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28 % der Bevölkerung nehmen Vitaminpräparate. 907 Mio. € Umsatz mit Nahrungsergänzungs- mitteln in Deutschland 2010

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28% der

Bevölkerung nehmen

Vitaminpräparate.

907 Mio.€ Umsatz

mit Nahrungsergänzungs-

mitteln in Deutschland

2010

Wer wirklich an Vitamine glaubt,begnügt sich nicht mit Pillen undBrausetabletten. Echte Anhän-

ger der Heilslehre lassen sich Vitamine lie-ber gleich direkt in die Blutbahn spritzen.

Zum Beispiel in München, nur fünf Fla-nierminuten vom Marienplatz entfernt: Ineinem schicken Altbau befindet sich diePraxis von Hubert Attenberger. Praxis istallerdings nicht der richtige Ausdruck. AmKlingelschild steht „Vital Lounge“, undwer mit dem Aufzug in den dritten Stockhinaufruckelt, erlebt dort eine Welt ausbraunen und beigefarbenen Leder sofas,eine Wohlfühloase für Privatpatienten.

Attenberger selbst ist ein drahtigerArzt mit kurzen grauen Haaren, gut ge-bräunt, 59 Jahre alt. Drei Tage in der Wo-che arbeitet der Mediziner in seiner Land-arztpraxis in Gars, die anderen beidenWerktage betreibt er in München „Ge-sundheitscoaching“ für Bessergestellte.

„Viele meiner Patienten leiden an einerArt Erschöpfung“, sagt der Arzt, der je-dem zweiten Kunden mit etwas ganz Be-sonderem hilft: Vitamininfusionen. „Ver-sorgen Sie Ihren Körper mit hochwertigenVitalstoffen“, wirbt er auf seiner Home-page.

Für Preise ab 200 Euro kann man wählen zwischen der Power-Injektion„You.Vital impulse“, der Aufbau-Infusion„You.Vital optimum“ oder der Intensiv-therapie „You.Vital vita plus“.

So ein „Frische-Kick“ bestehe aus Vit -aminen, Enzymen, Mineralstoffen undSpurenelementen, preist Attendorfer sei-ne Medizin an. „Die Power-Injektionschützt vor Stress“, nach der Aufbau-In-fusion „fühlen Sie sich frisch, sind vollerLebensfreude und Tatendrang“.

Einen wissenschaftlichen Beweis, dassdie Infusionen nützen, gebe es nicht,räumt sogar der vitaminbegeisterte Arztein. „Aber ich sehe, dass es den Patientenhilft, weil sie immer wiederkommen. DerSuchtfaktor spricht für sich.“

Selbstverständlich schade so eine Infu-sion auch Gesunden nicht, sagt er. Siestärke die Abwehrkräfte und mache ro-buster. Nach einer kurzen Untersuchung

steckt im Arm eine Infusionsnadel, ausder langsam eine zartrosa Flüssigkeit indie Vene läuft, „Optimum plus“, sagt At-tenberger, „für die winterliche Abwehr“.Die Flüssigkeit enthält Vitamin C, dazuein paar Enzyme und einen Energieregu-lator. „Die leicht rosa Farbe kommt vomBetacarotin“, flüstert der Arzt. Ob manschon was merke? Außer einem leichtenKribbeln sei nichts zu spüren, sagt dieTestperson. „Genießen Sie es einfach“,sagt Attenberger.

Nicht alle Vitaminanhänger können sichdiese exklusive Behandlung leisten, dochfür alle ist gesorgt: In Apotheken verkauftetwa die Firma Orthomol für 60 Euro proPackung ihre konzentrierten Vitamincock-tails. Wem das immer noch zu teuer ist,der findet bei Edeka, Rewe, Aldi, Lidl oderden Drogeriemärkten viele Regalmeterlang Pillenschachteln und Brause röhrchenvoller Nahrungsergänzungsmittel mit denschönsten Versprechen.

Es gibt Vitamin C und B zum Erhaltder „Männergesundheit“, Vitamin E „fürdie Balance der Blutfettwerte“, Magne -sium „für Herz und Muskeln“, Vitaminefür stabile Rentnerknochen, für Schwan-gere, für Frauen, die noch nicht schwan-ger sind, für Sportler – oder schlicht Mul-tivitamine „zur Ergänzung der Vitamin-versorgung“.

Diese „Supplemente“, wie Fachleute sa-gen, werden von mindestens 18 MillionenMenschen in Deutschland geschluckt. Dassind 28 Prozent der Bevölkerung zwischen14 und 80 Jahren. 907 Millionen Euro ga-ben die Deutschen nach Angaben derMarktforschungsfirma IMS Health im Jahr2010 für solche Produkte aus. Noch begeis-terter sind die Amerikaner: Dort kletterteder Umsatz mit Nahrungsergänzungsmit-teln von 9 Milliarden Dollar im Jahr 1995auf zuletzt 18 Milliarden.

Selbst wer auf diese Präparate verzich-tet, kann Vitamine als Zusätze in Lebens-mitteln kaum vermeiden. Der weltgrößteHersteller DSM verkündet selbstbewusst,dass sich „kaum ein Produkt in einem Le-bensmittelregal findet, wo wir nicht in ir-gendeiner Form involviert sind“. Der

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Vitamin €Die Pharmaindustrie redet den Menschen ein, dass dieregelmäßige Einnahme von Vitaminpillen ihr Leben gesünder macht. Viele der hochdosierten Mittel aber

sind schädlich und helfen nur denen, die sie herstellen.H

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Vitamintabletten

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Vitamin Ckommt vor in: Sanddorn, Zitrus-früchten, Schwarzen Johannisbeeren,Paprika, Erdbeeren, Grünkohl, Kiwi, Kohlrabi, Rosenkohl u. a.

Täglicher Bedarf: 100 MilligrammEmpfehlung lt. Deutscher Gesellschaft für Ernährung (DGE)

enthalten in*: 160 g Erdbeeren, 70 g roter Paprika oder 130 g Grünkohl

6,8 Mio. Menschen in Deutschlandnehmen Vitamin-C-haltige Präparate einHochrechnung, 14- bis 80-Jährige; Nationale Verzehrstudie II

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* keine Ernährungsempfehlung;Quellen: DGE, DFA, Brockhaus, Thieme

Nahrungsmittelkonzern Nestlé machtnach eigenen Angaben mit „Produkten,die einen gesundheitsfördernden Zusatz-nutzen haben“, weltweit jährlich 20 Mil-liarden Schweizer Franken Umsatz.

Doch so unaufhaltsam die Vitaminisie-rung der Gesellschaft voranschreitet, sosehr wachsen die Zweifel, ob die Produk-te am Ende überhaupt den Menschen nüt-zen – oder nur den Konzernen, die sieherstellen. Denn in den vergangenen Jah-ren kamen immer mehr Studien zu demErgebnis, dass Vitamine nicht nur unnötigsind, sondern sogar schaden können.

Den bis dahin schwersten Schlag erhieltdie Vitamin-Bewegung im Jahr 1994. Da-mals wollten finnische Forscher nachwei-sen, dass die Einnahme von Vitamin Eund Betacarotin (das im Körper dann zuVitamin A wird), Rauchern Vorteile brin-ge. Für die Studie wurden 29133 männli-che Raucher zwischen 50 und 69 Jahrenin verschiedene Gruppen eingeteilt. Dasunerwartete Ergebnis: In der Gruppe, dieBetacarotin schluckte, stiegen die Fällevon Lungenkrebs um 18 Prozent an, dieGesamtsterblichkeit der Vitaminkonsu-menten war um 8 Prozent erhöht.

„Das Ergebnis war ein Schock“, erin-nert sich Ingrid Mühlhauser, Gesundheits-wissenschaftlerin an der Universität Ham-burg. „Man hielt das zunächst für ein Zu-fallsergebnis, deshalb wiederholte mandie Studie in den USA.“

Dort wurden 18314 Raucher und Asbest -arbeiter wieder per Zufallsgenerator inzwei Gruppen geteilt: Die eine Hälfte be-kam Vitamin A und Betacarotin, die an-dere keine Zusatzvitamine. Diesmal muss-te die Studie 21 Monate früher als geplantabgebrochen werden. Der Grund: Beiden Vitaminkonsumenten traten deutlichmehr Fälle von Lungenkrebs auf, und eskam auch häufiger zu Todesfällen als inder Vergleichsgruppe. Es wäre schlicht un-verantwortlich gewesen, den Studienteil-nehmern weiter Vitaminpillen zu geben.

„Damit war klar, dass die als Raucher-vitamine angepriesenen Vitamine A undBetacarotin für Raucher schädlich waren“,sagt Mühlhauser. „Einen besseren Beweisals eine reproduzierte Studie gibt es nicht.“

Aber wie kann das sein? Raucher ha-ben nachgewiesenermaßen einen niedri-geren Vitaminspiegel als Nichtraucher.Weil Vitamine aber gut sind, müsste esfolglich doch auch gut sein, den Vitamin-spiegel bei Rauchern zu erhöhen.

So biologistisch jedenfalls dachten dieÄrzte – und viele denken bis heute so.Dies sei ein typischer Fehler in der Medi-zin, sagt Mühlhauser. „Man verbessert ir-gendwelche Blutwerte in Richtung desNormalwertes und hofft, damit einem Patienten zu helfen.“

In einem Fachaufsatz hat Ingrid Mühl-hauser dieses grundsätzliche Problem mitBeispielen belegt. Es gibt Fälle, in denenein Medikament den zu hohen Choleste-rinspiegel von Patienten gesenkt hat – unddie Patienten danach häufiger erkrankten.

Bei Frauen, die in die Wechseljahrekommen, sinkt der Spiegel bestimmterHormone. Also haben Ärzte diesen Frau-en häufig Hormonersatzpräparate ver -ordnet – bis sie in einer großen Vergleichs-studie merkten, dass diese Frauen häufi-ger einen Schlaganfall oder einen Herz -infarkt erleiden als Frauen, die keine Hormonpräparate nehmen. „Es gibt in-zwischen viele Studien, die zeigen, dassÄrzte nicht Surrogatparameter wie denCholesterinwert oder Hormonspiegel be-handeln sollten, sondern die Patienten.“

Entscheidend sei also nicht, ob ein Pa-tient bessere Werte habe, wenn er einPräparat schluckt, sondern ob es ihm hel-fe, das heißt, ob er länger lebe oder selte-ner krank werde. Nur das zähle, sagtMühlhauser. Ein verbesserter Laborwertbedeute dagegen noch lange nicht, dasses einem Patienten bessergehe.

Unklare medizinische Fragen versu-chen Forscher in der Regel anhand vonStudien zu klären. Die sichersten Ergeb-nisse liefern dabei sogenannte randomi-siert-kontrollierte Studien (RCT).

Eine große Gruppe von Teilnehmernwird dazu per Zufallsgenerator in zweiHälften geteilt (deshalb: „randomisiert“,abgeleitet vom englischen „random“, Zufall). Die eine Hälfte bekommt das Präparat, das getestet werden soll, die an-dere ein Placebo, also eine Zuckerpilleohne Wirkstoff. Nach einer bestimmtenZeit wird kontrolliert, wie gesund dieeine Hälfte im Vergleich zur anderen ist –vor allem in Bezug auf sogenannte harteEndpunkte. Dazu werten die Forscheraus, in welcher Gruppe es mehr Schlag-anfälle, mehr Herzinfarkte, Krebserkran-kungen oder Todesfälle gibt.

Wenn sich beide Gruppen nicht unter-scheiden, ist das ein klarer Hinweis, dassdas Präparat nicht wirkt. Ist dagegen dieGruppe, die das Placebo bekommen hat,

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Marktstand in München: „Vitamine in Obst und

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Gesundheitswissenschaftlerin MühlhauserIrrtum der Medizingeschichte

am Ende gesünder, kann man davon aus-gehen, dass das Präparat schadet. Wie beiRauchern die Einnahme von Vitamin Aund Betacarotin.

Auf diese Weise zeigte sich jüngst auchdie Schädlichkeit von Vitamin E. Für denTest wurden 35500 gesunde Männer ab55 Jahren aus den USA, Kanada und Puerto Rico in zwei Gruppen geteilt. DasErgebnis: Die Gruppe, die Vitamin Enahm, hatte ein um 17 Prozent erhöhtesRisiko, an Prostatakrebs zu erkranken.Das Ergebnis der Studie, die im Novem-ber veröffentlicht wurde: „Vitamin-E-Pil-len erhöhen signifikant das Prostata-krebsrisiko unter gesunden Männern.“

Im Jahr 2008 veröffentlichten Forscherder Cochrane-Collaboration, einer inter-nationalen Vereinigung unabhängigerMedizinwissenschaftler, ein Gutachten,für das sie 67 RCT-Studien zu Vitaminenauswerteten, an denen insgesamt 232550Menschen teilgenommen hatten.

Das für die Vitaminindustrie nieder-schmetternde Ergebnis: In den nach An-sicht der Experten qualitativ besten Studien erhöhte die Zufuhr von Vitamin-supplementen die Sterblichkeit signifi-kant, und zwar bei Vitamin A, bei Beta-carotinen und bei Vitamin E. Bei VitaminC und Selen zeigte sich kein Effekt.

Christian Gluud, einer der Hauptauto-ren des Cochrane-Gutachtens, kommt zudem Schluss: „Die Vitaminsupplementezu nehmen hat absolut keinen Nutzen,ich würde den Leuten raten, sie zu ver-meiden.“ Für Ingrid Mühlhauser von derUni Hamburg sind spätestens nach die-sem Cochrane-Gutachten auch die Vit -aminpräparate Teil eines großen Irrtumsder Medizingeschichte. „Jetzt weiß manimmerhin, was diese Vitaminpräparatewirklich wert sind.“

Doch wer an den Regalen in Apothe-ken und Supermärkten entlangstreift, ge-winnt den Eindruck, dass diese Erkennt-nis die Hochschulen noch nicht verlassenhat. Nach einer repräsentativen Erhebungdes Bundesforschungsinstituts für Ernäh-rung nehmen rund zehn Prozent der Be-völkerung zusätzliche B-Vitamine ein, de-nen eine positive Wirkung auf den Stoff-wechsel nachgesagt wird. Mehr als neunMillionen Bundesbürger schlucken Vit -amin E oder Calcium in Tablettenform,„zur geistigen Leistungssteigerung“ be-ziehungsweise „für starke Knochen“, wiees auf den Packungen heißt.

Das beliebteste Vitamin bleibt indesVitamin C: Rund 13 Prozent der Bevöl-kerung, das sind knapp elf Millionen Men-schen, nehmen es regelmäßig als Ergän-zungsmittel ein. Seine Geschichte ist zu-gleich die Geschichte des Siegeszugs derVitamine überhaupt.

In seiner Doktorarbeit „Vitamin C füralle!“ zeichnet der Schweizer HistorikerBeat Bächi den Aufstieg der Ascorbinsäu-re zum leistungsfördernden Massenprä-

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Gemüse haben noch keinem geschadet“

Magnesiumkommt vor in: Nüssen, Reis, Vollkornprodukten, Sojabohnen, Kürbiskernen, Kohlrabi, Sonnen-blumenkernen, Spinat u. a.

Täglicher Bedarf: 350 bis 400 MilligrammEmpfehlung für Männer lt. DGE

enthalten in: 250 g Haselnüssen, 250 g Reis (unpoliert) oder 270 g Haferflocken

8,0 Mio. Menschen in Deutschlandnehmen Magnesium-haltige Präparate einHochrechnung, 14- bis 80-Jährige; Nationale Verzehrstudie II

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Vitamin Akommt vor in: Butter, Leber, Camembert, Leberwurst, Hinterschinken, Pflanzen-margarine, Mozzarella, Karotten, roter Ge-müsepaprika, getrockneten Aprikosen u. a.in pflanzlichen Lebensmitteln als Betacarotin, einer Vorstufe von Vitamin A

Täglicher Bedarf: 1000 MikrogrammRetinol-Äquivalent; Empfehlung für Männer lt. DGE

enthalten in: 240 g Camembert,220 g Margarine oder 330 g Mozzarella

2,3 Mio. Menschen in Deutschland nehmen Vitamin-A-haltige Präparate einHochrechnung, 14- bis 80-Jährige; Nationale Verzehrstudie II

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sundheits- und Leistungsstand des deut-schen Volkes nicht geschmälert worden sei.

Doch die Vitamingläubigkeit endetenicht mit dem Untergang der Nazi-Dikta-tur. In den siebziger Jahren verschaffteder Chemiker und zweifache Nobelpreis-träger Linus Pauling dem Vitamin C neueAufmerksamkeit. Pauling verbrachte seinespäten Jahre mit dem Versuch nachzuwei-sen, dass Vitamin C in hohen Dosen nichtnur vor Erkältungen schütze, sondernauch Herzinfarkt und Krebs vorbeuge. Biszu seinem Tod nahm er täglich 18 GrammVitamin C zu sich, also das Vierhundert-fache der empfohlenen Dosis. Er starb imAlter von 93 Jahren – an Prostatakrebs.

In Paulings Institut arbeitete in denneunziger Jahren auch der deutsche ArztMatthias Rath, der die skurrilen Thesenvon den hochdosierten Vitaminpräpara-ten nach Deutschland übertrug und mitBüchern wie „Warum kennen Tiere kei-nen Herzinfarkt?“ populär machte.

Rath wirbt sogar damit, dass seine Vit -aminpräparate Krebs besiegen können –was sich nicht nur im Fall des neunjähri-gen Dominik Feld als trügerisch erwies.Das Kind, das an Knochenkrebs litt, wur-de in einer Werbekampagne für RathsVit aminpräparate benutzt. Im November2004 erlag der Junge seiner Erkrankung.

Über die niederländische Firma „Dr.Rath Health Programs“ werden Rathshochkonzentrierte Vitaminpräparate bisheute vertrieben, die „Basis-Kombina -tion“ kostet 65,90 Euro. Im vergangenenJahr tourte der umstrittene Mediziner mitseinem neuen Buch „Krebs – Das Endeeiner Volkskrankheit“ wieder durchs

parat nach – was durchaus schwierig war,weil der Pharmakonzern Roche schon amAnfang seine Zweifel hatte, ob dieses Vit -amin wirklich jemand braucht. Klar, eskönne Seefahrer vor Skorbut bewahren.Aber Seefahrer bildeten selbst in den drei-ßiger Jahren des vergangenen Jahrhun-derts keine Massenkundschaft mehr.

1934 begann Roche mit der Produktionvon Vitamin C, das unter dem Namen„Redoxon“ vermarktet wurde. Doch noch1936 berichteten Roche-Mitarbeiter, dassdie Spezialisten unter den Ärzten die Vit -amintherapie schlicht ablehnten, 80 Pro-zent würden über den „Vitaminfimmel“sogar lachen.

In einem firmeninternen Schreiben hießes damals, dass zunächst „überhaupt erstdas Bedürfnis“ nach Vitaminen geschaffenwerden müsse. Regelmäßig werde VitaminC nur eingenommen, „wenn etwas Hokus-pokus gemacht“ werde. Zum Glück fürRoche fuhren die Nationalsozialisten aufdiesen Hokuspokus ab. Die Wehrmachterrechnete zu Beginn des Zweiten Welt-kriegs einen Bedarf von 1,5 Tonnen Vit -amin C für ihre Soldaten monatlich. Noch1944 orderte sie 200 Tonnen, davon 65 ausder Schweiz, wie Bächi schreibt.

In der Abteilung für Pharmazie -geschichte der Universität Braunschweigbefasst sich der Historiker Heiko Stoff seitJahren mit Vitaminen. In wenigen Wo-chen erscheint seine Studie über die Ge-schichte der Wirkstoffe*. „Im National-

* Heiko Stoff: „Wirkstoffe. Eine Wissenschaftsgeschichteder Hormone, Vitamine und Enzyme, 1920 – 1970“. Stei-ner-Verlag, Stuttgart; 472 Seiten; 56 Euro.

sozialismus nahmen die Vitamine eineherausragende Rolle ein“, sagt Stoff. DieNazis seien überzeugt gewesen, dass derErste Weltkrieg auch deshalb verlorenwurde, weil die Bevölkerung durch Man-gelernährung geschwächt war. „Die Vit -amine sollten den Volkskörper von innenstärken und in einen optimalen Zustandversetzen.“

Unter SS-Chef Heinrich Himmler, derfür jegliche Naturmedizin zu haben war,organisierten die Nazis im KZ Dachauein eigenes Forschungsprojekt zu Vita-min C. Und die Soldaten an der Frontwurden bald schon mit Vitaminbonbons,den sogenannten V-Drops, ausgestattet.

Das Reichsgesundheitsamt stellte mittenim Krieg 1942 zufrieden fest, dass dankder Ergänzungs- und Wirkstoffe der Ge-

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DSM-Mitarbeiter Eggersdorfer, WeberVerschleierungstaktik im Internet

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Verkaufsregal in Berliner Drogeriemarkt: Die Hersteller müssen die Unbedenklichkeit ihrer Präparate nicht nachweisen

SPIEGEL-UMFRAGEVitamine

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Ja

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Eher nützlich

Eher schädlich

48Keine Aus-wirkungen auf

die Gesundheit

TNS Forschung am 10. und 11. Januar; 1000 Befragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: „Weiß nicht“/keine Angabe

„Ist die zusätzliche Einnahme von Vitamin-präparaten, zum Beispiel in Tabletten- oder Pulverform, für die Gesundheit eher nützlich oder eher schädlich?“

„Würden Sie allgemein sagen, Lebens-mittel enthielten früher, vor 30 oder 40 Jahren, mehr Vitamine als heutzutage?“

Land. Gekonnt erweckt er den Eindruck,die großen Pharmakonzerne seien gegendie Vitaminpillen – und die Vitamin -anhänger also Kämpfer gegen eine böseIndustrie. Kritik kann er so als industrie-gesteuert abtun.

Tatsächlich stecken hinter vielen Vit -aminherstellern die bekannten Konzerne:So gehört die VitaminpräparatemarkeCentrum zum Pfizer-Konzern, das Abtei-Sortiment zu Glaxo SmithKline, teteseptzu Merz Pharma und das Vitaminpräparat„femibion“ für Schwangere zum deutschenMerck-Konzern.

Der Schweizer Konzern Roche dage-gen trennte sich vor acht Jahren von sei-nem Vitamingeschäft, nachdem er vonder EU-Kommission „wegen Beteiligungan acht geheimen Marktaufteilungs- undPreisfestsetzungsabsprachen“ zu einerGeldbuße von 462 Millionen Euro ver-donnert worden war. Gemeinsam mitBASF war Roche damals aus Sicht derEU-Kommission „Anführer und Anstifterder geheimen Absprache“, bei der welt-weit Konsumenten mit überhöhten Prei-sen abgezockt worden waren. Der dama-lige EU-Wettbewerbskommissar MarioMonti nannte die Vitaminbrüder „dasschlimmste Kartell“, gegen das die Kom-mission je ermittelt habe.

Noch heute werden in den alten Roche-Fabriken rund um Basel Vitamine herge-stellt, an den Gebäuden prangt aber nichtmehr der Schriftzug des Pharmaunter-nehmens, sondern der von DSM. Der nie-derländische Konzern übernahm 2003 dasGeschäft von Roche und wurde damitzum größten Vitaminhersteller der Welt.

Heute macht DSM allein mit seinerNährstoffsparte über drei Milliarden EuroUmsatz und mehr als 700 Millionen EuroGewinn vor Steuern und Abschreibungen.Das entspricht einer Rendite von 23 Pro-zent – und bewegt sich damit in der Grö-ßenordnung von Pharmamultis und Groß-banken. Zu den Kunden gehören mit Nest-lé, Coca-Cola, Kraft und Unilever die größ-ten Nahrungsmittelhersteller der Welt.

Einen Blick in seine Vitaminfabrikengestattet DSM nicht, angeblich wollen die

Werksleiter dort keine Journalisten mehrsehen. Das Unternehmen genehmigt le-diglich einen Termin im Labor und einGespräch mit Wissenschaftlern wie Man-fred Eggersdorfer, auf dessen Visitenkartezwar nur „Senior Vice President“ steht,der aber tatsächlich so etwas wie diegraue Eminenz im globalen Vitamin-Busi-ness ist.

Eggersdorfer arbeitete knapp 20 Jahrein der Vitaminsparte bei BASF, von 1999an leitete er die Vitaminforschung bei Roche und wechselte 2003 zu DSM. Nachden Studien an Rauchern Mitte der neun-ziger Jahre sei das Interesse an Vitaminenerlahmt, sagt Eggersdorfer, doch seit An-fang dieses Jahrzehnts „erleben wir eineRenaissance“.

Das Feld der Konkurrenten habe sichgelichtet, einfach herzustellende Stoffewie Vitamin C kämen sowieso schon zu80 Prozent aus chinesischen Fabriken, da-für könne auch DSM heute vielleichtnoch 15 Euro pro Kilogramm verlangen.Ein Kilo Vitamin B7 oder B12 könne mandagegen für rund 800 Euro verkaufen.

In westlichen Ländern sei jedoch keingroßes Wachstum mehr zu erzielen. Inden USA nehme bereits die Hälfte derBevölkerung Vitaminsupplemente, hier-zulande stagniere der Absatz eher, räumtEggersdorfer ein.

Umso wichtiger scheint es für DSM zusein, neue Fälle von Vitaminmangel zuidentifizieren. Auf der Homepage be-hauptet DSM, „in unseren Breitengradenbekommt heute ein großer Teil der Be-völkerung zu wenig Vitamine“, um dannaufzulisten, wer alles einen „erhöhtenVit aminbedarf“ hat: Menschen, die sichunausgewogen ernähren, Menschen untererhöhter körperlicher Belastung (zumBeispiel durch Sport), Frauen, die die Antibabypille nehmen, Frauen währendihrer Periode, werdende Mütter und stil-lende, ebenso Vegetarier, Raucher, ältereMenschen und Kranke. Mit anderen Wor-ten: eigentlich so ziemlich alle.

Aber stimmt das überhaupt? Wie gutist die Bevölkerung tatsächlich mit Vit aminen versorgt? Niemand kann das besser beantworten als Gerhard Rech -kemmer, Präsident des Max-Rubner- Instituts, des Bundesinstituts für Ernäh-rung und Lebensmittel in Karlsruhe.Rechkemmer empfängt in seinem Büroan einem langen Holztisch, der zur Hälf-te mit Arti keln aus verschiedenen Fach-zeitschriften bedeckt ist. Auf dem Tischkeine de monstrative Obstschale, nur Mi-neralwasser, Apfel- und Orangensaft ste-hen da.

Rechkemmer sagt, dass die deutscheBevölkerung allein schon durch die nor-malen Lebensmittel sehr gut mit Vita -minen versorgt sei. Häufig werde ja be-hauptet, dass die Produkte heute weni -ger Nährstoffe enthalten als früher, dassdie Qualität also schlechter sei. So glau-

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Vitaminproduktion bei BASF in Ludwigshafen: „Etwas Hokuspokus machen“

ben auch laut einer aktuellen Umfragevon TNS im Auftrag des SPIEGEL 42Prozent der Bevölkerung, dass die Le-bensmittel früher mehr Vitamine enthiel-ten; vor allem unter den Anhängern derGrünen ist diese Ansicht verbreitet.„Aber das ist ein Märchen der Vitamin-industrie“, sagt Rechkemmer. Die land-wirtschaftlichen Böden seien heute durchdie gezielte Düngung viel nährstoffrei-cher als früher.

Bei Vitamin A, E, B1, B2, B12 und Cerreichen die meisten Menschen sogarzwischen 100 und 200 Prozent der emp-fohlenen Tagesmenge. Einzig bei VitaminD gebe es eine Unterversorgung, dochVitamin D produziere der Körper auchselbst, sagt Rechkemmer. Dazu sei es aus-reichend, zwischen März und Oktobertäglich 15 Minuten ins Freie zu gehen –ohne Sonnencreme. Denn das sei dieKehrseite des weitverbreiteten Sonnen-schutzes: die abgeblockte UV-Strahlungsorge dafür, dass der Körper weniger Vit -amin D produzieren könne als nötig.

Eine der wenigen Ausnahmen: Rech-kemmer rät dazu, dass kleine Kinder biszum Ende des ersten Lebensjahres Vit -amin-D-Tabletten nehmen. Sorge macheihm in Deutschland allenfalls die zuneh-mende Verhüllung von jungen Migrantin-nen. Diese Mädchen bekämen häufig sowenig Sonnenstrahlen ab, dass man schonvon einem klinisch relevanten Vitamin-D-Mangel ausgehen müsse, der zu Wachs-

tumsstörungen führen könne. Die Deutsche Gesellschaft für Er-

nährung (DGE) geht davon aus, dasseine gute Vitamin-D-Versorgung

bei älteren Menschen die Zahlvon Stürzen und Knochenbrü-

chen verringern kann. Erst inder vergangenen Woche leg-te die DGE deshalb neueReferenzwerte fest undempfahl sogar die Einnah-

me von Vitamin-D-Prä-paraten für alle, die zuwenig Sonnenlicht ab-bekommen. Doch un-umstritten ist auch die-

ser Rat nicht:In einer Studie bei 2256

Frauen über 70 Jahren, die inder Medizinzeitschrift „Jama“ ver-

öffentlicht wurde, erlitten die Teil-nehmerinnen, die hochdosiertes Vi-tamin D bekommen hatten, häufi-ger Knochenbrüche nach einemSturz als die Placebo-Gruppe.

Bei Frauen im gebärfähigen Al-ter empfiehlt Rechkemmer zudem die Zufuhr von Folsäure, diese reduziere dasRisiko eines „offenen Rückens“ bei Neu-geborenen. Noch heute werden inDeutschland jedes Jahr rund 700 Babysmit dieser Krankheit geboren.

In den USA gingen Neuralrohrdefektespürbar zurück, nachdem man begonnen

hatte, das Mehl mit Folsäure zu verset -zen. Von einem Masseneinsatz von Fol-säure hält Rechkemmer aber nichts. Dennbei älteren Menschen könne sie wieder-um dazu führen, dass Darmpolypen, dieVorstufen von Darmkrebs, schnellerwachsen.

Es gebe in Deutschland jedes Jahr mehrals 25000 Darmkrebstote, sagt Rechkem-mer. „Ob und wie viele Fälle durch diehohe Zufuhr von Folsäure befördert wer-den, ist wissenschaftlich nicht geklärt.“ Je-doch gebe es Hinweise darauf, dass Per-sonen mit einer genetischen Vorbelastungbesonders gefährdet sein können.

Statt Tabletten empfiehlt Rechkemmergrünblättriges Gemüse wie Grünkohl, Spi-nat oder Feldsalat. Vitamine über Lebens-mittel aufzunehmen sei etwas ganz ande-res als über Vitaminpräparate. „Vit aminein Obst und Gemüse haben noch keinemgeschadet“, sagt Rechkemmer, „sie sinduneingeschränkt zu empfehlen.“

Wer legt aber fest, welche Mengen anVitaminen empfehlenswert sind? Hier -zulande macht das die Deutsche Gesell-schaft für Ernährung. Doch deren Er-kenntnisse sind keineswegs in Stein gemeißelt. Wissenschaftlich exakt zu be-gründen sind sie ebensowenig. Das zeigtschon ein Vergleich der DGE-Angabenmit den Empfehlungen aus anderen Ländern: ‣ Bei Vitamin A rät die DGE Männern

die Aufnahme von 1000 Mikrogrammpro Tag. Die Weltgesundheitsorganisa-tion WHO hält dagegen 600 Mikro-gramm für ausreichend. Nimmt mandie deutsche Empfehlung, liegen mehrals 12 Prozent der Männer unter demReferenzwert, nach den WHO-Empfeh-lungen sind es nur 1,1 Prozent.

‣ Bei Vitamin C liegen in Deutschland28 Prozent der Frauen unter dem DGE-Grenzwert (100 Milligramm pro Tag),aber nur 2,6 Prozent haben einen Man-gel, wenn man den WHO-Wert (45 Mil-ligramm) zugrunde legt.

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Pharmakontrolleur Windeler„Barer Unsinn“

‣ Bei Folsäure wiederum empfiehlt dieDGE 400 Mikrogramm pro Tag, dasentsprechende EU-Komitee aber nur200 Mikrogramm (außer für Frauen mitKinderwunsch, denen ebenfalls 400 Mi-krogramm empfohlen werden). Die Fol-ge: Nach DGE-Kriterien wären inDeutschland 87 Prozent aller Frauenunterversorgt, nach der Definition derEU-Kommission nur 25 Prozent. Ähnliche Beispiele lassen sich auch für

Eisen, Calcium und Magnesium finden.Überhaupt Magnesium: Es ist hierzulandedas beliebteste Nahrungsergänzungsmit-tel, noch vor Vitamin C. 16 Prozent derBevölkerung nehmen laut Rechkemmers„Nationaler Verzehrstudie“ Magnesium-präparate ein. „Das ist ein Erfolg der Werbung“, sagt der Professor. Denn dieVersorgung mit Magnesium scheint eben-falls durch die normale Ernährung ge-deckt zu sein.

Die Präparate werden vor allem zurLösung von Muskelverspannungen einge-nommen. „Doch die können viele Ursa-chen haben“, führt Rechkemmer aus.Zum Beispiel dass die Leute zu wenigtrinken. Dass viele dennoch behaupten,ihr Magnesiumpräparat helfe garantiert,überzeugt ihn nicht. „Der Glaube ver-setzt bekanntlich Berge“, sagt Rechkem-mer, „das gilt auch für den Glauben anein Magnesiumpräparat.“

Ob dieses Mittel tatsächlich hilft, ließesich in einer randomisiert-kontrolliertenStudie mit Personen, die an Muskel-krämpfen leiden, leicht testen. „Aberwelcher Hersteller hat ein Interesse, so

ei ne Studie zu finanzieren?“, fragt Rech -kemmer.

DSM zumindest nicht. Der langjährigeForschungschef und DSM-Manager Eg-gersdorfer zweifelt sogar die Aussagekraftsolcher Studien zum Test von Vitamin-präparaten an. „In Pharmastudien testenSie immer Medikament gegen Placebo“,sagt er. „Diese eindeutige Situation habenSie bei Vitaminen aber nicht, weil dieVergleichsgruppe auch immer eine Ver-sorgung mit Vitaminen über die Lebens-mittel hat.“

Jürgen Windeler hält dieses Industrie-argument für „baren Unsinn“. Er leitetin Köln das Institut für Qualität und Wirt-schaftlichkeit im Gesundheitswesen(IQWiG). „Man testet in solchen Studienja nicht, ob Vitamine nützlich sind, son-dern ob Vitaminpräparate nützen.“ DiePlacebo- und die Interventionsgruppenähmen selbstverständlich auch über Le-bensmittel Vitamine auf. Wenn die Inter-ventionsgruppe aber zusätzlich Vitamin-pillen schlucke, seien Unterschiede zwi-schen diesen beiden Gruppen vermutlichauf die Pillen zurückzuführen.

Peter Jüni, Studienexperte an der Uni-versität Bern in der Schweiz, sieht das ge-nauso. Das von den Vitaminherstellerngern benutzte Argument, man könne dieWirkung ihrer Präparate nicht wie Arz-neimittel testen, hält er für pure Augen-wischerei, „damit sie die Nutzlosigkeit ih-rer Präparate nicht eingestehen müssen“.

Der Vitaminkonzern DSM belässt esallerdings nicht dabei, unliebsame Stu -dien anzuzweifeln, er versucht, auch Me-

dien zu beeinflussen und die öffentlicheMeinung zu manipulieren: Im Juli 2010nahm Institutschef Rechkemmer eine Ein-ladung nach Stuttgart-Hohenheim an, umdort mit Eggersdorfer und dem industrie-freundlichen ErnährungswissenschaftlerHans-Konrad Biesalski über die Vitamin-versorgung zu diskutieren.

Rechkemmer sagte, was er immer sagt:dass die Bevölkerung ausreichend mitVit aminen versorgt sei. Dennoch verbrei-tete der „Arbeitskreis“ Ernährungs- undVitamin-Information e.V. (Evi) im An-schluss an die Podiumsdiskussion einePressemitteilung unter der Überschrift„Vitamin-Defizit-Alarm für Deutsch-land“ und führte als Kronzeugen ausge-rechnet Rechkemmer an. Hinter Evisteckte aber, wie der RundfunkjournalistFrank Wittig herausgefunden hatte, of-fenbar niemand anderes als der Vitamin-hersteller DSM, jedenfalls leitete damalsein DSM-Mit arbeiter den Vorstand desArbeitskreises.

Noch dubioser ist die „Gesellschaft zurInformation über Vitalstoffe und Ernäh-rung“, kurz Give. Sie verschickt regel-mäßig ihren Hochglanz-Newsletter anzahlreiche Redaktionen und Journalistenim Land und hat, nach eigenen Angaben,als Ziel die „breitenwirksame Bildungund Erziehung auf allen Gebieten der Er-nährung in Zusammenhang mit Vitalstof-fen“. Stets geht es dabei um Themenwie „Mikronährstoffmangel“, „schlechternährte Mütter“ und die Behandlungdurch entsprechende Nahrungsergän-zungsmittel. Als Verantwortlicher wird

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Schulkarte zu Mangelkrankheiten, um 1930: „Den Volkskörper von innen stärken“

Folsäurekommt vor in: Kalbs- und Geflügel-leber, Spargel, Rosenkohl, Ei, Weizen-kleie, Nüssen, frischem Spinat u. a.

Täglicher Bedarf: 400 MikrogrammFolat-Äquivalent; Empfehlung lt. DGE

enthalten in: 420 g Spargel, 500 g Rosenkohl, 500 g Spinat oder 150 g Sojabohnensamen

5,0 Mio. Menschen in Deutschlandnehmen Folsäure-haltige Präparate einHochrechnung, 14- bis 80-Jährige; Nationale Verzehrstudie II

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Vitamin DÜber die Ernährung zugeführt und in der Haut mit Hilfe von UV-Licht produziert

kommt vor in: Aal, Hering, Forellen,Pflanzenmargarine, Hühnerleber, Champignons, Steinpilzen, Eiern u. a.Täglicher Bedarf: 20 MikrogrammSchätzwert (laut DGE) bei fehlender körpereigener Bildung. 2 bis 4 Mikrogramm werden normalerweise über die Ernährung aufgenommen. Bei häufigem Aufenthalt im Freien wird die Versorgung gedeckt.

3 Mikrogramm sind enthalten in: 3 Eiern, 100 g Steinpilzen oder 100 g Margarine

2,5 Mio. Menschen in Deutschlandnehmen Vitamin-D-haltige Präparate einHochrechnung, 14- bis 80-Jährige; Nationale Verzehrstudie II

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auf der Homepage des Vereins ein Prof.Dr. med. Peter Weber genannt. Im Im-pressum des Vereins taucht Weber alsZweiter Vorsitzender auf. Doch handeltes sich bei ihm in Wirklichkeit um einenMitarbeiter der Firma DSM.

Nicht nur Weber, sondern der gesamteVereinsvorstand ist in der Hand der In-dustrie: Der Erste Vorsitzende HenryWerner arbeitet als Pressesprecher beiPfizer in Berlin, das VorstandsmitgliedAndreas Erber ist zuständig für die Öf-fentlichkeitsarbeit bei der Hermes Arz-neimittel GmbH, und das vierte Vor-standsmitglied Jürgen Berger ist Sprecherbeim Pharmariesen GlaxoSmithKline.

Mit dieser Verschleierungstaktik kon-frontiert, teilt ein DSM-Sprecher per E-Mail mit: „Ich habe die Zuständigengebeten, auf ihrer Website deutlich(er)zu machen, dass sich die Mitglieder ausFirmenvertretern zusammensetzen. Un-benommen bleibt jedoch, dass sich diePressemitteilungen der Give e.V. stets aufwissenschaftliche Publikationen bezie-hen, auf die verwiesen wird.“

Die meisten unabhängigen Wissen-schaftler aber sind sich einig: Abgesehenvon Folsäure für Frauen im gebärfähigenAlter und Vitamin D für Babys und Al-tenheimbewohner haben Vitaminpräpa-rate keinen Nutzen, sie sind also schlichtrausgeworfenes Geld.

Mehr noch: Der Studienfachmann Pe-ter Jüni kommt nach Auswertung desCochrane-Berichts zu dem Ergebnis, dassin Deutschland die Vitaminpräparatehochgerechnet „für mehrere tausend To-desfälle pro Jahr“ verantwortlich seinkönnten.

Wieso können die Hersteller die Prä-parate dann aber immer noch ohne Zu-lassung oder Warnhinweis einfach im Su-permarkt verkaufen?

In Berlin beobachtet auch das Bundes-institut für Risikobewertung (BfR) die

Branche zunehmend kritisch. Währendsich ihre Kollegen um multiresistenteBakterien, Nanopartikel oder Chemiegif-te kümmern, beschäftigt sich Diana Rubinbeim BfR mit Ernährungsrisiken, unteranderem durch Nahrungsergänzungsmit-tel. Die Medizinerin rät gesunden Men-schen, die sich abwechslungsreich ernäh-ren, klar davon ab, Vitaminpräparate ein-zunehmen.

Sie hat auch beobachtet, dass Vitamine– ähnlich wie homöopathische Globuli –vor allem von Leuten mit höherem sozio -ökonomischen Status und gesundheits-bewussten Akademikern konsumiert werden: „Ich finde das erstaunlich, dassausgerechnet diese Schicht so empfäng-lich für Unsinn ist.“

Viele Verbraucher gingen ja davon aus,sagt Rubin, dass das, was auf dem Marktist, auch unbedenklich sei. Aber das kön-ne, zumindest was die Vitamine angehe,ein Trugschluss sein. Denn die Herstellermüssten, im Unterschied zu Arzneimit-teln, die Unbedenklichkeit ihrer Präpa-rate nicht nachweisen, sondern die Pilleneinfach registrieren lassen. „Jeder, der soein Präparat nimmt, sollte sich darüberklar sein, dass nicht geprüft ist, ob es auchwirkt.“

IQWiG-Chef Windeler fordert die Be-hörden deshalb zum Handeln auf: „DasSchadenspotential bei langfristiger Ein-nahme kann man nicht länger ignorieren.Ich wäre für ein Zulassungsverfahrenoder zumindest für ausdrückliche Warn-hinweise, damit Patienten wissen, auf wassie sich bei Vitaminpillen ein lassen.“

Karl Lauterbach, der gesundheitspoli-tische Sprecher der SPD im Bundestag,hält die Risiken für die Bevölkerung mitt-lerweile für erheblich. Die Bundeszen-trale für gesundheitliche Aufklärung müs-se viel deutlicher als bisher vor den Vit -aminpillen warnen, fordert er. Sie müssezumindest die Hausärzte über das Scha-denspotential der Pillen informieren.Schließlich empfehlen in DeutschlandÄrzte und Apotheker bis heute hoch -dosierte Vitaminpräparate.

Das Nichtwissen bei Ärzten und Apo-thekern schockiere ihn immer wieder,sagt Lauterbach, der selbst Mediziner istund sich an der Harvard Medical Schoolmit Vitaminstudien befasst hat. „Die Er-gebnisse aus der Wissenschaft kommenoft erst mit jahrelanger Verspätung in derPraxis an. Ich treffe immer wieder aufÄrzte, die selbst noch Vitamin-E-Pillenschlucken, um Prostatakrebs vorzubeu-gen. Ein Wahnsinn!“

Der SPD-Gesundheitsexperte fordertdie Regierung zum Handeln auf. Er erin-nert daran, dass Gesundheitsminister Da-niel Bahr (FDP) bei seinem Amtsantrittangekündigt hat, sich als Vorsorgeminis-ter zu profilieren. „Wenn Herr Bahr dasernst meint, sollte er zumindest vor Prä-paraten warnen, die gefährlich sind“, for-

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Vitamin-Fan Attenberger„Der Suchtfaktor spricht für sich“

Geschmacksforschung im Labor: Hype um Vitamin C

Vitamin Ekommt vor in: Sonnenblumen-, Soja-, Mais- und Weizenkeimöl, Nüssen, Pflanzenmargarine, Leinsamen, Petersilie, Rotkohl, Schnittlauch u. a.

Täglicher Bedarf: 13 bis 15 MilligrammTocopherol-Äquivalent: Empfehlung für Männer (19 bis 64 Jahre) lt. DGE

enthalten in: 50g Haselnüssen, 2 Esslöffeln Sonnenblumenöl oder 90 g Pflanzenmargarine

5,8 Mio. Menschen in Deutschlandnehmen Vitamin-E-haltige Präparate einHochrechnung, 14- bis 80-Jährige; Nationale Verzehrstudie II

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Vitamin B6kommt vor in: Kalbs- und Geflügel-leber, Lachs, Grünkohl, Linsen, Wal-nüssen, Haselnüssen, Bananen, Reis, roter Gemüsepaprika, Sojabohnen, Weizenkeimen u. a.

Täglicher Bedarf: 1,5 MilligrammEmpfehlung für Männer (19 bis 64 Jahre) lt. DGE

enthalten in: 40 g Weizenkeimen, 300 g Rinderfilet oder 220 g Reis (unpoliert)

5,0 Mio. Menschen in Deutschlandnehmen Vitamin-B6-haltige Präparate einHochrechnung, 14- bis 80-Jährige; Nationale Verzehrstudie II

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dert Lauterbach, „das ist das Mindeste,was man von einem Minister erwartenkann, der in seinem Amtseid geschworenhat, Schaden vom deutschen Volk abzu-wenden.“

Auch wenn die Apotheker, die mit Vit -aminen Millionenumsätze machen, übereine solche Warnung verärgert wären:„Der Gesundheitsminister sollte nicht mitRücksicht auf eine kleine Lobbygruppe,die der FDP nahesteht, der BevölkerungRisiken zumuten, die vermeidbar wären“,fordert der SPD-Mann.

Für viele Apotheker und Supermärktewäre es ein großer Verlust, wenn die Vitaminpräparate vom Markt verschwän-den – für den Rest der Menschheit nicht.„Abgesehen von Kranken oder Perso -nen mit einem erhöhten Bedarf würdenichts passieren“, sagt Diana Rubin, „au-ßer dass die Menschen insgesamt gesün-der würden.“

In der Praxis von Doktor Attenbergerin der Münchner Vital Lounge ist nach20 Minuten die Vitamin-Infusion vollstän-dig in die Adern der Testperson gelaufen.Am Schluss gibt er noch eine Zusatzsprit-ze und flüstert: „Sie spüren die Kraft derEnergie. Die Energie wird Sie schützenvor Verspannungen und Störungen undIhnen ein Wohlgefühl geben, wann im-mer Sie dar an denken.“

Attenberger bewegt sich ziemlich nahean der Esoterik, aber das ist für ihn keineBeleidigung, er steht dazu. Im Unter-schied zu Konzernen wie DSM hat erkein Problem zuzugeben, dass jeder, dersich einigermaßen normal ernährt, aus-reichend mit Vitaminen versorgt ist. „Esgibt nichts Besseres für Psyche und Kör-per als ein gut zelebriertes Essen, da istalles drin, was der Mensch braucht“, sagter. Vitamine in Form von Pillen brauchesowieso keiner.

Zu ihm kommen aber auch Patienten,für die so eine Vitamin-Infusion eine Er-satzhandlung ist, Menschen, die denken,dann können sie sich weiter ungesund ernähren.

Aber muss man diesen Leuten nicht sagen, dass der Nutzen seiner Infusionennicht belegt ist, dass es eigentlich Hokus-pokus ist? Attenberger weist das von sich.„Es hilft, weil ich dran glaube und auchdie Patienten dran glauben.“ Jeder, derzu ihm komme, brauche etwas. „Auchein Hypochonder braucht etwas.“ DieMenschen wollten nicht aufgeklärt wer-den, es gebe keine vernünftigen Patien-ten, das sei schlicht eine Illusion. „Ichweiß, dass der Placebo-Effekt das wich-tigste Element der Therapie ist.“

Für jene Patienten, denen die Vitamin-und Nährstoffinfusionen nicht helfen, fürdie hat Attenberger selbstverständlichnoch weitere Optionen. „Die schicke ichdann zu meiner Energieheilerin“, sagt er.„Oder zu meiner Schamanin.“

Markus Grill

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