme der mächtigen, deutlich in das Mauerwerk eingreifenden Kamine.

523 William Adam: Balloch Myle House 524 William Adam: Hamilton Hall

Der Walmdachbautyp erscheint teils als Einzelgebäude, teils als größeres Haupt-haus von Landhausanlagen mit kleineren, ebenfalls typkonformen seitlichen Neben-gebäuden oder nur in Gestalt der Nebengebäude von Schlössern. Für letztere findet sich ein auffälliges Beispiele mit je zwei 2G-3A-Typen links und rechts von Cumber-nauld House615. Hamilton Hall ist ein Beispiel für die Reduktion auf den Grundtyp, hier mit massigen Schornsteinen und elegant ausschwingender Freitreppe.616 Zeit-gleich mit den Vorstellungen herrschaftlicher Häuser wird der 3A-Typ auch als ein-fachstes Farmhaus propagiert: Isaac Wares würdevoller Entwurf mit seitlichen Pult-

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dachanbauten basiert auf einem geradezu ärmlichen Zweiraumgrundriss617, wäh-rend Wood den gleichen Aufbau sogar noch als Doppelhaus für zwei Landarbeiter-familien reduziert.618 Diese englischen Publikationen üben großen Einfluss auf das Baugeschehen in Neu-England aus, wo sich folglich der palladianische Stil ebenfalls etabliert.

525 John Wood: Landarbeiter-Doppelhaus 526 Jean Mariette: Stadtpalais

8. Französischer Barockklassizismus für das Adelspalais

Über das ganze Barockzeitalter folgt die französische Architektur dem voluminösen Klassizismus des "style classique", wie ihn die Traktate von Jean Marot ab 1650 bis zu Jean Mariettes "L'Architecture française" von 1727 dokumentieren. Unser Bautyp wird bei Mariette an einigen kleineren Pariser Stadthôtels des Adels vorgeführt, de-ren Corps de logis dem 2G-5A-Typ der Offizierspavillons oder Pfarrhäuser aufgrei-fen, allerdings in reicher Wandgliederung der skulptierten Natursteinfassaden, mit eleganter hierarchischer Diversifikation der Fenster und Türen mit Rundbögen, Stichbögen und geraden Stürzen sowie Mittelrisaliten mit Pilastern und Dreiecksgie-beln. Kassettierte Wandfelder sorgen für die Binnengliederung der Wandflächen. Entgegen der zeitgleichen Baupraxis in der Alltagsarchitektur sind die Walmdächer hier auf ein Drittel der Fassadenhöhe geschrumpft. Analog zu den sorgsam zwi-schen Gleichmaß und Spannung ausgemittelten Fassaden erscheinen die Grund-risse mit großzügig breiter Mittelzone in einer auf Vielfalt ausgelegten Abfolge unter-schiedlich dimensionierter Räume. Ob quadratisch, quer- oder längsrechteckig – die

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Grundflächen sind wohlproportioniert und auf elementare Raumwirkung ausge-legt.619 Zusammen mit den elegant ausschwingenden Treppen innen und außen vermitteln diese maßvoll angelegten Stadtpalais und Landhäuser mit komfortablem Raumprogramm – ohne den großartigen Repräsentationsanspruch eines Schlosses – einen ausgesprochen kultivierten Gesamteindruck.620

Ab Mitte des 18. Jahrhunderts tendiert die Architektur-Avantgarde in Frankreich zu einem feingliedrigeren, schlankeren, flächenbetonten und proportional aufstreben-den Klassizismus, wie ihn die Stilentwicklung auch in anderen europäischen Län-dern kennzeichnet. Dieser Klassizismus wird durch die archäologische Auswertung insbesondere der römischen Antike beeinflusst, äußert sich aber auch in einem pal-ladianischen Ausdruck, wie er in Holland und England zu beobachten ist. Jacques François Blondels vielbeachtete "Architecture Française" von 1752-56 gibt einen Überblick über ältere und neuere Strömungen in der Architektur anhand vorwiegend in Paris realisierter Bauten. Dabei äußert Blondel eine nunmehr geringere Wert-schätzung der repräsentativen Bauten mit hohen Walmdächern, etwa am Beispiel der Hôtels de Bretonvillers und de Sully, deren Dokumentation mit Aufrissen jedoch die Aufmerksamkeit der internationalen Leserschaft weiterhin auf unseren Bautyp lenkt.621 Weiterhin zeigen die verschiedensten Bauten, wie das Aufriss-Schema und der Typgrundriss in allen denkbaren Variationen auch ohne Walmdach weite Ver-breitung gefunden haben. Die aktuellen Walmdachbauten selbst sind nach wie vor zahlreich, tragen nun jedoch flacher geneigte, niedrigere Dächer, die oft hinter Balustraden kaum in Erscheinung treten.

527 Jean Mariette: Stadtpalais, Erd- und Obergeschoss 528 Jean François de Neufforge: Stadthaus

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9. Jean François de Neufforge: Gutsituierte Aufklärer

Sehr deutlich wird die bei Blondel beobachtete Entwicklung im "Recueil élémentaire d'architecture" von Jean François de Neufforge ab 1757 fortgesetzt, dessen Phan-tasie-Entwürfe die Verarbeitung der griechischen Antike propagieren und den Stil Louis XVI sowie Empire-Elemente vorbereiten, ja sogar Revolutionsarchitektur an pädagogisch motivierten Baugattungen der Aufklärung vorwegnehmen. Unser Bau-typ findet sich dementsprechend in bürgerlich bescheidenen Abmessungen drei- und fünfachsiger Stadthäuser auf schmalen Parzellen. Wie schon bei den Häusern der Place des Vosges schließen sich Hinterhöfe an, jedoch ohne rückwärtige Stall- oder Nebengebäude, wie sie die Architekturtraktate Serlios und Du Cerceaus noch vorsahen.622 Gleichwohl bleibt das Raumprogramm in den größeren Versionen mit Billardsaal, Vorzimmern und Kabinetten sehr gediegen. Durch ein "Laboratorium" im Obergeschoss wird zudem eine besonders gelehrte, bildungsbürgerliche Betätigung intendiert – eine Vision, die wieder einmal keinen Eingang in die breite Baupraxis gefunden hat. Die 2G-3A-Version kann dagegen geradezu als Prototyp für spätere bescheidene bürgerliche Wohnhäuser bis hin zu Goethes Gartenhaus gelten. Aller-dings sieht Neufforge übergroße Formate für Fenster und Türen vor, die in der Pra-xis nicht umgesetzt wurden. Das Loch-Wand-Verhältnis ist durch ziemlich breite und sehr tief heruntergezogene Fenster auf eine Erhellung der Räume ausgerichtet, die Aufklärung und Illumination gewissermaßen wörtlich umsetzen zu wollen scheint. In präziser Darstellung sehen die Grundrisse eine moderne technische Ausstattung mit Kaminen in allen Räumen, Toiletten, Spülsteinen, Backofen und Brunnen vor. Unhie-rarchisch erhalten die Eingangstüren keine architektonische Betonung, sondern zeigen die gleiche waagrechte Verdachung wie die Erdgeschossfenster. Nicht zu-letzt das Kranzgesims vermittelt die klassizistische Note.

529-530 Jean François de Neufforge: Stadthaus 530 Erd- und Obergeschoss

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10. Kefersteins Paradigmenwechsel

Stilistisch viel stärker am realen Baugeschehen und alltäglichen Bauaufgaben blei-ben Johann Christian Friedrich Kefersteins handlich kleine "Anfangsgründe der bür-gerlichen Baukunst für Landleute" von 1776 orientiert. Sein Spektrum reicht vom Tagelöhnerhaus bis zum Herrenhaus und propagiert erstmals die Bandbreite der Amtshäuser mit Walmdach: "Adeliges Amtshaus", "Landpredigerwohnung", "Woh-nung eines Justiz- oder Zollbeamten auf dem Lande", "ländlicher Gasthof", "Wohn-haus so in einem Weinberg oder Garten anzulegen", Dorfschmiede, Schulhaus, Brauhaus, "Wagnerer oder Stellmacher Wohnung" werden nach unserem Bautyp mit Walmdach, teils in Fachwerkkonstruktion, das Pfarrhaus und andere jedoch in Massivbauweise, und mit detailliert bezeichnetem Raumprogramm vorgestellt.623 Der originelle Rationalisierungsvorschlag eines Doppelhauses für Schulmeister und Predigerwitwe mit dem pädagogischen Reformgedanken, dass die Wohnungs-größen gerechtfertigt sind, wenn der Lehrer Waisen aufnimmt und die Predigerwitwe Haushaltsunterricht für Mädchen gibt, dürfte wohl kaum realisiert worden sein.624 Von besonderem dokumentarischem Wert für den Fortgang der Walmdachverwen-dung ist die zweite Auflage dieses Werkes von 1791, die die Entwürfe exakt wieder-holt, mit dem elementaren Unterschied, dass fast alle Walmdächer durch Sattel- oder Krüppelwalmdächer ersetzt sind. Auch die dritte Auflage von 1821 propagiert unter dem neuen Titel "Anleitung zur Landbaukunst" diese standardisierten praktika-blen Bau-typen in ihrer simplen schematischen Darstellung ohne besondere Sorgfalt auf Details und Proportionen.

531 Christian Friedrich Keferstein: Wohn- und Amtshaus 532 Christian Friedrich Keferstein: Pfarrhaus

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11. Retardierende Realität

In Carl von Bothmers bemerkenswert frech und kritisch geschriebenen "Betrach-tungen und Einfälle über die Bauart der Privatgebäude in Teutschland" von 1791 (auf dem Frontispiz reitet der Teufel auf einem Steckenpferd und hält eine Fahne mit einem Grundriss) findet sich hingegen unser Bautyp als einer der seltenen Fälle in den Traktaten in einem mit dem tatsächlichen Baugeschehen übereinstimmenden satten und behäbigen Ausdruck der Proportionen von Sockel, Loch-Wand-Verhältnis und Dachhöhe.625 Auch die Schmucklosigkeit und die häufig angewandte zweiläufige Freitreppe, dazu noch in der besonderen, gleichwohl realistischen Situation einer Hanglage, zeichnet diesen Entwurf aus. Deutlich führt er vor Augen, wie optisch vorteilhaft die schrägen Walmseiten und die Treppenläufe die Diagonale des Gelän-des aufnehmen. Mitten im Klassizismus zeigt Bothmer damit ein für die Praxis der Alltagsarchitektur nicht unrealistisches retardierendes Moment barocker Bauauffas-sung.

533 Carl von Bothmer: Wohnhaus

12. Gartenhausmode "um 1800"

Das Gartenhaus als genuin bürgerliche Bauaufgabe präsentiert schließlich Christian Friedrich Schmidt in seinem vierbändigen zwischen 1790 und 1799, also im besten Sinne "um 1800" erschienen "Der bürgerliche Baumeister oder Versuch eines Unter-richts für Baulustige, welcher sie durch eine große Anzahl ganz verschiedener Pläne in den Stand setzt, die Einrichtung ihrer Wohngebäude selbst zu entwerfen und ihnen alles lehrt, was sie vor, während und nach einem Bau zu wissen nöthig ha-ben". Eine ganze Reihe von Entwürfen führen den Bautyp für kleinere und größere Gartenhäuser in ein- bis zweigeschossigen drei- und fünfachsigen Varianten vor.626 Dass diese Landsitze Walmdächer haben, versteht sich fast von selbst, und Schmidt erläutert:

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"Walmdach, holländisch Dach, Zeltdach, comble à croupe sind Dächer, welche man

gewöhnlich freystehenden oder über andere hervorragenden Gebäuden gibt. [...] Das

Dach mag übrigens gebrochen seyn, oder aus ganzen Sparren bestehen, so nennt man

es ein Schiff- Walm- oder Zeltdach. Holländische Dächer nennt man aber nur die

geradlinigen Dächer."627

Es besteht also nach wie vor Konfusion über die eindeutige Bezeichnung, und der kurz zuvor publizierende Keferstein gibt noch die Variante "neudeutsches Dach" hinzu.628

534 Christian Friedrich Schmidt: Gartenhaus 535 Christian Friedrich Schmidt: Gartenhaus

Charakteristisch für diese Entwürfe zur Jahrhundertwende sind schlanke Aufrisse mit hochstrebenden Proportionen der Fenster und Sprossungen sowie Schmuck-attribute wie sparsam eingesetzte Wandspiegel und Festons, die durch ihre Plat-zierung auf Fensterachsen die Vertikale zusätzlich betonen. Gerade die niedrigeren Dächer sind nun formal nicht an dieser Höhenbetonung beteiligt. Im Kontext der Grundrisse erscheinen die Zimmerhöhen als unrealistisch hoch oder bei angenom-menen normalen Zimmerhöhen die Haus- und Raumbreiten als unpraktikabel schmal. Es handelt sich jedoch wahrscheinlich trotz der präzisen Maßangaben um eine zeittypische idealisierte Darstellungsweise mit gelängten Proportionen, wie sie auch in der zeitgleichen Malerei und Grafik beobachtet werden kann. Typisch für das

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Raumprogramm der Gartenhäuser sind ein großzügiges Entrée und ein recht stattlicher, über die gesamte Haustiefe reichender Saal im Obergeschoss, wodurch die Größe und Zahl der Zimmer mit Schlafmöglichkeiten eingeschränkt wird. Die dünnen Wände der kostenbewussten Holzbauweise sind außen verputzt und ver-schleiern mit den applizierten Schmuck- und Architekturelementen ihre Konstruk-tionsart. Schmidt führt den Bautyp darüberhinaus in stattlicheren Dimensionen und Massivbauweise für größere Amtshäuser und herrschaftliche Wohnhäuser vor.629

13. Nachhall im Klassizismus

Damit endet die halbwegs breitenwirksame Propagierung des Walmdachbautyps in den Bauanleitungen als mustergültige und vielfältig variierbare Bauform. Spätere Werke konzentrieren sich auf andere Baumuster. Nur vereinzelt tauchen noch Bei-spiele auf. Erwähnenswert ist die Wiedergabe eines 2G-3A-Typs in vier Varianten von Fassadengestaltungen und Konstruktionsarten im Werk des für die Architekturt-heorie bedeutenden Jean Nicolas Louis Durand.630 Bezeichnend für das Aus-der-Mode-Kommen des Walmdachs stellt er nur die zeltdachevozierenden Schmalseiten im Aufriss dar. Auch der Erbauer des klassizistischen Karlsruhe, Friedrich Weinbren-ner, stellt 1810 Modellentwürfe für Stadthäuser und Palais mit Walmdächern vor, von denen eines dem fünfachsigen Amtshaustyp entspricht, allerdings mit niederen seitlichen Anbauten und herrschaftlichem Raumprogramm.631

536 Friedrich Weinbrenner: Stadtpalais 537 Hertel & Bergnann: Wohnhaus

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Erst 1840 greift Johann Voit den 2G-5A-Typ nochmals im Stil Weinbrenners für ein Pfarrhaus wieder auf.632 In Heftform erschienen zwischen 1846 und 1850 Modell-entwürfe von Hertel und Bergmann in einem an Schinkel erinnernden Klassizismus und mit schon historistischen Anklängen, die 1854 als gebundene Tafelsammlung publiziert wurden. Hier finden sich mehrere Entwürfe, die den Typ in seiner maß-vollen dreiachsigen Grundform und Vier-Felder-Grundriss für Bürgerhäuser emp-fehlen, was jedoch keinen registrierbaren Niederschlag im zeitgleichen Bauge-schehen Deutschlands hat.633 Eher scheinen hier Beobachtungen aus Frankreich übernommen worden zu sein. Für die amtliche Renaissance des Bautyps im Frank-reich Napoleons III. gibt Félix Narjoux' "Architecture communale" von 1870 Zeugnis ab. Kleinere Bauten der öffentlichen Hand, insbesondere ländliche Rathäuser, sogar in Kombination mit der Nutzung als Schulhaus dokumentieren hier einmal die Über-einstimmung von Theorie und Praxis (Abb. 359).634

Im Ergebnis bleibt festzustellen, dass die eher unbedeutenden Bauanleitungen des späten 18. Jahrhunderts, die unseren Bautyp ausdrücklich für Amts- und Pfarrhäu-ser darstellen, seine ab 1710 einsetzende Konjunktur in dieser Nutzung nicht erklä-ren können. Auch die früheren Publikationen bieten keinen überzeugenden Aus-gangspunkt, so dass die Verbreitung des Walmdachbautyps im Wesentlichen durch die an pragmatischen Grundmustern orientierte Ausbildung in der Praxis der Inge-nieur-Offiziere und Baumeister erfolgt sein wird.