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KAPITEL Entzündliche und erregerbedingte Krankheiten Virale Meningoenzephalitis Entwicklungsstufe: S1 Stand: September 2012 Gültig bis: 2014 AMWF-Registernummer: 030/100 COI-Erklärung Clinical Pathw ay Federführend Prof. Dr. Uta-Meyding-Lamadé, Frankfurt meyding-lamade.uta@khnw .de Was gibt es Neues? Das Medikamentenspektrum für Viruskrankheiten wurde in den letzten Jahren erweitert. Zu nennen sind die Neuraminidasehemmer mit Wirksamkeit bei Orthomyxoviren (Zanamivir [inhalativ], Oseltamivir [oral] und Peramivir [i. v.]), die Breitspektrum-Antiherpetika Adefovir (auch gegen HIV und HBV wirksam) und Lobucavir sowie sog. Canyon-Blocker (Pleconaril) gegen Picornaviren (z. B. Coxsackieviren). Allerdings liegt für keines der genannten Präparate bislang eine kontrollierte Studie über die Wirksamkeit bei viralen Meningoenzephalitiden vor. Für die Therapie der durch Influenzaviren bedingten ZNS-Infektionen stehen mit den Neuraminidasehemmern klinisch wirksame Medikamente zur Verfügung (CDC Report 2009). Die Empfindlichkeit der zirkulierenden Virusstämme wird im Rahmen nationaler und internationaler Surveillance-Systeme überwacht. Für die Differenzialdiagnostik zwischen bakteriellen und viralen Meningoenzephalitiden bietet sich die Bestimmung der Procalcitonin-Konzentration im Serum an; sie ist nur bei bakteriellen Erkrankungen erhöht. Die Erregerdiagnostik wird für die HSVE und andere Erreger über den Liquor (Lumbalpunktion) mittels Polymerasekettenreaktion (PCR) durchgeführt. Ungewöhnliche Erreger viraler Meningoenzephalitiden werden in den westlichen Ländern zwar noch vereinzelt, aber zunehmend häufiger gefunden – nämlich Hantaan- und Puumula-Virus aus der Familie der Bunyaviren, das Nipah-Virus aus der Familie der Paramyxoviren sowie das West-Nil-Virus (WNV) und das Japanische Enzephalitis-B-Virus (JEV) aus der Familie der Flaviviren. Tollwut stellt weltweit nach wie vor die zehnthäufigste Infektionskrankheit dar. Vor wenigen Jahren sind in Deutschland seit Jahrzehnten wieder die ersten Patienten an Tollwut erkrankt, unglücklicherweise im Rahmen einer Transplantation von Spenderorganen. Die Organspenderin hatte sich in Indien infiziert. Bei Erhebung der Auslandsanamnese sollte stets daran gedacht werden, dass Tollwut eine variable Inkubationszeit von meist 3 Wochen bis 3 Monate, in Einzelfällen bis zu mehreren Jahren hat. Der letzte Tollwutfall in Deutschland war 2007 durch einen Hundebiss in Marokko zustande gekommen (RKI 2009). In einheimischen Fledermäusen kommen ebenfalls Tollwutviren vor, die potenziell zu Infektionen und Erkrankungen des Menschen führen können. Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick Der Verdacht auf Virusenzephalitis basiert auf Anamnese/Fremdanamnese, klinischer Untersuchung und der Untersuchung des Liquors sowie auf dem Erregernachweis (gemäß den Leitlinien in der Liquordiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Liquordiagnostik und klinische Neurochemie, DGLN). Beim enzephalitischen Syndrom sind die MRT-Untersuchung und ein EEG erforderlich. Die cCT hat lediglich Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie 1

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KAPITELEntzündliche und er regerbedingte Krankheiten

Virale Meningoenzephalitis

Entw ick lungss tufe: S1Stand: September 2012

Gült ig bis : 2014AMWF-Regis ternum m er : 030/100

COI-ErklärungClinical Pathw ay

Feder führendProf. Dr. Uta-Meyding-Lamadé, Frankfurt

meyding-lamade.uta@khnw .de

Was gibt es Neues?

Das Medikamentenspektrum für Viruskrankheiten wurde in den letzten Jahren erweitert. Zu nennen sind dieNeuraminidasehemmer mit Wirksamkeit bei Orthomyxoviren (Zanamivir [inhalativ], Oseltamivir [oral] undPeramivir [i. v.]), die Breitspektrum-Antiherpetika Adefovir (auch gegen HIV und HBV wirksam) und Lobucavir sowiesog. Canyon-Blocker (Pleconaril) gegen Picornaviren (z. B. Coxsackieviren). Allerdings liegt für keines dergenannten Präparate bislang eine kontrollierte Studie über die Wirksamkeit bei viralen Meningoenzephalitiden vor.Für die Therapie der durch Influenzaviren bedingten ZNS-Infektionen stehen mit den Neuraminidasehemmernklinisch wirksame Medikamente zur Verfügung (CDC Report 2009). Die Empfindlichkeit der zirkulierendenVirusstämme wird im Rahmen nationaler und internationaler Surveillance-Systeme überwacht.Für die Differenzialdiagnostik zwischen bakteriellen und viralen Meningoenzephalitiden bietet sich dieBestimmung der Procalcitonin-Konzentration im Serum an; sie ist nur bei bakteriellen Erkrankungen erhöht. DieErregerdiagnostik wird für die HSVE und andere Erreger über den Liquor (Lumbalpunktion) mittelsPolymerasekettenreaktion (PCR) durchgeführt.Ungewöhnliche Erreger viraler Meningoenzephalitiden werden in den westlichen Ländern zwar noch vereinzelt,aber zunehmend häufiger gefunden – nämlich Hantaan- und Puumula-Virus aus der Familie der Bunyaviren, dasNipah-Virus aus der Familie der Paramyxoviren sowie das West-Nil-Virus (WNV) und das JapanischeEnzephalitis-B-Virus (JEV) aus der Familie der Flaviviren.Tollwut stellt weltweit nach wie vor die zehnthäufigste Infektionskrankheit dar. Vor wenigen Jahren sind inDeutschland seit Jahrzehnten wieder die ersten Patienten an Tollwut erkrankt, unglücklicherweise im Rahmeneiner Transplantation von Spenderorganen. Die Organspenderin hatte sich in Indien infiziert. Bei Erhebung derAuslandsanamnese sollte stets daran gedacht werden, dass Tollwut eine variable Inkubationszeit von meist 3Wochen bis 3 Monate, in Einzelfällen bis zu mehreren Jahren hat. Der letzte Tollwutfall in Deutschland war 2007durch einen Hundebiss in Marokko zustande gekommen (RKI 2009). In einheimischen Fledermäusen kommenebenfalls Tollwutviren vor, die potenziell zu Infektionen und Erkrankungen des Menschen führen können.

Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick

Der Verdacht auf Virusenzephalitis basiert auf Anamnese/Fremdanamnese, klinischer Untersuchung und derUntersuchung des Liquors sowie auf dem Erregernachweis (gemäß den Leitlinien in der Liquordiagnostik derDeutschen Gesellschaft für Liquordiagnostik und klinische Neurochemie, DGLN).Beim enzephalitischen Syndrom sind die MRT-Untersuchung und ein EEG erforderlich. Die cCT hat lediglich

Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie

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einen Stellenwert als Screening-Test.Bei enzephalitischer Symptomatik und dem Verdacht auf eine Herpesvirus-Ätiologie ist die i. v. Gabe von Aciclovirohne Verzug einzuleiten.Aciclovir kann auch bei der Zoster-Enzephalitis eingesetzt werden, Ganciclovir und Foscarnet bei der durchZytomegalievirus (CMV) bedingten Enzephalitis und Pleconaril bei der Enterovirus-Enzephalitis. Eine Wirksamkeitvon Kortikoiden als begleitende Therapie ist bisher nicht erwiesen und Gegenstand laufender Studien.Patienten mit akuten viralen Enzephalitiden sind auf der Intensivstation zu betreuen.Die blande Virusmeningitis ist symptomatisch antipyretisch und analgetisch zu behandeln.

Definition und Klassifikation

Begriffs definition

Bei den in dieser Leitlinie behandelten Erkrankungen handelt es sich um virale Infektionen der Meningen und/oderdes Gehirns und Myelons mit entsprechenden Symptomen.

Definition des Gesundheitsproblems

Virale Enzephalitiden werden bei immunologisch kompetenten Patienten in den gemäßigten Breiten hauptsächlichdurch eine kleine Gruppe von Viren ausgelöst: Herpes-simplex-Virus Typ 1 (HSV-1), Varicella-Zoster-Virus (VZV),Epstein-Barr-Virus (EBV), Mumps-, Masern- und Enteroviren. Die Prognose hängt wesentlich von der Art des Erregersab, aber auch vom Allgemeinzustand und Alter des Patienten. Die Herpes-simplex-Virus-Enzephalitis (HSVE) verläuftunbehandelt in 70 von 100 Fällen tödlich. Behandelt (mit spezifischer Therapie) beträgt die Letalität noch immer 20–30 %. Für die HSVE gibt es gute Therapiemöglichkeiten, vorausgesetzt die Verdachtsdiagnose wird früh gestellt unddie Behandlung unverzüglich eingeleitet. Einige in Europa seltene Viruskrankheiten wie Tollwut (Rabies), West-Nil-Enzephalitis (WNE) und Japanische Enzephalitis B (JEV) haben bei fehlender spezifischer Therapie eine hoheSterblichkeit (Solomon et al. 2003a, Solomon et al. 2003b). Die rasche Diagnosestellung und Einleitungentsprechender Therapiemaßnahmen haben einen großen Einfluss auf das Überleben und das Ausmaß bleibenderHirnschäden (Steiner et al. 2010).

Die Entwicklung neuer bildgebender (MRT) und molekularbiologischer (z. B. PCR) Diagnoseverfahren brachteerhebliche Fortschritte für die Identifizierung viraler ZNS-Erkrankungen und die Etablierung kausalerTherapieverfahren. Die Zahl effektiver und gut verträglicher antiviraler Substanzen steigt ständig. In den letzten Jahrenwurde unter anderem das Imidazolidinon-Analogon Pleconaril eingeführt, das bei Enterovirus-Meningoenzephalitideneine Wirkung haben könnte, sofern die Therapie nicht erst in der Phase des Multiorganversagens einsetzt (Kak-ShanShia et al. 2002, Bryant et al. 2004). Das Präparat ist derzeit nur über die Auslandsapotheke verfügbar. Die selektivenNeuraminidasehemmer (De Clerq 2002) eröffnen neue therapeutische Optionen für Krankheiten durchOrthomyxoviren (Rotbart 2000a). Peramivir für die i. v. Anwendung ist nur über die Auslandsapotheke erhältlich.

Die durch Viren ausgelöste reine Meningitis ist harmlos und nicht speziell therapiebedürftig, solange es sich allein umein Reizsyndrom der Hirnhäute handelt. Die Erregersuche ist oft erfolglos.

Klassifikation der Krankheitsbilder

Eine virale Meningitis (synonym aseptische Meningitis) geht mit Kopfschmerz, Übelkeit, manchmal auch Erbrechen,Nackensteife sowie Licht- und Lärmscheu einher. Neurologische Herdzeichen und Bewusstseinsstörungen gehörennicht zum Krankheitsbild. Die Liquorzellzahl ist erhöht (< 1000 Zellen pro µl;); Liquor-Protein und -Laktat steigen nurleicht an oder verbleiben im Normalbereich. Die akute Symptomatik klingt auch ohne Therapie nach Tagen biswenigen Wochen ab.

Die akute virale (Meningo-)Enzephalitis ist charakterisiert durch quantitative und qualitative Bewusstseinsstörungen.Hinzu kommen oft neurologische Herdsymptome wie fokale oder generalisierte Anfälle, Paresen, aphasischeStörungen und oft ein Meningismus. Der (Meningo-)Enzephalitis geht typischerweise eine Allgemeinkrankheit (Röteln,Masern, Mumps, Varizellen, Exanthema subitum, Dreitagefieber, Ringelröteln) oder ein katarrhalischesProdromalstadium voraus (Enteroviruserkrankungen einschließlich Poliomyeloenzephalitis, HSV-Enzephalitis, FSME).

Die wichtigsten in Europa vorkommenden viralen Meningitiden und Meningoenzephalitiden und ihre Erreger sind in ▶ Tab. 40.1 aufgeführt.

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Epidemiologie

Die Inzidenz der viralen ZNS-Infektionen liegt in den USA mit 10–20/100.000 pro Jahr deutlich höher als die derbakteriellen Meningitis (Hammer u. Connolly 1992, Rotbart 2000b). Zu den häufigsten Erregern zählen Enteroviren(Coxsackie A, B und Echo-Viren), gefolgt von Mumpsvirus, Arboviren (Flavi-, Bunya- und Alpha-Viren), Herpesviren, HIVund dem lymphozytären Choriomeningitisvirus (LCMV). Die aktive Mumps-Impfung hat seit 1980 zu einem deutlichenRückgang der Mumps-Meningoenzephalitis geführt. Virusmeningitiden treten beim männlichen Geschlecht häufigerauf als beim weiblichen.

Virale Enzephalitiden weisen eine regional unterschiedliche Inzidenz bei variierendem Erregerspektrum auf. InNordamerika spielen Arboviren eine größere Rolle als in Europa. In Deutschland verursachte das FSME-Virus 260Erkrankungsfälle im Jahre 2010 (RKI 2010), in Österreich waren es 63, in der Schweiz 96 Patienten. Für dieRötelnvirus assoziierte Enzephalitis wird hier nur eine Zahl von 1/24.000 angegeben (Meyding-Lamadé et al. 2004).Die HSVE ist mit jährlich ca. 5 Erkrankungen pro 1 Million die häufigste sporadische Enzephalitis in Westeuropa.Einzelfälle wurden nach Schutzimpfungen (Cholera, Pertussis) beobachtet. Die Rabies (Tollwut) mit denTierreservoiren Füchse und Hunde gilt bei uns als überwunden; weltweit sterben jährlich noch 35.000–100.000Menschen an der Tollwut. Es gibt jedoch Tollwutviren in einheimischen Fledermäusen, die potenziell zu Infektionenund ZNS-Erkrankungen des Menschen führen. Da die Inkubationszeit der Erkrankung sehr variabel sein kann, bestehtbei Immigranten (in Abhängigkeit von ihrer Herkunftsregion) die Möglichkeit, dass die Krankheit noch Monate nach derEinwanderung manifest wird.

Zur Häufigkeit von Virusmanifestationen bei Immundefizienz werden folgende Zahlen angegeben (Brodt et al. 2000):HSV mit nekrotisierenden Hauterscheinungen (selten Enzephalitis) 4,0 %; VZV-Komplikationen (Herpes zoster,seltener Enzephalitis) 4,8 %; progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) 1,8 %; CMV-Retinitis und -enzephalitis 3,2 % der Betroffenen.

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Diagnostik

An die Virusätiologie eines akuten oder subakuten ZNS-Prozesses ist bei folgenden anamnestischen Fakten zudenken:

Umgebungsfälle von Viruserkrankungen (Mumps, Varizellen, Polio)Insektenstiche (FSME, andere Arbovirus-Erkrankungen) oder Tierbisse (Rabies)Zugehörigkeit zu AIDS-RisikogruppenBehandlung mit Blut- oder Blutprodukten, Organtransplantation (HIV, CMV, Parvovirus B19)Krankheitsbedingte oder therapeutische Immunsuppression (CMV, JCV, VZV, HHV 6, EBV, HSV1 und 2)Auslandsaufenthalte (Italien: Toskana-Virus, östlicher Mittelmeer-Bereich: West-Nil-Virus, Südostasien:Japanische Enzephalitis und Nipah-Virus-Infektionen, Nord- und Mittelamerika: verschiedene Alpha-Virus-Enzephalitiden, Zentral- und Westafrika: Lassavirus, weltweit verbreitet: Denguevirus)

Die Diagnostik stützt sich auf mikrobiologische und klinische Untersuchungen sowie bildgebende Verfahren. DasEEG hat eine diagnostische Bedeutung für die SSPE (subakute sklerosierende Panenzephalitis) und die HSVE.▶ Abb. 40.1 zeigt das diagnostische Stufenschema bei entzündlichen ZNS-Erkrankungen. Die Stufendiagnostikneurotroper Viren bei Erwachsenen ist in ▶ Tab. 40.2 dargestellt.

Abb. 40.1 Apparative Stufendiagnostik bei entzündlichen ZNS-Erkrankungen.

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Blutuntersuchungen

Für eine virale Infektion des ZNS sprechen eine relative Lymphozytose bei normalen, leicht erhöhten oder sogarerniedrigten Gesamtleukozyten und als neueres Kriterium das normale Procalcitonin (immer < 0,5 ng/ml); es ist beiakuten bakteriellen ZNS-Infektionen praktisch immer erhöht (Menager et al. 2002, Taskin et al. 2004). In der Regelerbringen die übrigen Blutwerte normale oder nicht richtungweisende Befunde. So kann das C-reaktive Protein auchbei akuten viralen ZNS-Krankheiten moderat ansteigen, erreicht aber selten Werte über 50 mg/l.

Liquoruntersuchungen

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Der Liquor cerebrospinalis weist in den ersten 4–48 Stunden oft eine Misch-Pleozytose (25–1000 Zellen/µl) mitLympho-, Mono- und Granulozyten auf, die dann in ein lymphozytäres Zellbild übergeht. Gesamtprotein und Laktat sindnormal (Virusmeningitis) oder gering erhöht (Virusenzephalitis: immer ≤ 4,0 mmol/l). Eine intrathekale Immunglobulin-Synthese ist bei Virusmeningitis nie und bei akuter Virusenzephalitis in der Initialphase nicht zu erwarten. Sieentwickelt sich vor allem bei Enzephalitiden durch HSV, VZV, CMV und FSME in den ersten Krankheitswochen (≥ 10Tage). Dasselbe trifft für die intrathekale Produktion erregerspezifischer Antikörper zu, die über den Antikörper-Index(AI) bestimmt werden. Bei chronischen Virusenzephalitiden ist hingegen zum Zeitpunkt der Diagnostik oft eineintrathekale Immunglobulin-Synthese einschließlich der Produktion erregerspezifischer Antikörper (AI > 1,5) vorhanden(Reiber u. Felgenhauer 1987).

Virologische Diagnostik

Die exakte Identifizierung des Erregers gelingt in weniger als 50 % der Fälle. Folgende Nachweisverfahren stehen zurVerfügung (Kniehl et al. 2002):

Direkter Nachweis viraler DNA oder RNA mittels PCR aus nicht zentrifugiertem Liquor (z. B. HSV, VZV, CMV, EBV,Polyoma-JC-Virus, Flavi- und Enteroviren)Nachweis von erregerspezifischen IgM-Antikörpern in Liquor und/oder Serum mittels IgM ELISA (z. B. WNV-Enzephalitis) (Solomon et al. 2003b)Nachweis der intrathekalen Produktion erregerspezifischer Antikörper (Ermittelung des AI)Der direkte Erregernachweis mittels kultureller Verfahren aus Körperflüssigkeiten, Abstrichen oder bioptischgewonnenem Hirnmaterial spielt für die klinische Praxis keine Rolle mehr. Er kann evtl. noch für den Nachweisvon Enteroviren und/oder VZV aus dem Liquor von Kindern eingesetzt werden, wenn molekularbiologischeTechniken (PCR) nicht verfügbar sind.

Bildgebende Verfahren (MRT bzw. soweit nicht verfügbar cCT)

Das MRT dient der Differenzialdiagnose raumfordernder oder andersartiger entzündlicher Prozesse wie Abszessenoder der ADEM und der Erfassung krankheitstypischer Verteilungsmuster des entzündlichen Prozesses (die cCT-Veränderungen kommen allerdings für die Diagnosestellung und die Akuttherapie in der Regel zu spät):

asymmetrischer Stammganglienbefall oft bei Arboviren (FSME, JEV)temporobasale, periinsuläre und zinguläre kortikale Herde bei HSVE

EEG-Befund

Radermecker-Komplexe sind bei Slow-Virus-Krankheiten pathognomonisch, PLEDS (periodische lateralisierteepileptiforme Entladungen; alte Bezeichnung: temporale periodische paroxysmale Dysrhythmie) bei der HSVE.

TherapieAllgemeine Therapieprinzipien

1. Bei Verdacht auf eine Enzephalitis durch Viren der Herpesgruppe (vor allem HSV, VZV), der in der Frühphasebei allen schweren Enzephalitiden gegeben ist, muss ohne zeitlichen Verzug ein Antiherpetikum (in der RegelAciclovir) verabreicht werden.

2. Ist eine bakterielle ZNS-Erkrankung differenzialdiagnostisch nicht sicher auszuschließen, werden zunächstzusätzlich Antibiotika gegeben (z. B. Ceftriaxon plus Ampicillin; cave: Listerien-Meningoenzephalitis).

3. Die passive Immunisierung mit Hyperimmunseren ist bei der FSME nicht indiziert und wird auf andereungewöhnliche Erreger beschränkt bleiben (z. B. bei Rabies-Verdacht unmittelbar nach der Exposition oderwenn die Übertragung einer schweren Virusinfektion aus epidemiologischen oder sonstigen Gründennaheliegt).

4. Die allgemeinen Therapiemaßnahmen sind bei allen schwer verlaufenden Enzephalitiden gleich:Hirnödembehandlung: Osmotherapeutika, der therapeutische Effekt der Entlastungstrepanation ist bishernicht gesichert.Glukokortikoide werden analog zu ihrem Einsatz bei der Pneumokokkenmeningitis aktuell bei der HSVEgeprüft. Ihr Effekt konnte bisher nicht belegt werden, zumal eine Unterdrückung der körpereigenen Abwehrzu befürchten ist. Als ultima ratio ist die Gabe höherer Glukokortikoiddosen bei kritischen Anstiegen desintrakraniellen Drucks vertretbar.Eine antikonvulsive Therapie ist erst beim Auftreten von hirnorganischen Anfällen oder beim Statusepilepticus indiziert (siehe DGN-Leitlinie „Status epilepticus im Erwachsenenalter").Analgetika und Sedativa werden je nach Bedarf eingesetzt. Bei der Gabe von Neuroleptika (Haloperidol,Melperon, Olanzapin) ist die Senkung der Krampfschwelle zu bedenken.Ein niedrig dosiertes subkutanes Heparinpräparat ist zur Thrombose- und Lungenembolie-Prophylaxe beiallen bettlägrigen Patienten indiziert.Symptomatisch werden vegetative Entgleisungen, Temperatur- und Atemstörungen, einSalzverlustsyndrom oder der Diabetes insipidus behandelt. Auf eine ausreichende Ernährung und ein

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optimales Temperaturmanagement ist besonderer Wert zu legen.5. Für einige Viruskrankheiten mit potenzieller ZNS-Beteiligung (z. B. Masern) liegt der Schwerpunkt auf der

Prophylaxe, insbesondere der aktiven Impfung. Die Zahl der Früh- und Spätkomplikationen durch Masern,Röteln, Mumps und Poliomyelitis konnte durch frühzeitige Impfung der Bevölkerung drastisch gesenkt werden(Krugman 1983). Für sporadische oder endemisch auftretende Viruserkrankungen wie FSME oder Tollwut istes ausreichend, besonders exponierte Personengruppen aktiv zu immunisieren. Namentlich für die FSME gibtes regionale Impfempfehlungen.

Pharmakotherapie

Zur medikamentösen antiviralen Therapie siehe ▶ Tab. 40.3 und ▶ Tab. 40.4.

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Charakteristika einzelner Erreger und spezielle Therapie

Herpes-simplex-Virus-Enzephalitis (HSVE)

Die HSVE ist unbehandelt bei mindestens 70 % der Fälle letal. Personen mit rekurrierendem Herpes labialis sindnicht gehäuft betroffen. Bei Erwachsenen und älteren Kindern ist die akute nekrotisierende Enzephalitis nahezu immerdurch HSV-Typ 1 bedingt, während der Typ 2 bei ihnen eher eine gutartige Meningitis hervorruft. Bei Neugeborenenführt der Typ 2 dagegen zu einer hämorrhagisch-nekrotisierenden Enzephalitis diffusen Charakters und ist – andersals bei Erwachsenen – nicht auf rhinenzephale Strukturen begrenzt.

Symptomatik: Die HSV-1-Enzephalitis ist durch ihren zweiphasigen Verlauf gekennzeichnet:

1. grippales Vorstadium (Kopfschmerz, hohes Fieber), danach oft kurzzeitige Besserung2. fokal enzephalitisches Stadium: aphasische Symptome, Mono- und Hemiparesen, psychotische Symptome

(die nicht selten vor der Aphasie zu beobachten sind), Krampfanfälle (komplex-fokal beginnend mit sekundärerGeneralisation) sowie quantitative Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma

Diagnostik: Der Liquor weist eine lymphozytäre Pleozytose (5–350/µl; initial normale Liquorzellzahl bei 5 %; Whitley etal. 1982), eine mäßige bis deutliche Eiweißerhöhung und einen leichten Anstieg des Laktats (max. 4,0 mmol/l) auf. ImMRT sind die enzephalitischen Herde in der grauen Substanz mediotemporobasal von Anfang an mit dem Auftretender klinischen Symptomatik als Hyperintensitäten in der Diffusions- und FLAIR-Wichtung zu identifizieren. Das cCT istdagegen in den ersten 4 Tagen nach Einsetzen der Symptome noch unauffällig. Später werden temporo- undfrontobasale Hypodensitäten und eine Beteiligung des G. cinguli erkennbar. Die Verifizierung der Diagnose erfolgtdurch die Liquor-PCR in den ersten Tagen (Sensitivität 95–100 % je nach Vergleichsgruppe; Aurelius et al. 1991,Guffond et al. 1994) oder verzögert durch Nachweis steigender Liquorantikörper bzw. einer intrathekalenAntikörpersynthese (Sensitivität 97 %, Spezifität 73–100 % je nach Vergleichswert; Kahlon et al. 1987) ab Ende der 2.Krankheitswoche. Der Virus-DNA-Nachweis mittels PCR kann im weiteren Krankheitsverlauf wieder negativ werden.

Therapie: Die Effektivität von Aciclovir wurde in 2 großen Studien gesichert (Sköldenberg et al. 1984, Whitley et al.1986). Durch rechtzeitigen Therapiebeginn lässt sich die Letalität auf 20 % senken. Aciclovir wird dementsprechendschon im Verdachtsfall ohne zeitlichen Verzug verabreicht:

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Aciclovir i. v. 3 × 10 mg/kg für mindestens 14 Tage (auf ausreichende Hydrierung achten, Dosisreduktion beiNiereninsuffizienz).Wenn die HSV-PCR im Liquor negativ ist und es nicht gelingt, eine andere Krankheitsursache zu finden, soll dieAciclovir-Therapie mindestens 10 Tage lang durchgeführt werden.

Bei Patienten mit AIDS und nach Organtransplantation sind Aciclovir-resistente HSV-Stämme beschrieben. In diesenFällen ist alternativ Foscarnet (60 mg/kg i. v. (innerhalb von 1 Stunde infundiert) alle 8 Stunden über 3 Wochen zugeben.

Varizellen- und Zoster-Enzephalitis

Bei einer Varizelleninfektion (Windpocken) kommt es in etwa 0,1 % der Erkrankungen zu ZNS-Manifestationen. DieVarizellen-Enzephalitis manifestiert sich 4–8 Tage nach den Hauterscheinungen. In der Hälfte der Fälle geht sie mitzerebellären Symptomen einher. Ansonsten steht die zerebrale oder zerebrospinale Symptomatik im Vordergrund.Das Verabreichen von Aciclovir in o. g. Dosierung ist zu empfehlen, wenngleich hierzu keine größeren randomisiertenStudien vorliegen (Wallace et al. 1992). Als alternative Therapie wird auch Brivudin, 15 mg/kg KG/Tag genannt.

▶ Cave

Bei gleichzeitiger Gabe von Fluorouracil oder verwandten Substanzen kann es durch Brivudin zu stärkerenNebenwirkungen (Inappetenz, Schläfrigkeit, Schwindel) kommen.

Für die Behandlung des unkomplizierten Herpes zoster stehen folgende Präparate zur Verfügung:

Aciclovir (5 × 800 mg oral für 7–10 Tage),Famciclovir (3 × 250–500 mg oral für 7–10 Tage) undBrivudin (125 mg/d; Therapiebeginn innerhalb der ersten 72 Stunden nach Auftreten der Effloreszenzen für 7Tage).

Der Zoster ophthalmicus wird mit Aciclovir i. v. behandelt (▶ Tab. 40.3).

Eine Zoster-Enzephalitis, als Komplikation des Zoster oder als eigenständige Enzephalitis, betrifft vorzugsweisePersonen mit Leukämie, Lymphomen und sonstigen Immundefekten. Die ZNS-Symptomatik entwickelt sichtypischerweise wenige Tage bis Wochen nach Auftreten der kutanen Bläschen, die meistens am Kopf lokalisiert sind.

Für die Zoster-Enzephalitis wird die i. v. Aciclovir-Therapie empfohlen (▶ Tab. 40.3). Die Zoster-Enzephalitis kannähnlich wie die HSV-1-Enzephalitis ablaufen, allerdings mit geringerer Progredienz und zumeist weniger schweremKrankheitsbild. Residuen oder ein letaler Ausgang sind auch hier nicht ungewöhnlich. Der frühe Therapiebeginn mitAciclovir ist entscheidend. Wenn Aciclovir ungenügend wirksam ist, kann bei VZV-Infektionen alternativ Foscarnet(Dosis siehe CMV-Infektionen) verabreicht werden (▶ Tab. 40.3).

Infektionen durch Zytomegalievirus

Das Zytomegalievirus (CMV) kann prä- oder perinatal schwere Enzephalitiden und Defektsyndrome verursachen. CMV-Infektionen im Kindes-, Jugend und Erwachsenenalter verlaufen oft inapparent. Die seltenen akuten Erkrankungenverlaufen meist ähnlich einer Infektiösen Mononukleose. Nahezu ausschließlich bei Immunkompromittierten kommenakute oder chronische Infektionen des Nervensystems vor. Sie treten als opportunistische Infektionen bei AIDS auf, vorallem als Enzephalitis und/oder Chorioretinitis. Im Liquor findet sich dann mitunter eine granulozytäre Pleozytose.

Verbindliche Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie der CMV-Krankheit mit Beteiligung des ZNS wurden vomInternational Herpes Management Forum (IHMF) erarbeitet (Griffiths 2004). Für die Diagnostik wird die Liquor-PCRgefordert. Die Therapie der CMV-Enzephalitis und -Retinitis sind noch unbefriedigend und bestehen in der Gabe vonGanciclovir 5 mg/kg alle 12 Stunden i. v. Da die Effektivität dieses Präparates bei der CMV-Enzephalitis nicht sehr hochist, wird in der Phase der initialen Therapie (3 Wochen) eine Kombination mit Foscarnet (60 mg/kg alle 8 Stunden oder90 mg i. v. alle 12 Stunden) empfohlen. Anschließend wird die Ganciclovir-Monotherapie angeschlossen, die beiimmunologisch kompetenten Personen 3 Wochen und bei immunologisch kompromittierten Patienten 6 Wochendauern soll. Falls eine orale Einnahme möglich ist, kann anstelle von Ganciclovir auch Valganciclovir (2 × 900 mg/düber 3 Wochen, später 1 × 900 mg/d) gegeben werden. Valganciclovir entfaltet bei CMV-Retinitis eine gute Effektivität;für die Anwendung bei CMV-Enzephalitis liegen keine Studien vor (Martin et al. 2002). Als Mittel der zweiten Wahl stehtCidofovir (Vistide) 5 mg/kg i. v. einmal pro Woche (zu verabfolgen mit Probenecid 2 g 3 Stunden vor und 2 bzw. 8Stunden nach der Infusion) zur Verfügung. Foscarnet und Cidofovir sind toxischer als Ganciclovir. Da Cidofovir keinNukleosidanalogon ist, kann es auch bei Ganciclovir-Resistenz wirksam sein; die Substanz gilt als karzino- undmutagen (Keating 1999; Griffiths 2004). Der Therapieerfolg ist wiederum bei der Chorioretinitis oft gut, bei denanderen Manifestationen unsicher.

Treten CMV-Infektionen im Rahmen einer AIDS-Erkrankung auf, ist zur Rezidivprophylaxe im Anschluss an dieAkutbehandlung eine Erhaltungstherapie notwendig: Ganciclovir 5 mg/kg i. v. an 5–7 Tagen/Woche oder Foscarnet 90 

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mg/d i. v. (Balfour et al. 1996). Falls unter der sehr wirksamen HAART-Therapie die Zahl der CD4+-Zellen für 6 Monate> 100/mm3 bleibt, kann die Chemotherapie beendet werden (Griffiths 2004).

Epstein-Barr-Virus-Enzephalitis

EBV-Enzephalitiden kommen vorzugsweise bei immunsupprimierten Personen, beispielsweise Organempfängern,vor und äußern sich in Fieber, Verwirrtheit, auch Übelkeit, Erbrechen und Eintrübung. Herdsymptome undMeningismus sind ungewöhnlich. Auch der EEG-Befund ist unspezifisch. Die diagnostische Verifizierung erfolgt überden EBV-DNA-Nachweis im Liquor, die intrathekale Antikörperproduktion (AI) ist bei Immunsupprimiertenunzuverlässig. Therapieversuche wurden vor allem mit Aciclovir unternommen, hatten eine nachhaltige Wirkungjedoch nur dann, wenn die fehlende immunologische Kompetenz wieder hergestellt werden konnte.

Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML)

Die PML wird durch das JC-Virus, ein hüllenloses DNA-Virus aus der Gruppe der Polyomaviren, hervorgerufen, dasüberwiegend Oligodendrozyten, aber auch Neuronen und Körnerzellen befällt. Die Durchseuchung der erwachsenenPopulation liegt bei 92 %. Eine PML wird fast ausschließlich bei Personen mit Immundefekten, neoplastischenErkrankungen oder nach therapeutischer Immunsuppression beobachtet. Hier bekommen insbesondere Therapienmit monoklonalen Antikörpern eine zunehmende Relevanz (z. B. Einsatz von Natalizumab bei MS-Patienten,Rituximab). Die Symptomatik beginnt meist mit neuropsychologischen Auffälligkeiten, Kopfschmerzen, Sehstörungen.Des Weiteren treten Paresen, Aphasie, Krampfanfälle, Ataxie und Dysarthrie auf. Die Endphase ist durch Demenz,Ataxie, Tetraparesen, kortikale Blindheit und präfinale Dezerebrationszeichen gekennzeichnet. Die Verdachtsdiagnosefolgt aus der Anamnese (z. B. HIV-Infektion, Immunsuppression oder bekannte lymphoproliferative Erkrankung), demneurologischen Status und dem MRT-Befund. Die Verifizierung der Diagnose ergibt sich durch den Virusnachweismittels PCR im Liquor (Weber u. Major 1997), wobei die Sensitivität durch Hypermutation der Virusstämmeherabgesetzt ist. Daher sollte bei hochgradigem Verdacht und negativer PCR eine erneute Bestimmung auch inverschiedenen Referenzlaboren erfolgen. Falls der PCR-Nachweis nicht gelingt, ist eine Hirnbiopsie zurDiagnosesicherung anzustreben.

Eine wirksame Therapie ist bisher nicht bekannt. In der Vergangenheit hat man den Krankheitsverlauf mit Cidofovir,Camptothecin oder Interferon-alpha in Einzelfällen positiv beeinflussen können (Vollmer-Haase et al. 1997, Huang etal. 1998, Taofik et al. 1998, DeLuca et al 1999, Happe et al 1999). Bei AIDS-Patienten kann durch die HAART-Therapieund den damit verbundenen Anstieg der Immunkompetenz die Symptomatik verbessert werden. Bei Patienten, die mitNatalizumab behandelt wurden, wird nach dem sofortigen Therapiestopp eine Plasmapheresebehandlung zurElimination des Wirkstoffs empfohlen. Allerdings ist im Anschluss als Komplikation ein Immune ReconstitutionInflammatory Syndrome (IRIS) möglich, das hochdosiert mit Kortikoiden therapiert wird (Schröder et al. 2010). EineStudie über den zusätzlichen Einsatz von Mefloquin bei 40 PML-Patienten befindet sich derzeit in der Auswertung.

Mollaret-Meningitis

Sie stellt eine Sonderform der benignen sogenannten chronisch rezidivierenden Meningitis dar. Vermutlich sindHerpes-simplex-Viren (häufiger HSV 2) Trigger der Erkrankung. Im Liquor findet sich eine Pleozytose mittypischerweise großen endothelialen Zellen (sog. Mollaret-Zellen), die allerdings nicht pathognomonisch für dieErkrankung sind. Der HSV-2-PCR-Nachweis gelingt gelegentlich. Im Allgemeinen verläuft die Erkrankungselbstlimitierend, wobei teilweise ein mehrjähriger rezidivierender Verlauf besteht.

Differenzialdiagnostisch ist auch an die medikamenteninduzierte aseptische Meningitis zu denken. Diese weist eineidentische Symptomatik auf und entwickelt sich nach Gabe bestimmter Medikamente wie NSAR (v. a. Ibuprofen), aberauch nach Verabreichung verschiedener Antibiotika (Hopkins u. Jolles 2005, Diaz-Hurtado u. Vidal-Tolosa 2006).

„Sl ow-Virus-Krankheiten“ des ZNS

Die beiden Erkrankungen mit nachgewiesener Slow-Virus-Pathogenese sind die subakute sklerosierendePanenzephalitis (SSPE) und die progressive Rubella-Panenzephalitis (PRP). Gemeinsame Charakteristika derbeiden Krankheitsbilder sind die besonders langen Inkubationszeiten (Monate bis Jahre) sowie die protrahierte,chronisch-progrediente Symptomatik, die in der Regel zum Tode führt. Vom klinischen Verlauf her sind die Krankheitenähnlich. SSPE und PRP treten praktisch nur im Kindes- und Jugendalter auf. Es kommt zu Verhaltensstörungen,Persönlichkeitsverfall und Demenz. Typisch für SSPE sind myoklonische Entäußerungen. Die Diagnose der SSPEwird durch Nachweis einer exzessiven intrathekalen Antikörperproduktion gegen Masernviren (AI >> 1,5) bzw. SSPE-Antigen gesichert. Nahezu pathognomonisch ist auch das EEG-Muster der Radermecker-Komplexe. Die Häufigkeit derSSPE hat seit Einführung der Masernschutzimpfung drastisch abgenommen. Betroffen sind Kinder, die nicht odernicht rechtzeitig gegen Masern geimpft wurden. Dies betrifft besonders Kinder aus Familien mit Migrationshintergrundund aus sozial schwachen Familien. Beide Leiden sind therapeutisch nicht beeinflussbar und führen über ein Comavigile zum Tod. Die Anwendung von Interferon-alpha mag möglicherweise den Verlauf verzögern; dieStudienergebnisse sind widersprüchlich.

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Redaktionskomitee

Dr. Christian Jacobi, Krankenhaus Nordwest, Neurologische Abteilung, FrankfurtProf. Dr. Dr. B. Krone, Institut für Virologie, Universität Göttingen jetzt MVZ Laboratoriumsmedizin KasselProf. Dr. Uta Meyding-Lamadé, Neurologische Abteilung, Krankenhaus Nordwest, FrankfurtPriv.-Doz. Dr. Bettina Pfausler, Neurologische Universitätsklinik InnsbruckProf. Dr. em. Hilmar Prange, Neurologische Universitätsklinik GöttingenProf. Dr. Erich Schmutzhardt, Neurologische Universitätsklinik InnsbruckDr. Corinna Schranz, Neurologische Abteilung, Krankenhaus Nordwest, FrankfurtProf. Dr. Volker Schuchardt, Neurologische Klinik Lahr Prof. Maja Steinlin, Neuropädiatrische Universitätsklinik Bern

Federführend: Prof. Dr. Uta Meyding-Lamadé, Krankenhaus Nordwest, Neurologische Abteilung, Steinbacher Hohl 2–26, 60488 Frankfurt, Tel.: 069/760-13246, Fax: 069/760-14440E-Mail: [email protected]

Entw icklungsstufe der Leitl inie: S1

Finanzierung der Leitlinie

keine Fremdfinanzierung

Methodik der Leitlinienentwicklung

Zusammensetzung der Leitl iniengruppe, Beteiligung von Interessengruppen

s. Redaktionskomitee, keine Hinzuziehung weiterer Verbände oder Interessengruppen

Recherche und Auswahl der wissenschaftl ichen Belege

Basierend auf den aktuellen Leitlinien der EFNS „viral Meningoencephalitis" (Steiner et al. 2010) erfolgte eineergänzende Literatursuche in Pubmed 2009-2010 nach folgenden Suchbegriffen: 1. Viral meningoencephalitis/ andtherapy/ and diagnosis/ and clinical trial, 2. Viral meningitis and therapy/ and diagnosis/ and clinical trial, 3. Herpesencephalitis/ and therapy/ and diagnosis/ and clinical trial, 4. viral meningitis/ meningoencephalitis and steroids/ andclinical trial, 5. PML and treatment and clinical trial

Verfahren zur Konsensfindung.

Die Konsensusbildung unter allen Autoren dieses Kapitels erfolgte mittels eines modifizierten Delphi-Verfahrens.

Literatur

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© Deutsche Gesellschaft für Neurologie

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Aus: Hans-Christoph Diener, Christian Weimar (Hrsg.)Leitl inien für Diagnostik und Therapie in der NeurologieHerausgegeben von der Kommission "Leitlinien" der Deutschen Gesellschaft fürNeurologieThieme Verlag, Stuttgart, September 2012

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