Volkstümliche Zeitschrift -...

12
Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung (Fachblatt der Reichsversicherung) Organ des Zentralverbandes der Angestellten Verlag und Expedition: Carl Giebel, Berlin SO26, Oranienstraße 40-41. Fernsprecher: Moritzplatz 15548. Redaktion: Berlin SO 26, Oranienstr.40-41. Erscheint ara 1. und 15. des Monats. Jahresabonnement 8 Mk. Insertionspreis: «lie dreigespaltene Nonpareiilezeile oder deren Raum 50 Pf. Beilagen nach Vereinbarung. 26. Jahrgang Berlin, den 15. September 1920 Nummer 18 Inhalt Friedriclx Kleeis, Wann liegt ein „Vertrauensbruch* eine» Krankenkassen-Angestellten vor? Bruno Bieligk, llliicaia jjie Krankenversicherung der Erwerbslosen. Verwaltung: Gesetz, betreffend Aenderung der Verordnung über Lohnpfändung. Verordnung zur Durchführung des §25 Abs. 3 und des §28 des Gesetzes über die Versorgung der Militär¬ personen und ihrer Hinterbliebenen bei Dienstbeschädigung (Reichsversorgungsgesetz) vom 12. Mai 192<>. _ Reich«versorgungs- ,etz und Krankenversicherung. Der Anspruch auf Heilbehandlung und Körperersatzstücke nach dem Reichsversorguugs- gesetz. Gewerbehygienische Aufklärungsarbeit. Rechtsprechung: L)er zwischen dem Leipziger Aerzteverband und den Krankenkassenorgiimationen abgeschlossene Vergleich ist nicht rechtlich bindend für die einzeln.- Kasse. Die Kündigung des bis 31. Dezember 1923 abgeschlossenen Vertrages durch die Aerzte ist rechtsunwirksam. Kein Anspruch auf Mehrleistung an Sterbegeld. Ueberaicht. Soziale Chronik: Neuaufflackern der Ruhr? Gesetzliche Regelung der Familienversiche¬ rung. Literatur. Anzeigen. Wann liegt ein Vertrauensbruch4' eines Krankenkassen Angestellten vor? Von Friedrich Kleeis« Bürgermeister. Aus den verschiedensten Anlässen ist wieder¬ holt schon der Versuch unternommen worden, die Angestellten der Ortskrankenkassen des Ver¬ trauensbruchs zu beschuldigen. Diese häufige Beunruhigung der Öffentlich¬ keit gibt die Gelegenheit, Betrachtungen über die gesetzliche Amtsverschwiegenheit der Kran¬ kenkassenangestellten vorzunehmen; bestehen doch hierüber selbst in Fachkreisen recht unzu¬ treffende Vorstellungen. Im allgemeinen herrscht bei den Aufsichtsbehörden der Krankenkassen, zuweilen auch bei anderen Leuten, wie den „Direktoren14 mancher Kassen, das Bestreben vor, diese Amtsverschwiegenheit weit über den gesetz¬ lichen Rahmen auszudehnen. So leitete einmal ein Versicherungsamt ein hochnotpeinliches Ver¬ fahren ein, weil eine seiner Verfügungen an den Kassenverwalter den Weg in die Zeitungen fand. In einem anderen Falle ließ ein Kassenvorstand die Angestellten durch schriftliche Erklärungen zu ganz allgemeiner Verschwiegenheit verpflichten. Richtig ist, daß die Reichsversicherungsordnung die Schweigepflicht der mit der Verwaltung be¬ schäftigten Personen etwas ausdehnte. Früher war aber eine solche auch nur in den Unfall¬ versicherungsgesetzen vorgesehen; sie bezog sich auf die „Betriebsgeheimnisse44 der Unternehmer Die Reichsversicherungsordnung dehnte diese Einrichtung auf alle Gebiete der Versicherung aus. Weiter fehlte es früher überhaupt in den Versicherungsgesetzen an einer Vorschrift, die dem Versicherten einen ähnlichen Schutz für seine ?igene Person sicherte, wie er dem Arzt, Apotheker, Rechtsanwalt usw. infolge der Strafvorschrift im § 300 des Strafgesetzbuches als Pflicht auferlegt Da sich das Fehlen solcher Einrichtungen in der Praxis unliebsam bemerkbar gemacht habe, so hieß es in der amtlichen Begründung zur Reichsversicherungsordnung, wurden diese Lücken beseitigt. Nichts mehr. Das Schweigegebot richtet sich in der Kranken¬ versicherung gegen die Mitglieder eines Kassen¬ organs (Vorstand und Ausschuß) und gegen die Angestellten eines Versicherungsträgers. Die Ab¬ sicht des Gesetzgebers geht augenscheinlich dahin, das Wort „Angestellte44 im weitesten Sinne zu verstehen, so daß alle in der Verwaltung der Kasse tätigen Personen getroffen werden. Ist doch das Wort „Angestellte44 ein Sammelbegriff für alle bei der Kasse tätigen Personen. In diesem Sinne wird es zum Beispiel auch im § 351 Abs. 1 und 2 gebraucht. Somit haben alle in der Kassen¬ verwaltung tätigen Personen die Schweigepflicht, die vom Kassenvorstand oder seinen Beauftragten irgendwie „angestellt44 worden sind. Insbesondere also fallen die entsprechend den Vorschriften in § 359 RVO. als „Beamte44 anzusehenden Ange¬ stellten ebenfalls unter die in den §§ 141 bis 143 geregelte Schweigepflicht. Wichtiger ist schon die Frage, was geheim zu halten ist. Der Umfang der Angelegenheiten, die der Schweigepflicht unterliegen, ist erfreulicher¬ weise beschränkt und einigermaßen umgrenzt. Die gesetzliche Schweigepflicht erstreckt sich nicht auf alle Vorgänge innerhalb des Getriebes der Krankenkasse, sondern nur a) auf die Krank¬ heiten oder andere Gebrechen und deren Ursachen hinsichtlich aller Personen, die von der Kasse eine Leistung beziehen und b) die Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse der Arbeitgeber, deren Be¬ schäftigte bei der Kasse versichert sind Was zunächst das Schweigegebot zu a) anbetrifft, so wurde zur Begründung dieser Neuerung in der Reichstagskommission gesagt, daß es für die Ver¬ sicherten sehr nachteilig sein könne, wenn ein¬ schlägige Mitteilungen, z. B. bei Folgeerscheinungen der Syphilis, an die Mitarbeiter oder Arbeitgeber der Kranken gemacht würden. Unter den Ge¬ schäfts- und Betriebsgeheimnissen (siehe b) im Sinne des § 142 sind natürlich nur solche der mit

Transcript of Volkstümliche Zeitschrift -...

Volkstümliche Zeitschriftfür praktische Arbeiterversicherung(Fachblatt der Reichsversicherung)Organ des Zentralverbandes der Angestellten

Verlag und Expedition: Carl Giebel, Berlin SO26, Oranienstraße 40-41. Fernsprecher: Moritzplatz 15548.

Redaktion: Berlin SO 26, Oranienstr.40-41. Erscheint ara 1. und 15. des Monats. Jahresabonnement 8 Mk.

Insertionspreis: «lie dreigespaltene Nonpareiilezeile oder deren Raum 50 Pf. Beilagen nach Vereinbarung.

26. Jahrgang Berlin, den 15. September 1920 Nummer 18

Inhalt • Friedriclx Kleeis, Wann liegt ein „Vertrauensbruch* eine» Krankenkassen-Angestellten vor? — Bruno Bieligk,llliicaia • jjie Krankenversicherung der Erwerbslosen. — Verwaltung: Gesetz, betreffend Aenderung der Verordnung über

Lohnpfändung. — Verordnung zur Durchführung des §25 Abs. 3 und des §28 des Gesetzes über die Versorgung der Militär¬

personen und ihrer Hinterbliebenen bei Dienstbeschädigung (Reichsversorgungsgesetz) vom 12. Mai 192<>. _ Reich«versorgungs-,etz und Krankenversicherung. — Der Anspruch auf Heilbehandlung und Körperersatzstücke nach dem Reichsversorguugs-

gesetz. — Gewerbehygienische Aufklärungsarbeit. — Rechtsprechung: L)er zwischen dem Leipziger Aerzteverband und den

Krankenkassenorgiimationen abgeschlossene Vergleich ist nicht rechtlich bindend für die einzeln.- Kasse. — Die Kündigungdes bis 31. Dezember 1923 abgeschlossenen Vertrages durch die Aerzte ist rechtsunwirksam. — Kein Anspruch auf Mehrleistungan Sterbegeld. — Ueberaicht. — Soziale Chronik: Neuaufflackern der Ruhr? — Gesetzliche Regelung der Familienversiche¬

rung. — Literatur. — Anzeigen.

Wann liegt ein„Vertrauensbruch4' eines Krankenkassen

Angestellten vor?Von Friedrich Kleeis« Bürgermeister.

Aus den verschiedensten Anlässen ist wieder¬

holt schon der Versuch unternommen worden, die

Angestellten der Ortskrankenkassen des Ver¬

trauensbruchs zu beschuldigen.Diese häufige Beunruhigung der Öffentlich¬

keit gibt die Gelegenheit, Betrachtungen über

die gesetzliche Amtsverschwiegenheit der Kran¬

kenkassenangestellten vorzunehmen; bestehen

doch hierüber selbst in Fachkreisen recht unzu¬

treffende Vorstellungen. Im allgemeinen herrscht

bei den Aufsichtsbehörden der Krankenkassen,zuweilen auch bei anderen Leuten, wie den

„Direktoren14 mancher Kassen, das Bestreben vor,

diese Amtsverschwiegenheit weit über den gesetz¬lichen Rahmen auszudehnen. So leitete einmal

ein Versicherungsamt ein hochnotpeinliches Ver¬

fahren ein, weil eine seiner Verfügungen an den

Kassenverwalter den Weg in die Zeitungen fand.

In einem anderen Falle ließ ein Kassenvorstand

die Angestellten durch schriftliche Erklärungenzu ganz allgemeiner Verschwiegenheit verpflichten.

Richtig ist, daß die Reichsversicherungsordnungdie Schweigepflicht der mit der Verwaltung be¬

schäftigten Personen etwas ausdehnte. Früher

war aber eine solche auch nur in den Unfall¬

versicherungsgesetzen vorgesehen; sie bezog sich

auf die „Betriebsgeheimnisse44 der Unternehmer

Die Reichsversicherungsordnung dehnte diese

Einrichtung auf alle Gebiete der Versicherungaus. Weiter fehlte es früher überhaupt in den

Versicherungsgesetzen an einer Vorschrift, die

dem Versicherten einen ähnlichen Schutz für seine

?igene Person sicherte, wie er dem Arzt, Apotheker,Rechtsanwalt usw. infolge der Strafvorschrift im

§ 300 des Strafgesetzbuches als Pflicht auferlegtDa sich das Fehlen solcher Einrichtungen in

der Praxis unliebsam bemerkbar gemacht habe,so hieß es in der amtlichen Begründung zur

Reichsversicherungsordnung, wurden diese Lücken

beseitigt. Nichts mehr.

Das Schweigegebot richtet sich in der Kranken¬

versicherung gegen die Mitglieder eines Kassen¬

organs (Vorstand und Ausschuß) und gegen die

Angestellten eines Versicherungsträgers. Die Ab¬

sicht des Gesetzgebers geht augenscheinlich dahin,das Wort „Angestellte44 im weitesten Sinne zu

verstehen, so daß alle in der Verwaltung der

Kasse tätigen Personen getroffen werden. Ist

doch das Wort „Angestellte44 ein Sammelbegrifffür alle bei der Kasse tätigen Personen. In diesem

Sinne wird es zum Beispiel auch im § 351 Abs. 1

und 2 gebraucht. Somit haben alle in der Kassen¬

verwaltung tätigen Personen die Schweigepflicht,die vom Kassenvorstand oder seinen Beauftragten

irgendwie „angestellt44 worden sind. Insbesondere

also fallen die entsprechend den Vorschriften in

§ 359 RVO. als „Beamte44 anzusehenden Ange¬stellten ebenfalls unter die in den §§ 141 bis 143

geregelte Schweigepflicht.Wichtiger ist schon die Frage, was geheim

zu halten ist. Der Umfang der Angelegenheiten,die der Schweigepflicht unterliegen, ist erfreulicher¬

weise beschränkt und einigermaßen umgrenzt.Die gesetzliche Schweigepflicht erstreckt sich

nicht auf alle Vorgänge innerhalb des Getriebes

der Krankenkasse, sondern nur a) auf die Krank¬

heiten oder andere Gebrechen und deren Ursachen

hinsichtlich aller Personen, die von der Kasse

eine Leistung beziehen und b) die Geschäfts- und

Betriebsgeheimnisse der Arbeitgeber, deren Be¬

schäftigte bei der Kasse versichert sind Was

zunächst das Schweigegebot zu a) anbetrifft, so

wurde zur Begründung dieser Neuerung in der

Reichstagskommission gesagt, daß es für die Ver¬

sicherten sehr nachteilig sein könne, wenn ein¬

schlägige Mitteilungen, z. B. bei Folgeerscheinungender Syphilis, an die Mitarbeiter oder Arbeitgeberder Kranken gemacht würden. Unter den Ge¬

schäfts- und Betriebsgeheimnissen (siehe b) im

Sinne des § 142 sind natürlich nur solche der mit

194 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. Nr. 18

der Kasse in Verbindung stehenden Arbeitgeberund Unternehmer, nicht etwa solche der Kasse

zu verstehen. In der Kommissionsberatung wurde

vom Staatssekretär des Innern ausdrücklich gesagt,daß die Begiffe nicht zu engherzig ausgelegtwerden dürfen. Es fallen vornehmlich darunter

alle Vorgänge und Einrichtungen (Betriebsweise,Menge der angefertigten Waren, Art und Be¬

schäftigung, Bezugsquellen, Umsatzgebiet, Kunden¬

kreis, Erfindungen, Kassenführung und sonstigeEigentümlichkeiten), deren Geheimhaltung nach

ihrer Natur oder der Absicht des Unternehmers

geboten ist. Ein „Geheimnis4' liegt natürlich nicht

vor, wenn es sich um allgemein bekannte Tatsachen

handelt. Auch ist es nicht eine Aufdeckung eines

Geheimnisses, wenn dieses gegenüber mehreren

Beteiligten, die das Geheimnis schon kennen,

bekanntgegeben wird.

Man hat schon die Lohnverhältnisse der

Arbeiter zu den Geschäftsgeheimnissen gezählt,die doch recht wenig Geheimnisvolles haben. In

der Kommissionsberatung wurde ausdrücklich ge¬

wünscht, daß z. B. sozialpolitische Schriftsteller,die in Artikeln über die Lohnverhältnisse be¬

stimmter Arbeitergruppen schreiben, straflos

bleiben sollen. Von der Veröffentlichung eines

Geheimnisses kann ebenfalls keine Rede sein,

wenn der in Betracht kommende Betriebsunter¬

nehmer mit der Veröffentlichung einverstanden

ist. Hieraus ergibt sich, daß die vielfach vor¬

handene große Ängstlichkeit in bezug auf die

gesetzlichen Gebote des Schweigens unbegründetist. So ist es z. B. unverwehrt, Berichte über die

Sitzungen der Kassenorgane zu geben und zu

veröffentlichen, das Ergebnis der Abstimmung bei

irgendeinem Beschluß bekanntzugeben, Entschei¬

dungen der Behörden, die an die Kasse gelangen,zu veröffentlichen, den Geburtstag eines Ver¬

sicherten, den Namen seines Arbeitgebers, die

Dauer der Beschäftigung bei diesem usw. In¬

teressenten mitzuteilen, vorausgesetzt, daß die

Form keine Beleidigung einschließt. Hieraus

ergibt sich, daß auch die Mitteilung von Adressen

keinerlei Verlegung der gesetzlichen Schweigepflichtbedeutet.

Man hat die Dienstordnung (§ 351 RVO.) viel¬

fach als Mittel benutzt, die Schweigepflicht der

Kassenangestellten zu erweitern. In § 19 des

amtlichen Musters einer Dienstordnung (Preuß.Handels-Min.-Bl. 1913 Nr. 27) findet sich der Satz:

„Die Angestellten haben über die zu ihrer dienst¬

lichen Kenntnis gelangenden Angelegenheiten,deren Geheimhaltung ihrer Natur nach, durch

gesetzliche Vorschrift . . .oder durch Anordnung

derVorgesetzten vorgeschrieben ist, Verschwiegen¬heit zu beobachten, und zwar auch nach Lösungdes Dienstverhältnisses.44 Hier ist das Schweige¬gebot der Angestellten nach zwei Richtungenerweitert worden: Auf Angelegenheiten, deren*

Geheimhaltung „ihrer Natur44 nach geboten ist

und jene, die von den Vorgesetzten bezeichnet

worden sind. Ob eine Sache „ihrer Natur nach44

geheim gehalten werden muß, wird der Angestelltenicht immer entscheiden können; die Begriffs¬bestimmung ist zu unsicher. Jedenfalls wird diese

Vorschrift der Dienstordnung sehr einschränkend

ausgelegt werden müssen. Soweit die „An¬

ordnungen der Vorgesetzten44 in Frage kommen,kann man nur solche Angelegenheiten darunter

fallen lassen, die im einzelnen und möglichst

genau bezeichnet worden sind. Es bestehen

überhaupt Zweifel, ob es zulässig ist, die im

Gesetz begrenzte Schweigepflicht durch die Dienst¬

ordnung noch weiter auszudehnen. Aus den Be¬

ratungen der Reichstagskommission geht hervor,daß es auch gar nicht in der Absicht des Gesetz¬

gebers liegt, die Schweigepflicht noch weiter aus¬

zudehnen. Es ist deshalb zu empfehlen, jeneBestimmungen der Dienstordnungen, wo sie noch

bestehen, zu streichen. Die Musterdienstordnung,die vom Hauptverband deutscher Ortskranken¬

kassen in Verbindung mit dem Zentralverband

der Angestellten herausgegeben worden ist, ent¬

hält jene Erweiterung nicht, sondern nur das, was

die §§ 141, 142, 143 RVO. besagen. Noch wenigerzweckmäßig ist eine Überspannung der Schweige-

f>flicht durch Abforderung entsprechender schrift-

icher Erklärungen der Kassenangestellten. Das

Versicherungsamt hat auch kein Recht, derartigeMaßnahmen vom Kassenvorstand zu verlangen.Dieser ist nicht verpflichtet, mehr zu verlangen,als die §§ 141 bis 143 RVO. vorsehen. Die Schweige¬

pflicht der nicht der Dienstordnung unterstehenden

Kassenangestellten bewegt sich in denselben

Bahnen. An Stelle der Dienstordnung tritt für

sie das Gesetz. In den Regulativen, die der

Anstellung der K&ssen-„beamten" zugrunde liegen,ist das Schweigegebot recht verschieden geregelt.In dem halbamtlichen Musterregulativ ist die An¬

gelegenheit ähnlich geregelt, wie in der amtlichen

Dienstordnung.Nur jene oben unter a und b bezeichneten,

im Gesetz festgelegten Angelegenheiten sind

geheim zu halten, die dem Angestellten in »amt¬

licher Eigenschaft* bekannt geworden sind. Ge¬

schützt sind also nicht solche Vorgänge, von denen

die Angestellten außerhalb ihrer amtlichen Tätig¬keit z. B. durch Privatpersonen oder „Dritte"

Kenntnis erlangen. Wichtig ist auch, daß nicht

jede, sondern nur die »unbefugte* WeiterVerbreitungverboten ist. Das ist eine sehr wesentliche' Ein¬

schränkung. „Unbefugt44 heißt, gegen den aus¬

drücklich erklärten oder zu vermutenden Willen

des Versicherten und mit dem Bewußtsein der

Rechtswidrigkeit etwas verbreiten. Der Begriff„unbefugt44 ist sehr dehnbar und wurde deshalb

auch in der Komissionsberatung bemängelt. Der

Begriff ist aber dem Strafgesetzbuch (§ 300) und

anderen neueren Gesetzen entnommen. Die Recht¬

sprechung hat bereits eine Umschreibung des

Gewollten geliefert. Der Staatssekretär des Innern

wies bei der Beratung der Bestimmung darauf

hin, daß eine Mitteilung der in Frage kommenden

Art jedenfalls dann befugt sei, wenn sie für die

Zwecke des Gesetzes erfolge. Der Sinn des § 141

sei nur der, den Versicherten gegen unbefugte,sich auf seine Person beziehende Mitteilungen der

gedachten Art an Dritte zu schützen. Soweit

etwa darüber hinaus eine Verwertung der Fest

Stellungen über Krankheiten Versicherter und

deren Ursachen im allgemeinen Interesse der

Versicherten wünschenswert sei, werde sich meist

ein Weg finden lassen, der die Strafbarkeit ver¬

meide. Werde beispielsweise anläßlich der Er¬

krankung eines Versicherten eine Verletzung ge¬

werbepolizeilicher Vorschriften durch den Unter¬

nehmer festgestellt, so werde die Mitteilung dieser

Tatsache ohne Nennung des Versicherten an den

Gewerbeaufsichtsbeamten sehr wohl möglich sein.

Ebenso könne, wenn durch Erkrankung Ver¬

sicherter die Gesundheitsgefährlichkeit eines Be¬

triebes festgestellt werde, diese Feststellung

vielleicht in einer Statistik ohne Nennung von

Namen, ohne Verletzung des § 141 verwendet

werden. Logischerweise liegt eine Verletzung

der weitergehenden, in den Dienstordnungen vor¬

gesehenen Schweigepflicht nur vor, wenn die

Offenbarung eine „unbefugte" war. Auch vom

Nr. 18 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. 195

Standpunkt dieser Darlegungen des Staatssekretärsaus ist die Mitteilung von Adressen zu den eben

eingangs erwähnten Zwecken kein „Vertrauens-bruch", da sie im Interesse der Durchführung des

Gesetzes und der Ortskrankenkassen erbeten wird.Eine gerichtliche Strafverfolgung wegen des

Verstoßes gegen die gesetzlichen Vorschriften tritt

im allgemeinen nur auf Antrag ein. Dieser istinnerhalb drei Monaten zu stellen; er kann nicht

zurückgenommen werden, § 64 des Strafgesetz¬buches. Bei unbefugter Offenbarung einer Krank¬

heit usw. eines Versicherten hat das Recht zum

Strafantrag nur der Versicherte selbst oder die

Aufsichtsbehörde der Kasse, bei Offenbarung von

Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen nur der Be¬

triebsunternehmer. Geschieht indes das Vergehen,um den Unternehmer zu schädigen, oder sich oder

anderen einen Vermögensvorteil zu verschaffen,so kann die Strafverfolgung auch ohne Antragdes Unternehmers im „öffentlichen Interesse44

erfolgen. Zuständig zur Aburteilung sind die

Strafkammern. Hat ein Kassenangestellter sich

des Bruchs der Schweigepflicht schuldig gemacht,so kann unabhängig von der Verfolgung durch

die Strafgerichte und neben dieser die Bestrafungauf dem Verwaltungswege auf Grund der Dienst¬

ordnung eintreten, natürlich nur, wenn er dieseruntersteht. Bei groben Dienstvergehen hat Dienst¬

entlassung zu erfolgen. Als solches grobes Dienst¬

vergehen wird mit aufgeführt „schwere Verletzungdes Dienstgeheimnisses44. Leider ist dieser Begriffnicht näher begrenzt Die Überwachung der Ein¬

haltung der Vorschriften über die Dienstver¬

schwiegenheiten, wie sie in der Dienstordnunggeschrieben stehen, ist lediglich Sache des Kassen¬vorstandes. Selbst das Versicherungsamt hat sichbei vermeintlichen Verstößen an den Kassen¬vorstand zu halten, der seinerseits für die Ein¬

haltung der Vorschriften zu sorgen hat und derinsoweit auch die Verantwortung trägt. Die Hilfs¬

arbeiter und Angestellten, für die nach § 351 RVO.die Dienstordnung gilt, unterstehen nur der Dienst¬aufsicht des Kassenvorstandes.

Es ist mir wohl bewußt, daß es Leute gibt,die mit dieser Auffassung nicht einverstandensind und die Schweigepflicht der Kassenange-stcllten möglichst ausdehnen wollen. Sie können

sich aber nur auf ihre Gefühle und Neigungen,aber nicht auf gesetzliche Bestimmungen stützen.

Soweit sie in der Literatur zu Worte gekommensind, konnten sie ihre abweichenden Ansichten

auch nicht mit juristischen Beweisen belegen.

Die Krankenversicherung der Erwerbslosen.Von Bruno Bieligk, Gehren i. Thür.

Die Krankenversicherung der Erwerbslosen

ist geordnet In den §§ 12a bis 12f der Reichs¬

verordnung über Erwerbslosenfürsorge vom

6. Mai 1920. Nach § 12a muß die Gemeinde für

Erwerbslose, die auf Grund der Reichsversiche¬

rung zur Fortsetzung oder Aufrechterhaltungeiner Versicherung gegen Krankheit bei einer

Krankenkasse, knappschaftlichen Krankenkasse

oder Ersatzkasse berechtigt sind, die Weiterver¬

sicherung in der bisherigen Mitgliederklasse oder

Lohnstufe herbeiführen und zu diesem Zwecke

die erforderlichen Meldungen innerhalb zweier

Wochen nach Beginn und Ende der Unterstützungbewirken, sowie die vollen Beiträge für die Er¬

werbslosen zahlen. Versäumt die Gemeinde dies

und verlieren Erwerbslose dadurch den Anspruchauf Krankenhilfe, dann ist die Gemeinde ver¬

pflichtet, den Erwerbslosen die gleiche oder gleichwertige Krankenhilfe von sich aus zu gewähren.Kann sie dabei die ärztliche Behandlung nicht

selbst beschaffen, muß sie den Erwerbslosen dafür

sechs Achtel des gesetzlichen Krankengeldeszahlen.

Der § 12b gibt der Gemeinde die Berechti¬

gung, mit der Allgemeinen Ortskrankenkasse

ihres Bezirks oder einer anderen im § 225 RVO.

bezeichneten Krankenkasse, die in ihrem Bezirke

den Sitz hat und deren Leistungen denen der

A {gemeinen Ortskrankenkasse mindestens gleich¬wertig sind, zu vereinbaren, daß bei der Kasse

alle von der Gemeinde zu unterstützenden Er¬

werbslosen versichert werden, auch die, die nicht

dem zur freiwilligen Versicherung oder Weiter¬

versicherung (§ 12 a) berechtigten Personenkreis

angehören. Dabei gilt für die Einreihung in die

Mitgliederklassen oder Lohnstufen als Grundlohnder Betrag der Unterstützung, den die Erwerbs¬

losen für ihre Person erhalten, soweit dieser den

höchsten Grundlohn der Kasse nicht übersteigt,was nach der Erhöhung der Grundlöhne wohl nie

der Fall sein wird. Die nach diesen Vorschriften

versicherten Erwerbslosen sind den Versiche¬

rungspflichtigen im allgemeinen gleichgestellt,doch sind sie nicht berechtigt, nach § 313 RVO.

die Versicherung fortzusetzen, wenn infolge Be¬

endigung der Unterstützungszahlung das Ver¬

sicherungsverhältnis beendet wird. Die Vor¬

schriften des § 12 a über die Meldepflicht der Ge¬

meinden und die Pflicht der Zahlung der vollen

Beiträge durch die Gemeinden gelten auch für

die Versicherung der Erwerbslosen nach £ 12 b.

Erwerbslose, bei denen die Gemeinde die

weitere Versicherung nach § 12a nicht herbei¬

führen kann, weil der geschäftliche Verkehr mit

der zuständigen Kasse infolge Besetzung deutschen

Gebiets durch eine feindliche Macht verhindert

oder wesentlich erschwert ist, werden bei der für

den Gemeindebezirk zuständigen AllgemeinenOrtskrankenkasse oder, wenn eine solche nicht

besteht, bei der zuständigen Landkrankenkasse

nach den Bestimmungen des § 12 b versichert

(§12c RV.). Sie haben aber nach dem Aus¬

scheiden aus der Kasse wegen Wegfalls der Er¬

werbslosenunterstützung das Recht der freiwilligenWeiterversicherung nach § 313 RVO.

Gemäß §12d ist der Erwerbslose, der den

Voraussettungen des § 12 a genügt, auch dann

nach den Bestimmungen des § 12a zu versichern,

wenn die Gemeinde eine Vereinbarung mit einer

Krankenkasse nach § 12 b getroffen hat, sofern er

es bei der Gemeinde binnen drei Wochen nach

dem Inkrafttreten der Vereinbarung oder nach

dem späteren Beginne der Erwerbslosenunter¬

stützung beantragt u d nicht der Fall des § 12 c

gegeben ist. Macht (ier Erwerbslose "on diesem

Rechte keinen Gebrauch oder ist der Fall des

£ 12 c gegeben, so kann er bei Beendigung der

Versicherung nach § 12 b oder § 12 c die Versiche¬

rung bei seiner früheren Kasse in der gleichenWeise fortsetzen, wie wenn er bis zu diesem

Zeitpunkte Mitglied der früheren Kasse gewesen

wäre, sofern er seinen Wiedereintritt bei dieser

Kasse binnen drei Wochen erklärt. Die frühere

Kass- kann den Erwerbslos:ii ärztli h untersuchen

um Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. Nr. 18

lassen. Für eine beim Wiedereintritt bereits be¬

stehende Erkrankung hat der Erwerbslose An¬

spruch nur an die Kasse, bei der er nach § 12 b

oder § 12 c versichert war.

Trotz der Bestimmung des § 6 Abs. 1 RV.

kann meines Erachtens kein Zweifel darüber be¬

stehen, daß die Versicherung Erwerbsloser gegen

Krankheit durch die Gemeinden nur für die Er¬

werbslosen in Betracht kommt, denen die Ge¬

meinden Krwerbslosenunterstützung zu zahlen

haben. Diese Auffassung wird ausdrücklich unter¬

stützt durch §§12a Abs.l und 12b Abs.l RV.

Doch muß die Versicherung auch erfolgen für die

im § 9 RV. vorgesehene Wartezeit für den Bezug

der Unterstützung.Infolge der Heraufsetzung des Grundlohns

durch die Reichsverordnung vom 30. April 1920

sind an maßgebenden Stellen Bedenken gegen

die Versicherung Erwerbsloser nach §§ 12a und

12 d aufgetaucht, die auch bereits zu Erörterungen

über zweckentsprechende Abänderung dieser Be¬

stimmungen geführt haben. Die höheren Grund¬

löhne bewirken, daß wohl die meisten der Er¬

werbslosen im Falle der Versicherung nach § 12a

bei Eintritt von Erwerbsunfähigkeit durch Krank¬

heit ein höheres Krankengeld bekommen, als die

Erwerbslosenunterstützung beträgt. Infolgedessenbefürchtet man 1. eine zu hohe Belastung der

Erwerbslosenfürsorge durch die erhöhten Beiträgeund 2. einen Anreiz zur mißbräuchlichen Aus¬

nutzung der Krankenversicherung durch die Er¬

werbslosen. Dem soll vorgebeugt werden durch

die durchgängige Versicherung der Erwerbslosen

nach § 12b RV., der insofern eine Abänderung

erfahren soll, als die Versicherung in der Mit¬

gliederklasse oder Lohnstufe erfolgen soll, deren

Krankengeldbetrag der Unterstützung entspricht,die der Erwerbslose für seine Person beziehen

würde, wenn er nicht krank geworden wäre.

Wenn auch zugegeben werden muß, daß die

Heraufsetzung des Grundlohnes einen Anreiz zu

mißbräuchlicher Ausnutzung der Krankenversiche¬

rung geschaffen hat, gegen den die Krankenkassen

schutzlos sind, wenn sie nicht mit Hilfe der Ärzte

dagegen erfolgreich anzukämpfen vermögen, halte

ich es für außerordentlich bedenklich, den vor¬

geschlagenen Weg zu beschreiten und den Er¬

werbslosen auf Grund gesetzlicher Bestimmungen

wohlerworbene Rechte zu beschneider. Das Recht

der Weiterversicherung nach § 313 RVO. in der

bisherigen Mitgliederklasse oder Lohnstufe kann

den infolge Ausscheidens aus dem versicherungs¬

pflichtigen Beschäftigungs Verhältnis erwerbslos

Gewordenen nicht durch eine Reichsverordnung,sondern nur durch ein Reichsgesetz genommen

werden, was aber in der Praxis dadurch unmöglich

ist, daß dieses Recht nicht allgemein aufgehobenwerden kann, weil sein Fortbestehen eine zwin¬

gende Notwendigkeit ist. Eine Aufhebung für

nur einen Teil der Berechtigten würde eine Un¬

gleichheit in das Gesetz hineinbringen, die bisher

nicht darin war. Beides wäre mit dem Charakter

der Sozialversicherung unvereinbar und würde

einen großen Rückschritt bedeuten. Ebenso wäre

der Versuch zu beurteilen, das Recht nach § 313

RVO. tatsächlich weiterbestehen zu lassen, den

Erwerbslosen aber zum Verzicht auf die Aus¬

übung dieses Rechtes dadurch zu veranlassen,

daß ihm die Beiträge zugunsten der Fürsorgedann in voller Höhe auferlegt werden, wenn er

zu diesem Verzicht nicht bereit ist. Bei solcher

Regelung würde die Erwerbslosenfürsorge für die

Erwerbslosen, die erwerbsunfähig krank werden,

zum Verhängnis. Sie wären infolge des Be¬

stehens der Erwerbslosenunterstützung wirtschaft¬

lich schlechter gestellt, als wenn diese nicht be¬

stünde. Solches Vorgehen bedeutete den Abbau

der Erwerbslosenfürsorge am falschen Ende; es

wäre unsozial durch und durch.

Die Heraufsetzung des Grundlohnes in der

Krankenversicherung entsprach durchaus wirt¬

schaftlichen Notwendigkeiten. Die damit ge¬

schaffene Gefahr der mißbräuchlichen Ausnutzungder Krankenversicherung durch Erwerbslose deckt

nur die Unzulänglichkeit der Erwerbslosenfürsorge

auf, deren Ausbau allein diese Gefahr wirksam

zu bannen vermöchte. Die gegenwärtige Orga¬nisation unseres Wirtschaftslebens bedingt die

Erwerbslosigkeit eines Teiles der Volksgenossen.Ihnen zu helfen, sie zu stützen in ihrer Not ist

Pflicht der Gesellschaft. Das bedingt aber Ausbau

der sozialen Fürsorge, nicht ihren Abbau. Die

Erwerbslosen werden nicht zur mißbräuchlichen

Ausnutzung der Krankenversicherung kommen,

wenn ihnen die Erwerbslosenfürsorge das gibt,was sie zur Fristung der Existenz haben müssen.

Verwaltung.Gesetz, betreffend Änderung der Verordnung

Ober Lohnpfändung. Vom 10. August 1920. (RGBl.1920 Nr. 172 S. 1572.)

Der Reichstag hat das folgende Gesetz be¬

schlossen, das mit Zustimmung des Reichsrats

hiermit verkündet wird:

Artikel I. Die Verordnung über Lohnpfändungvom 25. Juni 1919 (RGBl. S. 589) wird dahin ge¬

ändert, daß

1. im § 1 Abs. 1 Ziffer 1 an die Stelle des Wortes

„zweitausendfünfhundert44 das Wort „fünf¬

tausend44,2. im § 1 Abs.2 an die Stelle des Wortes „zwei¬

tausend44 das Wort „viertausend-,3. im § 1 Abs. 3 an die Stelle der Worte „vier¬

tausendfünfhundert44 und „dreitausend* die

Worte „neuntausend44 und „sechstausend44,4. im § 7 Abs. 1 an die Stelle der Worte „31. De¬

zember 1920" die Worte ,31. Dezember 192144

treten.

\rtikel IT. Das Gesetz tritt am 1 Oktober

192U in Kraft.

Soweit mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes

eine Erweiterung des der Pfändung nicht unter¬

worfenen Teiles der in §§ 1, 3 der Verordnung

vom 25. Juni 1919 und im § 850 Abs. 3 ZPO. be¬

zeichneten Forderungen eintritt, findet § 7 Abs. 2

der Verordnung vom 25. Juni 1919 Anwendung.

Verordnung zur Durchführung des § 25

Abs. 3 und des § 28 des Gesetzes über die Ver¬

sorgung der Militärpersonen und ihrer Hinter¬

bliebenen bei Dienstbesdifidigung (Keichsver¬

sorgungsgesetz) vom 12. Mal 1020 (RGBl. S. 989).

Vom 1. September 1920. (RGBl. 1920 S. 1633.)Auf Grund des § 103 RVG vom 12. Mai 1920

•RGBl. S.989) wird mit Zustimmung des Reichs¬

rats und eines aus 28 Mitgliedern bestehenden

Ausschusses des Reichstags folgendes bestimmt

I.

Zu § 25 Abs. 3. Wer in seiner körperlichenUnversehrtheit schwer beeinträchtigt ist, erhält

ohne Rücksicht auf den Grad der Minderung seiner

Erwei bsfähigkeit eine Rente nach den nach-

Nr. 18 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. 197

stehenden Sätzen. Begründet die Minderung derErwerbsfähigkeit eine höhere Rente, so erhält er

diese höhere Rente; beim Zusammentreffen von

Schädigungen der körperlichen Unversehrtheit und

Minderung der Erwerbsfähigkeit wird die für den

Beschädigten günstigere Rente gewährt.Verlust eines Beines oder eines Armes 50 v. EiVerlust eines Unterschenkels oderUnterarms 40

m

Verlust eines Fußes 30n

Verlust von drei oder mehr Fingerneiner Hand einschließl. des Daumens 30

Verlust von drei oder mehr Fingerneiner Hand ausschließl. des Daumens 20

Verlust des Daumens allein.... 20

Verlust der ganzen Kopfhaut (Skal¬pierung) 20

Verlust eines Auges 20„

falls ein künstliches Auge nicht ge¬tragen werden kann 30

Halbseitenblindheit (Hemianopsie) . . 40

Verlust eines Kiefers oder des größerenTeiles eines Kiefers (mehr als l/0 . 30

Verlust des Gaumens .20

Verlust aller Zähne 20„

Verlust beider Ohrmuscheln.... 20

Erheblicher Gewebsverlust der Zungemit schwerer Sprachstörung ... 30

Verlust des Kehlkopfes 50„

Völliger Verlust der Nase 50

Stinknase (Ozaena) 30

Abstoßend wirkende Entstellungen des

Gesichts, die den Umgang mit

Menschen erschweren...

20 bis 50„

Verlust beider Hoden, des männlichen

Gliedes oder der Gebärmutter. .

30„

Verlust der Milz oder einer Niere . 20„

Widernatürlicher After; Urin- oder

Darmfistel 20„

Verlust des Afterschließmuskels;starker Mastdarmvorfall 30

Andere Körperschäden, die den hier auf¬

gezählten gleichzuachten sind, sind entsprechendzu berücksichtigen.

Die Beeinträchtigung der körperlichen Un¬

versehrtheit allein wird nicht höher bewertet als

eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 v. H.,auch wenn mehrere Schäden zusammentreffen.

II.

Zu § 28. 1. Die Ausgleichszulage von einem

Viertel der nach § 27 des Gesetzes zu gewäh¬renden Gebührnisse erhalten die Angehörigenfolgender Berufsgruppen:Selbständige Landwirte, Gewerbetreibende und

Handwerksmeister, Betriebsbeamte, Werk¬

meister und andere Angestellte in einer ähnlich

gehobenen oder höheren Stellung, landwirt¬

schaftliche Verwalter und Vögte, Bankbeamte,

Buchhalter, Handlungsgehilfen, Bühnen- und

Orchestermitglieder, Techniker, Krankenpflegerund-pflegerinnen,Gesellen,Facharbeiter, sonstigegelernte Arbeiter und ihnen nach Kenntnissen

und Fertigkeiten gleichstehende angelernteArbeiter und Angestellte, sowie alle übrigenArbeiter und Angestellten, deren Tätigkeit er¬

hebliche Kenntnisse und Fertigkeiten erfordert,

Beamte des Reichs, der Länder und der Gemeinden,

Lehrer und Erzieher,Berufsoffiziere bis zum Hauptmann,Berufsunteroffiziere und Berufssoldaten, die nach

mindestens sechsjähriger Dienstzeit die Eignungzum Unteroffizier besitzen und Unteroffiziers¬

dienst geleistet haben,

sämtlich, soweit nicht infolge eines besonderenMaßes von Leistung und Verantwortung Anspruchauf die erhöhte Ausgleichszulage besteht.

Den Angehörigen dieser Berufsgruppen wird

gleichgestellt, wer die Abschlußprüfung einerFachschule bestanden oder wenigstens sechs

Klassen einer höheren Lehranstalt mit Erfolg be¬sucht hat.

2. Die Berechtigung zum Bezüge der erhöhten

Ausgleichszulage, der Hälfte der nach § 27 zu

gewährenden Gebührnisse, haben die Angehörigenfolgender Berufsgruppen:Leiter und Verwalter größerer Betriebe in Land¬

wirtschaft, Handel und Gewerbe, Industrie und

Bergbau, sowie größerer Verbände, ferner Ärzte,Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Rechtsanwälte,Künstler und Schriftsteller von Ruf;

Angestellte in leitender oder sonst besonders ver¬

antwortlicher Stellung in größeren Betrieben,Werkmeister und Arbeiter, deren Tätigkeitaußergewöhnlich hoch zu bewerten ist, wie

Gießmeister einer großen Tiegelgußstahlgießerei,Schleifer kleinster Linsen für Mikroskope mit

ölimmersion, Prüfer für komplizierte elektrische

Meßinstrumente, Einrichter an automatischen

Drehbänken, Werkzeugbauer im Großmaschinen-

bau;Beamte, und Lehrer in leitender oder sonst be¬

sonders verantwortlicher Stellung, Notare,Geistliche;

Berufsoffiziere vom Hauptmann aufwärts, Schiffs¬

offiziere in entsprechender Stellung.Den Angehörigen dieser Berufsgruppen wird

gleichgestellt, wer eine staatliche Prüfung be¬

standen hat, zu deren Ablegung der wenigstens drei¬

jährige Besuch einer Hochschule erforderlich ist.

3. Keinen Anspruch auf die Ausgleichszulagehaben:

Ungelernte Arbeiter, Tagelöhner, lediglich mit ein¬

fachen häuslichen oder landwirtschaftlichen Ar¬

beiten oder rein mechanischen Dienstleistungenbeschäftigte Personen, ferner Lehrlinge und

Schüler, soweit nicht Ziffer II Nr. 1 und 2 dieser

Verordnung oder § 28 Abs. 2 des Gesetzes An¬

wendung finden.

4. Angehörige der in Nr. 1 bis 3 nicht auf¬

geführten Berufe sind entsprechend einzureihen.

5. In Zweifelsfällen kann der Vergleich des

vom Beschädigten früher bezogenen Arbeits¬

einkommens mit dem eines ungelernten Arbeiters

für die Entscheidung, ob eine Ausgleichszulagezu gewähren ist, maßgebend sein.

6. Die militärische Dienststellung ist nur bei

berufsmäßigen Angehörigen der Wehrmacht ma߬

gebend, bei allen übriyen Beschädigten kommt

nur der bürgerliche Beruf in Betracht.

III.

Die Vorschriften dieser Verordne g sind

bindend im Sinne des § 103 des Gesetzes.

Reichsversorgungsgesetz und Kranken¬

versicherung. In Nr. 14 dieser Zeitschrift hat

Herr Hermann Müller, Berlin, das gesamte Reichs¬

versorgungsgesetz eingehend behandelt und

hierbei auch die in dem Gesetz vorgeschriebeneHeilbehandlung erwähnt. Für den Kassenpraktikerist dieser Teil des Gesetzes eine neue wichtigeBestimmung und gilt auch hier das von Herrn

Müller Gesagte, daß bis jetzt von dem Gesetz zu

wenig Notiz genommen worden, ja, daß es zum

Teil noch gänzlich unbekannt ist. Mögen folgendeZeilen zur Aufklärung der Interessenten dienen.

198 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. Nr. 18

Personen, welche seit dem 1. August 1914

während der Ausübung von Militär- oder Kriegs¬dienst eine Dienstbeschädigung erlitten haben,

wird (unbeschadet, ob sie Mitglieder einer Kranken¬

kasse sind oder nicht) auf Antrag Heilbehandlung

und evtl. Krankengeld von der Ortskrankenkasse

gewährt. Dienstbeschädigung ist nach § 2 des

Reichsversorgungsgesetzes vom 12. Mai 1920 die

gesundheitschädigende Einwirkung, die durch

militärische Dienstverrichtungen oder durch einen

während der Ausübung des Militärdienstes er¬

littenen Unfall oder durch die dem Militärdienst

eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden

ist. Dasselbe gilt für Kriegsgefangene. Eine

absichtlich herbeigeführte Beschädigung gilt nicht

als Dienstbeschädigung.Die Heilbehandlung umfaßt ärztliche Be¬

handlung, Versorgung mit Arznei, Heilmittel,

Körperersatzstücke und andere Hilfsmittel, die

erforderlich sind, um die Folgen der Dienst¬

beschädigung zu erleichtern und die Erwerbs¬

fähigkeit zu steigern; ferner Instandsetzung und

Ersatz von Hilfsmittel. Auch kann Heilanstalts¬

pflege oder Hilfe und Wartung durch Kranken¬

pfleger oder -Schwestern gewährt werden. Körper¬

ersatzstücke, orthopädische und andere Hilfsmittel

werden vom Reich geliefert. Die Heilbehandlung

erfolgt durch die Krankenkasse, welcher der Be¬

schädigte angehört. Ist er nicht Mitglied einer

Krankenkasse, so hat die Ortskrankenkasse des

Wohnorts (falls eine solche nicht besteht, die

Landkrankenkasse) diese zu übernehmen. Die Heil

behandlung wird für eine unbegrenzte Zeit ge¬

währt. Krankengeld erhält der Beschädigte, falls

er bei einer Kasse versichert ist, nach den

satzungsmäßigen Bestimmungen. Ist der Be¬

schädigte nicht Mitglied einer Kasse, so erhält

er nur Krankengeld, wenn sein Einkommen durch

die Erkrankung gemindert ist, und zwar nach den

Sätzen, wie wenn er freiwillig der Kasse bei¬

getreten wäre. (Nach § 180 RVO. bestimmt die

Satzung der Kasse den Grundlohn für freiwillige

Mitglieder. Bei verschiedenen Kassen gilt auch

der Ortslohn als Grundlohn für freiwillig bei

tretende Mitglieder.) Ist der Beschädigte nicht

Mitglied einer Kasse und erhält Vollrente, dann

erhält er im Falle einer Erkrankung kein

Krankengeld, sondern nur Heilbehandlung. Erhält

er hingegen nur eine Teilrente, so darf Kranken¬

geld nur in der Höhe gezahlt werden, daß

Krankengeld und Rente den Betrag der Voll¬

rente, Orts- und Teuerungszulagen nicht über¬

steigen. Wird Heilanstaltspflege gewährt, so

werden den Angehörigen, deren Ernährer er ge¬

wesen ist, zwei Drittel der Vollrente und die

nach der Vollrente bemessene Kinderzulage als

Hausgeld gewährt, wenn das Einkommen des

Beschädigten durch die Erkrankung gemindertist. Auf diese zwei Drittel der Vollrente usw/

sind ein aus einer Krankenkasse gewährtes Haus¬

oder Krankengeld anzurechnen. Bei Bedürftigkeitkann dem Beschädigten und seinen Angehörigeneine besondere Unterstützung und während einer

Badekur Hausgeld gewährt werden. Zur Duldung

von größeren Operationen kann der Beschädigtenicht gezwungen werden. Bezüglich der Heil¬

anstaltspflege bewendet es bei § 184 RVO. Die durch

eine Heilbehandlung verursachten Reisekosten,Ver¬

pflegung und Unterkunft sind dem Beschädigtenzu ersetzen. Bei einer angeordneten Anpassungvon Hilfsmitteln wird das Gleiche gewährt, sowie

Ersatz für entgangenen Arbeitsverdienst.

Das Wichtigste füi die Krankenkassen ist die

Ersatzleistung für ihre Aufwendungen; diese sind

verschieden, je nachdem, ob der Beschädigte, der

Krankengeld bezogen hat, Mitglied der Kasse war

oder nicht. Ist der Beschädigte Mitglied einer

Kasse und erhält das satzungsgemäße Kranken¬

geld, so wird der Kasse vom Reich bis 1. April1923 Ersatz geleistet in Höhe des halben Kranken¬

geides. War der Beschädigte in einer Heilanstalt

(Krankenhaus usw.) untergebracht, so beträgt der

Ersatz drei Viertel des Krankengeldes. Daneben

wird der Aufwand für kleinere Heilmittel ersetzt.

Ersatz für Krankengeld, Hausgeld und Heilmittel

wird jedoch nur gewährt, wenn die Krankheit

als Folge der Dienstbeschädigung vor dem Beginnder Heilbehandlung anerkannt war. Wird dieser

Zusammenhang erst während der Heilbehandlunganerkannt, so wird der Ersatz nur für die auf

die Anerkennung folgende Zeit geleistet. Zur

Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folgeeiner Dienstbeschädigung genügt die Wahr¬

scheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.Tritt eine Dienstbeschädigung nach dem 1. April1920 ein, so wird Ersatz noch nach drei Jahren

nach der Dienstbeschädigung gewährt. War der

Beschädigte nicht Mitglied einer Kasse, so werden

der leistenden Kasse die entstandenen Kosten

und der entsprechende Anteil an den Ver¬

waltungskosten ersetzt. Auch kann für die Heil¬

behandlung und für die Verwaltungskosten ein

Pauschbetrag vereinbart werden. Ersatzansprüche,die für Beschädigte anzufordern sind, welche

keiner Kasse angehören, sind spätestens 14 Tagenach Beginn der Heilbehandlung oder nach der

ersten Anweisung des Krankengeldes bei der

Versorgungsbehörde anzumelden. Werden sie

später angemeldet, so kann für die vor der An¬

meldung liegende Zeit Ersatz abgelehnt werden.

Für Ersatzansprüche solcher Beschädigten, die

Mitglied einer Krankenkasse sind, ist zwar keine

Zeit zur Geltendmachung vorgeschrieben, jedochist es ratsam, auch hier, sofort bei einer Krank¬

meldung der Versorgungsbehörde Mitteilung zu

machen und die Ersatzansprüche vorläufig anzu¬

melden. Es wird also in jedem einzelnen Er¬

krankungsfalle festzustellen sein, ob die Krankheit

auf eine Dienstbeschädigung zurückzuführen ist.

Vielleicht empfiehlt es sich, eine diesbezügliche

Frage auf dem Krankenschein einzufügen.Streit über Ersatzansprüche zwischen Kranken¬

kasse und Reich wird im Spruchverfahren vor

dem Versicherungsamt entschieden. Im Spruch¬verfahren vor dem Versorgungsgericht wird ent¬

schieden, wenn es streitig ist, ob die Krankheit

die Folge einer anerkannten Dienstbeschädigungist oder nicht.

Bemerkt wird noch, daß der Beschädigtewährend der Heilbehandlung der Krankenordnungund den Strafbestimmungen der Kasse unter¬

worfen ist, auch wenn er nicht ihr Mitglied ist.

J. Keim, Offenbach a. II.

Der Anspruch auf Heilbehandlung und

Körperersatzstücke nach dem Reichsversor¬

gungsgesetz. Einen wesentlichen Fortschritt

gegen das bisher geltende Recht bedeutet der

den Kriegsteilnehmern durch das Reichsversor¬

gungsgesetz vom 12. Mai 1920 (RGBl. S. 989)

eingeräumte Anspruch auf Heilbehandlung und

Körperersatzstücke. Als Pflichtleistung besteht

die häusliche Heilbehandlung, als freiwillige

Leistung die Anstaltspflege und die Gewährung

von Badekuren.

Im allgemeinen wird die Heilbehandlung erst

nach Anerkennung des Rentenanspruchs gewährt,sie kinn aber zur Erzielung eines sicheren

Nr. 18 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. 199

Heilerfolges auch schon vorher gewährt werden

Liegt zwar Dienstbeschädigung, aber keine Er¬

werbseinbuße um mindestens 15 v.H. vor, so tritt

Heilbehandlung nur zur Verhütung einer Ver¬

schlimmerung des Versorgungsleidens ein. Die

Heilbehandlung erstreckt sich wie in der Reichs¬

versicherungsordnung auf ärztliche Behandlung,Versorgung mit Arznei und Heilmitteln.

Wenn die häusliche Behandlung — Pflicht¬

leistung — keinen genügenden Erfolg verspricht,können Heilanstaltspflege oder Badekuren ge¬

währt werden.

Während die Durchführung der Badekuren

grundsätzlich durch das Reich erfolgt, übernehmen

die Haus- und Heilanstaltspflege die Kranken¬

kassen ohne Rücksicht darauf, ob die Patienten

nach der Reichsversicherungsordnung versiche¬

rungspflichtig sind oder nicht. Während des Heil¬

verfahrens untersteht der Patient den Kontroll-

und Strafvorschriften der Krankenkassen.

Die Heilanstaltspflege hängt bei Beschädigtenmit eigenem Haushalt von seiner Zustimmungab, doch kann sie ebenso wie in der Reichsver¬

sicherungsordnung in vielen Fällen ohne seine

Zustimmung eintreten, namentlich bei anstecken¬

den Krankheiten, Verstoß gegen die Kontroll¬

vorschriften der Krankenkassen oder Anordnungender Ärzte usw. Bei häuslicher Behandlung be¬

steht Anspruch auf ein Krankengeld nach Ma߬

gaue der Krankenkassensatzung. Beschädigte,die nach der Reichsversicherungsordnung nicht

krankenversicherungspflichtig sind, erhalten ein

Krankengeld indessen nur, wenn während des

Heilverfahrens ihr Einkommen tatsächlich ge¬

mindert ist. Bei Heilanstaltspflege oder Kur in

einem Badeorte wird unter Wegfall der sonstigenVersorgungsgebührnisse (Rente usw.) ein Haus¬

geld gewährt, sofern der Beschädigte durch die

Erkrankung in seinem Einkommen geschmälertist und Angehörige hat, deren Ernährer er ge¬

wesen ist. Das Hausgeld beträgt */s der Voll¬

rente und die nach der Vollrente bemessene

Kinderzulage.Die Heilbehandlung ist jederzeit möglich, so¬

fern nur dadurch eine Besserung des Gesundheits¬

zustandes zu erwarten ist. Niemand kann zur

Duldung einer Operation gezwungen werden.

Die von den Versorgungsbehörden angeord¬nete Heilbehandlung darf von den Beschädigtennur aus einem triftigen Grunde abgelehnt werden.

Wer sich der Heilbehandlung ohne triftigen Grund

widersetzt, hat zu gewärtigen, daß ihm die Rente

eine Zeit lang ganz oder teilweise versagt wird.

Von ganz besonderer Bedeutung in der

Kriegsbeschädigtenfürsorge ist die Lieferung von

Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen

Heilmitteln. Ihr Anspruch besteht nicht nur auf

die erste Lieferung, sondern auch auf Ersatz¬

stücke und Instandsetzung schadhafter Teile,

sofern die Unbrauchbarkeit oder der Verlust

nicht vorsätzlich oder fahrlässig verschuldet ist.

Der Ersatz von unbrauchbaren Stücken kann

abgelehnt werden, wenn sie nicht zurückgegebenwerden. Bei besonders wertvollen Hilfsmitteln

können sich die Versorgungsbehörden ein Eigen¬

tumsrecht vorbehalten. Von dieser Befugnis wird

indessen nur in Ausnahmefällen, z. B. bei teuren

Fahrstühlen usw. Gebrauch gemacht werden.

Bei der Lieferung von Körperersatzstückenkann von den Beschädigten verlangt werden, daß

er sich einer Anpassung oder Anweisung im

Gebrauche der Hilfsmittel unterzieht.

Blinde erhalten Führerhunde. Zum Unter¬

halt eines Hundes werden jährlich in Orten der

Ortsklasse A 300 Mk., in Orten der Ortsklassen

B und C 240 Mk., in Orten der Ortsklassen D

und E 180 Mk. gewährt.Die Beschädigten haben Anspruch auf die

durch die Heilbehandlung erforderlich werdenden

notwendigen Reisekosten. Außer den Reisekosten

besteht Anspruch auf freie Unterkunft,Verpflegungund Ersatz für Verdienstausfall, wenn der Be¬

schädigte durch die Anpassung von Körper¬ersatzstücken oder durch den Unterricht in ihrem

Gebrauch außerhalb wohnen muß.

Der Kostenanschlag für die Heilbehandlung,die dem Reiche in den nächsten Jahren voraus¬

sichtlich jährlich erwachsen werden, beläuft sich

auf 385 350000 Mk. Hiervon entfallen 52000 000 Mk.

auf die Aufwendungen für die künstlichen Glieder,

orthopädische und andere Hilfsmittel sowie für

Führerhunde. Nach den statistischen Erhebungenwaren am 30. September 1919 innerhalb Preußens

700000 Kriegsbeschädigte anerkannt. Das ergibtfür das Reich eine Gesamtzahl von 900000 Renten¬

empfängern. Nach dem monatlichen Zugang ist

mit einer Gesamtzahl von 1350000 Renten¬

empfängern schätzungsweise zu rechnen. W. Wi.

Gewerbehygienische Aufklärungsarbeit. Seit¬

dem man erkannt hat, daß eine wirksame Be¬

kämpfung der Volksseuchen nur dann möglich ist,

wenn die große Masse der Bevölkerung über die

Entstehung, Bekämpfung und Verhütung der

betreffenden Erkrankungen unterrichtet ist, hat

eine großzügige Aufklärungsarbeit eingesetzt.Man begnügte sich z. B. nicht damit, Lungen¬fürsorgesteilen und -heilstätten zu errichten,

sondern suchte die Bevölkerung über das Wesen

der Tuberkulose aufzuklären. Das Gleiche

geschieht jetzt, nachdem die Geschlechtskrank¬

heiten seit dem Kriege erheblich zugenommen

haben, zu ihrer Bekämpfung. So groß auch die

Gefahren der Volksseuchen sind, so erkrankt

schließlich doch nur ein relativ geringer Teil der

Bevölkerung an Tuberkulose oder Geschlechts¬

krankheiten, während aber jeder Berufstätige den

mehr oder weniger großen Gefahren seiner Be¬

rufstätigkeit ausgesetzt ist. Es sei hier nur an

die Erkrankungen durch Unfälle, Staubeinatmung,durch gewerbliche Gifte, wie Blei usw., an die

Einwirkungen von Hitze, Kälte, Nässe, Über¬

anstrengung erinnert. Und wie wenig ist den

meisten Menschen hierüber bekannt! Die gewerbe¬hygienische Aufklärung muß schon früh einsetzen:

schon der Schüler, der die Schule verläßt, sollte

bei der Berufswahl von einem dafür geeignetenArzte beraten werden in der Fortbildungsschule,die ja erst besucht wird, wenn der junge Lehr¬

ling schon einen bestimmten Beruf erwählt hat,

muß dann auf die Gefahren der einzelnen Berufe

hingewiesen, der Wert der dagegen getroffenenMaßnahmen erklärt und in dem Schüler das Be¬

wußtsein erweckt werden, daß die verschiedenen

SchutzVorschriften und Verhütungsmaßnahmenihren bestimmten Zweck haben und im Interesse

des Arbeiters getroffen sind. In den Betrieben

selbst muß ebenfalls auf die Arbeiterschaft auf¬

klärend gewirkt werden. Durch Vorträge und

Vorführungen, welche die technischen und

hygienischen Einrichtungen, die zum Schutze der

Berufstätigen getroffen sind, erklären, soll der

Arbeiter zur verständnisvollen Mitarbeit erzogen

werden. Diese Aufklärungsarbeit in den Betrieben

ist um so wichtiger, als es in dem § 66 BRG.

heißt: Die Betriebsräte haben auf die Bekämpfungder Unfall und Gesundheitsgefahren im Betriebe

zu achten, die Gewerbeaufsichtsbeamten und die

200 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. Nr. 18

sonstigen in Betracht kommenden Stellen durch

Anregungen, Beratung und Auskunft zu unter¬

stützen, sowie auf die Durchführung der gewerbe¬polizeilichen Bestimmungen und der Unfall¬

vorschriften hinzuwirken.

Eine weitere Stelle, von der die gewerbe¬hygienische Aufklärung ausgehen soll, sind die

Krankenkassen. Auch bei der von diesen ausgehen¬den Aufklärungstätigkeit tritt die Besprechung der

Berufskrankheiten wie überhaupt der Gewerbe¬

hygiene vielfach in den Hintergrund. Gutes haben

auf ihrem Fachgebiet die Gewerkschaften geleistet,aber auch deren Arbeit könnte, was gewerbe¬hygienische Aufklärung anbetrifft, noch viel

intensiver gestaltet werden. Endlich ist bei dem

Lehrplan der Volkshochschulen die Gewerbe¬

hygiene gebührend zu behandeln. Wenn im

Anfang gewerbehygienische Vorlesungen wenigbesucht werden, so soll man nicht auf diese ver¬

zichten, sondern gerade durch entsprechendePropaganda das Interesse zu wecken versuchen.

Der verlorene Krieg verlangt vom deutschenVolke die denkbar intensivste Arbeit, um einenWiederaufbau zu ermöglichen und die drückenden

Verpflichtungen, die ihm die Sieger auferlegen,zu erfüllen; soll dabei nicht die Gesundheit des

Volkes, die durch Krieg und Hungerblockadeschon gewaltig geschädigt ist, noch mehr leiden, so

sind die Gefahren der Berufstätigkeit nach Mög¬lichkeit zu verringern, und das kann nur geschehen,wenn das Volk diese kennt und zu meiden lernt

Prof. Dr. med. B. Chajes, Berlin-Schöneberg.

Rechtsprechung.Der zwischen dem Leipziger Arzteverband

und den Krankenkassenorganisationen abge¬schlossene Vergleich ist nicht rechtlich bindend

für die einzelne Kasse.

In einer Entscheidung hat die Ferienzivil¬

kammer des Landgerichts in Elberfeld in Sachen

der Allgemeinen Ortskrankenkasse zu R. gegen38 Ärzte dieser Kasse in einem Zwischenurteil vom13. August 1920 (Aktenzeichen 3 a. 0. 392 20) die

Einrede der Beklagten, der Rechtsstreit sei durch

Vergleich erledigt, als unbegründet zurück¬

gewiesen. Tatbestand und Entscheidungsgründeergeben sich aus dem folgenden Inhalt des Urteils:

Tatbestand: Die Beklagten haben mit der

Klägerin unter dem 1. Oktober 1910 einen Vertraggeschlossen, inhaltdessen sie die ärztliche Be¬

handlung sämtlicher Mitglieder der Klägerin, der

berechtigten Familienangehörigen der Kassen¬

mitglieder und derjenigen Personen, die der

Klägerin zur Fürsorge überwiesen sind, soweit

die Kasse nach dem jeweiligen gesetzlichen und

zur Zeit bestehenden statutarischen Bestimmungenzur Gewährung ärztlicher Behandlung verpflichtetist, übernommen haben. Der Vertrag läuft mit

den Nachträgen vom 28. März 1919 und 6. Februar

1920 bis zum 31. Dezember 1923.

Die Beklagten haben nun den Vertrag anfangsMai 1920 fristlos gekündigt und ihre Tätigkeitfür die Klägerin eingestellt, indem sie sich weigern,dem Vertrage weiter nachzukommen.

Die Klägerin hat dieserhalb Klage erhoben

mit dem Antrage:1. festzustellen, daß die seitens der Beklagten

anfangs Mai 1920 erfolgte Kündigung des

mit der Klägerin abgeschlossenen Vertrages,inhaltdessen die Beklagten die ärztliche Be¬

handlung sämtlicher Mitglieder der Klägerin,der berechtigten Familienangehörigen der

Mitglieder und der der Klägerin zur Fürsorgeüberwiesenen Personen übernommen haben,rechtsunwirksam ist, und daß der Vertragbis 31. Dezember 1923 Geltung hat;

2. die Beklagten zu verurteilen, die vorge¬nannten Personen nach Maßgabe des Ver¬

trages ärztlich zu behandeln;3. die Beklagten zu verurteilen, der Klägerin

allen Schaden zu ersetzen, den sie dadurch

erleidet, daß die Beklagten ihren vertrag¬lichen Obliegenheiten nicht nachkommen;

4. das Urteil zu 2. für vorläufig vollstreckbar

zu erklären.

Die Beklagten bitten um kostenfällige Ab¬

weisung der Klage eventuell um Schutz aus § 713

Abs. 2 ZPO. Sie wenden ein, es sei am 21. Juni

1920 zwischen dem Leipziger Verbände als Ver¬

treter unter anderem auch des Ärztevereins

Remscheid, dem die Beklagten zum größten Teil

angehörten, einerseits, und den Krankenkassen¬

organisationen andrerseits, welche Bevollmächtigteder Klägerin gewesen sei, ein Abkommen dahin

getroffen worden, daß die sämtlichen Klagen,welche von Kassen oder Kassenverbänden gegenÄrzte oder Kassenvereine wegen Rücktritts der

Ärzte von Kassenverträgen erhoben worden seien,zurückzuziehen seien bei gegenseitiger Aufhebungder Kosten. Dieser Vergleich sei auch für die

Klägerin bindend, für welche die bevollmächtigteKrankenkassenorganisation den Vergleich abge¬schlossen habe. Diese Behauptung stellen die

Beklagten unter Beweis mit dem Antrage, über

diese Einrede vorab zu entscheiden.

Die Klägerin hat bestritten, daß die Verein¬

barungen vom 21. Juni 1920 für sie verbindlich

seien, eine besondere Vollmacht zur Vertretungbei den Berliner Einigungsverhandlungen, so trägtsie vor, habe sie nicht erteilt. Nach den Be¬

stimmungen der ReichsVersicherungsordnung seien

die Kassenverbände auch nicht berechtigt, die

Kassen in den hier fraglichen Angelegenheitenzu vertreten. Inhaltlich seien auch die Berliner

Einigungsverhandlungen nicht alsVertrag zwischen

den Kassen und Ärzten anzusehen, weil die

Kassenverbände es lediglich übernommen hätten,auf die Kassen einzuwirken, daß der Schieds¬

spruch des Leipziger Verbandes anerkannt und

angenommen werde.

Es wird im übrigen Bezug genommen auf

den Akteninhalt, insbesondere auf die von den

Parteien überreichten Akten und Schriftstücke,deren Inhalt zum Gegenstand der mündlichen

Verhandlung gemacht wurde. Die Verhandlungist entsprechend dem Antrage der Beklagten auf

die Einrede des Vergleichs beschränkt worden.

Entscheidungsgründe: Da gemäß § 146 ZPO.

die Verhandlung auf die Einrede des Vergleichsbeschränkt worden ist, so war, wie geschehen,vorab durch Zwischenurteil gemäß § 303 ZPO.

hierüber schon jetzt zu entscheiden. Die Einrede

erscheint nicht begründet.Die Beklagten stellen zwar durch Benennung

des Sanitätsrates Dr. Kuhns in Leipzig und des

Geschäftsführers Lehmann in Dresden als Zeugenunter Beweis, daß die Klägerin, die seitens der

Kassenseite aufgetretene Kassenorganisation,welche bei den Einigungsverhandlungen in Berlin

am 21. Juni 1920 aufgetreten sei, zur Vertretungbei den Berliner Verhandlungen ermächtigt hätten,

auf diesen Beweis kann es jedoch nicht ankommen.

Nr. 18 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. 201

Die Berliner Einigungsverhandlungen erscheinen

ihrem Wortlaute und Inhalte nach als Versuch

einer Regelung des Streitverhältnisses zwischen

Ärzten und Kassen, eine bindende Abmachungfür diese Parteien enthielten sie nicht. Es ist

vielmehr, wie aus dem Wortlaute einwandfrei

hervorgeht, die Anerkennung dieser Verein¬

barungen seitens der Kassen vorhehalten worden.

Ks heißt am Schlüsse des amtlichen Protokolls,welches eingangs unter Anführung der einzelnen

Namen besagt, „von der Ärzteseite, von der Kassen¬

seite44, es herrscht Einigkeit darüber: der LeipzigerVerband wird sofort an seine Organisationen die

Weisung ergehen lassen, den Kassen folgendeErklärung abzugeben: wir verpflichten uns —

folgen nähere Angaben. Die Kassenverbände er¬

klären auf ihre Kassen einzuwirken:

1. die Vereinbarungen und den Schiedsspruchdes Leipziger Verbandes anzuerkennen und

die Bedingungen anzunehmen;2. dafür zu sorgen, daß die beiden Vertrauens¬

ärzte in Breslau in ihre Verträge wieder

eingesetzt: werden.

Aus diesem. Passus ist unzweideutig zu ent¬

nehmen, daß auf Grund der Einigungsverhand¬lungen in Berlin, die zwischen den Hauptverbändenstattfanden, die bestehenden Streitigkeiten inner¬

halb der Unterverbände nunmehr geschlichtetwerden sollten; in diesem Sinne soll eben auf

die Kassen eingewirkt werden. Dieser Auffassungsteht die Preßnotiz des W.T.B., wie sie das

Protokoll am Schluß enthält, durchaus nicht

entgegen.Diese Auffassung wird auch ausdrücklich

durch die Angaben des amtlichen Kommentars zu

dem Abkommen vom 21. Juni 1920 bestätigt. Es

heißt dort unter anderem im drittletzten Absatz:

„Der Schluß der Niederschrift vom 21. Juni

1920 besagt deutlich, wenn der vertraglose Zustand

sein Ende findet, nämlich am 1. Juli 1920, sofernand nur sofern die Krankenkassen die aufgeführtenBedingungen erkannt haben. Wo also an einem

Orte die Krankenkassen die Bedingungenanerkannt haben, kann vom 1. Juli 1920 ab der

vertragslose Zustand sein Ende nehmen, nach

altem Vertrage weiter gearbeitet werden, mit der

Maßgabe, daß sofort in neue VertragsVerhand¬

lungen gemäß den vorstehenden Erläuterungen

eingetreten werde.44

Das Gericht steht angesichts des klaren Wort¬

lauts des Protokolls und des Kommentars, welche

mit den zur Begründung der Vergleichseinredevorgebrachten unsubstantierten Behauptungen in

unlöslichem Widerspruch stehen, auf dem Stand¬

punkte, daß durch die Berliner Einigungsverhand¬lungen in die zwischen den Kassen und Ärzten

bestehenden Verträge nicht eingegriffen worden

ist und auch nicht eingegriffen werden konnte.

Infolgedessen ziehen auch die Berliner Einigungs¬

verhandlungen für die Klägerin nicht die Ver¬

pflichtung nach sich, die anhängige Klage zurück¬

zuziehen. Aus allen diesen Gründen war, wie

geschehen, zu erkennen.

Die Kündigung des bis 31. Dezember 1923

abgeschlossenen Vertrages durch die Arzte

Ist rechtsunwirksam. Entscheidung der Ferien¬

zivilkammer des Landgerichts Elberfeld vom

13. August 1920 (Aktenzeichen 3 a O. 292 20).

In Sachen der Allgemeinen Ortskrankenkasse

zu R. gegen 38 praktische Ärzte hat die Ferien¬

zivilkammer des Landgerichts Elberfeld auf die

mündliche Verhandlung vom 13. August 1920 für

Hecht erkannt:

1. Es wird festgestellt, daß die seitens der

Beklagten Anfangs Mai 1920 erfolgte Kündigungdes mit der Klägerin abgeschlossenen Vertrages,inhaltsdessen die Beklagten die ärztliche Be¬

handlung sämtlicher Mitglieder der Klägerin, der

berechtigten Familienangehörigen der Mitgliederund der der Klägerin zur Fürsorge überwiesenen

Personen übernommen haben, rechtsunwirksam

ist, und daß der Vertrag bis zum 31. Dezember

1923 Geltung hat.

2. Die Beklagten werden verurteilt, die vor¬

genannten Personen nach Maßgabe des Vertragesärztlich zu behandeln.

3. Die Beklagten werden verurteilt, der Klä¬

gerin allen Schaden zu ersetzen, den sie dadurch

erleidet, daß die Beklagten ihren vertraglichenObliegenheiten nicht nachkommen.

4. Die Beklagten werden verurteilt, die Kosten

des Rechtsstreits zu tragen.Tatbestand: Auf das Zwischenurteil vom

30. August 1920 wird Bezug genommen. In der

weiteren Verhandlung haben die Parteien ihre

Anträge wiederholt mit der Maßgabe, daß die

Klägerin ihren Antrag zu 4 nicht aufrechterhalten

hat. Zur Rechtfertigung der fristlosen Kündigungdes Vertrages bringen die Beklagten folgendes vor:

Durch die neuere Entwicklung der Kranken¬

kasse, besonders aber durch die Verordnung vom

30. April 1920, seien die Grundlagen für die von

den Krankenkassen mit den Ärzten abgeschlossenenVerträge in sozialer und wirtschaftlicher Beziehungvollständig beseitigt worden. Schon durch die

Verordnung vom 22. November 1918 sei nach¬

haltig in die Beziehungen zwischen Ärzten und

Krankenkasse eingegriffen worden. Damals sei

die Versicherungsgrenze von 2500 auf 5000 Mk.

erhöht worden. Den Angestellten sei das Recht

eingeräumt worden, freiwillig Mitglieder der Kasse

zu bleiben, auch wenn sie ein Gehalt von über

4000 Mk. erreicht hätten. Zahlreiche Hilfsdienst¬

pflichtige, die in guten Verhältnissen lebten, seien

auf Grund dieser Verordnung Mitglieder der Kasse

geblieben, wodurch die Privatpraxis der Ärzte

wesentlich verringert worden sei. Durch die Ver¬

ordnung vom 30. April 1920 sei dann die Ver¬

sicherungsgrenze von 5000 auf 15 000 Mk. erhöht

worden. Die Beiträge seien von 472 bis 6 v. H.

auf Vj% bzw. 10 v. H. erhöht worden. Von größterBedeutung sei endlich, daß der Grundlohn von

ursprünglich 6 Mk., später von 10 Mk. auf 30 Mk.

erhöht worden sei. Infolge dieser Vorschrift seien

die Einnahmen der Kassen um 200 v. H. gesteigertworden. Durch die Erweiterung der Versicherungs¬

pflicht und durch die Erhöhung der Einnahmen

hätten die Krankenkassen den Charakter des so¬

zialen Hilfswerks für die minderbemittelten

Klassen verloren. Die bisherige ungenügendeBezahlung der Ärzte sei aber nur aus dem

Gesichtspunkte der freiwilligen sozialen Hilfs¬

leistung gerechtfertigt gewesen. Die Bezüge der

Ärzte hätten mit der Erhöhung der Leistungs¬

fähigkeit der Kassen keineswegs Schritt gehalten.Ihre Privatpraxis sei zurückgegangen, ihre Un¬

kosten hätten sich erhöht. Im vorliegenden Falle

sei in der Abänderung des Vertrages vom 1. Ok¬

tober 1910 die Vergütung der Ärzte im Kriegeum 10 v. H., dann um 5 v. H. im März 1919, auf

Grund der Erhöhung der Versicherungsgrenzeum 19 v. H., endlich im Februar 1920 um 10 Mk.

auf 13 Mk- auf den Kopf der Versicherten

erhöht worden. Dieser letztere Satz sei unter

den veränderten Verhältnissen durchaus un¬

genügend. Kr entspräche weder der Zunahme

der Teuerung noch der erhöhten Leistungsfähig-

202 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. Nr. 18

keit der Klägerin. Die Klägerin widerspricht mit

der Ausführung, daß die von den Beklagten an¬

geführten Änderungen in den tatsächlichen und

rechtlichen Verhältnissen schon seit längerer Zeit

voraussehbar gewesen seien, jedenfalls aber schon

am 28. März 1919, als der Vertrag unter der Er¬

höhung des Honorars bis zum 31. Dezember 1923

verlängert worden sei. Die Erweiterung der

Versicherungsgrenze sei eine unvermeidliche

Folge der Geldentwertung gewesen. Auch die

Erhöhung des Grundlohns sei schon früher viel¬

fach in deröffentlichkeit gefordert worden. Keines¬

falls komme als Grund für die sofortige Kündigungdie Erweiterung der Versicherungspflicht in Be¬

tracht, weil sie durch § 9 des Vertrages vorgesehen,und eine sich hierüber ergebende Meinungs¬verschiedenheit durch ein schiedsgerichtlichesVerfahren zu erledigen sei. Diese Vertrags¬bestimmung sei durch die Vereinbarung vom

28. März 1919 auch auf den Fall einer wesentlichen

Verteuerung der Lebensverhältnisse ausgedehntworden. Irrig sei auch die Auffassung der Be¬

klagten über die erhöhte Leistungsfähigkeit der

Klägerin, den erhöhten Einnahmen stünden ent¬

sprechend höhere Ausgaben gegenüber. Durch

die Erweiterung der Versicherungsgrenze habe

die Zahl der Versicherten auch nicht in dem Maße

zugenommen, wie die Beklagten behaupteten. Bei

einem Mitgliederstande von 20928 am 9. Mai 1920

seien durch die Ausdehnung der Versicherungs¬pflicht nur 395 Mitglieder zugekommen. Hinsicht¬

lich des weiteren Vorbringens der Parteien wird

auf die Schriftsätze verwiesen.

Aus den Gründen: Das vorliegende Streit¬

verhältnis ist nach § 626 BGB. zu beurteilen.

Nach dieser Vorschrift können Dienstverträge von

jedem Teile ohne Einhaltung einer Kündigungs¬frist gekündigt werden, wenn ein wichtiger Grund

vorliegt. Was als wichtiger Grund anzusehen ist,läßt sich nur nach den besonderen Verhältnissen

im einzelnen Fall bestimmen. Grundsätzlich gilt,daß ein wichtiger Grund dann vorliegt, wenn

Umstände vorhanden sind, unter denen den von

dem Vertrage Zurücktretenden die Fortsetzungdes Verhältnisses nach billigem Ermessen nicht

zugemutet werden kann. Einer Prüfung nach

diesem Gesichtspunkte halten aber die Gründe,welche die Beklagten für die fristlose Kündigungdes Vertrages vom 1. Oktober 1910 vorgebrachthaben, nicht stand.

Außer Betracht bleiben müssen zunächst alle

Veränderungen in den Beziehungen der Parteien,welche infolge der Verordnung des Rates der

Volksbeauftragten vom 22. November 1918 ein¬

getreten sind. Seitdem sind zweimal Abände¬

rungen des Vertrages vereinbart worden, bei

denen die veränderten Verhältnisse berücksichtigtworden sind. Die Beklagten müssen die Voraus¬

setzungen dieser nachträglichen Vereinbarungenunbedingt gegen sich gelten lassen. Aus dem¬

selben Grunde können die Beklagten sich nicht

auf die Zunahme der Teuerung berufen. Noch

am 6. Februar 1920 ist das Honorar der Beklagtenvon 10 Mk. auf 131 s Mk. auf den Kopf der Ver¬

sicherten erhöht worden. Es war damals mit

Sicherheit vorauszusehen, daß die Ungunst und

Unsicherheit der wirtschaftlichen Lage noch langeZeit anhalten würden. Jedenfalls haben sich die

Wirtschaft ichen Verhältnisse seitdem nicht so

geändert, daß die Wirksamkeit des Vertragesdadurch beeinflußt werden könnte. Auch sind in

der Vereinbarung vom 28. März 1919 ausdrücklich

durch einen Zusatz zu 8 9 des Vertrages neue

Verhandlungen vorgesehen für den Fall, daß nach

1920 noch eine wesentliche Verteuerung der

Lebenshaltung bestehen sollte. § 9 des Vertragesnimmt aber auch den Beklagten das Recht, die

sofortige Kündigung mit der Ausdehnung der

Versicherungspflicht zu begründen. Es ist dochdie Erhöhung des Pauschales vorgesehen, wenn

durch die Reichsversicherungsordnung die Ver¬

sicherung auf Personen erstreckt wird, die ihr

bisher nicht unterstanden. Die §§ 11 ff. des Ver¬

trages ordnen für die Erledigung und Entscheidungvon Meinungsverschiedenheiten über die vertrag¬lichen Bestimmungen, von Ergänzungen oder

Änderungen der Ausführungsbestimmungen zu

dem Vertrage ein schiedsgerichtliches Verfahren

an. Ferner ist von den Parteien am 28. März

1919 folgendes vereinbart worden: Wenn eine

wesentliche Erweiterung des Kreises der Ver¬

sicherungspflichtigen über die Grenze von 5000 Mk.

durch Gesetz oder Verordnung stattfindet, sollen

zwischen beiden Parteien Verhandlungen über

eine angemessene Festsetzung des Honorars für

die neu in die Versicherung Eintretenden geführtwerden. Hiernach steht es den Beklagten frei,

wegen der Honorarforderung Verhandlungen ein¬

zuleiten und nötigenfalls einen Schiedsspruchherbeizuführen. Unter diesen Umständen kann

die Honorarfrage, für sich allein betrachtet, auf

keinen Fall zur Begründung der sofortigen Kün¬

digung herangezogen werden. Die Beklagtenhaben dann auch vorgetragen, daß die Honorar¬

frage allein für sie nicht ausschlaggebend sei.

Den Hauptgrund für den Rücktritt vom Vertragebilde die Erhöhung des Grundlohns. Durch diese

Änderung der Gesetzgebung sei erst die Grund¬

lage des Vertrages beseitigt und für die Be¬

klagten ein unerträglicher Zustand geschaffenworden. Eine richtige Beurteilung der Honorar¬

frage sei auch erst möglich, wenn erkannt sei,welche Bedeutung die Erhöhung des Grundlohns

für das ganze Verhältnis zwischen den Vertrags¬parteien gehabt habe. Auch dieser Auffassungder Beklagten kann indessen nicht zugestimmtwerden. Die Erhöhung des Grundlohns hat nur

die eine Wirkung, daß die Einnahmen der

Krankenkassen erhöht worden sind. Sie hat für

die Ärzte weder eine Vermehrung ihrer Arbeits¬

leistung, noch eine Verringerung ihrer Einnahmen

zur Folge. Diese Änderung der tatsächlichen

Verhältnisse ist zunächst rechtlich bedeutungslos.Jedenfalls kann bei einem Dienstvertrage aus

dem Umstände, daß die Vermögenslage des

Dienstberechtigten sich günstiger gestaltet hat,nicht ein Recht des Dienstverpflichteten zur so¬

fortigen Kündigung des Vertrages hergeleitetwerden. Die Beklagten weisen jedoch auf die

soziale Aufgabe der Krankenkasse hin, die durch

die neuere Gesetzgebung eine wesentliche Er¬

weiterung erfahren habe. Früher seien die

Krankenkassen schlechthin soziales Hilfswerk für

die minderbemittelten Kreise der Bevölkerung

gewesen. Demgemäß seien die Kassen infolgeungenügender Einnahme bedürftig gewesen. Die

Ärzte hätten sich freiwillig an dem sozialen Hilfs¬

werk der Kasse dadurch beteiligt, daß sie gegen

ungenügende Bezahlung ihre Dienste zur Ver¬

fügung gestellt hätten. Auf dieser Grundlageseien die laufenden Ärzteverträge geschlossenworden. Nach der Verordnung vom 30. April 1920

könnten die Krankenkassen aber nicht mehr als

reines soziales Hilfswerk betrachtet werden. Die

Verordnung bedeute einen Schritt auf dem Wegezu einer allgemeinen Volksversicherung und zur

Sozialisierung des freien Berufes der Arzte. Die

Krankenkassen seien jetzt nicht n ehr bedürftig

Nr. 18 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. 203

und in der Lage, die Ärzte angemessen zu be¬

zahlen. Infolgedessen könne den Ärzten billiger¬weise nicht zugemutet werden, gegen die bisherigeungenügende Bezahlung für die Kassen weiterzu¬

arbeiten. Die Regelung der Honorarfrage nach Ma߬

gabe der Vertragsbestimmungen biete auch den Be¬

klagten nicht den genügenden Ersatz, weil der

Vertrag im Ganzen unter Voraussetzungen ge¬schlossen sei, die nicht mehr vorhanden seien.

Diese Auffassung der Beklagten wäre berechtigt,wenn sie in den tatsächlichen Verhältnissen be¬

gründet wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Es

kann nicht zugegeben werden, daß die Kranken¬

kassen aufgehört haben, soziales Hilfswerk zu

sein. Die Ausdehnung der Versicherungspflichtauf weitere Kreise der Bevölkerung ist keineswegsjetzt schon so groß, daß von einer allgemeinenVolksversicherung die Rede sein kann. Bei der

Klägerin hat sich die Zahl der Mitglieder, die

am 9. Mai 1920 20928 betrug, infolge der Ver¬

ordnung vom 30. April 1920 nur um 395 erhöht.

Mag es sich hierbei auch um zahlungsfähigePersonen handeln, die der Privatpraxis der Ärzte

verloren gegangen sind, so ist ihre Zahl jedochnicht so groß, daß von einer unerträglichen Be¬

nachteiligung der Ärzte die Rede sein könnte.

Zudem sieht ja auch in dieser Beziehung der

strittige Vertrag eine Erhöhung des Honorars

auf dem Wege der Verhandlung vor. Was endlich

die Erhöhung des Grundlohns betrifft, so kann

es dahingestellt bleiben, ob sie notwendigerweisezugleich mit der Ausdehnung der Versicherungs-grense erfolgen mußte, sie war jedenfalls durch

die Geldentwertung und der darauf beruhenden

Erhöhung der Löhne notwendig geworden. Wenn

die Beklagten behaupten, daß die Klägerin infolgeder Erhöhung des Grundlohnes jetzt nicht mehr

bedürftig sei, so hatte diese Behauptung nur auf

Grund einer eingehenden Darlegung der ge¬

samten wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerinnachgeprüft werden können. Von einer solchen

Prüfung ist abgesehen worden in der Erwägung,daß infolge der ungünstigen wirtschaftlichen Lagemit den Einnahmen auch die Ausgaben der

Klägerin in dem Maße gewachsen sind, daß die

Klägerin auch jetzt nicht in der Lage ist, die

Tätigkeit der Beklagten nach einem reinen Wert

ihrer Leistungen zu entlohnen. Auch nach der

Verordnung vom 30. April 1920 bleibt es die

Hauptaufgabe der Krankenkassen, für die minder¬

bemittelten Kreise der Bevölkerung zu sorgen,

und dieser Aufgabe muß die Vergütung der

Arzte angepaßt werden. Wenn auch durch die

Verordnung vom 30. April 1920 die Geldverhältnisse

der Klägerin günstiger geworden sein sollten, als

hiernach angenommen wird, so wäre hierdurch

in den Grundlagen des Vertrages doch nicht eine

so wesentliche Änderung eingetreten, daß mit

ihr eine sofortige Kündigung des Vertrages ge¬

rechtfertigt werden könnte. Die Erhöhung des

Grundlohnes, ebenso wie die Ausdehnung der Ver-

Sicherungspflicht sind schon seit längerer Zeit in

der Öffentlichkeit erörtert worden. Der Beklagte M.

hat selbst in einem Zeitungsartikel vom 10. Mai

1919 die Erhöhung des Grundlohnes gefordert. Es

war also den Beklagten, als sie die Nachtrags¬

verträge abschlössen, bekannt, daß die Möglich¬keit einer Erhöhung des Grundlohnes bestand.

Aus alledem ergibt sich, daß der Vertrag vom

1 Oktober 1910 mit seinen Zusätzen zu Recht

besteht. Die von den Beklagten erklärte sofortige

Kündigung ist wirkungslos. Den Kfageanträgen,denen keine weiteren rechtlichen Bedenken ent¬

gegenstehen, war deshalb stattzugeben. Die

Kostenfolge regelt § 91 ZPO.

p. Kein Anspruch auf Mehrleistung an Sterbe¬

geld. In der Streitsache des Orts und Land¬

armenverbandes B. gegen die Allgemeine Orts¬

krankenkasse der Stadt B. wegen Ersatzanspruchaus der Krankenversicherung der Frau Frieda J.

hat das Reichsversicherungsamt, Zweiter Revi¬

sionssenat, in der Sitzung vom 1. Juni 1920, nach

mündlicher Verhandlung für Recht erkannt: Die

Revision gegen das Urteil des Preußischen Ober¬

versicherungsamts Groß-Berlin vom 22. Januar 1920

wird zurückgewiesen.Gründe: Den Vorentscheidungen ist darin bei¬

zutreten, daß für die vom Kläger verpflegte Frau J.

Sterbegeld nach §§ 202, 201 RVO. lediglich in

Höhe der Regelleistungen, also das Zwanzigfachedes Grundlohns, zu zahlen war. Denn Mehr¬

leistungen an Sterbegeld sind nach dem Beschluß

vom 26. Oktober 1915 nur Mitgliedern, die längerals sechs Monate der Kasse angehören, zu ge¬währen. Gegen die Zulässigkeit einer derartigenSatzungsbestimmung sind Bedenken nicht zu

äußern. Die erwähnte Voraussetzung lag bei

Frau J. nicht vor. Insbesondere ist sie nicht nach

§ 311 RVO. bis zu ihrem Tode Mitglied der Kasse

geblieben. Denn sie war schon vorher von der

Kasse ausgesteuert worden, die Kasse hatte ihr

also bis zu ihrem Tode keine Leistungen zu ge¬währen. Auch von dem Rechte der freiwilligenWeiterversicherung nach Beendigung der Kassen¬

leistungen (vgl. §§ 313 Abs. 2, 314 RVO.) hatte sie

keinen Gebrauch gemacht. War sie aber bei Ein¬

tritt des Versicherungsfalles für das Sterbegeld,also bei ihrem Tod, nicht mehr Kassenmitglied,so entfällt die satzungsmäßige Voraussetzung für

die Zahlung der Mehrleistung an Sterbegeld. Es

kann nach der Fassung des Satzungsnachtragesvom 26. Oktober 1915 auch nicht zweifelhaft sein,daß die Kasse Leistungen an Sterbegeld in der

Höhe des früheren § 32 der Satzung allgemeinnicht wieder einführen wollte. Vielmehr ist das

die Regelleistungen überschreitende Sterbegeldjetzt nur nach Zurücklegung der satzungsmäßigbestimmten Versicherungsdauer zu zahlen. Hier¬

nach darf die Anwendung der fraglichen Satzungs-bestimmung nicht auf solche Versicherte aus¬

gedehnt werden, deren Mitgliedschaft wie bei

Frau J., bei Eintritt des Versicherungsfalles be¬

endet, für die aber gleichwohl auf Grund der

Sondervorschrift des § 202 RVO. Sterbegeld zu

zahlen war.

(Entscheidung des Reichsversicherungsamts,

Abteilung für Kranken-, Invaliden und Hinter¬

bliebenenversicherung. Zweiter Revisionssenat.

Aktenzeichen IIa K E 31/20 I s.)

Übersicht.

§ 870 RVO. Die Verordnung des Rates der

Volksbeauftragten über die Gewährung von Straf¬

freiheit und Strafmilderung vom 3. Dezember 1918

(RGBl. S. 1393) findet auf das Ordnungsstrafrechtder Berufsgenossenschaften Anwendung. (Ent¬

scheidung des RVA. vom 1^. Januar 1920, Akten¬

zeichen I 9/19 II B. S. Amtl. Nachr. des RVA. 1920,Heft 4. S. 267.)

§ 851 RVO. Ein von einer Berufsgenossen¬schaft einer anderen überwiesener Betrieb ist in

dem Betriebsverzeichnis der überweisenden Be¬

rufsgenossenschaft nicht zu löschen, sondern ab¬

zuschreiben. Ein Betrieb, dessen Zugehörigkeitzu einer Berufsgenossenschaft noch streitig ist,

kann von dieser nicht einer anderen Berufs¬

genossenschaft überwiesen werden. (Entscheidungdes RVA. vom 8. Januar 1920, Aktenzeichen

I 9845 19. Amtl. Nachr. des RVA. 1920, Heft 4,

S. 269.)

204 Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. Nr. lg

Soziale Chronik.

Neuaufflackern der Ruhr? Aus den ver¬

schiedenen Teilen des Reiches häufen sich wieder

die Nachrichten über vereinzelte kleinere Ruhr¬

epidemien und rufen eine nicht unbeträchtliche

Beunruhigung unter der Bevölkerung hervor.

Demgegenüber ist festzustellen, daß die Ruhr zu

den „Seuchen* zu rechnen ist, die bisher nie

vollkommen in Deutschland ausgestorben waren,

wenn sie auch in den Jahren vor dem Krieg zu

einer immer geringeren Bedeutung herabgesunkenwar, die kaum mehr daran erinnern ließ, daß sie

im Altertum und Mittelalter bis in die Zeiten des

Krimkrieges und Krieges von 1870/71 die ge¬fürchtete Volks- und Kriegsseuche darstellte.

Während des Weltkrieges nahm die Zahl der

Ruhrerkrankungen wieder zu und verdichtete sich

1917 zu einer größeren Reihe von Epidemien, die

immerhin einige Tausend Todesfälle erforderte.

Bereits 1918 aber hat die Zahl der Ruhrerkran-

kurgen wieder bedeutend abgenommen, ist auch

1919 nicht gestiegen. Es ist deshalb kein Grund

zur besonderen Beunruhigung vorhanden; umso

weniger als man über die Ruhr, ihre Entstehungund ihre Verbreitungsweise vollkommen unter¬

richtet ist und bis zu einem gewissen Grade es

ein Verschulden der Bevölkerung selbst ist, daß

die Ruhr nicht auf ganz wenig Fälle bei uns in

Deutschland beschränkt bleibt.

Die Erkrankung wird hervorgerufen durch

den Ruhrbazillus, der sich im Darminhalt der

Ruhrerkrankten und in der Darmwand, keineswegsaber im Blut findet. Er findet sich auch bei

Gesunden in der Umgebung der Ruhrerkrankten,ohne bei diesen jemals Krankheitserscheinungenauszulösen, ist aber wohl in der Lage, dadurch

zur Verbreitung der Krankheit beizutragen. Die

Ruhr verläuft als Erkrankung der Dickdarmwand

und kann von einem leichten Darmkatarrh bis zu

den schwersten geschwürigen Prozessen im Darme

alle mannigfachen Zwischenstufen darbieten. Vor¬

zugsweise tritt die Erkrankung in den warmen

Monaten (Juli bis September) auf, um mit dem

Eintritt niedrigerer Temperatur zu verschwinden.

Begünstigend für die Verbreitung wirken die in

der gleichen Jahreszeit häufigeren Magendarm¬störungen durch ungeeignete, z. T. in Zersetzungbegriffene Nahrungsmittel. Die Ruhr wird ver¬

breitet durch Abfallstoffe, z. B. mit den Stiefeln

in die Wohnung verschleppten Rinnsteininhalt

usw. und die Gefahr der Verbreitung ist um so

größer, je weniger Reinlichkeit und Sauberkeit

vorhanden ist. Als Krankheitsüberträger haben

sich vornehmlich die Fliegen erwiesen, die die

Bazillen vom kranken auf den gesunden Menschen,bzw. auf Nahrungsmittel übertragen. Eine der

wichtigsten Bekämpfungsvorschriften ist daher eine

peinliche Sauberkeit und ständige Kontrolle der

Lebensmittelgeschäfte. Der Verbreitung der

Fliegen muß Einhalt geboten und verhütet werden,daß sie an die Lebensmittel gelangen können.

Ein Gang durch die Straßen jeder Stadt zeigt,wie sehr noch gegen diese Vorschriften verstoßen

wird und wie Hunderte von Fliegen auf den

Nahrungsmitteln herumtummeln. Es ist deshalb

eine scharfe Kontrolle der Obst- und Gemüse¬

läden, der Fleisch- und Wursthandlungen, der

Konditoreien, Cafes, Sodawasserhäuschen usw.

durch fachmäßig ausgebildete Beamte dringendnötig, um so mehr nicht nur die Ruhr, sondern

auch andere Infektionskrankheiten durch die

Fliegenbeschmutzung verbreitet werden können.

— Die Ruhrerkrankten selbst müssen abgesondertund ihre Abgänge, sowie Wäsche, Kleidung und

Wohnräume desinfiziert werden, ebenso aber auch

die Gesunden in der Umgebung des Kranken unter

ständiger Kontrolle stehen.

Gesetzliche Regelung der Familienver¬

sicherung. Die badische Gesellschaft für soziale

Hygiene hat soeben an den Reichstag ein Gesuchbetr. die Neuregelung der Familienhilfe gerichtet.Es soll ein Gesetz ausgearbeitet werden, das

sämtlichen Krankenkassen die Pflicht auferlegt,diese Leistung zu gewähren, d. h. insbesonderedie Kosten für ärztliche Behandlung und Arzneien

zu übernehmen. In diesem Gesetz soll zugleichangeordnet werden, daß die Gemeinden (Kreise,die Gliedstaaten und das Reich den Krankenkassen

zur Durchführung der Familienhilfe angemesseneZuschüsse gewähren. Sollte es sich nicht erreichen

lassen, daß durch ein Reichsgesetz die Familien¬

versicherung zur Pflichtleistung gestaltet wird,

so bittet die genannte Gesellschaft den Reichstag,eine Bestimmung zu schaffen, wonach jeder Glied¬

staat befugt sein soli, in seinem Bereich gesetzlichanzuordnen, daß alle Krankenkassen Familienhilfe

gewähren müssen und zur Durchführung dieser

Vorschrift Zuschüsse vom Staat und den Gemeinden

(Kreisen) erhalten. Gleichzeitig wurde an den

Badischen Landtag das Gesuch gerichtet, daß,sobald die gekennzeichnete Befugnis auf Grund

eines Reichsgesetzes vorliegt, ein Gesetz geschaffenwird, nach welchem alle badischen Krankenkassen

Familienhilfe gewähren müssen und zur Durch¬

führung Staatszuschüsse erhalten sollen.

Literatur.

„Die Verbfinde der Unternehmer, Angestellten,Arbeiter und Beamten im Jahre 1918, mit

Berücksichtigung ihrer Entwicklung in der

Folgezeit44nennt sich die Schrift, die das Reichsamt für

Arbeitsvermittlung soeben als 22. Sonderheft zum

Reichs-Arbeitsblatt veröffentlicht. In diesem hoch¬

wichtigen statistischen Material sind erstmals alle

genannten Verbände mit ihren genauen Adressen

verzeichnet. Das über 100 Seiten umfassende

Quartbuch ist zum Preise von 32 Mk. in jederBuchhandlung oder beim Verlag Reimar Hobbing,Berlin SW48, Wilhelmstr. 30-31, zu bestellen.

Soeben erschienen: Dritte Auflage>»

während der Übergangszeit.Von HELMUT LEHMANN.

Enthält die neuesten Gesetze und Verordnungen

über die Krankenversicherung und das neue

Wochenhilfegesetz mit der amtlichen Begründungund mit Erläuterungen.

Preis 3 Mark das Stück.

Verlagsgesellschaft Ortskrankenkasse m. b. H.Dresden-A., Sternplatz 7.

Zu beziehen durch die Buchhandlung C. Giebel,

Berlin SO 26, Oranienstraße 40-41

Verantwortlich für Redaktion: Josef Aman, Berlin. Verlag: C. üiebel, Berlin. Druck: A. Schlicke & Cie., Berlin N 24.

??..:/.B