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Vorlesung Künstliche Intelligenz II Prof. Dr.-Ing. Karsten Hartmann Teil II Psychologie

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Vorlesung Künstliche Intelligenz II

Prof. Dr.-Ing. Karsten Hartmann

Teil II

Psychologie

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Literatur Philip G. Zimbardo, Richard J. Gerrig: Psychologie 16. aktualisierte Auflage Pearson Verlag, 2004. ISBN 3-8273-7056-6

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Definitionen Viele Psychologen suchen Antworten auf die grundlegende Frage: Was ist das Wesen des Menschen? Die Psychologie beantwortet diese Frage, indem sie sowohl die Prozesse innerhalb eines Individuums als auch die Kräfte in seiner physischen und sozialen Umwelt betrachtet. So gesehen definieren wir Psychologie formal als die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens von Individuen und ihren mentalen Prozessen. Lassen Sie uns die entscheidenden Begriffe dieser Definition genauer untersuchen: wissenschaftlich, Verhalten, Individuum und mental. Um Psychologie wissenschaftlich zu betreiben, müssen die psychologischen Schlussfolgerungen auf Belegen gründen, die entsprechend der Prinzipien der wissenschaftlichen Methode gesammelt wurden. Die wissenschaftliche Methode besteht aus einer Menge geordneter Schritte zur Analyse und Lösung von Problemen.

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Diese Methode benutzt objektiv erhobene Informationen als Faktenbasis des Schlussfolgerns. Verhalten ist das Mittel, durch welches sich der Organismus an die Umwelt anpasst. Verhalten bedeutet Aktivität. Der Gegenstand der Psychologie ist zum großen Teil das beobachtbare Verhalten von Menschen und anderen Tierarten. Lachen, weinen, rennen, schlagen, sprechen und berühren sind einige offensichtliche Beispiele von beobachtbarem Verhalten. Psychologen untersuchen, was das Individuum tut und wie es dieses Tun in einer vorgegebenen Verhaltensumgebung und im größeren sozialen und kulturellen Kontext umsetzt. Der Gegenstand psychologischer Untersuchungen ist meistens das Individuum — ein Neugeborenes, ein Athlet im Teenageralter, eine Studentin, die versucht, sich an das WG-Leben zu gewöhnen, ein Mann der sich Mitte 40 einer Veränderung seiner Karriere gegenübersieht,

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oder eine Frau, die mit dem Stress zurechtkommen muss, dass sich der Zustand ihres Ehemanns aufgrund seiner Alzheimererkrankung verschlimmert hat. Die Untersuchungseinheit kann aber auch ein Schimpanse sein, der lernt, Symbole zur Kommunikation zu benutzen, eine weiße Ratte, die durch ein Labyrinth läuft, oder eine Seeschnecke, die auf ein Gefahrensignal reagiert. Ein Individuum kann in seinem natürlichen Lebensraum (unbeeinflusst: Feldforschung) oder unter den kontrollierten Bedingen eines Forschungslabors untersucht werden. Viele Forscher in der Psychologie haben erkannt, dass sie das menschliche Verhalten nicht verstehen können, ohne auch die mentalen Prozesse zu verstehen, die Arbeitsweise des menschlichen Geistes. Viele Aktivitäten des Menschen finden als private, innere Ereignisse statt - denken, planen, schlussfolgern, phantasieren und träumen. Viele Psychologen glauben, dass mentale Prozesse den wichtigsten Aspekt psychologischer Untersuchungen darstellen.

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Wie Sie noch sehen werden, haben Forscher in der Psychologie ausgefeilte Techniken entwickelt, um mentale Ereignisse und Prozesse zu untersuchen — und diese privaten Erfahrungen somit offen zu legen. Die Kombination dieser Anliegen definiert die Psychologie als einzigartiges Feld. Während sich Psychologen stark auf das Verhalten von Individuen konzentrieren, untersuchen Soziologen das Verhalten von Menschen in Gruppen oder Institutionen, und Anthropologen konzentrieren sich auf den breiteren Kontext von Verhalten in unterschiedlichen Kulturen. Dennoch profitieren die Psychologen auch viel von den Erkenntnissen anderer Disziplinen. Als eine der Sozialwissenschaften profitiert die Psychologie von Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie und Kulturanthropologie. Psychologen teilen viele Interessen mit Forschern aus den Biowissenschaften, insbesondere mit jenen, die Prozesse im Gehirn und die biochemischen Grundlagen des Verhaltens untersuchen.

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Als Teil des aufkommenden Feldes der Kognitionswissenschaften stehen die Fragen der Psychologen zum Funktionieren des menschlichen Geistes in Beziehung zu Forschungen und Theorien der Informatik, der Künstlichen Intelligenz und der angewandten Mathematik. Als Gesundheitswissenschaft - mit Verbindungen zur Medizin, Pädagogik, Rechts- und Umweltwissenschaften - versucht die Psychologie, etwas zur Verbesserung der Lebensqualität von Individuen und Kollektiven beizutragen. Die Psychologie hält nach wie vor Verbindungen zur Philosophie und zu Bereichen der Humanwissenschaften und der Kunst, wie beispielsweise der Literatur-, Theater- und Religionswissenschaft. Obwohl die beachtliche Breite und Tiefe der modernen Psychologie für fortgeschrittenere Studierende der Psychologie eine Quelle der Freude sein kann, bilden die gleichen Merkmale eine Herausforderung für Studierende, die sich zum ersten Mal mit Psychologie beschäftigen.

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Ziele der Psychologie Bei Psychologen, die Grundlagenforschung betreiben, kann man folgende Ziele ausmachen: Verhalten beschreiben, erklären, vorhersagen und kontrollieren. Psychologen, die in der Anwendung arbeiten, verfolgen ein fünftes Ziel - die Lebensqualität des Menschen zu verbessern. Diese Ziele bilden die Grundlage des psychologischen Gesamtunternehmens. Was muss man beim Verfolgen dieser Ziele jeweils beachten? Beschreibung Die erste Aufgabe in der Psychologie besteht darin, Verhalten genau zu beobachten. Psychologen bezeichnen typischerweise solche Beobachtungen als ihre Daten. Verhaltensdaten sind Aufzeichnungen von Beobachtungen, wie sich Organismen verhalten, und den Bedingungen, unter denen das Verhalten auftritt.

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Wenn Forscher Daten smmeln, dann müssen sie eine angemessene Analyseebene wählen und Verhaltensmaße entwickeln, die Objektivität garantieren. Um das Verhalten eines Individuums zu erforschen, können Forscher unterschiedliche Ebenen der Analyse verwenden - von der obersten, gröbsten bis hin zu der genauesten, spezifischsten Ebene. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie wollten das Gemälde (siehe Abbildung 1.1) beschreiben, das Sie in einem Museum gesehen haben. Auf einer globalen Ebene könnten Sie es durch den Titel „Die Badenden" und anhand des Künstlers „George Seurat" beschreiben. Auf einer spezifischeren Ebene könnten Sie Merkmale des Gemäldes anführen: Einige Menschen sonnen sich am Flussufer, während andere sich im Wasser vergnügen, usf. Auf einer sehr spezifischen Ebene könnten Sie die von Seurat verwendete Technik beschreiben - kleine Farbtupfer —, um die Szene entstehen zu lassen.

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Die Beschreibung auf jeder Ebene würde jeweils eine andere Frage über das Gemälde beantworten. Unterschiedliche Ebenen der psychologischen Beschreibung beziehen sich ebenfalls auf unterschiedliche Fragen. Auf der obersten Ebene psychologischer Analyse untersuchen Forscher das Verhalten der gesamten Person in komplexen sozialen und kulturellen Kontexten. Auf dieser Ebene könnten Forscher kulturelle Unterschiede bei der Gewaltbereitschaft, den Ursachen von Vorurteilen sowie den Folgen psychischer Störungen untersuchen. Auf der nächsten Ebene konzentrieren sich Psychologen auf engere, kleinere Verhaltenseinheiten, wie beispielsweise die Reaktionszeit auf ein Stoppsignal hin, Augenbewegungen während des Lesens und grammatische Fehler, die Kinder beim Spracherwerb machen. Forscher können auch noch kleinere Verhaltenseinheiten untersuchen. Sie können daran arbeiten, die biologische Grundlage des Verhaltens zu entdecken, indem sie die Gehirnregionen

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identifizieren, in denen verschiedene Arten von Erinnerungen gespeichert werden, die biochemischen Veränderungen, die während des Lernens auftreten, und die sensorischen Bahnen, die für das Sehen und das Hören verantwortlich sind. Jede Analyseebene liefert Informationen zu dem Gesamtbild der menschlichen Natur, das Psychologen am Ende zu entwickeln hoffen. Wie grob oder fein die Auflösung bei der Beobachtung auch ist: Psychologen versuchen, das Verhalten objektiv zu beschreiben. Die Fakten so zu erheben, wie sie sind, und nicht so, wie die Forscher sie erwarten oder gerne hätten, ist von größter Wichtigkeit. Da jeder Beobachter in jede Beobachtung seinen subjektiven Blickwinkel einbringt - Verzerrungen, Vorurteile und Erwartungen -, ist es grundlegend, dass diese persönlichen Faktoren nicht zum Tragen kommen und die Datenerhebung negativ beeinflussen.

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Erklärung Während Beschreibungen sich an wahrnehmbare Informationen halten müssen, gehen Erklärungen absichtlich über das Beobachtbare hinaus. In vielen Bereichen der Psychologie besteht das zentrale Ziel darin, regelhafte Muster im Verhalten und in mentalen Prozessen zu finden. Psychologen wollen entdecken, wie das Verhalten funktioniert. Warum lachen Sie in Situationen, die von Ihren Erwartungen abweichen, was als nächstes kommen wird? Welche Umstände können jemanden dazu bringen, Suizid oder eine Vergewaltigung zu begehen? Erklärungen in der Psychologie gehen in der Regel davon aus, dass Verhalten durcn eine Kombination von Faktoren beeinflusst wird. Einige Faktoren sind innerhalb des Individuums zu finden, beispielsweise die genetische Ausstattung, Motivation, Intelligenz oder Selbstwertgefühl.

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Diese inneren Determinanten des Verhaltens werden als organismische Variablen bezeichnet. Sie sagen etwas Bestimmtes über den Organismus aus. Bei Menschen spricht man von diesen Determinanten auch als dispositionelle Variablen. Einige Faktoren kommen jedoch auch von außen. Stellen Sie sich beispielsweise ein Kind vor, das einem Lehrer gefallen möchte, um einen Preis zu gewinnen, oder einen Verkehrsteilnehmer, der in einem Stau steckt und frustriert und aggressiv wird. Diese Verhaltensweisen sind stark durch Einflüsse außerhalb der Person bestimmt. Externale Einflüsse auf das Verhalten werden als Umweltvariablen oder situationale Variablen bezeichnet. Wenn Psychologen versuchen, Verhalten zu erklären, dann berücksichtigen sie fast immer beide Arten von Erklärungs-möglichkeiten. Angenommen, Psychologen suchen eine Erklärung dafür, dass Menschen mit dem Rauchen anfangen.

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Die Forscher könnten in Betracht ziehen, dass einige Individuen besonders anfällig für Risikoverhalten (eine dispositionelle Erklärung) sind oder dass einige Individuen starkem Gruppendruck ausgesetzt sind (eine situationale Erklärung) - oder dass sowohl eine Disposition zum Risikoverhalten als auch situationaler Gruppendruck notwendig sind (eine kombinierte Erklärung). Oftmals besteht das Ziel eines Psychologen darin, eine große Bandbreite von Verhaltensweisen auf der Grundlage einer einzigen Ursache zu erklären. Betrachten Sie folgende Situation: Der Dozent sagt, dass sich jeder Studierende, um eine gute Note zu erhalten, regelmäßig an den Diskussionen während des Seminars beteiligen muss. Ihr WG-Mitbewohner, der sich immer gut auf den Unterricht vorbereitet, meldet sich nie, um Fragen zu beantworten oder um Informationen anzubieten. Der Dozent tadelt ihn ob seines Mangels an Motivation und nimmt an, er sei nicht klug. Dieser gleiche WG-Mitbewohner geht auch auf Partys, aber er fragt nie ein Mädchen, ob es mit ihm tanzen will,

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verteidigt seinen Standpunkt nicht, wenn dieser von jemandem mit geringerem Wissen angegriffen wird, und er beteiligt sich kaum am Small Talk beim Essen. Was wäre Ihre Diagnose? Welcher Grund könnte für all diese Verhaltensweisen verantwortlich sein?

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Wie wäre es mit Schüchternheit? Wie viele andere Menschen auch, die unter intensiven Gefühlen der Schüchternheit leiden, kann Ihr WG-Mitbewohner sich nicht in gewünschter Weise verhalten (Cheek, 1989; Zimbardo, 1990). Wir können das Konzept der Schüchternheit einsetzen, um das ganze Muster des Verhaltens Ihres Zimmergenossen zu erklären. Um solche kausalen Erklärungen zu finden, müssen die Forscher oftmals einen kreativen Prozess durchlaufen, in dem sie eine Vielzahl verschiedener Daten sammeln. Der Meisterdetektiv Sherlock Holmes hat spitzfindige Schlussfolgerungen aus Hinweisschnipseln gezogen. In ähnlicher Weise muss jede Forscherin und jeder Forscher eine durch Sachwissen fundierte Vorstellungskraft einsetzen, die in kreativer Weise dasjenige zusammenbringt, was bereits bekannt ist und was noch nicht bekannt ist. Ein gut ausgebildeter Psychologe kann Beobachtungen erklären, indem er seine Einsicht in die menschliche Erfahrung zusammen mit den Fakten nutzt, welche die

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frühere Forschung zu dem in Frage stehenden Phänomen beigesteuert hat. Oft versucht psychologische Forschung zu bestimmen, welche der verschiedenen Erklärungen am genauesten dem gegebenen Verhaltensmuster Rechnung trägt. Vorhersage Vorhersagen in der Psychologie sind Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Verhalten auftreten wird oder ein bestimmter Zusammenhang nachgewiesen werden kann. Oftmals erlaubt eine zutreffende Erklärung der Ursachen, die einer Verhaltensweise zugrunde liegen, eine zutreffende Vorhersage über zukünftiges Verhalten. Wenn wir also beispielsweise glauben, dass Ihr WG-Mitbewohner schüchtern sei, dann könnten wir mit Zuversicht vorhersagen, dass er sich unwohl fühlen würde, wenn er sich mit einem Fremden unterhalten sollte. Wenn mehrere verschiedene Erklärungen ins Feld geführt werden, um ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Zusammenhang zu erklären, dann werden sie üblicherweise danach bewertet, wie gut

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sie zutreffende und umfassende Vorhersagen treffen. Sollte Ihr WG-Bewohner im Kontakt mit einem Fremden geradezu aufblühen, dann wären wir gezwungen, unsere Diagnose zu überdenken. So wie Beobachtungen objektiv gemacht werden müssen, müssen auch wissenschaftliche Vorhersagen hinreichend exakt formuliert werden, um getestet und zurückgewiesen werden zu können, falls es keine positiven Belege geben sollte. Eine wissenschaftliche Vorhersage basiert auf dem Verstehen der Art und Weise, wie Ereignisse zusammenhängen, und sie trifft Aussagen darüber, welche Mechanismen diese Ereignisse mit bestimmten Prädiktoren verbinden. Eine kausale Vorhersage spezifiziert die Bedingungen, unter denen sich das Verhalten ändert. Beispielsweise bringt die Anwesenheit eines Fremden Menschen- und Affenbabys jenseits eines bestimmten Alters zuverlässig dazu, mit Anzeichen von Angst zu reagieren. Veränderungen des beobachteten Verhaltens können jedoch in einer Variation der genaueren Beschaffenheit einer Situation

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begründet liegen - beispielsweise im Ausmaß der Fremdheit. Gäbe es weniger Anzeichen von Angst bei Menschen- und Affenbabys, wenn der Fremde ebenfalls ein Baby und nicht ein Erwachsener wäre oder wenn der Fremde der gleichen Spezies angehören würde und nicht einer anderen? Um eine kausale Vorhersage zu verbessern, würde der Forscher die Umweltbedingungen systematisch variieren und den Einfluss dieser Änderungen auf die Reaktionen des Babys beobachten. Kontrolle Für viele Psychologen ist Kontrolle das zentrale und wirksamste Ziel. Kontrolle bedeutet, Verhalten auftreten oder auch nicht auftreten zu lassen - es zu starten, aufrechtzuerhalten, zu beenden, seine Form, Stärke und Auftretens-Wahrscheinlichkeit zu beeinflussen. Eine kausale Erklärung von Verhalten ist dann überzeugend, wenn sie Bedingungen herstellen kann, unter denen das Verhalten kontrolliert werden kann.

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Die Möglichkeit der Verhaltenskontrolle ist wichtig, da sie den Psychologen Wege eröffnet, Menschen dabei zu helfen, ihre Lebensqualität zu verbessern. Diese haben Psychologen entwickelt, um Menschen zu helfen, Kontrolle über problematische Aspekte in ihrem Leben zu erlangen. In Kapitel 16 beispielsweise werden Behandlungsmethoden bei psychischen Störungen besprochen. Sie können lernen, welche Erziehungspraktiken Eltern helfen können, eine stabile Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen; Sie werden lernen, welche Kräfte Fremde davon abhalten, in Notfallsituationen zu helfen, und wie diese Kräfte überwunden werden können. In dieser Hinsicht sind Psychologen eine eher optimistische Gruppe; viele sind der Ansicht, dass nahezu jedes unerwünschte Verhaltensmuster durch eine angemessene Intervention modifiziert werden kann. Psychologie teilt diesen Optimismus. Interessanterweise wird in vielen asiatischen und afrikanischen Ländern eher das Verstehen denn die Kontrolle als oberstes Ziel genannt (Nobles, 1980; Triandis, 1990).

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Kritiker haben argumentiert, dass der Fokus auf Kontrolle in der westlichen Psychologie eine kulturelle Verzerrung widerspiegelt, die durch die Industrialisierung und den Kolonialismus der Europäer entstanden sei, ebenso wie durch die gewaltsame Erschließung des amerikanischen Westens, welche die amerikanische Mentalität prägte. Die Betonung der Kontrolle in der westlichen Psychologie wurde auch als typisch männliche Perspektive bezeichnet, die so nicht Platz gegriffen hätte, wenn Frauen eine grössere Rolle in der Entwicklung der Psychologie gespielt hätten.

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Historische Grundlage der Psychologie „Die Psychologie besitzt eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte", schrieb einer der ersten Experimentalpsychologen, Herrmann Ebbing-haus (1908). Gelehrte hatten sich seit langem wichtige Fragen über die menschliche Natur gestellt — wie Menschen die Realität wahrnehmen, wie das Bewusstsein beschaffen ist und worin die Ursprünge des Wahnsinns liegen -, sie besaßen jedoch nicht die Mittel, sie zu beantworten. Betrachten Sie einmal die fundamentalen Fragen, die die klassischen griechischen Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles im 4. und 5. Jahrhundert vor Christus stellten. Obwohl Formen von Psychologie in alten indischen Yogi-Traditionen existierten, geht der Ursprung westlicher Psychologie auf die Dialoge dieser berühmten Denker zurück. Sie diskutierten die Funktionsweise des Geistes, das Wesen der Willensfreiheit und die Beziehung des einzelnen Bürgers zu seiner Gemeinschaft oder dem Staat.

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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Psychologie zu einer eigenen Fachdisziplin, als die Forscher Labortechniken aus anderen Wissenschaften — beispielsweise der Physiologie und der Physik — zur Untersuchung dieser fundamentalen Fragen aus der Philosophie benutzten.

Eine entscheidende Person für die Entwicklung der modernen Psychologie war Wilhelm Wundt, der 1879 in Leipzig das

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erste ausgewiesene Labor für experimentelle Psychologie gründete. Obwohl Wundt als Physiologe ausgebildet war, verlagerte sich sein Interesse im Zuge seiner Forschungskarriere weg von Fragen des Körpers hin zum Geist: Er wollte die elementaren Prozesse der Empfindungen und Wahrnehmungen und die Geschwindigkeit einfacher mentaler Prozesse verstehen. Zu der Zeit, als er sein psychologisches Labor einrichtete, hatte Wundt bereits eine große Menge an Forschung betrieben und die erste von mehreren Auflagen seiner Grundzüge der Physiologischen Psychologie (zuerst 1874) veröffentlicht. Als Wundts Labor in Leipzig fertiggestellt war, begann er, die ersten Doktoranden speziell im aufkommenden Gebiet der Psychologie auszubilden. Diese Studierenden wurden oftmals zu Gründern eigener psychologischer Labore rund um den Erdball. Als sich die Psychologie als eigenständige Disziplin etabliert hatte, wurden auch psychologische Labore in Universitäten Nordamerikas eröffnet, das erste an der Johns Hopkins University im Jahre 1883.

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Diese frühen Labore waren oft stark von Wundt beeinflusst. Beispielsweise wurde Edward Titchener, er hatte bei Wundt studiert, einer der ersten Psychologen der USA, der im Jahre 1892 ein Labor an der Cornell University gründete. Etwa zur gleichen Zeit jedoch entwickelte ein junger Harvard-Professor der Philosophie, der Medizin studiert hatte und ein starkes Interesse an Literatur und Religion besaß, eine spezifisch amerikanische Perspektive. William James, Bruder des berühmten Romanautors Henry James, schrieb ein zweibändiges Werk mit dem Titel The Principles of Psychology (1890; deutsch 1950 unter dem Titel Psychologie), das viele Experten für den bedeutsamsten psychologischen Text halten, der jemals geschrieben wurde. Kurz darauf, im Jahre 1892, gründete G. Stanley Hall die American Psychological Association (APA), die bis heute existierende nationale wissenschaftliche Fachgesellschaft der USA. (Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie wurde demgegenüber 1904 gegründet). Bis zum Jahre 1900 gab es mehr als 40 psychologische Labore in Nordamerika (Hilgard, 1986).

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Beinahe gleichzeitig mit dem Entstehen der Psychologie entfachte sich eine Debatte über den richtigen Gegenstand und die Methoden der neuen Disziplin. Diese Debatte schälte einige Themen heraus, die in der Psychologie noch immer wichtig sind. Wir werden die Spannung zwischen Strukturalismus und Funktionalismus herausgreifen und näher betrachten. Strukturalismus: Der Inhalt des Geistes Das Potenzial der Psychologie, einen einzigartigen Beitrag zum Wissen zu leisten, wurde deutlich, als die Psychologie eine Laborwissenschaft wurde, deren zentraler Baustein das Experiment war. In Wundts Labor gaben die Versuchsteilnehmer einfache Reaktionen (Ja oder Nein sagen, einen Knopf drücken) auf Stimuli, die sie unter Bedingungen wahrnahmen, die von Laborinstrumenten kontrolliert wurden. Da die Daten mit systematischen, objektiven Methoden erhoben wurden, konnten unabhängige Beobachter die

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Ergebnisse dieser Experimente replizieren. Die Betonung der wissenschaftlichen Methode, das Bemühen um exakte Messung und eine statistische Analyse der Daten charakterisierte die psychologische Tradition Wundts. Als Titchener die Psychologie Wundts nach Amerika brachte, trat er dafür ein, mit Hilfe dieser wissenschaftlichen Methoden das Bewusstsein zu untersuchen. Seine Methode, die Elemente bewussten geistigen Lebens zu untersuchen, war die Introspektion. Bei der Introspektion untersuchen die Individuen systematisch ihre eigenen Gedanken und Gefühle im Hinblick auf spezifische Wahrnehmungs- und Empfindungserlebnisse. Titchener betont das „Was“ mentaler Inhalte und weniger das „Warum“ und „Wie“ des Denkens. Sein Ansatz wurde als Strukturalismus bekannt, die Untersuchung der Struktur des Geistes und des Verhaltens. Der Strukturalismus fußte auf der Vorannahme, dass jedwede geistige Erfahrung des Menschen als Kombination

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verschiedener grundlegender Komponenten aufgefasst werden kann. Das Ziel dieses Ansatzes bestand darin, die zugrunde liegende Struktur des menschlichen Geistes dadurch zu enthüllen, dass die konstituierenden Elemente von Empfindungen und anderen Erfahrungen, die das geistige Leben eines Individuums ausmachen, bestimmt werden. Viele Psychologen haben den Strukturalismus von drei Seiten her angegriffen: (1) Er sei reduktionistisch, da er jede komplexe menschliche Erfahrung auf einfache Empfindungen zurückführt; (2) er sei elementaristisch, da er versucht, Teile oder Elemente zu einem Ganzen zusammenzufügen, anstatt komplexes, ganzheitliches Verhalten direkt zu untersuchen; und (3) er sei mentalistisch, da er lediglich verbale Berichte des menschlichen Bewusstseins untersucht, unter Ausschluss von Individuen, die ihre Introspektionen nicht berichten konnten, wie beispielsweise Tiere, Kinder und geistig Verwirrte. Eine wichtige Alternative zum Strukturalismus wurde von dem deutschen

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Psychologen Max Wertheimer erstmalig eingeführt. Er konzentrierte sich darauf, wie der menschliche Geist eine Erfahrung, statt als Summe einfacher Teile, als Gestalt - als organisiertes Ganzes - auffasst: Ihre Erfahrung eines Gemäldes ist mehr als die Summe der einzelnen Farbtupfer. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, besitzt die Gestaltpsychologie noch immer einen Einfluss auf die Untersuchung der Wahrnehmung. Wir werden hier eine zweite wichtige Gegenposition zum Strukturalismus anführen, die als Funktionalismus bekannt geworden ist. Funktionalismus: Absichtsvoller Geist William James stimmte mit Titchener darin überein, dass das Bewusstsein zentral für die Wissenschaft der Psychologie sei; für James war die Untersuchung des Bewusstseins jedoch nicht auf Elemente, Inhalte und Strukturen reduziert. Stattdessen war für ihn Bewusstsein ein stetiger Strom, eine Eigenschaft des Geistes, der in fortlaufender Interaktion mit der Umwelt steht.

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Das menschliche Bewusstsein erleichtert die Anpassung an die Umwelt; daher wurden die Tätigkeiten und die Funktionen der mentalen Prozesse als wichtig erachtet und nicht die Inhalte des Geistes. Der Funktionalismus legte besonderes Augenmerk auf erlernte Gewohnheiten, die den Organismus in die Lage versetzen, sich an seine Umwelt anzupassen und effektiv zu funktionieren. Für die Funktionalisten lautet die durch Forschung zu beantwortende zentrale Frage: „Was ist die Funktion oder der Zweck eines Verhaltensaktes?" Gründer der funktionalistischen Schule war der amerikanische Philosoph John Dewey. Seine Beschäftigung mit der praktischen Anwendung mentaler Prozesse führte zu wichtigen Fortschritten in der Pädagogik. Die Theorien Deweys lieferten den Impuls für fortschrittliche Erziehung in seiner eigenen Laborschule und allgemein in den Vereinigten Staaten: „Auswendiglernen wurde zugunsten von handlungsorientiertem Lernen abgeschafft; man erwartete, dass die intellektuelle Neugier dadurch gefördert und das

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Verständnis erhöht würde" (Kendler, 1987, S. 124). Obwohl James an sorgfältige Beobachtung glaubte, maß er den exakten Labormethoden Wundts nur wenig Wert bei. In der Psychologie von James war Platz für Emotionen und das Selbst, für Wille, Werte und sogar religiöse und mystische Erfahrungen. Seine „warmherzige" Psychologie erkannte in jedem Individuum eine Einzigartigkeit, die nicht auf Formeln oder Zahlen aus Testergebnissen reduziert werden konnte. Für James lag das Ziel der Psychologie eher im Erklären und weniger in experimenteller Kontrolle (Arkin, 1990). Das Vermächtnis dieser Ansätze Trotz der Unterschiede haben die Erkenntnisse sowohl des Strukturalismus als auch des Funktionalismus einen intellektuellen Kontext hergestellt, in dem die zeitgenössische Psychologie aufblühen konnte. Psychologen untersuchen heutzutage sowohl die Struktur als auch die Funktion von Verhalten.

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Betrachten wir den Prozess der Sprachproduktion. Stellen Sie sich vor, Sie wollen einen Freund ins Kino einladen. Um dies zu tun, müssen Ihre Wörter die richtige Funktion erfüllen — Star Wars, mit mir, heute Abend — und sie müssen auch die richtige Struktur besitzen: eine Phrase wie „Würdest gehen Star Wars mir zu in mit du Abend heute gerne?" würde nicht funktionieren. ?? Um zu verstehen, wie Sprachproduktion funktioniert, untersuchen Forscher, wie Sprecher Bedeutungen (Funktionen) in die grammatikalischen Strukturen ihrer Sprache einfügen (Bock, 1990). Psychologen wenden nach wie vor eine Vielzahl von Methoden zur Untersuchung der allgemeinen Kräfte an, die für alle Menschen gelten, und jener Kräfte, welche die Einzigartigkeit eines jeden Individuums ausmachen.

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Aktuelle Perspektiven der Psychologie In diesem Abschnitt werden die Perspektiven und konzeptuellen Ansätze dargestellt, die die zeitgenössische Psychologie dominieren. Jede Perspektive - biologisch, psychodynamisch, behavioristisch, humanistisch, kognitiv, evolutionär und kulturvergleichend - definiert Standpunkte und Annahmen, die sowohl beeinflussen, was Psychologen untersuchen, als auch, wie sie es tun: Besitzen Menschen einen freien Willen oder führen sie nur ein Skript aus, das ihnen durch Vererbung (biologischer Determinismus) oder durch die Umwelt (Umweltdeterminismus) auferlegt wurde? Sind Organismen grundlegend aktiv und kreativ oder reaktiv und mechanistisch? Können psychologische und soziale Phänomene anhand physiologischer Prozesse erklärt werden? Ist komplexes Verhalten lediglich die Summe vieler kleiner Komponenten, oder besitzt es neue und unterschiedliche Qualitäten?

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Die Perspektive eines Psychologen bestimmt, wonach er sucht, wo er sucht und welche Methoden zur Anwendung kommen. Eine kurze Anmerkung zur Vorsicht: Obwohl jede Perspektive für einen unterschiedlichen Ansatz zu den zentralen Themen der Psychologie steht, sollten Sie sich darüber bewusst werden, warum die meisten Psychologen von mehr als einer dieser Perspektiven Konzepte entlehnen und sie miteinander verschmelzen. Jede Perspektive erweitert das Verständnis der Gesamtheit menschlicher Erfahrung. In den folgenden Kapiteln werden wir genauer auf die Beiträge jedes Ansatzes eingehen, da sie zusammengenommen dafür stehen, was zeitgenössische Psychologie heute ausmacht. Die biologische Perspektive Die biologische Perspektive ist das Leitbild jener Psychologen, welche die Ursachen des Verhaltens in der Funktionsweise der Gene, des Gehirns, des Nervensystems und des endokrinen Systems suchen.

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Das Funktionieren eines Organismus wird anhand der zugrunde liegenden körperlichen Strukturen und biochemischen Prozesse erklärt. Erfahrungen und Verhalten werden weitgehend als das Ergebnis chemischer und elektrischer Aktivitäten, die zwischen Nervenzellen stattfinden, angesehen. Forscher, welche die biologische Perspektive einnehmen, gehen davon aus, dass psychische und soziale Phänomene letztendlich auf biochemische Prozesse zurückgeführt werden können: Sogar die komplexesten Phänomene können dadurch verstanden werden, dass man sie analysiert und auf immer kleinere, spezifischere Einheiten reduziert. Sie würden beispielsweise zu erklären versuchen, wie sie die Wörter dieses Satzes lesen, indem sie die exakten zellphysiologischen Prozesse im Gehirn heranziehen. Aus dieser Sicht wird Verhalten durch körperliche Strukturen und Vererbungsprozesse determiniert.

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Erfahrung kann dadurch Verhalten modifizieren, indem sie diese zugrunde liegenden biologischen Strukturen und Prozesse verändert. Forscher könnten sich fragen „Welche Veränderungen traten im Gehirn auf, während wir lesen lernten?" Die Aufgabe psychobiologischer Forschung ist es, Verhalten auf der präzisesten Analyseebene zu verstehen. Viele dieser psychobiologischen Forscher arbeiten in den Labors von Universitäten und medizinischen Hochschulen, andere in klinischen Einrichtungen. Laborforscher untersuchen zum Beispiel, ob das Gedächtnis einer älteren Ratte dadurch verbessert werden kann, dass man ihr Gehirngewebe eines Rattenfötus implantiert. Forscher in klinischen Einrichtungen untersuchen demgegenüber beispielsweise Patienten Gedächtnisverlust infolge eines Unfalls oder einer Erkrankung. Das gemeinsame Anliegen dieser Forscher besteht in der Untersuchung derjenigen Verhaltensaspekte, die durch biologische Kräfte entstehen.

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Die psychodynamische Perspektive Entsprechend der psychodynamischen Perspektive wird das Verhalten durch starke innere Kräfte angetrieben und motiviert. Nach dieser Perspektive rühren Handlungen von ererbten Instinkten, biologischen Trieben und dem Versuch her, Konflikte zwischen persönlichen Bedürfnissen und sozialen Erfordernissen zu lösen. Zustände der Deprivation, physiologische Erregung und Konflikte liefern die Energie für das Verhalten, genauso wie Kohle eine Dampflokomotive antreibt. Nach diesem Modell enden die Reaktionen des Organismus, wenn seine Bedürfnisse befriedigt und seine Triebe reduziert sind. Der Hauptzweck von Handlungen besteht in der Reduktion von Spannung. Die psychodynamischen Mechanismen der Motivation wurden am deutlichsten durch den Wiener Arzt Sigmund Freud im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert herausgearbeitet.

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Freuds Ideen erwuchsen aus seiner Arbeit mit psychisch gestörten Patienten; er glaubte aber, dass diese beobachteten Prinzipien für normales wie gestörtes Verhalten zuträfen. Nach Freuds psychodynamischer Theorie wird eine Person durch ein komplexes Netzwerk innerer und äußerer Kräfte gezogen und geschoben. Freuds Modell erkannte als erstes, dass die menschliche Natur nicht immer rational ist und dass Handlungen durch Motive gesteuert sein können, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Seit Freud haben viele Psychologen das psychodynamische Modell in neue Richtungen gelenkt. Freud selbst betonte die frühe Kindheit als jene Phase, in der sich die Persönlichkeit ausbildet. Neo-Freudianer haben die Theorie Freuds dahingehend erweitert, dass sie soziale Einflüsse und Interaktionen, die im Laufe des gesamten Lebens eines Individuums auftreten, mit einbeziehen. Freuds Ideen hatten einen großen Einfluss auf viele Bereiche der Psychologie.

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Verschiedenen Aspekten seiner Beiträge sind beispielsweise bei der Entwicklung von Kindern, dem Träumen, Vergessen, unbewusster Motivation, Persönlichkeit und psychoanalytischer Therapie. Sie werden vielleicht überrascht sein, dass seine Ideen nie das Ergebnis systematischer wissenschaftlicher Forschung waren. Stattdessen waren sie das Ergebnis eines außergewöhnlich kreativen Geistes, der geradezu davon besessen war, die tieferen Mysterien menschlicher Gedanken, Gefühle und Handlungen aufzudecken. Die behavioristische Perspektive Entsprechend der behavioristischen Perspektive wird danach gesucht, wie bestimmte Umweltstimuli bestimmte Arten des Verhaltens kontrollieren. Erstens untersuchen Verhaltensanalytiker die Antezedensbedingungen der Umwelt - jene Bedingungen, die dem Verhalten vorangehen und die den Rahmen für einen Organismus schaffen, eine Reaktion zu zeigen oder sie zurückzuhalten.

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Dann betrachten sie die Verhaltens-reaktion, die der Hauptgegenstand der Untersuchung ist — die Verhaltensweise, die es zu verstehen, vorherzusagen und zu kontrollieren gilt. Schließlich untersuchen sie die beobachtbaren Konsequenzen, die auf die Reaktion folgen. Beispielsweise könnte ein Behaviorist daran interessiert sein, wie Strafzettel unterschiedlicher Höhe (Konsequenzen) für Geschwindigkeitsüberschreitungen die Wahrscheinlichkeit ändern, dass Kraftfahrer vorsichtig oder unvorsichtig fahren (Verhaltensreaktionen). Behavioristen sammeln ihre Daten typischerweise in kontrollierten Laborexperimenten; sie benutzen dabei etwa elektronische Apparaturen und Computer, um die Stimuli zu präsentieren und die Reaktionen aufzuzeichnen. Sie bestehen auf präzisen Definitionen der zu untersuchenden Phänomene und auf strengen Standards für Belege, üblicher-weise in quantifizierbarer Form. Oftmals untersuchten sie Tiere (meistens Tauben und Ratten), da sie hierbei die Versuchsbedingungen weitaus umfassender kontrollieren können als bei menschlichen Versuchsteilnehmern.

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Behavioristen sind der Ansicht, dass die bei Tieren untersuchten grundlegenden Prozesse allgemeine Prinzipien darstellen, die für unterschiedliche Spezies Gültigkeit besitzen. Der Behaviorismus hinterließ ein bedeutsames Erbe in der Praxis. Seine Betonung der Notwendigkeit genauen Experimentierens und sorgfältig definierter Variablen beeinflusste die meisten Bereiche der Psychologie. Obwohl die Behavioristen einen Großteil ihrer Grundlagenforschung an Tieren durchführten, wurden die Prinzipien des Behaviorismus in vielen Bereichen auf menschliche Probleme angewandt. Behavioristische Prinzipien haben einen humaneren Ansatz der Kindererziehung (durch die bevorzugte Nutzung positiver Verstärkung an Stelle von Bestrafung) erbracht, neue Therapien zur Modifikation von Verhaltensstörungen und Richtlinien zur Gestaltung idealer utopischer Gemeinschaften.

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Die humanistische Perspektive Die humanistische Psychologie erschien in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Alternative zu den psychodynamischen und behavioristischen Modellen. Aus humanistischem Blickwinkel werden Menschen weder durch starke, instinktive Kräfte getrieben, wie sie von den Freudianern angeführt werden, noch werden sie durch ihre Umgebung manipuliert, wie von den Behavioristen vorgeschlagen. Stattdessen werden Menschen als aktive Geschöpfe angesehen, die von Grund auf gut sind und über die Freiheit der Wahl verfügen. Nach der humanistischen Perspektive besteht die Hauptaufgabe des Menschen darin, nach Wachstum und Entwicklung des eigenen Potenzials zu streben. Humanistische Psychologen untersuchen Verhalten, allerdings nicht, indem sie es auf Komponenten, Elemente und Variablen in Laborexperimenten reduzieren. Vielmehr halten sie in der Lebensgeschichte eines Menschen nach Verhaltensmustern Ausschau.

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In starkem Gegensatz zu den Behavioristen konzentrieren sich humanistische Psychologen auf die von einem Individuum subjektiv erfahrene Welt und nicht auf die objektive Welt, wie sie von externen Beobachtern und Forschern gesehen wird. Insofern werden sie auch als Phänomenologen betrachtet, jene, die die persönliche Sicht auf Ereignisse des einzelnen handelnden Individuums untersuchen. Humanistische Psychologen versuchen auch der ganzen Person gerecht zu werden; sie vertreten einen holistischen Zugang zur menschlichen Psyche. Sie sind der Ansicht, dass wirkliches Verstehen eine Integration des Wissens über den Geist eines Individuums, seines Körpers und Verhaltens, im Bewusstsein sozialer und kultureller Kräfte, erfordert. Der humanistische Ansatz erweitert das Gebiet der Psychologie um wertvolle Erkenntnisse aus Untersuchungen zur Literatur, Geschichte und den Künsten. Dadurch wird die Psychologie eine vollständigere Disziplin.

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Humanisten vertreten die Ansicht, dass ihr Blickwinkel so etwas wie ein Enzym sei, das der Psychologe hilft, sich über die Konzentration auf negative Kräfte und tierähnliche Aspekte des menschlichen Daseins zu erheben. Wie wir in Kapitel 16 sehen werden, hatte die humanistische Perspektive einen starken Einfluss auf die Entwicklung neuer Ansätze in der Psychotherapie. Die kognitive Perspektive Die kognitive Wende in der Psychologie entstand als weitere Herausforderung an die Beschränkungen des Behaviorismus. Der zentrale Fokus der kognitiven Perspektive ist das menschliche Denken und all seine wissensbasierten Prozesse — Aufmerksamkeit, Denken, Erinnern und Verstehen. Aus kognitiver Perspektive handeln Personen, weil sie denken, und Personen denken, da sie menschliche Wesen sind, die herausragend mit dieser Fähigkeit ausgestattet sind. Nach dem kognitiven Modell ist Verhalten nur zum Teil durch vorangehende Umweltereignisse und frühere

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Verhaltenskonsequenzen bestimmt, wie Behavioristen annehmen. Einige der augenfälligsten Verhaltens-weisen treten durch völlig neue Wege des Denkens auf und nicht durch vorhersagbare Wege, die in der Vergangenheit benutzt wurden. Die Fähigkeit, sich Optionen und Alternativen vorzustellen, die sich komplett von dem unterscheiden, was ist oder war, verschafft dem Menschen die Möglichkeit, sich in eine Zukunft zu bewegen, die die aktuellen Umstände transzendiert. Ein Individuum reagiert nicht so auf die Realität, wie sie in der objektiven gegenständlichen Welt ist, sondern wie sie sich in der subjektiven Realität der inneren Welt der Gedanken und Vorstellungen des Individuums darstellt. Kognitive Psychologen betrachten Gedanken sowohl als Ergebnis als auch als Ursache offen gezeigten Verhaltens. Dass es einem Leid tut, wenn man jemanden verletzt hat, ist ein Beispiel für Gedanken als Ergebnis.

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Sich jedoch für sein Verhalten zu entschuldigen, nachdem es einem Leid getan hat, ist ein Beispiel für Gedanken als Ursache von Verhalten. Kognitive Psychologen untersuchen höhere geistige Prozesse wie etwa Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Problemlösen und Entscheiden auf einer Vielzahl von Ebenen. So untersuchen sie beispielsweise Durchblutungsmuster im Gehirn bei verschiedenen Arten kognitiver Aufgaben, die Erinnerung einer Studierenden an ein Ereignis aus ihrer frühen Kindheit oder Veränderungen der Gedächtnisfähigkeit im Laufe des Lebensalters. Bedingt durch die Ausrichtung auf geistige Prozesse sehen viele Forscher die kognitive Perspektive als dominierend in der heutigen Psychologie an.

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Die evolutionäre Perspektive Die evolutionäre Perspektive versucht, die zeitgenössische Psychologie mit einer zentralen Idee der Biowissenschaften zu verknüpfen, der Theorie von Charles Darwin zur Evolution durch natürliche Selektion. Die Idee der natürlichen Selektion ist recht einfach: Diejenigen Organismen, die besser an ihre Umwelt angepasst sind, tendieren dazu, mehr Nachkommen zu produzieren (und ihre Gene weiterzugeben) als Organismen mit schlechterer Anpassung. Über viele Generationen hinweg verändern sich die Spezies in Richtung der bevorzugten Anpassung. Die evolutionäre Perspektive in der Psychologie geht davon aus, dass geistige Fähigkeiten, ebenso wie körperliche Fähigkeiten, sich über Millionen von Jahre entwickelten, um spezifischen Anpassungserfordernissen gerecht zu werden. Bei der Ausübung evolutionärer Psychologie konzentrieren sich die Forscher auf die Umweltbedingungen, unter welchen sich das menschliche Gehirn entwickelte.

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Die Menschen verbrachten 99 Prozent ihrer Evolutionsgeschichte als Jäger und Sammler, die in kleinen Gruppen während des Pleistozäns (einer Periode von etwa zwei Millionen Jahren, die vor 10.000 Jahren endete) lebten. Die evolutionäre Psychologie nutzt das reiche theoretische Rahmengerüst der Evolutionsbiologie, um die zentralen Probleme adaptiven Verhaltens dieser Spezies zu identifizieren: vermeiden von Beutejägern und Parasiten, Sammeln und Austauschen von Nahrung, Partner zur Paarung finden und behalten und gesunde Kinder großziehen. Nachdem die Anpassungsprobleme, welchen sich diese frühen Menschen gegenüber-sahen, identifiziert sind, können Psychologen mit evolutionärer Ausrichtung Schlussfolgerungen über die Arten geistiger Mechanismen und psychologischer Anpassungen ziehen, die sich zur Lösung solcher Probleme entwickelten. Die evolutionäre Psychologie unterscheidet sich von den anderen Perspektiven am grundlegendsten in ihrer Konzentration auf zeitlich extrem lange Prozesse der Evolution, die als zentrales Erklärungsprinzip dienen.

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Beispielsweise versuchen Evolutions-psychologen die unterschiedlichen Geschlechterrollen als Produkt der Evolution anzusehen und nicht als Produkt aktueller gesellschaftlicher Zwänge. Da evolutionäre Psychologen keine Experimente ausführen können, die den Gang der Evolution variieren, müssen sie ausgesprochen erfinderisch sein, um Belege für ihre Theorien zu liefern. Die kulturvergleichende Perspektive Psychologen, die eine kulturvergleichende Perspektive einnehmen, untersuchen interkulturelle Unterschiede der Ursachen und Konsequenzen von Verhalten. Die kulturvergleichende Perspektive ist eine wichtige Reaktion auf die Kritik, dass psychologische Forschung allzu häufig auf einer westlichen Konzeption der menschlichen Natur basiert und dass sie als Untersuchungspopulation ausschließlich weiße Amerikaner der Mittelklasse (Gergen et al., 1996) heranzog. Eine angemessene Betrachtung der kulturellen Kräfte kann Vergleiche zwischen Gruppen innerhalb gemeinsamer nationaler Grenzen beinhalten.

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Beispielsweise können Forscher die Prävalenz von Essstörungen innerhalb der USA zwischen weißen und afro-amerikamschen Teenagern vergleichen. Kulturelle Einflüsse können auch zwischen Nationalitäten untersucht werden, wie beispielsweise ein Vergleich zwischen moralischen Urteilen in den USA und Indien. Kulturvergleichende Psychologen wollen herausfinden, ob die Theorien, welche die psychologische Forschung hervorgebracht hat, auf alle Menschen oder nur auf eine engere, spezifischere Population zutreffen. Die kulturvergleichende Perspektive lässt sich auf nahezu jeden Gegenstand psychologischer Forschung anwenden: Wird die menschliche Wahrnehmung von der Welt durch Kultur beeinflusst? Beeinflusst die Sprache, die wir sprechen, die Art und Weise, wie wir die Welt erfahren? Wie beeinflusst Kultur die Art und Weise, wie sich Kinder zu Erwachsenen entwickeln? Wie formen kulturelle Einstellungen das Erleben des höheren Alters?

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Wie beeinflusst Kultur unser Selbst-verständnis? Beeinflusst Kultur die Wahrscheinlich-keit, dass ein Individuum spezifische Verhaltensweisen zeigt? Beeinflusst Kultur die Art und Weise, wie Menschen ihre Gefühle ausdrücken? Beeinflusst Kultur die Häufigkeit, mit der Menschen an psychischen Störungen leiden? Die Folgerungen aus kulturvergleichender Perspektive stellen die aus den anderen Perspektiven gezogenen Schlüsse oftmals in Frage. Beispielsweise haben Forscher die Auffassung vertreten, dass viele Aspekte von Freuds psychodynamischen Theorien nicht auf Kulturen übertragbar wären, die sich stark von Freuds Wien unterscheiden. Diese Bedenken wurden bereits 1927 von dem Anthropologen Bronislaw Malinowski (1927) formuliert. Dieser kritisierte mit stichhaltigen Argumenten Freuds vaterzentrierte Theorie, indem er Familienpraktiken der Trobriander auf Neuguinea beschrieb; in diesem Stamm liegt die Familienautorität bei den Müttern und nicht bei den Vätern.

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Die kulturvergleichende Perspektive lässt also erkennen, dass einige der universellen Behauptungen der psychodynamischen Perspektive so nicht zutreffen. Die kulturvergleichende Perspektive leistet einen beständigen und wichtigen Beitrag, Generalisierungen über menschliche Erfahrungen zu relativieren, die der Unterschiedlichkeit und Reichhaltigkeit von Kulturen keine Rechnung tragen. Perspektivenvergleich: Thema Aggression Jede der sieben Perspektiven beruht auf einem unterschiedlichen Satz von Annahmen und führt zu unterschiedlichen Arten der Antwortsuche auf Fragen zum Verhalten. Tabelle 1.1 fasst die Perspektiven zusammen. Lassen Sie uns anhand des Beispiels, warum sich Menschen aggressiv verhalten, kurz vergleichen, wie Psychologen unter Heranziehung der jeweiligen Modelle mit dieser Frage umgehen. Alle Ansätze sollten dem Bemühen dienen, das Wesen von Aggression und Gewalt zu verstehen.

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Biologisch Untersucht die Rolle spezifischer Gehirnsysteme für die Aggression, indem verschiedene Gehirnregionen stimuliert und dann alle hervorgerufenen destruktiven Handlungen aufgezeichnet werden. Analysiert auch das Gehirn von Massenmördern im Hinblick auf Abnormalitäten. Psychodynamisch Untersucht Aggression als Reaktion auf Frustrationen, die durch Barrieren auf dem Weg zur Freude, beispielsweise durch ungerechte Autoritäten, entstanden sind. Betrachtet Aggression beim Erwachsenen als Resultat der Verschiebung der Feindseligkeit, die ursprünglich als Kind gegenüber den Eltern gefühlt wurde. Behavioristisch Identifiziert die Verstärker vergangener aggressiver Reaktionen, wie etwa ein Mehr an Aufmerksamkeit, die einem Kind von seinen Klassenkameraden oder Geschwistern zukommt.

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Behauptet, dass Kinder von körperlich züchtigenden Eltern lernen, später mit ihren Kindern genauso zu verfahren. Humanistisch Sucht nach persönlichen Werten und sozialen Bedingungen, die selbst-einschränkende und aggressive Perspektiven, anstelle von wachstumsfördernden und geteilten Erfahrungen, nähren. Kognitiv Erfasst die feindseligen Gedanken und Phantasien, die Menschen bei der Wahrnehmung gewalttätiger Handlungen erleben. Beachtet sowohl aggressive Vorstellungen als auch Absichten, andere zu verletzen. Untersucht den Einfluss von Gewalt in Filmen und Videos, inklusive pornographischer Gewaltdarstellungen, auf Haltungen zur Kontrolle von Waffenbesitz, Vergewaltigung und Krieg.

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Evolutionär Betrachtet, welche Bedingungen Aggression zu einem Anpassungsverhalten für Urmenschen machten. Identifiziert psychologische Mechanismen, die in der Lage sind, unter diesen Bedingungen selektiv aggressives Verhalten hervorzurufen. Kulturvergleichend Betrachtet, wie Mitglieder verschiedener Kulturen Aggression zeigen und interpretieren. Finden heraus, wie kulturelle Kräfte die Wahrscheinlichkeit verschiedener Arten aggressiven Verhaltens beeinflussen.

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Motivationspyschologie Was ist Motivation? Motivation ist der allgemeine Begriff für alle Prozesse, die der Initiierung, der Richtungsgebung und der Aufrechterhaltung physischer und psychischer Aktivitäten dienen. Das Wort Motivation stammt vom Lateinischen movere, was so viel bedeutet wie „bewegen". Alle Organismen bewegen sich auf bestimmte Reize und Aktivitäten zu und von anderen weg, je nach Ausprägung ihrer Vorlieben und Abneigungen. Motivationstheorien erklären sowohl die allgemeinen Muster der „Bewegungen" von verschiedenen Spezies, einschließlich jener der Spezies Mensch, als auch die persönlichen Vorlieben und Verhaltens-weisen der individuellen Mitglieder jeder Spezies. Wir wollen zu Beginn unserer Untersuchung der Motivation die verschiedenen Perspektiven betrachten, unter denen Motivation herangezogen wurde, um das Verhalten einer Spezies und das Verhalten von Individuen zu erklären und vorherzusagen.

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Die Funktionen verschiedener Motivationskonzepte Psychologen verwenden das Konzept der Motivation für fünf grundlegende Zwecke: Um Biologie mit Verhalten zu verbinden. Als biologischer Organismus verfügen Sie über komplexe, innere Mechanismen, die Ihre körperlichen Funktionen regulieren und Ihr Überleben sichern. Warum sind Sie heute Morgen aufgestanden? Sie waren vielleicht hungrig oder durstig, oder Ihnen war kalt. In jedem Fall lösen innere Zustände der Deprivation (damit bezeichnet man Mangelzustände) Reaktionen des Körpers aus, welche Sie zu einer Handlung motivieren, um das Gleichgewicht des Körpers wieder herzustellen. Zur Erklärung von Verhaltensvariabilität. Warum kann es sein, dass Ihnen eine Sache an einem Tag gut gelingt und am nächsten Tag überhaupt nicht glücken will? Warum schneidet ein Kind bei einem Wettbewerb weit besser ab als ein

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anderes, obwohl es über vergleichbare Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt? Psychologen verwenden motivationale Erklärungen, wenn unterschiedliche Leistungen einer Person in derselben Situation nicht auf Unterschiede in Fähigkeiten, Fertigkeiten, Übung oder auf zufällige Gegebenheiten zurückgeführt werden können. Wenn Sie heute Morgen früh aufstehen wollten, um zusätzliche Zeit für das Lernen aufzuwenden, Ihr Freund jedoch nicht, wären wir damit zufrieden, Ihnen als Erklärung für diesen Unterschied einen anderen motivationalen Zustand zuzuschreiben als Ihrem Freund. Um von äußeren Handlungen auf innere Zustände zu schließen. Sie sehen jemanden kichernd auf einer Parkbank sitzen. Wie können Sie sein Verhalten erklären? Psychologen und Laien gleichen sich darin, typischerweise von offenem Verhalten auf innere Ursachen zu schließen. Menschen interpretieren Verhalten ständig dahingehend, aus welchem Grund es

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wahrscheinlich genau in dieser Weise gezeigt wurde. Dieselbe Regel gilt für unser eigenes Verhalten. Wir versuchen häufig zu entdecken, ob sich unser Verhalten am besten durch innere oder äußere motivationale Einflüsse erklären lässt. Um Handlungen Verantwortung zuzuweisen. Vor Gericht, in Religion und Ethik ist das Konzept persönlicher Verantwortlich-keit von grundlegender Bedeutung. Die persönliche Verantwortlichkeit setzt innere Motivation und die Fähigkeit, seine Handlungen zu kontrollieren, voraus. Menschen werden als eingeschränkt verantwortlich beurteilt, wenn (1) sie mit ihrem Handeln keine negativen Folgen beabsichtigten, (2) wenn äußere Kräfte stark genug waren, um das Verhalten auszulösen, oder (3) wenn das Handeln unter dem Einfluss von Drogen, Alkohol oder starken Emotionen erfolgte.

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Demnach muss eine Motivationstheorie dazu in der Lage sein, zwischen verschiedenen potenziellen Ursachen von Verhalten zu unterscheiden. Zur Erklärung von Beharrlichkeit trotz Widrigkeiten. Erinnern Sie sich an den Textauszug über Rebecca Stephens' Versuch, den Mount Everest zu besteigen, den wir Ihnen zu Beginn dieses Kapitels vorgestellt haben. Wenn man berücksichtigt, dass Menschen sich schwer oder sogar lebensbedrohlich verletzen, warum versuchen sie weiterhin, diesen Berg zu besteigen? Psychologen wollen mit der Untersuchung der Motivation schließlich erklären, warum Lebewesen bestimmte Handlungen ausführen, obwohl es leichter wäre, diese zu unterlassen. Motivation sorgt dafür, dass Sie pünktlich an Ihrem Arbeitsplatz oder in Ihrem Seminar erscheinen, auch wenn Sie erschöpft sind. Motivation hilft uns dabei, unbeirrt und mit besten Kräften weiterzuspielen, auch wenn wir verlieren und erkennen, dass wir wahrscheinlich nicht mehr gewinnen können.

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Motivationsquellen 1999 gewann der Radrennfahrer Lance Armstrong die Tour de France und vollendete damit eines der bemerkenswertesten Comebacks der Sportgeschichte. 1996 wurde bei Lance Armstrong Hodenkrebs diagnostiziert, der bereits in Lunge und Gehirn Metastasen gebildet hatte. Nach einer langwierigen, aggressiven Chemotherapie beschloss Armstrong, sein Training wieder aufzunehmen. Innerhalb von drei Jahren gelang es ihm, den in dieser Sportart bedeutendsten Wettkampf zu gewinnen. Lästerer hatten behauptet, das Feld, das er 1999 schlug, sei schwach gewesen. Mittlerweile jedoch hat Armstrong fünfmal in Folge die Tour de France gewonnen und gezeigt, dass er die besten Radrennfahrer der Welt schlagen kann. Könnten Sie dasselbe tun wie Lance Armstrong? Könnten Sie nach einer schweren Erkrankung Ihren Körper erneut vor solche Herausforderungen stellen?

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Denken Sie, dass das, was ihn zu diesem Verhalten motiviert hat, eine innere Eigenschaft von ihm war? Sind bestimmte Lebenserfahrungen notwendig, um so beharrlich zu agieren? Oder ist es etwas Externales, etwas, das in der Situation begründet liegt? Würden viele Menschen dieses Verhalten zeigen, wenn man sie in die entsprechende Situation brächte? Oder zeigt sich in diesem Verhalten eine Interaktion zwischen Eigenschaften der Person und Charakteristika der Situation? Um Sie beim Nachdenken über die Quellen der Motivation zu unterstützen, werden wir die Unterscheidung zwischen internalen und externalen Kräften weiter untersuchen. Lassen Sie uns mit jenen Theorien beginnen, welche die Entstehung bestimmter Verhaltensweisen mit Hilfe internaler biologischer Triebe erklären. Welche Kombination innerer und äußerer Faktoren hat dem Radrennfahrer Lance Armstrong dabei geholfen, den Krebs zu besiegen und die Tour de France zu gewinnen?

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Triebe und Anreize Manche Motivationsformen scheinen sehr grundlegend zu sein: Wenn wir hungrig sind, essen wir etwas; wenn wir durstig sind, trinken wir. Die Theorie, dass viele wichtige Verhaltensweisen durch innere Triebe motiviert sind, wurde am umfassendsten durch Clark Hull (1943, 1952) entwickelt. Nach Hull sind Triebe internale Zustände, die als Reaktion auf die physiologischen Bedürfnisse des Lebewesens entstehen. Organismen versuchen, den Zustand des Gleichgewichts oder der Homöostase bezüglich biologischer Bedingungen wie Körpertemperatur oder Energieversor- gung beizubehalten. Triebe werden angeregt, wenn Deprivation im Körper ein Ungleichgewicht oder eine Spannung auslöst. Diese Triebe aktivieren den Organismus zur Spannungsreduktion; wenn die Triebe befriedigt oder abgebaut sind - und somit der Zustand der Homöostase wieder hergestellt wurde -, stellt der Organismus seine Handlungen ein.

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Demnach wird bei einem Tier, wenn es über einen längeren Zeitraum nicht gefüttert wurde, der Zustand von Hunger ausgelöst, der zur Futtersuche oder zur Nahrungs-aufnahme motiviert. Die Reaktionen des Tieres, die es zur Nahrungsquelle führten, werden verstärkt, da sie mit der erfolgten Spannungs-reduktion durch die Nahrungsaufnahme assoziiert werden. Kann Spannungsreduktion jede motivierte Verhaltensweise erklären? Offensichtlich nicht. Betrachten Sie eine Gruppe von Ratten, die über einen längeren Zeitraum weder Futter noch Wasser erhielten. Die Theorie der Spannungsreduktion würde vorhersagen, dass sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit fressen oder trinken würden. Wenn man diese Ratten jedoch in eine neue Umgebung bringt, mit zahlreichen Möglichkeiten zu fressen oder zu trinken, entscheiden sie sich zuerst dafür, die neue Umgebung genau zu erkunden. Erst nachdem sie ihre Neugier befriedigt haben, befriedigen sie ihr Bedürfnis nach

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Futter und Wasser (Berlyne, 1960; Fowler, 1965; Zimbardo & Montgomery, 1957). In einer anderen Versuchsreihe verwendeten junge Affen viel Zeit und Energie darauf, an Apparaten und anderen neuen Objekten in ihrem Umfeld herumzuspielen, ohne irgendwelche externalen Belohnungen (Harlow et al., 1950). Diese Experimente zeigen, dass Verhalten nicht nur durch innere Triebe motiviert wird: Verhalten wird ebenso durch Anreize motiviert - äußere Reize oder Belohnungen, die keinen direkten Bezug zu biologischen Bedürfnissen haben. Als sich die Ratten und Affen eher auf die Objekte in ihrem Umfeld einließen, denn ihre internalen Bedürfnisse zu befriedigen, zeigten sie, dass ihr Verhalten durch Anreize gesteuert wurde. Auch menschliches Verhalten wird durch eine Reihe von Anreizen kontrolliert. Warum surfen Sie bis spät in die Nacht im Internet, anstatt zu schlafen? Warum schauen Sie sich einen Film an, der Ihnen Angst und Schrecken einjagt?

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In jedem dieser Fälle dienen Elemente der Umwelt als Anreize, die Ihr Verhalten motivieren. Sie können jetzt schon erkennen, dass die Ursachen von Verhaltensweisen in einer Mischung aus internalen und externalen Quellen zu finden sind. Obwohl Ratten vielleicht den biologischen Druck zu fressen oder zu trinken empfinden, geben sie ebenso dem Impuls nach, eine neue Umwelt zu erkunden. Wir wenden uns nun einem moderneren Ansatz der Motivation zu, der sich speziell mit widersprüchlichen motivationalen Zuständen auseinander setzt, der Reversal-Theorie. Reversal-Theorie In den letzten Jahren haben Michael Apter (1989; siehe auch Frey, 1997) und seine Kollegen eine neue Theorie entwickelt, die ebenfalls das Konzept von Motivation als Mittel der Spannungsreduktion ablehnt. Stattdessen basiert ihre Theorie auf der Annahme von vier Paaren metamotivationaler Zustände:

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Zustände, die verschiedene Motivations-muster auslösen. Wie Tabelle 12.1 zeigt, stehen die Paare in Opposition zueinander. Die Theorie behauptet, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt jeweils nur einer der beiden gepaarten Zustände wirksam sein kann. Wenn Sie die Tabelle durcharbeiten, werden Sie sehen, wie jedes Paar motivationale Zustände definiert, die nicht miteinander vereinbar sind. Stellen Sie sich beispielsweise eine Situation in Ihrem Arbeitskontext vor. Sind Sie in dieser Situation motiviert, sich anzupassen oder unabhängig zu sein? Sind Sie motiviert, sich auf sich selbst oder auf andere zu konzentrieren? Die Theorie wird Reversal-Theorie genannt, weil sie versucht, menschliche Motivation mit Hilfe der Reversion - der Umkehr - vom einen in den anderen der jeweils entgegengesetzten Zustände zu erklären. Betrachten Sie den Gegensatz zwischen telischen und paratelischen Zuständen.

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Sie befinden sich in einem paratelischen Zustand, wenn Sie sich mit einer Aktivität beschäftigen, ohne ein spezifisches Ziel zu verfolgen, außer sich an dieser bestimmten Aktivität zu erfreuen; Sie befinden sich in einem telischen Zustand, wenn die Aktivität, mit der Sie sich gerade befassen, eine Bedeutung hat, die über jene des aktuellen Augenblicks hinausgeht. Sie sind beispielsweise jetzt gerade wahrscheinlich in einem telischen Zustand, wenn Sie dieses Buch lesen - Sie möchten sich die Inhalte aneignen, um bei einer Prüfung gut abzuschneiden. Wenn Sie jedoch eine Pause einlegen, um etwas zu essen oder sich eine neue CD anzuhören, sind Sie mit großer Wahrscheinlichkeit in einen paratelischen Zustand übergewechselt. Die Reversal-Theorie geht davon aus, dass man sich immer in einem der Zustände befindet, jedoch nie in beiden gleichzeitig. Eine besonders dramatische Form der Umkehrung zeigt sich bei Menschen, die Aktivitäten mit hohem Risiko, wie beispielsweise Fallschirmspringen, ausüben.

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Aus der Forschung DIE UMKEHRUNG VON ANGST ZU POSITIVER ERREGUNG Warum sollten Menschen freiwillig aus einem Flugzeug springen - und behaupten, sie täten dies aus Spaß? Aus der Perspektive der Theorie der Spannungsreduktion ist dieses Verhalten schwer zu verstehen, da die Antizipation des Sprungs die Spannung eher erhöht, als sie zu reduzieren. Die Reversal-Theorie nimmt hier an, dass die Erfahrung des Fallschirmsprungs einen Wechsel von einem telischen Zustand zu einem paratelischen Zustand bedeutet. Im telischen Zustand führt hohe Erregung - wie Sie sie empfinden würden, wenn Sie es in Betracht zögen, aus einem Flugzeug zu springen - zu Angst; im paratelischen Zustand wird starke Erregung dagegen als aufregend empfunden. Demnach würde bei einer Umkehrung von einem telischen in einen paratelischen Zustand bei demselben Erregungsniveau direkt ein Wechsel von großer Angst zu großer Freude erfolgen.

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Um die Existenz dieses sofortigen Wechsels zu belegen, erhoben Forscher Daten in zwei Fallschirmspringervereinen. Die Mitglieder berichteten über ihre Gefühle von Angst und positiver Erregung vor, während und nach den Sprüngen. Die Daten zeigen eine klare Reversion: In den Augenblicken vor dem Sprung empfanden sie Angst (jedoch keine positive Erregung); einen kurzen Moment, nachdem sich der Fallschirm geöffnet hat, sind sie sehr freudig erregt (jedoch nicht mehr ängstlich). Die Erregung verschwand nicht - sie erhielt eine andere Bedeutung, nachdem der Fallschirmspringer einen telischen in einen paratelischen Zustand umkehrte (Apter & Batler, 1997).

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Instinktverhalten und Lernen Warum verhalten sich Lebewesen in einer bestimmten Art und Weise? Ein Teil der Antwort liegt darin, dass bestimmte Aspekte des Verhaltens einer Spezies durch Instinkte gesteuert werden. Instinkte sind vorprogrammierte Verhaltenstendenzen, die für das Überleben der Art von grundlegender Bedeutung sind. Instinkte bieten ein Verhaltens-repertoire, das im Genmaterial jedes Lebewesens verankert ist. Lachse schwimmen Tausende von Kilometern zu genau jenem Fluss zurück, in dem sie aus ihren Eiern schlüpften, springen Wasserfälle hoch, bis sie am richtigen Platz angekommen sind, an dem die überlebenden weiblichen und männlichen Fische ihr ritualisiertes Werbe- und Paarungsverhalten ausführen. Die befruchteten Eier werden abgelegt, die Elterntiere sterben, und nach einiger Zeit schlüpfen die jungen Fische und schwimmen flussabwärts, um im Ozean zu leben.

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Sie leben dort, bis sie einige Jahre später zurückkehren, um ihre Rolle in diesem sich stetig wiederholenden Naturschauspiel zu übernehmen. Ähnlich bemerkenswerte Verhaltensweisen können von den meisten Tierarten berichtet werden. Bienen teilen anderen Bienen mit, an welchen Plätzen sich Nahrung befindet, Ameisenkolonien führen hoch synchronisierte Jagdexpeditionen durch, Vögel bauen Nester, Spinnen weben ihr kompliziertes Netz — genau so, wie es vor ihnen ihre Eltern und ihre Vorfahren taten. In frühen Theorien über menschliches Verhalten wurde die Bedeutung von Instinkten überschätzt. 1890 schrieb William James über seine Annahme, dass sich Menschen sogar stärker auf ihre Instinkte verlassen als andere Lebewesen (obwohl menschliche Instinkte gewöhnlich nicht nach festen Handlungsmustern ablaufen). Zu den biologischen Instinkten, die Menschen mit anderen Lebewesen gemein haben, treten noch soziale Instinkte wie Sympathie, Anstand, Geselligkeit und Liebe hinzu.

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Für James sind sowohl menschliche als auch tierische Instinkte zweckgerichtet - sie dienten wichtigen Zwecken oder Funktionen bei der Anpassung des Organismus an seine Umwelt. Sigmund Freud (1915) nahm an, dass Menschen Triebzustände erfahren, die aus Lebensinstinkten (hierzu zählt die Sexualität) und Todesinstinkten (hierzu zählt die Aggression) entstehen. Er glaubte, dass der Drang jener Instinkte psychische Energie zur Befriedigung körperlicher Bedürfnisse lieferte. Spannung entsteht, wenn diese Energie nicht abgebaut werden kann. Diese Spannung drängt Menschen zu Objekten oder Handlungen, die zum Spannungsabbau führen. Freud glaubte beispielsweise, dass Lebens- und Todesinstinkte unterhalb der Bewusstseinsgrenze agieren. Ihre Konsequenzen für bewusste Gedanken, Gefühle und Handlungen sind jedoch aufgrund der Art und Weise, in der Instinkte Menschen zu wichtigen Lebensentscheidungen motivieren, tiefgreifend.

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Bis 1920 hatten Psychologen eine Liste mit über 10.000 menschlichen Instinkten aufgestellt (Bernhard, 1924). Zum gleichen Zeitpunkt jedoch begann die Vorstellung, dass Instinkte die universelle Erklärung für alle menschlichen Verhaltensweisen sind, unter dem Gewicht kritischer Angriffe zu wanken. Kulturanthropologen wie Ruth Benedict (1959) und Margaret Mead (1939) fanden enorme Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen. Ihre Beobachtungen widersprechen den Theorien, die angeborene Instinkte als universell betrachten. Am abträglichsten für die frühen Annahmen über Instinkte waren jedoch empirische Belege, die zeigten, dass wichtige Verhaltensweisen eher erlernt als angeboren sind. Wir sahen in Kapitel 7, dass menschliche und andere Lebewesen sehr sensibel auf Kombinationen von Reizen und Reaktionen in ihrer Umwelt reagieren. Wenn Sie erklären möchten, warum ein Tier eine bestimmte Verhaltensweise zeigt und ein anderes nicht, ist es unter Umständen völlig ausreichend zu wissen, dass eines

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der Tiere für diese Verhaltensweise verstärkt wurde und das andere nicht. Unter diesen Bedingungen brauchen Sie keine separaten Annahmen über Motivation (das heißt, es wäre ein Fehler zu behaupten, ein Tier sei „motiviert" und das andere nicht). Erinnern Sie sich jedoch, dass wir in Kapitel 7 ebenso gesehen haben, dass die Verhaltensweisen, die Lebewesen am leichtesten lernen, teilweise durch artspezifische Instinkte vorbestimmt sind. Das heißt, jedes Lebewesen zeigt eine Kombination von erlernten und instinktiven Verhaltensweisen. Wenn Sie demnach danach gefragt werden, das Verhalten von Lebewesen zu erklären oder vorherzusagen, werden Sie zwei Dinge wissen wollen: Erstens etwas über die Geschichte der Spezies — welche adaptiven Verhaltens-weisen sind Bestandteil der Gene des Organismus? – und zweitens etwas über die persönliche Geschichte des Lebewesens - welche einmalige Kombination von Umweltfaktoren hat es in seinem Leben erfahren?

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In solchen Fällen liegt die Motivation in den Einflüssen vergangener Erfahrungen auf aktuelle Verhaltensweisen. Ein letzter Blick zurück auf Kapitel 7: Wir haben gesehen, dass kognitiv orientierte Wissenschaftler die Überzeugung in Frage gestellt haben, dass Instinkte und Verstärkung ausreichend sind, um alle Details tierischen Verhaltens zu erklären. Erwartungen und kognitive Ansätze der Motivation Betrachten Sie den Zauberer von Oz als eine psychologische Motivationsstudie. Dorothy und ihre drei Freunde strengen sich sehr an, um in die Smaragdstadt zu kommen. Sie überwinden alle Barrieren und bestehen gegen alle Feinde. Sie handeln so, weil sie erwarten, dass der Zauberer ihnen gibt, was ihnen fehlt. Stattdessen jedoch macht ihnen der wunderbare (und weise) Zauberer bewusst, dass nicht er, sondern immer schon sie selbst die Macht besessen haben, ihre Wünsche zu erfüllen.

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Für Dorothy ist Zuhause nicht einfach nur ein Ort, sondern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit bei Menschen, die sie liebt; es ist dort, wo ihr Herz ist. Der Mut, den sich der Löwe wünscht, die Intelligenz, nach der die Vogelscheuche strebt, und die Gefühle, von denen der blecherne Holzfäller träumt, sind Eigenschaften, die sie bereits besitzen. Sie dürfen sich diese Eigenschaften nicht als innere Voraussetzungen vorstellen, sondern als positive Aspekte ihrer existierenden Beziehungen zu anderen. Haben sie diese Eigenschaften nicht bereits auf ihrer Reise nach Oz gezeigt, einer Reise, die durch kaum mehr als eine Erwartung, eine Idee von einer zukünftigen Chance motiviert war, etwas zu bekommen, das sie sich wünschten? Der Zauberer von Oz war offensichtlich einer der ersten kognitiven Psychologen. Er erkannte die Bedeutung der menschlichen Denkprozesse bei der Bestimmung ihrer Ziele und der Verhaltensweisen, die sie zeigen, um sie zu erreichen. Heutige Psychologen untersuchen mit Hilfe kognitiver Analysen die Kräfte, die eine

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Vielzahl von persönlichen und sozialen Verhaltensweisen motivieren. Diese Psychologen teilen die Ansicht des Zauberers von Oz, dass bedeutsame menschliche Motivation nicht aus den objektiven Realitäten der externalen Welt entsteht, sondern aus der subjektiven Interpretation der Realität. Der verstärkende Effekt einer Belohnung bleibt aus, wenn Sie nicht erkennen, dass Ihr Verhalten der Auslöser war. Was Sie heute tun, ist oft durch Ihre Annahmen und Gedanken darüber gesteuert, wer oder was für vergangene Erfolge oder Misserfolge verantwortlich war, was Sie überhaupt tun können oder nicht und welchen Ausgang einer Handlung Sie erwarten. Kognitive Ansätze erklären, warum Menschen häufig durch Erwartungen zukünftiger Ereignisse motiviert werden. Die Bedeutung von Erwartungen bei der Motivation von Verhalten wurde von Julian Rotter (1954) in seiner sozialen Lerntheorie entwickelt. Für Rotter wird die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine bestimmte Verhaltensweise zeigen (für eine Prüfung zu lernen, statt auf eine Party zu gehen), durch Ihre

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Erwartungen bestimmt, das angestrebte Ziel (eine gute Note zu erhalten), das auf das Verhalten folgt, zu erreichen, und durch Ihre persönliche Bewertung dieses Ziels. Eine Diskrepanz zwischen Erwartungen und der Realität kann eine Person dazu motivieren, ihr Verhalten zu korrigieren (Festinger, 1957; Lewin, 1936). Wenn Sie beispielsweise feststellen, dass Ihr Verhalten nicht den Normen einer Gruppe entspricht, der Sie gerne angehören möchten, sind Sie vielleicht motiviert, Ihre Verhaltensweisen zu ändern, um besser in diese Gruppe zu passen. In welchem Bezug stehen Erwartungen zu den internalen und externalen motivationalen Kräften? Fritz Heider (1958) postulierte, dass das Ergebnis Ihres Verhaltens (beispielsweise eine schlechte Note) entweder disposi-tionalen Faktoren, wie beispielsweise fehlender Anstrengung und ungenügender Intelligenz, oder situationalen Faktoren, wie beispielsweise einem unfairen Test oder einer voreingenommenen Lehrkraft, zugeschrieben (attribuiert) werden kann. Diese Attributionen beeinflussen, wie Sie sich verhalten werden.

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Sie werden sich das nächste Mal vermutlich mehr anstrengen, wenn Sie annehmen, dass die schlechte Note ein Ergebnis Ihrer fehlenden Anstrengung war; Sie werden jedoch vielleicht aufgeben, falls Sie annehmen, sie wäre das Resultat eine ungerechten Beurteilung oder fehlender Kompetenz (Dweck, 1975). Die Identifikation einer Motivations-quelle als internal oder external kann demnach teilweise von Ihrer subjektiven Interpretation der Realität abhängen. Lassen Sie uns die verschiedenen Quellen der Motivation noch einmal zusammenfassen. Wir haben mit der Beobachtung begonnen, dass Wissenschaftler zwischen internalen und externalen Faktoren, die Verhalten auslösen, differenzieren. Triebe, Instinkte und Lernerfahrungen sind alles internale Quellen der Motivation, die sich beim Vorliegen passender externaler Reize auf das Verhalten auswirken. Wenn Lebewesen beginnen, über ihr Verhalten nachzudenken - wozu vor allem Menschen neigen -, entsteht Motivation auch durch Erwartungen darüber, was wohl passieren oder auch nicht passieren wird.

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Denkende Lebewesen können entscheiden, manche Formen der Motivation sich selbst zuzuschreiben und andere der Umwelt. Zusammenfassung Psychologen verwenden motivationale Konzepte, um die Biologie mit dem Verhalten zu verknüpfen, um die Variabilität des Verhaltens zu erklären, um innere Zustände aus offen gezeigtem Verhalten abzuleiten, um Handlungen Verantwortung zuzuweisen und zur Erklärung der Aufrechterhaltung von Verhaltensweisen auch gegen Widerstände. Motivationstheorien versuchen häufig zu erklären, welche motivationalen Kräfte aus internalen Quellen entspringen, also innerhalb des Organismus liegen, und welche aus externalen Quellen, wie umweltbedingten oder kulturellen Faktoren, die außerhalb des Organismus liegen. Die Triebtheorie betont die Bedeutung der Spannungsreduktion für die Motivation. Verhalten wird jedoch auch durch äußere Anreize motiviert, die von physiologischen Bedürfnissen unabhängig sind.

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Die Reversal-Theorie nimmt an, dass Motivation durch entgegengesetzte metamotivationale Zustände geleitet ist. Artspezifische Verhaltensweisen werden sowohl durch internale als auch durch externale Faktoren ausgelöst. Kognitive Motivationstheorien konzentrieren sich auf die Erwartungen der Menschen und ihre Einteilung der Welt in dispositionale und situationale Faktoren.

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Allgemeine Charakteristika der vier Paare metamotivationaler Zustände Telisch Ernst Zielorientiert Zieht es vor, vorauszuplanen Vermeidet Angst Wünscht sich Fortschritt und Leistung Konformistisch Fügsam Will Regeln einhalten Konventionell Freundlich Möchte sich anpassen Beherrschung Machtorientiert Betrachtet das Leben als Kampf Hart Bedürfnis nach Kontrolle Strebt nach Dominanz Autozentrisch In erster Linie um sich selbst besorgt Selbstzentriert Konzentriert auf die eigenen Gefühle Paratelisch Verspielt Tätigkeitsorientiert Lebt für den Augenblick Sucht Erregung Wünscht sich Spaß und Freude Negativistisch Rebellierend Will Regeln brechen Unkonventionell Verärgert

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Möchte unabhängig sein Sympathie Fürsorglich Betrachtet das Leben als Kooperation Sensibel Bedürfnis nach Freundlichkeit Wünscht sich Zuwendung Allozentrisch In erster Linie um andere besorgt Identifiziert sich mit anderen Konzentriert auf die Gefühle anderer