Vulnerable Spender
Transcript of Vulnerable Spender
Ethik in der Medizin© Springer-Verlag 2003DOI 10.1007/s00481-002-0206-1
Originalarbeit
Vulnerable SpenderEine medizinethische Studie zur Praxis der Lebendorganspende
Nikola Biller-Andorno (✉) · Henning Schauenburg
PD Dr. med. Dr. phil. N. Biller-AndornoEthics and Health, World Health Organization, Genf
H. SchauenburgAbteilung Psychosomatik und Psychotherapie, Zentrum Psychosoziale Medizin, UniversitätGöttingen
PD Dr. med. Dr. phil. N. Biller-AndornoEthics and Health, World Health Organization, 20, Avenue Appia, 1211 Genf 27, Schweiz✉ E-mail: [email protected]
Online publiziert: 28. Januar 2003
Zusammenfassung
Die Lebendorganspende entwickelt sich zunehmend zu einer wichtigen therapeutischen Option
in der Transplantationsmedizin. Trotz der Existenz eines normativ-rechtlichen Rahmens bleiben
medizinethische Fragen offen. Zu diesen zählen insbesondere 1) wer als Spender in Betracht
gezogen werden kann, 2) wie bezüglich der Möglichkeit der Lebendspende informiert werden
sollte und 3) wie sich eine angemessene medizinethisch-psychosoziale Spenderevaluation gestaltet.
Der Artikel stellt die Ergebnisse einer mittels Fragebogen durchgeführten Erhebung vor, die die
gegenwärtige Praxis in deutschen Transplantationszentren sowie die Ansichten von Klinikern im
Hinblick auf die genannten drei Themenbereiche zum Gegenstand hat. Diese empirischen Daten
bilden den Kontext für die im Anschluss formulierten medizinethischen Anregungen und
Empfehlungen zur Lebendorganspende in Deutschland.
Schlüsselwörter
Lebendorganspende · Transplantationsmedizin · Medizinethik · Umfrage · Deutschland
1
Abstract
Living organ donation is developing increasingly into an important therapeutic option in
transplantation medicine. In spite of the existence of a normative-legal frame, medico-ethical
questions remain open. Among these are in particular 1) who should be taken into consideration
as a donor, 2) how information concerning the possibility of living organ donation should be passed
on, and 3) what an adequate medical-psychosocial evaluation of potential donors should look like.
The paper presents the results of a survey based on questionnaires, which addresses the current
practice in German transplantation centers as well as the opinions of clinical practioners regarding
these three topics. The empirical data form the context for the formulation of medico-ethical ideas
and suggestions concerning living organ donation in Germany.
Keywords
Living organ donation · Transplantation medicine · Medical ethics · Survey · Germany
Diese Studie wurde im Rahmen des „Forschungsförderprogramms 2001“ der Medizinischen
Fakultät der Universität Göttingen gefördert.
Ein Erratum zu diesem Beitrag können Sie unter http://dx.doi.org/10.1007/s00481-003-0254-1
finden.
Obwohl aus historischer Perspektive keineswegs selbstverständlich, hat sich das therapeutische
Modell des Organersatzes seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend durchgesetzt [38, 39]. Heute
gilt die Transplantation innerer Organe als übliche Behandlungsmethode bei zahlreichen
schwerwiegenden Erkrankungen von Niere, Leber, Herz, Lunge und Pankreas. Zwar konnte durch
die Entwicklung wirksamer Immunsuppressiva ab den 1960er-Jahren die
Transplantat-Überlebensrate und damit die Prognose der Patienten entscheidend verbessert werden
[8, 18]. Zugleich sind jedoch auch die Wartelisten für eine Transplantation stetig angewachsen—bei
einer seit Jahren stagnierenden Zahl von Postmortalspenden ([44], Abb. 32). Im Jahr 1999 standen
in Deutschland fast 12.000 Patienten auf der Warteliste für eine Nierentransplantation; 2.275
Nierenübertragungen wurden durchgeführt, 322 Patienten mussten wegen ihres schlechten
Allgemeinzustands von der Liste genommen werden und 397 Patienten verstarben auf der Warteliste
[44].
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Angesichts dieser Situation ist die Lebendorganspende zu einer wichtigen therapeutischen
Alternative geworden. Die Zahl der Nierentransplantationen nach Lebendspende in Deutschland
ist von 83 im Jahre 1995 auf 380 im Jahre 1999 gestiegen, 16,7% aller in diesem Jahr erfolgten
Nierentransplantationen [44]. Die 1- und 5-Jahresfunktionsraten sind dabei signifikant besser als
nach der Transplantation postmortal gespendeter Nieren und betrugen im Beobachtungszeitraum
von 1985–1998 93 bzw. 78% [44]. Lebersegmente werden inzwischen an mindestens 7 deutschen
Zentren transplantiert [44]. Auch die Transplantation von Lungen-, Dünndarm- und
Pankreassegmenten wird zunehmend in Betracht gezogen [6].
Trotz logistischer, medizinischer und ökonomischer Vorteile der Lebendspende im Vergleich
zu Postmortaltransplantat oder Dialyse bleibt diese immer mit dem Dilemma behaftet, dass sie
einen nichttherapeutischen Eingriff an einem Gesunden erfordert, dessen Risiko, wenn auch
kalkulierbar, so doch nicht vernachlässigbar gering ist [29, 30]. Zumeist wird in der Literatur
allerdings auf die relativ niedrige perioperative Mortalitätsrate von 0,03% [29] sowie die in manchen
Studien aufgefundene erhöhte Lebensqualität der Spender im Vergleich zur
Durchschnittsbevölkerung hingewiesen [21, 49].
In den 1960er- und 70er-Jahren, als die Postmortalspende sich als therapeutische Option
etablierte, wurde die Lebendspende teilweise sehr skeptisch betrachtet. Angesichts der bestehenden
Alternative schien ein Eingriff am Lebenden schwer zu rechtfertigen. Darüber hinaus wurden
psychosoziale Argumente ins Feld geführt: In ihrer grundlegenden sozialwissenschaftlichen Kritik
sprechen Fox u. Swazey angesichts der Verpflichtungen und Verbindlichkeiten zwischen Spender
und Empfänger, die ein solches „gift of life“ hervorrufen kann, von der „Tyrannei des Geschenks“
[15]. Heute dagegen ist die Lebendorganspende weit gehend akzeptiert, trotz gelegentlicher
kritischer Presseberichte [34]. Auch die Spende von emotional verwandten Personen, die im ersten
Entwurf des Transplantationsgesetzes eigentlich untersagt werden sollte, stößt heute in der
Öffentlichkeit wie auch beim medizinisch-pflegerischen Personal auf weniger Vorbehalte als die
Postmortalspende [14, 47].
Die zunehmende Ausweitung der Lebendorganspende wurde von der Entwicklung nationaler
und internationaler ethisch-rechtlicher Regelungen begleitet. Der entsprechende normative Rahmen
für die Transplantationsmedizin in Deutschland wird vornehmlich durch folgende Dokumente
gestaltet: das Transplantationsgesetz [16], die Empfehlungen der Bundesärztekammer zur
Lebendorganspende [6], der Entwurf eines Zusatzprotokolls (zum Übereinkommen über
Menschenrechte und Biomedizin des Europarats) über die Transplantation von Organen und
Geweben menschlichen Ursprungs [25], die Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation zur
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Organtransplantation [50] sowie die Erklärung des Weltärztebundes von 1985 zum Handel mit
menschlichen Organen [48].
Die zentralen Inhalte dieser Regelungen umfassen im Hinblick auf die Lebendspende:
Volljährigkeit, Einwilligungsfähigkeit und medizinische Eignung des Spenders sowie
Verwandtschaft bzw. enge persönliche Beziehung zum Empfänger; außerdem die Freiwilligkeit
des Spendeangebots sowie das Nichtvorliegen von Organhandel, die durch eine im
Transplantationsgesetz verankerte Lebendspende-Kommission auf Länderebene zu prüfen sind.
Interessanterweise betonen sowohl das deutsche Transplantationsgesetz als auch das Protokoll
des Europarats und die WHO-Leitlinien die Priorität der Postmortalspende. Die Lebendorganspende
soll nur eine Ergänzung im Einzelfall darstellen, nicht aber eine gleichberechtigte therapeutische
Option: „Organe sollten in der Regel vom Toten entnommen werden.“ [50]. Angesichts der langen
Wartelisten ist aber eher mit einer weiteren Steigerung des Lebendspendeanteils zu rechnen, so
dass die Ausnahme möglicherweise zur Regel wird.
Im Zuge der Entwicklung der Lebendorganspende zu einer routinemäßig angebotenen
therapeutischen Option hat sich auch der Schwerpunkt der medizinethischen Diskussion auf die
Frage verlagert, nicht ob, sondern unter welchen Voraussetzungen eine Lebendorganspende
vertretbar ist [7, 43]. Doch können die zunehmende Alltäglichkeit einer Praxis, die Existenz eines
entsprechenden ethisch-rechtlichen Regelwerks sowie eines beachtlichen Fundus an
medizinethischer Fachliteratur [19] allzu leicht über offene Fragen hinwegtäuschen. Im Bereich
der Lebendorganspende kommen noch die meist eindrucksvollen therapeutischen Erfolge hinzu
wie auch die Tatsache, dass das Spendeangebot in der Tat in vielen Fällen nicht weiter ethisch
problematisch erscheint, z. B. wenn ein Vater seinem zwölfjährigen Kind, das an Nierenzysten
leidet, eine Niere spenden möchte, um ihm die Dialyse zu ersparen. Da es häufig die Spender sind,
die die Initiative ergriffen oder sogar gedrängt haben, wird leicht vergessen, dass sich in dieser
Gruppe auch Individuen befinden, die sich durch besondere Vulnerabilität—z. B. durch kognitive
Einschränkungen, emotionale oder materielle Abhängigkeiten oder ihr Rollenverständnis—und
damit Schutzbedürftigkeit auszeichnen.
In medizinethischer Hinsicht bedürfen zum derzeitigen Stand der Diskussion folgende Aspekte
besonderer Aufmerksamkeit:
1. Wer soll als Spender in Betracht kommen?
Während die Lebendspende in ihren Anfängen Eltern oder zumindest dem engen Familienkreis
vorbehalten war, hat sich der Kreis möglicher Lebendspender in letzter Zeit erweitert. Das
Transplantationsgesetz von 1997 erlaubt nicht nur die Spende an Familienangehörige, sondern
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auch an „Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig
nahe stehen“ (§ 8.1). Damit können auch Ehepartner und Freunde spenden. Im Jahr 1999 machten
Ehepartner 30%, nichtverwandte Personen immerhin 3% aller Nierenlebendspender aus [44].
Das Gesetz lässt zudem die Möglichkeit offen, dass sich die Verbundenheit erst aufgrund des
Spendewunsches bzw. des Organbedarfes entwickelt hat [35]. Anonyme Spenden sind hingegen
in Deutschland untersagt, im Gegensatz zu anderen Ländern wie den USA, in denen ähnlich
wie bei der Blutspende eine „non directed donation“ möglich ist [28]. Aus medizinethischer
Perspektive werden altruistische Spenden von Fremden kontrovers beurteilt [5, 13, 26]. Immer
wieder diskutiert wird auch die Frage, ob nicht ein Cross-matching zwischen Paaren zulässig
sein sollte, bei denen jeweils aufgrund einer Blutgruppeninkompatibilität eine Lebendspende
nicht möglich ist [37]. Mit kritischer Zurückhaltung wurden hingegen—zumindest im deutschen
Kontext—Anregungen aufgenommen, das Lebendspendeaufkommen durch eine Vergütung zu
erhöhen oder auch Minderjährige und Nichteinwilligungsfähige als Lebendspender zuzulassen
[10, 11, 17, 33].
2. Wie soll bezüglich der Möglichkeit der Lebendspende informiert werden?
Die Empfehlungen der Bundesärztekammer [6] beinhalten detaillierte Vorschläge zu den Inhalten
der Aufklärung eines potenziellen Spenders. Dennoch sind einige Aspekte bislang noch nicht
ausreichend thematisiert worden. Hierzu zählt die Frage, wie und von wem potenzielle
Lebendspender über diese Möglichkeit in Kenntnis gesetzt werden sollten. Angesichts der
Vorteile der Lebendorganspende gegenüber anderen Therapien ist angeregt worden, jeder
Nephrologe solle noch vor der Dialysepflichtigkeit eines progredient Nierenkranken „abklären“,
ob nicht ein Lebendspender in Frage käme [46]. Damit wird jedoch dem potenziellen Empfänger
die heikle Aufgabe aufgebürdet, nach einem Spender zu suchen bzw. diese Bitte an einen
Verwandten oder Freund heranzutragen. Ansonsten müsste der betreuende Arzt die
Vermittlerrolle übernehmen und möglicherweise geeignete Personen aus dem Verwandtenkreis
des Patienten ansprechen. In der Tat ist in den USA von manchen Stimmen für eine solche
„aktive Ermutigung“ („active encouragement“) von Spendern durch die
transplantationsmedizinischen Zentren selbst geworben worden [45]. Zwar ist es von ärztlicher
Seite der Wunsch verständlich, schwer kranken Patienten eine therapeutische Alternative bieten
zu können. Und in der Tat wissen Patienten und ihre Angehörigen oft nicht, dass eine
Lebendspende für sie in Frage kommt. Jedoch ist die Balance zwischen Information und
moralischem Zugzwang nicht immer leicht zu finden, besonders wenn ärztliche Autorität mit
dem Ratschlag verbunden ist.
5
3. Wie gestaltet sich eine angemessene medizinethisch-psychosoziale Spenderevaluation?
Auch Fragen der psychosozialen und medizinethischen Evaluation individueller Spendeangebote
haben in letzter Zeit verstärkt Beachtung gefunden [35, 36, 4]. Eine solche Evaluation soll vor
allem sicherstellen, dass die Voraussetzungen für eine freie und informierte Zustimmung gegeben
sind, psychosoziale Risiken identifizieren und finanziellen Gewinn als Motivation ausschließen.
Zwischen unproblematischen Spendeangeboten und offensichtlich ungeeigneten Spendern
existiert eine breite Grauzone. So können Einwilligungsfähigkeit und Freiwilligkeit nicht nur
durch kognitive Defizite oder ausgeprägte emotionale Abhängigkeit vom potenziellen Empfänger
kompromittiert sein. Auch die Beziehungsdynamik in der Familie bzw. dem Freundeskreis, die
soziale Situation des potenziellen Spenders sowie der kulturell-gesellschaftliche Kontext, der
z. B. einem Rollenträger bestimmte Fürsorgepflichten auferlegt, können die Akzeptabilität eines
Spendeangebots in Frage stellen [4]. In diesem Zusammenhang ist es von besonderer Bedeutung,
die praktischen Erfahrungen zusammenzuführen, die die jeweiligen Konsiliardienste im Bereich
der Psychosomatik und Medizinethik in ihren teilweise sehr elaborierten Evaluationsprogrammen
sammeln (vgl. z. B. [40]). Dies würde die Identifikation häufig auftretender
Konfliktkonstellationen und die Ausarbeitung angemessener prozeduraler Standards für die
Spenderevaluation erleichtern.
Die nachfolgend beschriebene Erhebung hat die gegenwärtige Praxis in deutschen
Transplantationszentren sowie die Ansichten von Klinikern im Hinblick auf die genannten drei
Themenbereiche zum Gegenstand. Sie möchte auf diese Weise zum empirischen Hintergrund der
darüber hinaus unverzichtbaren normativen medizinethischen Diskussion beitragen. Die im
Anschluss formulierten Beobachtungen und Anregungen können daher unmittelbaren Bezug auf
die Gegebenheiten und Desiderate im transplantationsmedizinischen Alltag nehmen.
MethodikIm März 2001 wurden an alle Transplantationszentren in Deutschland, die gemäß dem Bericht
der Deutschen Stiftung Organtransplantation 1999 Transplantationen von lebend gespendeten
Nieren oder Lebersegmenten durchführten [44], je zwei Fragebögen verschickt.1 Einer war an den
verantwortlichen Oberarzt der Klinik für Transplantationschirurgie, der andere an den jeweiligen
verantwortlichen Oberarzt bzw. Psychologen des Konsiliardienstes für die Transplantationsmedizin
gerichtet. Die Begleitschreiben, in denen zur Teilnahme an der Studie eingeladen wurde, wiesen
1 Eine Kopie der Fragebögen ist auf Wunsch bei den Verfassern erhältlich.
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auf das Forschungsdefizit zur Frage der Spenderevaluation und -auswahl wie auf die ethische
Komplexität mancher Spender-Empfänger-Situationen im Bereich der Lebendorganspende hin.
Als Ziel der Studie wurde die Erhebung von Informationen bezüglich der Praxis der
Spenderevaluation sowie zur Prävalenz konflikthafter Fallkonstellationen genannt, deren Vorliegen
Voraussetzung für eine kontinuierliche Verbesserung der Patientenversorgung ist. Den in diesem
Bereich tätigen Kollegen konnte somit eine zusätzliche Diskussionsgrundlage und möglicherweise
auch Entscheidungshilfe in Aussicht gestellt werden.
Der Rücklauf betrug nach acht Wochen 69% (27 von 39) bei den an die Transplantationschirurgen
versandten Bögen und 34% (13 von 382) bei denen, die an die psychosomatischen, psychologischen
bzw. psychiatrischen Konsiliardienste versandt worden waren. Die Erhebung erfolgte anonymisiert,
so dass ein systematischer Rückschluss auf die Absender nicht möglich war. Manche Kliniken
hoben jedoch von sich aus die Anonymität durch Stempel oder Unterschrift auf.
Die Daten wurden in Microsoft Excel erfasst. Bei der statistischen Auswertung stand der
explorative und deskriptive Charakter der Studie im Vordergrund, der—auch angesichts der relativ
geringen Anzahl an Fragebögen—eine Suche nach Korrelationen verschiedener Faktoren bzw.
Kausalzusammenhängen weder angemessen noch erforderlich erscheinen ließ.
Ergebnisse
Allgemeine Angaben
In den 27 Transplantationszentren, die an der Erhebung teilnahmen, wurden in den zwölf Monaten
vor der Befragung im Mittel zehn Nieren nach Lebendorganspende verpflanzt, wobei die Zahlen
zwischen einer Niere und 35 Nieren schwankten. Nur in drei der Zentren wurden Lebersegmente
transplantiert. Die 13 Konsiliardienste, die auf die Befragung geantwortet haben, stammen
vornehmlich aus der Psychosomatik und der Psychologie, in geringerem Umfang aus der Psychiatrie.
Sie haben im Jahr vor der Befragung ebenfalls durchschnittlich zehn Evaluationen für potenzielle
Nierenlebendspenden durchgeführt; zwei der Konsiliardienste gaben an, auch potenzielle
Lebersegment-Spender evaluiert zu haben.
2 Auf einem der Fragebögen war vermerkt, dass der betreffende Konsiliardienst für zwei
transplantationsmedizinische Kliniken in der gleichen Stadt zuständig ist. Auf diese Weise erklärt
sich die Diskrepanz der Gesamtzahl der Fragebögen.
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Kriterien für Spenderauswahl und Wahrnehmung der
Lebendorganspende
Für 96% aller befragten Transplantationschirurgen kommen Verwandte ersten Grades grundsätzlich
als Lebendorganspender in Betracht; 93% würden grundsätzlich auch Ehepartner akzeptieren,
82% Freunde, 52% entferntere Verwandte und 7% Personen, die den potenziellen Empfänger erst
anlässlich des Spendewunsches bzw. Organbedarfs kennengelernt haben. Eine anonyme Spende
käme für 52% der Befragten aus ethischer (nicht juristischer) Sicht in Frage. Dies steht in
interessantem Gegensatz zu der Tatsache, dass 89% der Transplantationschirurgen die Qualität
der Beziehung des Spenders zum Empfänger und 67% die Beziehungsdauer als wichtiges Kriterium
für ihre Entscheidung nannten, einen Spender zu akzeptieren. An anderen Kriterien wurden genannt:
Motivation zur Spende, Freiwilligkeit, Lebenssituation des Spenders (z. B. keine Mutter kleiner
Kinder), kein finanzielles Interesse an der Spende, Stressbewältigungsfähigkeit, kein
psychologischer Druck vom Empfänger sowie klinischer Zustand und Lebenserwartung des
Empfängers.
Bemerkenswert ist auch, dass die Mehrzahl der Transplantationschirurgen die Lebendorganspende
nicht nur als eine Möglichkeit verstehen, auf die dann zurückgegriffen werden sollte, wenn keine
anderen Optionen (z. B. Postmortalorgan) zur Verfügung stehen, wie dies eigentlich das deutsche
Transplantationsgesetz und internationale Regelungen vorsehen. Vielmehr wird die
Lebendorganspende von den meisten Chirurgen als eine in vielen Fällen therapeutisch überlegene
Option angesehen, die man umsetzen sollte, wenn ein Spendeangebot besteht. Über ein Viertel
der Transplantationschirurgen betrachtet die Lebendorganspende sogar als eine Option, deren
großer Nutzen für den Empfänger auch eine aktive Rekrutierung von Spendern rechtfertigt (Abb. 1).
Abb. 1. Wie sehen Sie die Lebendorganspende?
Information, „Rekrutierung“ und Ausstiegsoptionen
Die große Mehrzahl der Transplantationschirurgen berichten, dass nur 30–60% ihrer Patienten
oder weniger die Möglichkeit einer Lebendorganspende von sich aus ansprechen. Entsprechend
berichtet ein Viertel der Chirurgen, dass sie mehr als 60% ihrer Patienten empfehlen, nach einem
Lebendorganspender zu suchen. Fast die Hälfte der Chirurgen tut dies bei 30–60% ihrer Patienten.
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Ebenso spricht die Hälfte der Chirurgen in mindestens 30% der Fälle begleitende Verwandte bzw.
andere nahe stehende Personen direkt auf die Möglichkeit einer Spende an; nur 22% der Chirurgen
geben an, dies nie zu tun (Abb. 2).
Abb. 2. Wie vielen Ihrer Transplantationspatienten empfehlen Sie, nach einem Lebendspender zu suchen?
Auch bezüglich der Frage konkreter Ausstiegsoptionen bestehen unterschiedliche Ansichten.
So bietet ein Drittel der Transplantationschirurgen einem Spender, der unsicher wirkt und
signalisiert, dass er lieber zurücktreten möchte, ein medizinisches „Alibi“ an (z. B. „wegen
Bluthochdrucks nicht geeignet“). Über die Hälfte der Transplantationschirurgen tut dies hingegen
selten oder nie. An dieser Stelle zeigt sich, dass auch professionsintern medizinethisch relevante
Fragestellungen unterschiedlich beurteilt werden. Eine Diskussion dieser und ähnlicher Fragen,
vorzugsweise unter Einbeziehung von Patientenvertretern und möglicherweise mit dem Ziel der
Festlegung gemeinsamer Standards, wäre angesichts der zunehmenden Expansion der
Lebendorganspende dringend geboten (Abb. 3).
Abb. 3. Wie häufig bieten Sie einem unsicher wirkenden Spender ein medizinisches „Alibi“ an?
Der Evaluationsprozess
Gemäß den Angaben der Transplantationschirurgen werden nur 70% der potenziellen Spender
durch einen psychosomatischen, psychologischen oder psychiatrischen Konsiliardienst evaluiert;
bei den potenziellen Empfängern beträgt der Anteil sogar nur 52%. Die bei den
Landesärztekammern qua Gesetz eingerichteten Lebendspendekommissionen werden hingegen
von 89% der Transplantationszentren zugezogen. Zwei Zentren gaben an, zum Zeitpunkt der
Erhebung habe in ihrem Bundesland eine entsprechende Institution noch nicht existiert.
Der Zeitraum zwischen Beginn der Evaluation eines potenziellen Spenders und der
Transplantation beträgt im Schnitt einige Monate. Nur ein Drittel der Zentren gab an, der Zeitraum
würde nur einige Wochen betragen. Die psychosoziale Evaluation dauerte im Durchschnitt knappe
zwei Stunden, wobei die Angaben jedoch zwischen 30 und 300 Minuten schwankten. Die Zahl
der Termine variierte zwischen einem und fünf Terminen, mit einem Mittelwert von zwei Terminen.
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In der Regel wurden Spender und Empfänger sowohl zusammen als auch getrennt evaluiert, nur
je ein Konsiliardienst gab an, nur zusammen bzw. nur getrennt zu evaluieren. Eine
psychosomatische/ psychologische/psychiatrische Nachbetreuung von Spendern und Empfängern
ist gemäß der Angaben der Konsiliardienste jedoch eher selten: ein Drittel gab an, dass eine solche
Nachbetreuung nie erfolge, bei einem weiteren Drittel fand dies in höchstens 10% der Fälle statt,
und nur 15% der Konsiliardienste berichteten von einer Nachbetreuung aller Spender und
Empfänger.
Diese Daten sind insbesondere angesichts des Befundes bemerkenswert, dass die psychosozialen
Konsiliardienste nicht selten auf medizinethisch problematische Konstellationen bei den von ihnen
evaluierten Spendern und Empfängern treffen. Zwar wird das Vorliegen finanzieller Arrangements
zwischen Spender und Empfänger nur selten beschrieben, ebenso wie erhebliche kognitive
Beeinträchtigungen des Spenders. Jedoch gibt ein Drittel der Konsiliardienste an, häufig Fälle von
emotionaler oder materialer Abhängigkeit des Spenders vom Empfänger zu sehen. Spender, die
sich nicht aus altruistischen Motiven, sondern aus Schuldgefühlen heraus zur Spende anbieten
(z. B. angesichts ihres im Vergleich zum potenziellen Empfänger guten Gesundheitszustands)
werden von mehr als der Hälfte der Konsiliardienste mindestens gelegentlich gesehen. Auch Fälle,
in denen die Kommunikationsmöglichkeiten mit dem potenziellen Spender durch sprachliche oder
kulturelle Barrieren deutlich eingeschränkt waren, treten bei mehr als der Hälfte der Konsiliardienste
gelegentlich auf. Ein Drittel der Konsiliardienste gibt an, zumindest gelegentlich mit Spendern
konfrontiert zu sein, denen die Lebendspende von medizinischer Seite nahe gelegt worden war
(Abb. 4).
Abb. 4. Wie häufig haben Sie folgende Konstellationen bei Ihren Evaluationen angetroffen?
Weitere Konfliktkonstellationen, die von den psychosozialen Konsiliardiensten genannt wurden,
betreffen u. a. folgende Aspekte: ungenügende Auseinandersetzung mit einem möglichen Misserfolg
der Transplantation trotz medizinischer Aufklärung, Druck des familiären Umfelds, Angst vor
dem dominanten Spender und mangelnde Freiwilligkeit des Empfängers. Die vielfältigen denkbaren
medizinethischen Konfliktkonstellationen treten also durchaus in der Praxis auf.
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DiskussionWas die Möglichkeiten und Grenzen der angewandten Methodik betrifft, so ist bei der Diskussion
der explorative Charakter der Studie zu berücksichtigen. So konnten die Fragebogenergebnisse
eine erste Basis legen, die in einem nächsten Schritt vertieft werden kann, etwa durch ausführliche
Einzelinterviews. Eine weitere Einschränkung betrifft die Repräsentativität: Während sich der
Rücklauf der Fragebögen von den Transplantationschirurgen mit knapp 70% im üblichen Bereich
bewegt, lässt der relativ geringe Rücklauf von 34% bei den Antworten der Konsiliardienste nur
eingeschränkt quantifizierbare Aussagen zu. Mögliche Ursachen für den relativ geringen Rücklauf
bei der zweiten Gruppe sind der höhere zeitliche Aufwand bei der Bearbeitung, insbesondere bei
kleineren Zentren das Fehlen einer einzigen zuständigen Person für diese Aufgabe oder auch eine
fehlerhafte Adressierung. Während die Anschriften der Transplantationszentren leicht zu
recherchieren waren, erforderten die Anschriften der Konsiliardienste zahlreiche Telefongespräche,
wobei die Auskünfte auch z. T. mit Unsicherheiten verbunden waren.
Im Hinblick auf die Inhalte, die aus der Studie resultieren, sollen einige Aspekte herausgegriffen
werden, an die zum Teil auch Empfehlungen geknüpft werden sollen. Interessant ist erstens die
allgemeine Einstellung der befragten Transplantationsmediziner zur Lebendorganspende. In
Übereinstimmung mit der Prognose medizinjuristischer Experten [41] wird trotz der gesetzlich
vorgesehenen Subsidiaritätsklausel, die eine Lebendorganspende nur erlaubt, wenn zum gegebenen
Zeitpunkt kein Postmortalorgan zur Verfügung steht, die Lebendspende von einem erheblichen
Teil der Chirurgen nicht als „ultima ratio“, sondern als eine Möglichkeit betrachtet, die man
umsetzen sollte, wenn ein Angebot besteht oder die sogar eine aktive Rekrutierung rechtfertigt.
Auch in der Medizinethik ist übrigens eine restriktive Handhabung der Lebendorganspende mit
dem Argument der Missbrauchsverhütung umstritten [1].
Ein weiterer Punkt ist die Frage, wer als Spender in Frage kommen soll. In der Studie wurden
am häufigsten als Kriterium für die Akzeptabilität eines Spenders die Qualität der Beziehung zum
Empfänger sowie die Motivation zur Spende genannt. Nichtverwandte Spender (Freunde) scheinen
für fast ebenso viele der Befragten in Betracht zu kommen wie Verwandte ersten Grades oder
Ehepartner. Auf der anderen Seite erscheint der knappen Mehrzahl der Chirurgen auch eine
anonyme Spende aus ethischer Sicht akzeptabel. Das Transplantationsgesetz hingegen schließt
eine anonyme Spende aus. Sicherlich ist das Anliegen, eine Kommerzialisierung der Organspende
zu verhindern, in seiner Intention grundsätzlich unumstritten; zudem ist in pragmatischer Hinsicht
fraglich, wie viele Menschen aus rein altruistischen Motiven einem Unbekannten ein Organ zur
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Verfügung stellen würden. Dennoch macht die Studie nochmals auf die ambivalente Rolle von
Beziehungen aufmerksam, die zum einen zwar als eine moralische Voraussetzung für die
Lebendspende gesehen werden. Zum anderen können die Forderung nach Verbundenheit und das
Verbot der anonymen Spende aber nicht alle Möglichkeiten des Missbrauchs ausschließen; denn
gerade die Existenz enger Beziehungen kann Momente der Unfreiheit in die Entscheidung für
oder gegen die Spende hineintragen [5].
Was die Frage betrifft, wie bezüglich der Lebendspende informiert werden sollte, so besteht
für die Transplantationschirurgie das grundsätzliche Dilemma: je eher eine Lebendspende
durchgeführt wird, desto besser ist die Prognose für den Patienten,3 aber desto schwerer
ist—angesichts des noch relativ guten Gesundheitszustands des Empfängers—der Eingriff beim
Spender zu rechtfertigen. Die Wahl des angemessenen Zeitpunkts sowie das Ausmaß der
(Nicht)Direktivität des Gesprächs ist daher von besonderer Bedeutung. Nachdem gemäß den
Ergebnissen der Studie ein Großteil der Patienten das Thema der Lebendspende nicht von selbst
anspricht, wird dies nicht selten von den Ärzten übernommen, die entweder den Patienten
empfehlen, sich einen Spender zu suchen oder begleitende Verwandte durchaus auch selbst
ansprechen. Angesichts der ärztlichen Expertise und Autorität können sich Patienten oder potenzielle
Spender in diesem Fall leicht im Zugzwang fühlen. Daher wäre es von Vorteil, umfassend, aber
nichtdirektiv bezüglich der Möglichkeit einer Lebendspende zu informieren. Das Protokoll der
Cleveland Clinic, einer renommierten U.S.-amerikanischen Klinik mit großem
Transplantationsprogramm, formuliert für die Aufklärung bei der Lebersegment-Lebendspende
(„living donor liver transplantation“, LDLT): „Patients and their families have a right to full and
unbiased information regarding all transplant options including LDLT and the transplant team
shall not advocate for LDLT or take a proactive role in the recruitment of a suitable donor for the
patient“ [9].
Nach dem Aufklärungsgespräch sollte man sich in einem weiteren Schritt versichern, dass die
Informationen dem Spender tatsächlich auch bewusst geworden sind, insbesondere die jederzeit
bestehende Rücktrittsmöglichkeit. Des Weiteren kann es für den potenziellen Spender leichter
sein, etwaige Bedenken gegenüber einer Kontaktperson im Transplantationszentrum zu äußern,
die nicht zugleich der Behandler des Empfängers ist. Gerade während eines stationären Aufenthalts
könnte ein „donor advocate“ [47] im Sinne eines Ansprechpartners, an den sich Patienten im Falle
von Zweifeln vertraulich wenden können, eine positive Ergänzung darstellen. In jedem Fall sollte
3 Dies gilt insbesondere für die Lebersegment-Lebendspende.
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eine realistische Chance zum Rückzug des Spendeangebots ohne „Gesichtsverlust“ gewährleistet
bleiben. Von den Transplantationschirurgen, die den Fragebogen zurückgesandt haben, bieten
30% fast allen der potenziellen Spender ein medizinisches Alibi für einen Rücktritt an. Das bereits
zitierte Protokoll der Cleveland Clinic sieht in diesem Zusammenhang vor: „assuring the donor’s
privacy and confidentiality regarding the reasons associated with disqualification“ [9]. Dies ist
auch von medizinethischer Seite bekräftigt worden: „If it is true that family pressure is one of the
most obvious and real sources of a donor’s decision, then transplant centers ought to be willing
to offer a prospective donor the option of disqualification on medical grounds, even when none
exist, in order to ensure that donors understand that they can choose not to participate without
being stigmatized, ostracized or penalized.“ [7]. Zwar kann die Verwendung eines Alibis als
unehrlich kritisiert werden; auch wäre unter idealen Bedingungen eine offene Konfrontation des
Empfängers mit dem Rückzugswunsch des potenziellen Spenders vermutlich vorzuziehen. Doch
primär muss sichergestellt werden, dass ein potenzieller Spender keinen wie immer gearteten
Schaden durch seinen Rücktritt erfährt.
Die häufige Nennung von Spender-Motivation und Spender-Empfänger-Beziehung als Kriterium
für die Akzeptabilität eines Spendeangebots von transplantationschirurgischer Seite betont die
Bedeutung einer psychosozialen Evaluation potenzieller Spender. Dies entspricht in der Tat der
Praxis, wie sie durch die von den Konsiliardiensten zurückgesandten Fragebögen wiedergegeben
wird. Die Evaluation wird in den meisten Fällen durch Ärzte für Psychosomatik durchgeführt,
gefolgt von Psychologen und Psychiatern. Die Evaluationen vor der Lebendspende sind mit
durchschnittlich knapp zwei Stunden und zwei Terminen relativ ausführlich. Nach Angaben der
Chirurgen liegt zumeist zwischen Evaluationsbeginn und Transplantation ein Zeitraum von einigen
Monaten, der Zeit für ein mehrstufiges Verfahren lässt. Das Angebot mehrerer Termine ist
angesichts des Prozesscharakters der Entscheidungsfindung sicher vorteilhaft, ebenso wie die in
dem meisten Fällen erfolgende getrennte wie auch gemeinsame Evaluation von Spender und
Empfänger. Es darf auch nicht übersehen werden, dass nicht nur der Spender, sondern ebenso
auch der Empfänger Bedenken oder Rücktrittswünsche haben kann. Günstig wäre sicher auch eine
räumliche Trennung von der transplantationsmedizischen Abteilung, da ein anderes Umfeld eher
die Artikulation evtl. bestehender Zweifel oder Bedenken ermöglichen dürfte. Eine postoperative
Nachbetreuung schließlich erfolgt in weniger als einem Drittel der Fälle; dies gilt für Spender wie
Empfänger. Dies wäre jedoch nicht nur unter dem Versorgungsaspekt für die Patienten
wünschenswert, sondern auch, um die Wissensbasis bezüglich der medizinischen und
psychosozialen Implikationen der Lebendorganspende zu erweitern.
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Als Entscheidungsgrundlage für die Akzeptabilität eines Spendeangebots dienen also
Informationen aus dem medizinischen, dem psychosozialen und dem medizinethischen Bereich.
Im konkreten Fall sind diese Faktoren zu integrieren: Ist der Spender medizinisch geeignet? Passt
die Spende in seine Lebensplanung? Bestehen Bedenken im Hinblick auf Versicherung oder
Arbeitsplatz? Wie ist die Prognose für den Empfänger, welche therapeutischen Alternativen stehen
zur Verfügung? Wie sind der Nutzen für den Empfänger und das Risiko für den Spender im
Verhältnis zu sehen? Verstehen Empfänger und Spender die Tragweite der Entscheidung, oder
gibt es eine Tendenz, Risiken zu negieren und den Eingriff zu trivialisieren? Hatten beide eine
faire Chance, Bedenken zu artikulieren? Und schließlich: Ist der Informed Consent in irgendeiner
Weise eingeschränkt? Wie die Umfrage bei den psychosomatisch-psychologischen Konsiliardiensten
gezeigt hat, kommen manche der beschriebenen problematischen Konstellationen in der Tat nicht
selten vor, besonders die emotionale bzw. materielle Abhängigkeit des Spenders vom Empfänger,
eingeschränkte Kommunikationmöglichkeiten aufgrund sprachlicher oder kultureller Barrieren
und Schuldgefühle als Bestandteil der Spendermotivation.
Diskussionen im interdisziplinären medizinisch-pflegerischen Team können helfen, solche
problematischen Fälle zunächst als solche zu erkennen und dann nach einer Lösung zu suchen.
Jede Evaluation wird, auch bei den besten Intentionen, an bestimmte Grenzen stoßen, z. B. wenn
ein potenzieller Spender bewusst Informationen bezüglich seiner medizinischen Vorgeschichte
zurückhält oder einen falschen Eindruck bezüglich seiner Beziehung zum Empfänger vermittelt
[31]. Doch ist auch hier der Rahmen eines regelmäßigen interdisziplinären Austauschs von
Klinikern, Personen mit Expertise in psychosozialen Fragen und Medizinethikern geeignet, um
die spezifischen Möglichkeiten und Grenzen des jeweiligen Evaluationsverfahrens von
Lebendorganspendern zu diskutieren und ggf. Konsequenzen für die künftige Praxis zu ziehen.
Abschließende Überlegungen und AusblickIn Deutschland sind zentrale Aspekte der Lebendorganspende gesetzlich sowie durch Empfehlungen
der Bundesärztekammer geregelt. Dennoch erfordern die täglichen klinischen
Einzelfallentscheidungen zusätzliche medizinethische Reflexionen. Die vorgestellte Studie ist nur
ein erster, explorativer Schritt hin auf eine umfassende Diskussion der gegenwärtigen Praxis in
deutschen Transplantationszentren. Dabei sollte diese Diskussion nicht von der Ethik an die
Medizin herangetragen werden. Konstruktiver und aussichtsreicher wäre vielmehr eine gemeinsame
Anstrengung mit dem Ziel einer kontinuierlichen Verbesserung der Patientenversorgung bzw. der
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bewussten Erhaltung eines hohen Standards. Wünschenswert wäre außerdem eine stärkere
Beteiligung der Pflege bei der Diskussion dieser Themen. Die in der ambulanten und stationären
Versorgung tätigen Schwestern und Pfleger haben oft eine hervorragende Kenntnis sowohl der
individuellen psychosozialen Situation der einzelnen Patienten wie auch einen scharfen Blick für
etwaige Unzulänglichkeiten des Evaluationsprozesses.
Trotz der Existenz empirischer Studien zu psychologischen, soziologischen anthropologischen
und juristischen Implikationen der Lebendorganspende, im nationalen wie auch im internationalen
Kontext [42, 24, 12, 23], besteht weiterhin Forschungsbedarf. Dieser liegt zum einen in der sich
wandelnden Praxis begründet, so wäre z. B. eine Evaluation der Arbeit der neu gegründeten
Lebendspende-Kommissionen auf Länderebene ein interessanter Aspekt, und zum anderen in der
Komplexität der Einzelfallentscheidungen, die sich nicht auf eine rein deduktive Anwendung
allgemeiner Prinzipien reduzieren lässt [2].
Von besonderer Bedeutung ist, sich der Vulnerabilität jedes Individuums bewusst zu bleiben,
die auch den Lebendorganspender und nicht nur den potenziellen Empfänger betrifft, dessen
physisches Leiden einen offensichtlicheren Indikator für Verletzlichkeit und daher
Schutzbedürftigkeit darstellt. Jenseits der individuellen Situation ist bei den Spendern auch auf
gruppenspezifische Vulnerabilitäten zu achten. Ein Beispiel hierfür ist das deutliche Überwiegen
weiblicher Lebendspender, das in einer kanadischen Studie dokumentiert ist [51], sich aber auch
in anderen nationalen und internationalen Datenbanken (z. B. der Deutschen Stiftung
Organtransplantation und Eurotransplant) nachvollziehen lässt [3]. Eine denkbare Erklärung ist,
dass das Rollenverständnis der fürsorgenden Ehefrau oder Mutter Entscheidungen für eine Spende
vorstrukturiert. Selbstverständlich soll niemandem, der einem nahe stehenden Menschen ein Organ
spenden möchte, aus einem unangemessenen Protektionismus heraus ein solcher Wunsch verweigert
werden. Dennoch muss die individuelle Entscheidungsfreiheit durch ein entsprechend sensibles
Evaluationsverfahren gewährleistet bzw. nach Möglichkeit sogar befördert werden. Nur unter
dieser Voraussetzung lässt sich der inhärente medizinethische Konflikt der Lebendorganspende
angemessen lösen: Der Versuch, Wartelisten zu verkürzen und damit der Versorgung nieren- und
leberkranker Patienten besser gerecht zu werden, darf nicht auf Kosten des Schutzes individueller
potenzieller Lebendspender gehen.
Danksagung Herzlichen Dank an Frau Dipl.-Psych. Birgit Reichardt, die uns als wissenschaftliche
Hilfskraft bei der Durchführung des Projekts unterstützt hat. Frau Anna Jakovljevic, M.A. danken
wir für ihre Hilfe bei der Formatierung des Manuskripts. Ebenso geht unser Dank an die Kollegen
15
in der Transplantationsmedizin und im psychosomatischen, psychologischen oder psychiatrischen
Konsiliardienst, die freundlicherweise an unserer Befragung teilgenommen haben.
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