Vom Karteikasten zum Internet - Informationsbeschaffung und -vermittlung historisch gesehen

Vorläufer zu Google und Wikipedia

Thomas Hapke - Januar 2014 www.tub.tu-harburg.de TUHH Technische Universität Hamburg-Harburg

Informationsbeschaffung und -vermittlung historisch gesehen

Vom Karteikasten zum Internet

Thomas Hapke Universitätsbibliothek der TU Hamburg-Hamburg (TUHH)



Ein Zitat …

„… ist immer ein Teil jenes großen Netzes […] Wer einmal auf solche Weise in den Kreis […] eingetreten ist, gewinnt ähnliche Vorteile, wie der, der den Anschluß an das Telefonnetz seines Wohnortes hat. Er kann sich, wenn er will, mit jedem anderen verbinden lassen, […] Und dieses Netz hat die wertvolle, ja köstliche Beschaffenheit, daß es dasselbe ist, welches die größten und umfassendsten Geister der Menschheit untereinander verbindet.”



Ein Zitat aus dem Jahre … ?

Quelle des Zitates: Wilhelm Ostwald, Grundriß der Naturphilosophie, Leipzig 1908, hier S. 15-17.



Ein nie erschienenes Buch!



Warum Geschichte?

Wem ein Geschichtsbewusstsein fehlt, versucht irgendwann Schnittblumen zu

pflanzen!

(Nach Daniel J. Boorstein, 1914 – 2004)



„Entfamiliarisierung“ durch historische Betrachtungen

„eine Form der Entfremdung, die das ehemals Vertraute fremd macht und das ehemals Natürliche willkürlich“



Auf dem Weg zur digitalen Bibliothek von Babel!


Abb.: Registered trade mark of the Wikimedia Foundation



Diese Geschichte beginnt Ende des 19. Jahrhunderts

• Industrialisierung • Kolonialisierung -> Globalisierung • Neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel



Diese Geschichte beginnt in der Schweiz

Mittelschweizerische Geographisch-Commercielle Gesellschaft

1884-1905 in Aarau



Ziele der Gesellschaft: Die Welt ins Land bringen

• Aufbau eines Völkerkunde- und Handelsmuseums

• Verbesserung der geographischen Bildung

• Museumskurator Karl Wilhelm Bührer (1861-1917)



Die ganze Welt sammeln

... in Form von Fotos mit standardisiertem Format und einheitlicher Beschreibung

Reste diesen frühen Fotomuseums sind erhalten geblieben!

Fernschau. Global : ein Fotomuseum erklärt die Welt (1885-1904) / herausgegeben von Markus Schürpf. Baden : hier + jetzt, 2006.



Nutzung von Karteikarten

“jedes Blatt [dient] ... ganz konsequent nur für eine Notiz, welche oben rechts durch Anbringung eines Titels rubriziert wird ... Gelehrten ist dieses Zettelsystem zum Sammeln und Ordnen ihrer Exzerpte ganz besonders zu empfehlen”

Bührer, Karl W.: Ueber Zettelnotizbücher und Zettelkataloge. Fernschau 4 (1890) 190-192



Internationale Monogesellschaft

1905 – ca. 1910, gegründet von Karl Bührer in Winterthur, Schweiz Später auch in München!

Abb.: Foto im Mundaneum in Mons, Belgien



Herausgabe von Monos

… kleine Karten oder Broschüren in standardisiertem Format (ähnlich wie Reklame- und Sammelbilder)




Werbung und Visualisierung



Auch eine Fotosammlung!




Aktivitäten in Belgien

Ein Internet auf Papier bei Paul Otlet (1868-1944)

Abb.: Paul Otlet: Traité de documentation. Brüssel 1934. S. 41



1895 gegründet:



Heute: Das Mundaneum in Mons, Belgien




Ein deutsches Projekt zur Organisation des Welt-Wissens

Die „Brücke – Internationales Institut zur Organisierung der geistigen Arbeit“ München, 1911-1914 Gegründet von Wilhelm Ostwald und Karl W. Bührer!



Ziele der „Brücke“

• Internationale Organisations- und Vermittlungsstelle • Aufbau einer Welt-Enzyklopädie in Kartei-Form • Vision eines sich automatisch aktuell haltenden „Handbuches der Zukunft“



Wilhelm Ostwald - Chemie-Nobelpreisträger 1909

1853-1932

Professor für Physikalische Chemie in Leipzig 1883-1905

Abb.: Quelle Wilhelm-Ostwald-Gedenkstätte in Großbothen, Sachsen



Wilhelm Ostwald und die Informationsflut

Privatbibliothek Ostwalds in Großbothen, Sachsen



Wilhelm Ostwald: „Dabei genügt es nicht, etwa öffentliche Bibliotheken zu gründen; es muss auch … die Technik der Benutzung vorhandener Bücherschätze, die gar nicht so einfach ist, den Bildungssuchenden geläufig gemacht werden.“ (1910)

Informationskompetenz als Teil wissenschaftlichen Arbeitens



Ordnung der Wissenschaften

Abb. Ostwald, Wilhelm: Monistische Sonntagspredigten. 2. Reihe. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft, 1912. S. 346



Ordnung der Farben und Formen



Organisation wissenschaftlicher Literatur



Ordnung durch die Dezimalklassifikation

Abb.: Bührer, Karl W. und A. Saager (1912): Die Weltregistratur. Ansbach: Seybold. S. 4



Frühe Beschreibungen von Büchern (Metadaten)

in Büchern



Normung der Papierformate

Abb.: Bührer, Karl W. (1912): Raumnot und Weltformat. Ansbach: Seybold. S. 15



Normung der Papierformate

Abb.: Bührer, Karl W. (1912): Raumnot und Weltformat. Ansbach: Seybold. S. 30-31



Normung der Papierformate geht auch auf Ostwald zurück: DIN A4!

Die TUHH-Bibliothek ist Auslegestelle für DIN-Normen!



Auch im Magazin der TU-Bibliothek …

… werden Bücher nach Formaten aufgestellt!



Aufspaltung wissenschaftlicher Kommunikation in kleinere

Komponenten (Monographieprinzip) zur

„Erhaltung der Beweglichkeit des Gedankens“

"Klassiker" als erstes Beispiel Handbuch der Zukunft als Idee der Loseblatt-Sammlung



Die pädagogisch-soziale Komponente des

Monographieprinzips

Aufklärung -> vielbändige Enzyklopädie -> „wohlhabender Bürgerstand“

Bild: http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:ENC_1-NA5_600px.jpeg

Heute (1929) -> dünne, wohlfeile Heftchen -> Industriearbeiter

Bild: http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:Reclam-Katalog_1902.jpg



Popularisierung als "Einheit des

wissenschaftlichen Denkens mit dem

praktischen Leben“

Das Museum als Volksuniversität

Die Brücke: Popularisierung durch Reklame!



Lernen mit neuen Medien

1922 Gründung der

Technisch-Wissenschaftlichen Lehrmittelzentrale (TWL)

durch die „Deutsche Vereinigung technisch-wissenschaftlicher Vereine“



Sammlung technischen Wissens in visueller Form

Abb.: Oskar Lasche: Deutsches Technisch-Wissenschaftliches Vortragswesen: ein Beitrag zur Ingenieurfortbildung. Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure 66 (1922)1, 1-3, Tafel 1



Zentrale Sammlung von Diapositiven



Standardisierung

… der Beschreibung (Metadaten) und Formate von Diapositiven

Abb.: Georg von Hanffstengel: Das technische Lichtbild: seine Herstellung und seine Verwertung in Schule, Vortrag und Industrie. Berlin: VDI-Verlag, 1930. S. 32



Schlüsselkompetenzen fördern!

Nutzung von Fotografien und Illustrationen (Visualisierung)



Emanuel Goldberg – ein jüdischer Fotochemiker und

Erfinder 1881-1970

1906 Promotion am Institut Ostwalds in Leipzig 1917-1933 bei Zeiss-Ikon 1933 Flucht, ab 1937 in Palästina

1881-1970

Abb.: Michael Buckland, http://people.ischool.berkeley.edu/~buckland/goldberg.html



Emanuel Goldberg - Elektronisches Dokumentsuche 1931

Abb.: Michael Buckland: Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine : Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik. Berlin: Avinus, 2010. S. 212.



Gmelin-Handbuch der anorganischen Chemie

Erich Pietsch: Leiter des Gmelin-Instituts 1936-1967

1902-1979

Abb.: Karl Winnacker: Erich Pietsch zum 60. Geburtstag am 6. Mai 1962. Nachrichten für Dokumentation 13 (1962) 2, S. 53-55, S. 55



Die PCs von gestern

Nutzung von Lochkarten im Gmelin-Institut ab 1948, Kodierung von chemischen Formeln auf IBM Lochkarten („Punched Cards“)

Abb.: Pietsch, E.: Dokumentation und mechanisches Gedächtnis. In: Cherry, Edward C.: Kybernetik. Köln: Westdt. Verl., 1954, 33-79, S. 60



PC-Recherche in den Fünfzigern

Abb.: Pietsch, E.: Dokumentation und …, S. 53



1957 - Erstes „transatlantisches

Informationsgespräch“

„Online-Recherche“ per Telegraphie zwischen dem Gmelin-Institut, Frankfurt, und dem Center for Documentation and Communication Research der Western Reserve University in Cleveland, Ohio.

Recherche in maschinensortierten Lochkarten Abb.: Pietsch, E.: Dokumentation und …, S. 59



Erstes „transatlantisches Informationsgespräch“: Die Anfrage

Quelle: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin, Nachlass Pietsch



Erstes „transatlantisches Informationsgespräch“: Die Antwort

Quelle: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin, Nachlass Pietsch



Patent-Recherche heute via http://depatisnet.dpma.de



Vision von Erich Pietsch 1972

“Würden Sie einem gleichsam Supermarkt-analogen System zustimmen, um den Benutzer frei von jeglicher Beeinflussung durch den Informator zu machen und ihn damit dem freien Spiel seiner eigenen geistigen Möglichkeiten im Dialog-Verfahren zu belassen, bis er das von ihm angestrebte Informationsziel erreicht hat?“

Abb.: D. Bieler

Zitat in: Informationswissenschaften in der Chemie : Erich Pietsch zum 75. Geburtstag, 1977. (Privates Erinnerungsbuch für Pietsch von seinen Mitarbeitenden mit Manuskripten, Programmen, Texten). Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin, Nachlass Pietsch, Nr. 4



Themen früher Informations-Institutionen auch heutzutage wichtig!

Fragmentierung des Wissens Visualisierung Standardisierung (Schnittstellen) Metadaten-Nutzung (Big Data) Vermittlungsaktivitäten (Werbung)



Gemeinsamkeiten vieler Informations-Pioniere

• Viele waren Chemiker, aber auch Ingenieure!

• Alle wirkten grenzüberschreitend und interdisziplinär!

• Manche waren auch Amateur- Historiker! 8-)



Die globale digitale Bibliothek

Matej Krén, Idiom, Stadtbibliothek Prag (1998), Foto 2009



Borges‘ Bibliothek von Babel heute!?

Leibniz, 1690



Kombinatorik und Kreativität

Ein Chemie-Nobelpreisträger (1929) über Kreativität!



Angewandte Kombinatorik



Lizenzen für kombinatorisches Remixing

by – noncommercial – share alike

Creative Commons Lizenzen http://creativecommons.org



Metapher Ökosystem

http://technologyforcommunities.com 1999 2009



Ökosysteme der Information

Abhängigkeiten und Zusammenhänge

Vielfalt und Verschiedenheit

Co-Evolution

Lokal vs. global

Keystone species



Lebensraum Bibliothek – Beispiel TUHH



Kontakt

Thomas Hapke Web: http://www.tuhh.de/b/hapke/ Blog: http://blog.hapke.de Slidespace: http://www.slideshare.net/thapke Tweets: http://twitter.com/thapke

„ Sich informieren – Tipps zum Überleben“ unter http://www.tub.tu-harburg.de/fachinformation/informieren-tipps-zum-ueberleben/



Zum Weiterlesen:

• Michael Buckland: Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine : Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik. Berlin: Avinus, 2010. http://people.ischool.berkeley.edu/~buckland/goldberg.html

• Hektor Haarkötter: „Alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten“ Zur Geschichte einer ausgestorbenen Medientechnik. Telepolis, 21.04.2013. http://www.heise.de/tp/artikel/38/38906/1.html • Meike Laaff: Netzvisionär Paul Otlet : Googles genialer Urahn. Spiegel Online 20.07.2011. http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,768312,00.html

• Philipp Messner: Weltregistratur und Monoformat: Karl W. Bührer (1861-1917) http://www.isotype.ch/home/buehrer/



Zum Weiterlesen:

• T. Hapke: Welt-Enzyklopädien vor 100 Jahren. TUHH Bibliotheksblog. 21.6.2011 http://www.tub.tu-harburg.de/blog/2011/06/

• T. Hapke: Kombinatorik als Element wissenschaftlichen Arbeitens bei Wilhelm Ostwald. In: An den Grenzen der Wissenschaft. Die “Annalen der Naturphilosophie“ … / Hrsg. Pirmin Stekeler-Weithofer, … Leipzig: Hirzel, 2011, S. 212-248. http://doku.b.tu-harburg.de/volltexte/2013/1201/

• T. Hapke: Zum verborgenen Ursprung des Informationswesens in der Chemie. LIBREAS.Library Ideas 6(2010)2,17 http://www.libreas.eu/ausgabe17/texte/01hapke.htm • T. Hapke: Kombinatorisches und Kreatives zum Verhältnis von Mathematik und Bibliothek. 2009. http://doku.b.tu-harburg.de/volltexte/2009/556/

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