Warum stirbt Recha nicht, oder die familiären …...4.1 Fabel 31 4.2 Tugend 31 4.3 Erziehung 35 4.4...

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5 Universiteit Gent Academiejaar 2009-2010 Warum stirbt Recha nicht, oder die familiären Beziehungen in Lessings Miß Sara Sampson, Emilia Galotti und Nathan der Weise. Promotor: Prof. Dr. J. De Vos Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van Master in de Taal- en Letterkunde: Duits-Engels door Judith Penning

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Universiteit Gent Academiejaar 2009-2010

Warum stirbt Recha nicht, oder die familiären Beziehungen in Lessings Miß Sara Sampson, Emilia Galotti und Nathan der Weise. Promotor: Prof. Dr. J. De Vos Verhandeling voorgelegd aan de

Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van

Master in de Taal- en Letterkunde: Duits-Engels

door

Judith Penning

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Ich möchte allen danken, die mir bei der Erstellung dieser Magisterarbeit geholfen

haben.

Zuerst danke ich Prof. Dr. Jaak De Vos. Seine konstruktive Kritik hat mir in dieser

Arbeit sehr geholfen. Ich möchte ihm auch danken, weil er mir geholfen hat, zu allen

nötigen Büchern zu gelingen.

Zweitens danke ich den Dozenten des Fachbereichs Deutsch, für die gute Ausbildung

und Betreuung.

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Inhalt: 1. Einleitung 5 2. Aufklärung 7 3. Miß Sara Sampson 13 3.1 Sara und Sir William 13 3.2 Vater/Gott-Beziehung 16 3.3 Egoismus 18 3.4 Mellefonts Familie 20 3.5 Wiedervereinigung 25 3.6 Zwei-Väter-Familie 26 3.7 Zeitgeist 28 4. Emilia Galotti 31 4.1 Fabel 31 4.2 Tugend 31 4.3 Erziehung 35 4.4 Religion 39 4.5 Der abwesende Vater 39 4.6 Mord 42 4.7 Besitzdenken 44 4.8 Hof 45 4.9 Apianni 48 4.10 Negatives Frauenbild 50 5. Nathan der Weise 52 5.1 Vater-Tochter-Liebe 52 5.2 Religion 53 5.3 Erziehung 56 5.4 Eindringlinge 60 5.5 Saladin 61 5.6 Besitzdenken 63 5.7 Ende 64 5.8 Ringparabel 65 5.9 Frauen 66 6. Synthese 69 7. Bibliographie 76 7.1 Primärliteratur 76 7.2 Sekundärliteratur 76

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1. Einleitung

Wie die Vater-Tochter-Beziehung in Lessings Nathan der Weise sich darstellt,

habe ich bereits in meiner Bachelorarbeit untersucht. Für meine Magisterarbeit möchte

ich zusätzlich tiefer eingehen auf die familiären Beziehungen – im Besonderen auf die

Vater-Tochter-Beziehung – in noch zwei anderen Dramen von Lessing, nämlich: Miß

Sara Sampson und Emilia Galotti. Nathan der Weise ausgenommen sind die anderen

zwei Werke Tragödien, insbesondere Familientragödien. In Miß Sara Sampson und

Emilia Galotti wird die Tragödie vor allem dadurch verursacht, dass die Väter die

Tugend ihrer Töchter zu stark betonen. Beide Frauen sterben denn auch am Ende des

Dramas: die eine (Sara) hat ihre Tugend aufgegeben, die andere (Emilia) stirbt, weil sie

Angst hat, sonst ihre Tugend aufzugeben. Auf den ersten Blick sieht es so aus, dass Miß

Sara Sampson und Emilia Galotti mehr mit einander gemeinsam haben, als mit Nathan

der Weise. Aber ist dem auch wirklich so? Das möchte ich in dieser Magisterarbeit

herausfinden.

Alle Dramen sind an einem verschiedenen Ort situiert, aber das zeitliche Setting

ist analog. Nathan der Weise ist zum Beispiel scheinbar im Mittelalter situiert, denn

Lessing wollte auf diese Weise im Stande sein, Kritik an dem eigenen Zeitalter zu üben.

Ich habe mich für diese drei Dramen entschieden, weil sie einen unterschiedlichen

Blick auf eine Familienbeziehung darstellen. Alle handeln sie über Väter, die versuchen

– in Bezug auf ihre Töchter – moralisch gut zu handeln und darin scheitern.

Zuerst möchte ich sozial-historisch untersuchen, wie die Familie in der Zeit der

Aufklärung gebildet war und wie sich die Familienmitglieder zu einander verhielten.

Ich interessiere mich besonders dafür, wie die Erziehung der Kinder organisiert war.

Bekamen auch die Töchter eine gute Erziehung? Und wie stand es in dem Zeitalter der

Mündigkeit und der Aufklärung mit der Mündigkeit der Frauen?

Dann werde ich in chronologischer Abfolge auf jedes Werk tiefer eingehen, um zu

überprüfen, ob Lessings Darstellung der Familie auch mit der Wirklichkeit des

achtzehnten Jahrhunderts übereinstimmt oder davon abweicht.

Danach werde ich in der Synthese versuchen eine Antwort auf die Initialfrage dieser

Magisterarbeit zu formulieren. Leitfragen sind dabei: Gibt es einen Unterschied in der

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Art und Weise, wie die Eltern mit den Kindern umgehen, und macht es einen

Unterschied, ob sie die biologischen oder Adoptiveltern sind?

Ich habe auch bemerkt, dass die Muttergestalten in diesen Dramen ziemlich negativ

anmuten. Wir sollen uns fragen, aus welcher Perspektive die Mütter als negativ

dargestellt werden. Ist es Lessings Sichtweise? Oder die der autoritären Väter?

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2. Aufklärung

In der Aufklärung war man davon überzeugt, dass eine gute Erziehung nützlich

war. Die Bildung sollte vor allem den Personen ermöglichen, auf rationelle Weise mit

sich selbst und der Welt umzugehen.1 Fiedel betrachtet die Erziehung so: “Das Ziel ist

also, das Kind zu einem selbständigen, handlungs- und entscheidungsfähigen

Erwachsenen zu erziehen und man hatte erkannt, daß dies durch eine konsequente aber

sanfte Führung besser möglich ist als durch eine straffe, unnachgiebige Erziehung.”2

Man will also aus dem Kind auf sanfte Weise einen denkenden Erwachsenen bilden.

Wurst bemerkt innerhalb der Familie eine Verschiebung von physischer nach

psychischer Gewalt durch den Vater, um seine Autorität gelten zu lassen: “Auch wenn

die Durchsetzung seines Willens nicht mehr durch Schläge, sondern durch

psychologische Motivierung erfolgt, so ist und bleibt doch sein Wille

ausschlaggebend.”3

Eine andere wichtige, doch sehr absolute Sicht der Erziehung, finden wir bei Kant: “Der

Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was Erziehung aus

ihm macht.”4 Kant behauptet, dass der Mensch erst Mensch wird, indem er sich bildet.

Aber hatten Männer und Frauen damals dieselbe Chance auf eine Erziehung?

Es fällt nämlich beim Lesen der Sekundärliteratur auf, dass die Erziehung, welche die

Frauen bekamen, der Bildung der Männer untergeordnet war. Heidi Ritter äußert sich

deshalb ziemlich negativ über die “weibliche” Erziehung: “Die Bildung der Frau ist

sekundär, sie ist ihr zugestanden vom Mann als Ausdruck der von ihm erreichten

Humanität, er bestimmt deshalb auch das Ausmaß dieser Bildung und ihre Formen”5.

Die Frauen können also doch eine Erziehung erhalten, aber was und wie viel sie lernen

1 Braeckman, Johan: Historisch Overzicht van de wijsbegeerte. Universiteit Gent: Academiejaar 2005-2006, S. 101 2 Fiedel, Simone: Familie und Vertrauen in Lessings Dramen. Emilia Galotti, Nathan der Weise und Miß Sara Sampson. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2008, S. 21-22 3 Wurst, Karin: Familiale Liebe ist die ‘wahre Gewalt’. Die Repräsentation der Familie in G.E. Lessings dramatischem Werk. Amsterdam: Rodopi 1988, S. 49 4 Kant, Immanuel: “Über Pädagogik.” Hg. v.d Friedrich Theodor Rink (1803). In: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 6 Darmstadt 1966, S. 699 5 Ritter, Heidi: “Der Diskurs über die Tugendhaftigkeit des Weibes. Frauenbilder und Weiblichkeitsmuster in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Aufklärung und Spätaufklärung.” In: Aufklärung nach Lessing. Beiträge zur gemeinsamen Tagung der Lessing Society und des Lessing-Museums Kamenz aus Anlaß seines 60jährigen Bestehens. Hg. von Wolfgang Albrecht, Dieter Fratzke und Richard E. Schade. Kamenz: Schriftenreihe des Lessing-Museums Kamenz 1992 S. 58

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können, wird immer von Männern bestimmt. Laut Ritter war es aber auch nicht die

Absicht, dass Frauen vieles Wissen besaßen, denn “[d]er Beruf des Weibes dagegen

liege im häuslichen Zirkel: dort ist sie Gattin, Mutter, Hausfrau.”6 Dafür brauchten sie

nicht dieselbe Kenntnis wie die Männer. Die Männer sind aber nicht nur Väter, sie

haben daneben auch noch einen Beruf: “Im patriarchalisch orientierten 18. Jahrhundert

war der Vater wohl das Bindeglied, das die Familie und die Außenwelt gleichsam

zusammenführte. Er war ja der einzige, der die – vermeintliche – Geborgenheit der

Familie zeitweilig hinter sich ließ.”7 Die Frauen brauchen also – nach Männersicht –

nur häusliche Kenntnisse. Die Männer gingen davon aus, dass die Frauen, die das Haus

nur kaum verließen, auch keine außerhäuslichen Kenntnisse benötigten. Mit diesen

unterschwelligen Gedanken ist es leicht verständlich, dass die Frauen nicht sehr

mündig, ja sogar unmündig waren.

Über die Unmündigkeit hat Kant folgendes geschrieben:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.8

Wenn man unmündig ist, ist das also nicht, weil man dumm ist, sondern weil man es

einfach nicht wagt, für sich selbst zu sprechen und nachzudenken. Wie das auf Frauen

zutrifft, verdeutlicht ein anderes Zitat von Kant:

Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den

Schritt zur Mündigkeit außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte:

dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich

genommen haben.9

Weil der Vater als Einziger Kontakt mit der Außenwelt hat, ist es nicht verwunderlich,

dass er in diesem patriarchalischen Zeitalter der Vormund und Wortführer der Tochter

ist. Die Töchter können also schon den Verstand haben (obwohl sie – wie oben gesagt –

6 Ritter, S. 61 7 Dalemans, Jacques: Bild und Rolle des Hausvaters im frühen deutschen bürgerlichen Drama unter besonderer Berücksichtigung von Gellerts Zärtlichen Schwestern (1747) und Lessings Miss Sara Sampson (1755). Vrije Universiteit Brussel: Academisch Jaar 1982-1983, S. 131 8 Kant, Immanuel: “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” In: Was ist Aufklärung. Thesen und Definitionen. Hg. von Ehrhard Bahr. Stuttgart: Reclam 1994, S. 9 9 Kant, S. 9

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nur eine geringe Bildung erhalten), aber sie wagen es nicht, für sich selbst zu sprechen.

Christa Kersting betont dies auch in ihrem Beitrag Höhere Mädchenbildung und Staat

in Deutschland vom 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert: “Geist blieb Privileg des

Mannes.”10

Erstaunlich genug finden wir diese Einschränkung auch bei Kant wieder. Kant,

der sich öfters mit der – seiner Meinung nach – idealen Bildung beschäftigt hat, hat sich

in seiner erzieherischen Theorie (im Jahre 1803 erschienen) hauptsächlich an Männer

gerichtet: “The individual for whom he [Kant] lays down rules positively is the boy.”11

Dies ist doch merkwürdig, denn laut Kant hatten die Frauen Schuld an der eigenen

Unmündigkeit, weil sie nicht für sich selbst dachten. Aber wie hätten sie das machen

sollen, ohne Erziehung?

In seiner Einleitung zur erzieherischen Theorie Kants verdeutlicht Edward Franklin

Buchner, weshalb Kants Ideen nicht auf Frauen Beziehung haben: “Kant’s failure

properly to conceive of, and to discuss, the education of girls is closely connected with

his conception of woman. As early as 1764 we find expression of his idea of the nature

of woman, and outlines of what the education of girls should be. “The fair sex has

understanding, just the same as the masculine; it is only a beautiful understanding; ours

[of the men] should be a deep understanding.” ”12

Kant wirft den Frauen also vor, dass sie nicht ihre eigene Vernunft verwenden (und

folglich in der Unmündigkeit stecken bleiben), während er seine Theorie nur an Männer

richtet. Christiane Bohnert kritisiert im folgenden Zitat mit Recht die doppelte Haltung

der Aufklärer über die Stellung der Frau im achtzehnten Jahrhundert:

Die Aufklärung ist schließlich das Eiserne Zeitalter der Heuchelei, als die schreibende Elite

an der Oberfläche Humanität und Toleranz fordert, während sie auf einer tieferen Ebene im

Sinne des weißen, heterosexuellen Mannes Anderssein unterdrückt , die Anderen seien

Frauen oder Minderheiten.13 (Meine Hervorhebungen)

10 Kersting, Christa: “Höhere Mädchenbildung und Staat in Deutschland vom 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert ”. In: Staat und Erziehung in Aufklärungsphilosophie und Aufklärungszeit. Hg. Von Fritz-Peter Hager und Dieter Jedan. Bochum: Winkler 1993, S. 125 11 Buchner, Edward Franklin: Introduction zu The educational theory of Immanuel Kant. Hg. von Edward Franklin Buchner. New York: AMS Press 1971, S. 84 12 Buchner, S. 85 13 Bohnert, Christiane: «“Wer käme schon ohne seinen Kant aus?” Praktische Vernunft in den achtziger Jahren. In: Aufklärung nach Lessing. Beiträge zur gemeinsamen Tagung der Lessing Society und des Lessing-Museums Kamenz aus Anlaß seines 60jährigen Bestehens. Hg. von Wolfgang Albrecht, Dieter Fratzke und Richard E. Schade. Kamenz: Schriftenreihe des Lessing-Museums Kamenz 1992, S. 194

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Sie geht weiter:

Der aufklärerische Diskurs über Frauen, Juden und Minderheiten war diskriminatorisch

insofern, als selbst von denen, die das Recht dieser Gruppen auf Gleichberechtigung

anerkannten, die Ausübung dieses Rechts von einem zunächst zu erzielenden Grad an

Aufklärung abhängig gemacht wurde, d.h., die Mitwirkung hing nicht an der Anerkenntnis

von Anderssein durch die Aufklärer, sondern an der Anpassung der Anderen an die

Aufklärer.14

Bohnert wirft den Aufklärern eine doppeldeutige Haltung vor: einerseits geben die

Männer den Frauen die Schuld daran, dass sie nicht nachdenken; andererseits geben sie

den Frauen nicht die Gelegenheit, zu lernen und den eigenen Geist zu entwickeln.

Folglich waren nur Männer in der Möglichkeit sich aufzuklären.

Inge Stephan pflichtet Bohnerts These bei: “Spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts

zeigte es sich, daß z. B. die Gleichheitsforderung nicht für alle galt, nicht für die

unteren Volksschichten und nicht für die Frauen. Diese waren in die Formel vom freien

und mündigen Bürger nicht eingeschlossen.”15 (Meine Hervorhebung)

Nicht nur blieben die Frauen unmündig, sie hatten auch in der öffentlichen Welt

(und meistens auch zu Hause) keine Macht. Susan Cocalis führt die Idee in ihrem

Beitrag Der Vormund will Vormund sein: zur Problematik der weiblichen

Unmündigkeit im 18. Jahrhundert aus: “Da auch in der Bibel steht, daß die Frau

schwach und von Affekten beherrscht sei (Sündenfall), wurde sie für unmündig

gehalten, und ihre Interessen mußten in der Öffentlichkeit von ihrem Vater, Mann oder

Vormund vertreten werden.”16

Wenn wir Cocalis’ Aussage lesen, bemerken wir, wie real das familiäre Bild ist, dass

Lessing uns in Miß Sara Sampson und Emilia Galotti präsentiert: “Denn nirgends im

18. Jahrhundert kommt man darüber hinweg, das Weib als jemand zu sehen, der sich

dem Urteil, wenn nicht dem Befehl, ihres Vaters oder ihres Mannes fügen mußte.”17

14 Bohnert, S. 194 15 Stephan, Inge: ““So ist die Tugend ein Gespenst” Frauenbild und Tugendbegriff im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller.” In: Lessing Yearbook XVII Hg. Von Richard E. Schade Detroit: Wayne State University Press 1986, S. 6. Auf: http://books.google.com/books?id=K5zxyikoEbgC&pg= PA1&dq=inge+stephan+lessing&hl=nl&cd=1#v=onepage&q=inge%20stephan%20lessing&f=false 16 Cocalis, Susan L.: “Der Vormund will Vormund sein: Zur Problematik der weiblichen Unmündigkeit im 18. Jahrhundert.” In: Gestaltet und Gestaltend. Frauen in der deutschen Literatur. Hg. von Marianne Burkhard. Amsterdam: Rodopi N.V. 1980, S. 36-37 17 Cocalis, S. 49

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Anz und Kanz ergänzen: “Auch im juristischen Sinne waren sie [die Frauen] von

Vätern, Ehemännern, Brüdern oder anderen männlichen Vormundgestalten abhängig”18.

Jetzt möchte ich näher eingehen auf die Art und Weise, wie die Eltern, und vor

allem die Väter, mit den Kindern umgingen. So lesen wir mehrfach, dass in dieser

Erziehung sowohl Frauen als auch Männer den Eltern (und vor allem dem Vater)

untergeordnet waren:

Mit religiöser Fundierung der Familie bei LESSING ist eigentlich eine strukturell

lutherische gemeint, in der es eine strenge Hierarchie gab, in der der Vater sich an der

Spitze, die Kinder sich an der Grundlinie der Pyramide befanden, genau wie der König sich

am positivsten Zeigerende, und die Bürger sich am negativsten Ende der gesellschaftlichen

Wertschätzungsskala ansiedelten. Kind wie Bürger waren ihrem jeweiligen Herrn

Gehorsam verschuldet.19 (Meine Hervorhebung).

Die Kinder sollen nicht nur Gehorsam üben, sie sollen auch immer erkennen, dass der

Vater der Patriarch ist: “Es war also der pater familias, der auf empfindsame Weise

versuchte, näher auf die Probleme seiner Kinder einzugehen, der es aber nicht duldete,

daß seine Kinder entgegen dem patriarchalischen Prinzip eigenen Spielraum zur Lösung

ihrer Probleme eroberten.”20 Der empfindsame Aspekt der väterlichen Liebe, dem wir in

diesem Kapitel schon begegnet sind, war also ziemlich zu vernachlässigen. Auch

Sørensen hat diese doppeldeutige Haltung bemerkt: “Hinter dem Schleier von Rührung

und Zärtlichkeit blieb aber nach wie vor die Herrschaft des Hausvaters unangetastet.”21

Es ist also klar, dass die Familie in dem achtzehnten Jahrhundert durch den

Patriarchalismus gekennzeichnet wird, so bestätigt auch Lorey: “Dabei gehört die

strenge patriarchalische Gliederung der Familie der sozialen Wirklichkeit an.”22

Nicht nur hatten die Männer in der realen Welt den Vorteil der Mündigkeit, auch

die Art und Weise, wie sie in der Literatur charakterisiert wurden, war positiver, als die

der Frauen. Frauen spielten selten eine wichtige Rolle in der Literatur, “[v]or allem 18 Kanz, Christine; Anz, Thomas: “Familie und Geschlechterrollen in der neueren deutschen Literaturgeschichte. Fragestellungen, Forschungsergebnisse und Untersuchungsperspektiven” (Teil I + Biographie). In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 32 2000, S. 26 19 Dalemans, S. 49-50 20 Dalemans, S. 51 21 Sørensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München: Verlag C. H. Beck 1984, S. 40 22 Lorey, Christoph: Lessings Familienbild im Wechselbereich von Gesellschaft und Individuum. Bonn: Bouvier Verlag 1992, S. 16

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dann nicht, wenn sie im Zentrum von Texten männlicher Autoren, und erst recht nicht,

wenn sie im Zentrum des Familiendramas stehen.”23 Gustafson bestätigt diese Aussage:

“Lessing insists in the Hamburgische Dramaturgie that titles are not the “Küchenzettel”

[bill of fare] that outline the major themes or characters of a play”24. Dass Lessing ein

Stück Emilia Galotti nennt, bedeutet nicht, dass sie deshalb die wichtigste Figur sein

wird, denn irgendwie weiß Lessing unsere Aufmerksamkeit immer auf die Vaterfiguren

zu lenken.

Van Laecke betont, dass der Mann dem Leser als tugendhaft, zart und gut präsentiert

wird.25 Auch wird seine Beziehung zu seiner Tochter von zarter Liebe und Sorge

gekennzeichnet, während die Beziehung zwischen Mutter und Tochter negativ

dargestellt wird.26 Wolff hebt das damalige schlechte Bild der Mütter hervor: “„Es

geschiehet nämlich oft, daß Kinder auf die Mütter nicht so viel geben, als auf die Väter,

weil sie aus großer Liebe die Schärffe, wo es nöthig ist, aus den Augen setzen, auch sich

unterweilen mit ihnen gar zu gemein machen, ingleichen ihre Fehler in einem und dem

andern blicken lassen, und was dergleichen Ursachen mehr sind“ (Chr. Wolff §159).”27

Weil die Mutter eine sehr negative Figur in der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts

ist, wird sie vielfach aus den Dramen gewehrt. Über die Abwesenheit der Mütter in den

Dramen sagt Gail K. Hart folgendes: “Though one might expect sentimental plays that

deal with the private realm of the family to feature mothers more prominently, this is

not the case in bürgerliches Trauerspiel and other family-oriented pieces of the

period.”28 Dies scheint mir nicht verwunderlich, denn in diesem Zeitalter glaubte man,

dass Väter die Tugend verkörperten, während die Mutterfiguren durch ihr verwerfliches

Benehmen die Töchter davon entfernten. Ich werde auf diese zeitgebundenen Ansichten

in der Einzelanalyse der drei Dramen tiefer eingehen.

23 Kanz; Anz, S. 29 24 Gustafson, Susan E., Absent Mothers and Orphaned Fathers. Narcissism and Abjection in Lessing’s Aesthetic and Dramatic Production. Detroit: Wayne State University Press 1995, S. 143 25 Van Laecke, Ellen: De representatie van het vrouwbeeld in het achttiende eeuws burgerlijk drama. Een analyse van de vrouw in een patriarchale structuur zoals deze gepresenteerd wordt binnen de teksten van Georges Lillo, Denis Diderot en Gotthold Ephraim Lessing. Universiteit Gent: Academiejaar 2002-2003, S. 88-89 26 Van Laecke, S. 64 27 Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen. Die fünfte Auflage, 1740. Zitiert bei Sørensen, S. 17 28 Hart, Gail K: Tragedy in Paradise. Family and Gender Politics in German Bourgeois Tragedy. 1750-1850. Columbia: Camden House 1996. S. 1. Auf: http://books.google.com/books?id=F5i5nDS3tKYC& printsec=frontcover&dq=tragedy+in+paradise &lr=&hl=nl#v=onepage&q=&f=false

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3. Miß Sara Sampson29

In Miß Sara Sampson begegnen wir zwei Vater-Tochter-Konstellationen –

einerseits Sir William und Sara, andererseits Mellefont und Arabella – die sich mit dem

Tod der beiden Geliebten (Sara und Mellefont) in einer neuen Vater-Tochter-

Gruppierung lösen, nämlich Sir William und die von ihm angenommene Tochter

Arabella. Bevor ich mich mit der Fragestellung dieses Kapitels auseinandersetze,

möchte ich zuerst kurz den Inhalt des Stückes skizzieren.

Am Anfang des Stückes kommt Sir William, um seine Tochter aus dem Wirthaus,

wo sie mit ihrem Verführer Mellefont lebt, zurückzuholen. Mellefonts ehemalige

Geliebte (und Mutter seines Kindes) Marwood hat Sir William erzählt, wo er seine

Tochter finden könnte, in der Hoffnung, dass Sara nach Hause geht und Mellefont

wieder zu ihr kommen wird. Nach vielen Konflikten wird Sara durch Marwood vergiftet

und verübt Mellefont Selbstmord. Sir William wird letztendlich mit Mellefonts Tochter

Arabella eine neue Familie gründen.

Man bemerkt in diesem Stück, dass sowohl Sir William als auch Mellefont ihre

Töchter lieben; aber doch kann man sich bei der Art und Weise, wie sie mit ihren

Kindern umgehen, Fragen stellen. Ich werde beide Vater-Tochter-Beziehungen

besprechen und auch Marwoods Haltung ihrer Tochter gegenüber. Weiter will ich mich

auch auf einige Aspekte, wie unter anderem die Beziehung zu Gott, den Egoismus und

den Zeitgeist konzentrieren, weil diese wichtig sind um ein richtiges Bild der Vater-

Tochter-Beziehung zu bekommen.

3.1 Sara und Sir William

Zuerst soll hervorgehoben werden, dass die erste Begegnung zwischen Sir

William und Sara in diesem Drama zugleich auch die letzte ist. Aber weshalb kommt es

nur zu einer Begegnung? Wenn man diese Geschichte das erste Mal gelesen hat, fällt

vor allem die große Vater-Tochter-Liebe ins Auge. Aber gibt es wirklich so eine

idyllische Beziehung zwischen beiden?

Karin Wurst gibt einen Ansatz zu diesem Problem: “Die Tatsache, daß die

Störung von außen [durch Marwood] artifiziell anmutet, läßt darauf schließen, daß

29 Ich werde für meine Masterarbeit folgende Ausgabe benutzen: Lessing, Gotthold Ephraim: Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart: Reclam 1975.

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Lessing nicht in erster Linie an dieser äußeren Lösung interessiert war, sondern daß das

Vater-Tochter Verhältnis allein im Vordergrund steht.”30 Nicht nur wird auf diese

Beziehung fokussiert, es ist auch gerade in dieser Vater-Tochter-Beziehung, dass sich

die wirkliche Störung befindet, die von Mellefont und Marwood nur verschlimmert

wird.

Aber obwohl es in der Beziehung zwischen Sara und ihrem Vater manchmal

schief geht (vor allem Sir Williams Egoismus und Tugendrigorismus verursachen die

Zerstörung), lieben sie einander sehr, denn sowohl Sara als auch ihrem Vater tut es

Leid, die andere Person verletzt zu haben. Sara bedauert, ihren Vater verlassen zu

haben, und als Mellefont verspricht, dass er sie in Frankreich heiraten und dort mit ihr

zusammenzuleben wird, sagt sie: “So soll ich mein Vaterland als eine Verbrecherin

verlassen?” (MSS, I, 7; S. 16; meine Hervorhebung). Das Vaterland bekommt hier eine

besondere Bedeutung, weil sie vom Vater allein aufgezogen ist. Für Sara ist es aber

noch schlimmer sich als Verbrecherin zu betrachten, weil das einfach nicht in ihrem

Tugendsystem passt.

Stephan betont, dass Sara sich mit ihrem Vater verbunden fühlt, auch nachdem sie ihn

verlassen hat: “In Situationen der Verzweiflung ruft sie zuerst nach dem fernen Vater

und nicht nach dem nahen Liebhaber.”31

Auch die Tatsache, dass Sara sogar im Moment des Sterbens noch betont, wie gut ihr

Vater ist: “eine[r] großmütig[e], eine[r] zärtlich[e] Vater” (MSS, V, 9; S. 89) beweist,

dass die Beziehung zwischen beiden sehr zärtlich ist. Sørensen betont, dass die Familie

vor dem Eintritt Mellefonts eine kleine Entität formte: “Vor der Verführung Saras

hatten er [Sir William] und Sara in ländlicher Stille [...] ein harmonisches Leben

miteinander geführt.”32 Meiner Meinung nach stimmt Sørensens Zitat nicht ganz: er

betrachtet die Vater-Tochter-Beziehung zu harmonisch und idyllisch. Sir William und

Sara haben in der Tat vor Mellefonts Eintritt keine Probleme gehabt. Sir William hat

seine Tochter aber niemals gelehrt, wie sie sich in der Nähe von Männern benehmen

sollte. Der Eintritt von Mellefont trägt deshalb bei zu der Zerstörung der Vater-Tochter-

Beziehung. Ich werde später darauf tiefer eingehen.

Sir William versucht das Verbrechen seiner Tochter schlimmer zu machen, in der

30 Wurst, 1988, S. 104 31 Stephan, S. 12 32 Sørensen, S. 77-78

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Hoffnung, weniger Leid davon zu empfinden. So sagt er am Anfang des Stückes zu

seinem Bedienten Waitwell: “sage, daß Sara nie tugendhaft gewesen, weil sie so leicht

aufgehört hat, es zu sein; sage, daß sie mich nie geliebt, weil sie mich heimlich

verlassen hat.” (MSS, I, 1; S. 6). Auch Sara benützt eine ähnliche Taktik, sie hofft, ihr

Vater habe sie vergessen, oder sei sehr böse; alles ist für sie besser als zu vernehmen,

dass sie ihren Vater verletzt hat. Sara kann/will deshalb auch den Brief ihres Vaters

nicht lesen, wenn sie wüßte, dass er ihr verzeiht, so sagt auch Keil: “Nur einem

zornigen Vater könne sie gegenübertreten, denn Vergebung würde ihre Schuld noch

vermehren und ihr ein weiteres glückliches Leben unmöglich machen.”33 Nur nachdem

Waitwell sie über den Inhalt des Briefes belügt, liest sie ihn. Sofort nachdem Sara die

Vergebung ihres Vaters erfahren hat, ändert sie die Art und Weise, wie sie ihren

Fehltritt formuliert. So behauptet auch Eibl: “Zwar hat Sara die Verzeihung ihres Vaters

erlangt, spricht sie nicht mehr von ihrem „Verbrechen“, sondern von ihrem „Irrtum“”.34

Sir William fühlt sich letztendlich mitschuldig an der Verführung seiner Tochter:

“Ich habe selbst den größten Fehler bei diesem Unglücke begangen. Ohne mich würde

Sara diesen gefährlichen Mann nicht haben kennenlernen.” (MSS, III, 1, S. 38).

Offensichtlich hat Sir William seine Tochter nie gelehrt, wie sie mit Männern umgehen

sollte. Jacques Dalemans beschreibt Sara mit Recht als eine “in Unkenntnis weltlicher

Verführungen erzogene[n] Tochter.”35 Dalemans findet es dann auch nicht

verwunderlich, dass Sara sich so schnell in Mellefont verliebt hat: “denn es erscheint

uns verständlich, daß der Körper gegen eine Krankheit, gegen die er keine Antitoxine

aufgebaut hat, keinen Widerstand leisten kann”36. Er beschreibt diese Liebe treffend mit

einem Krankheitsbild. Sir William erkennt (noch) nicht seine eigenen Erziehungsfehler

darin; er glaubt nämlich, dass die Tochter einfach die Haltung ihres Vaters kopiert hat.

In einem Gespräch mit seinem Diener Waitwell sagt er deshalb:

Es war natürlich, daß ihm die dankbare Aufmerksamkeit, die ich für ihn bezeigte, auch die Achtung meiner Tochter zuziehen mußte. Und es war ebenso natürlich, daß sich ein Mensch von deiner Denkungsart durch diese Achtung verleiten ließ, sie zu etwas Höherm zu treiben. (MSS, III, 1; S. 38-39).

33 Keil, Natascha: Entwicklung der Titelfiguren aus Lessings Stücken “Miß Sara Sampson”, “Philotas”, “Minna von Barnhelm” und “Emilia Galotti” bezüglich ihrer Handlungsaktivität. Norderstedt Germany: GRIN Verlag 2004, S. 7 34 Eibl, Karl : Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1971, S. 157 35 Dalemans, S. 193 36 Dalemans, S. 195

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Sir William hat offensichtlich keine allzu große Menschenkenntnis, denn er erkennt zu

spät, dass er Mellefont besser nicht allein in der Nähe seiner Tochter gelassen hatte. Er

gesteht Waitwell, dass er nach ihrer Flucht aber zu streng gewesen sei: “Wenn ich

meine zu späte Strenge erspart hätte, so würde ich wenigstens ihre Flucht verhindert

haben.” (MSS, III, 1; S. 39). Sir William bedauert folglich nicht, streng gewesen zu

sein, nur, dass er damit zu spät war.

Waitwell erzählt Sara bei ihrer Begegnung, dass Sir William diese Strenge bedauert:

“Und vielleicht ein aufrichtiges Bedauern, daß er die Rechte der väterlichen Gewalt

gegen ein Kind brauchen wollen, für welches nur die Vorrechte der väterlichen Huld

sind.” (MSS, III, 3; S. 43). Saras Tugend und Güte werden hier hervorgehoben.

Sørensen schreibt als Kommentar zu diesem Zitat: “Die „Rechte der väterlichen

Gewalt“ werden nicht verurteilt, sondern als durchaus legitim hingestellt – sonst wären

sie ja keine „Rechte“ – nur sollten nach Waitwell in diesem Fall, bei einer so zärtlichen

Tochter wie Sara, bloß die „Vorrechte der väterlichen Huld“ Anwendung finden.”37

Waitwell versucht so die Beziehung zwischen Sara und ihrem Vater wieder

herzustellen.

Obwohl die Vater-Tochter-Beziehung nicht immer perfekt ist, bemerken wir doch

auch die Liebe zwischen beiden. Diese Liebe wird durch den gemeinsamen Glauben

noch verstärkt, in dem öfters eine Verbindung zwischen Gott und der Vaterfigur

gemacht wird.

3.2 Vater/Gott-Beziehung

Jetzt möchte ich mich also konzentrieren auf einen besonderen Aspekt der Vater-

Tochter-Beziehung, nämlich das Aufeinanderbeziehen von dem biologischen Vater (Sir

William) und dem himmlischen Vater (Gott) in – vor allem – Saras Denken. Den beiden

gegenüber hat sie gesündigt. Ihre Sünde dem Vater gegenüber liegt darin, dass sie von

ihm geflohen ist, ihre Sünde Gott gegenüber, unverheiratet zusammenzuleben. Deshalb

fragt sie Mellefont so oft, ob er sie heiraten wird. Diese Heirat würde sie beruhigen,

weil sie dann weiß, dass sie zumindest ihre Schuld gegen Gott eingelöst hat. Mit Recht

hat Fiedel bemerkt: “Daß sie diese Rechtfertigung und Billigung der Beziehung durch

Gott so dringend wünscht, zeigt uns, daß Er ebenso wie ihr Vater eine wichtige Instanz

37 Sørensen, S. 79

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für Sara darstellt.”38

Diese Verschlingung von Vater und Gott geht sogar sehr weit, denn als Sara ihren

Vater im Moment des Sterbens sieht, sagt sie: “Er ist es doch? Oder ist es eine

erquickende Erscheinung, vom Himmel gesandt, gleich jenem Engel, der den Starken

zu stärken kam? – Segne mich, wer du auch seist, ein Bote des Höchsten, in der Gestalt

meines Vaters, oder selbst mein Vater!” (MSS, V, 9; S. 88). Später sagt Sir William

Ähnliches über seine Tochter: “Nicht mehr meine irdische Tochter, schon halb ein

Engel, was vermag der Segen eines wimmernden Vaters auf einen Geist, auf welchen

alle Segen des Himmels herabströmen?” (MSS, V, 10; S. 92). Wir können also

bemerken, dass in Miß Sara Sampson die Worte “Vater” und “Gott” einander sehr nahe

stehen.

Mellefont hat zuerst Vater und Tochter von einander getrennt, jetzt ist es der Tod

(oder Gott), der Sara zu sich nehmen wird. Sara hat aber keine Angst zu sterben. Fick

betont: “Das Fortleben nach dem Tod ist bei Lessing aus dem Prozeß der

Vervollkommnung nicht hinwegzudenken.”39 In der christlichen Glaubenslehre, der

sowohl Sara als Sir William angehören, glaubt man, dass man im Jenseits weiterlebt.

Sara empfindet das Sterben – christlich erzogen wie sie ist – folglich sehr ruhig: Sie

geht einfach von dem irdischen Vater zu einem höheren: Gott. Sara verzeiht Marwood

sogar: “Ich sterbe und vergeb es der Hand, durch die mich Gott heimsucht.” (MSS, V,

10; S. 91; meine Hervorhebung). Dies zeigt wiederum Saras moralisches System: sie

nimmt alle Schuld an sich und verzeiht sogar ihrer Mörderin. Doch sagt Sara zu ihrem

Vater und Mellefont: “Marwood wird ihrem Schicksale nicht entgehen; aber weder Sie

noch mein Vater sollen ihre Ankläger werden.” (MSS, V, 10; S. 91). Sie vertraut darauf,

dass Gott eine passende Strafe für Marwood finden wird.

Sara ist sehr gläubig und ist sicher davon, dass alles passiert, weil es Teil vom

göttlichen Plan ausmacht. Deshalb ist sie auch im Stande Marwood zu vergeben. Sir

William glaubt auch an Gott, doch er ist nicht immer so tugendhaft wie seine Tochter:

sein Benehmen kann mehrmals als egoistisch umschrieben werden.

38 Fiedel, S. 29 39 Fick, Monica: Lessing-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart: Verlag J.B Metzler 2004, S. 132

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3.3 Egoismus

Manchmal scheint es doch, als ob Sir William nicht von der Liebe getrieben wird,

um sich mit seiner Tochter wieder zu vereinen, sondern weil er sie auf egoistische

Weise nötig hat: “Ich kann sie länger nicht entbehren; sie ist die Stütze meines Alters,

und wenn sie nicht den traurigen Rest meines Lebens versüßen hilft, wer soll es denn

tun?” (MSS, I, 1; S. 6; meine Hervorhebung). Diese Aussage klingt besonders

egozentrisch. Wurst kommentiert dieses Zitat: “Das Subjekt dieser Aussage ist Sir

William, das Objekt, an das er Bedingungen und Erwartungen stellt und von dem er

fordert, ist seine Tochter. Die Versöhnung wird nicht um der Tochter Willen angestrebt,

sondern die Einsamkeit des Vaters ist das auslösende Moment.”40

Marwood spielt auch auf die egoistischen Gedanken des Vaters an, in der

Hoffnung, dass Mellefont sich schuldig fühlen wird und Sara heimkehren lässt:

Allein, daß Sie einem alten Vater sein einziges Kind raubten; daß Sie einem rechtschaffnen Greise die wenigen Schritte zu seinem Grabe noch so schwer und bitter machten; daß Sie Ihrer Lust wegen die stärksten Banden der Natur trennten: das, Mellefont, das können sie nicht verantworten. [...] Geben Sie dem weinenden Alter seine Stütze wieder, und schicken Sie eine leichtgläubige Tochter in ihr Haus zurück (MSS, II, 4; S. 30).

Doch enthält dieses Zitat einige Wahrheiten. Wir können zum Beispiel sehr gut

annehmen, dass Sara in der Tat leichtgläubig ist. Wir können auch davon ausgehen,

dass sie bevor sie Mellefont kannte, noch nicht sehr viel erlebt hatte und folglich nicht

viel Erfahrung mit Männern hatte. Jedoch dürfen wir nicht vergessen, dass Marwood all

dies nun auch aus eigenem Interesse erwähnt. Es ist ebenso in ihrem Interesse, dass sie

Sir William anvertraut hat, wo er seine Tochter finden könnte, damit dieser seine

Tochter mitnehmen, und so Mellefont für Marwood lassen sollte. Für Marwood ist Sir

William aber ein “zu guter alter Narr” (MSS, IV, 4; S. 64), sobald sie bemerkt, dass er

auch Mellefont in seine Familie aufnehmen will. Sie respektiert die Sampson-Familie

offensichtlich doch nicht so sehr, wie es ihre früheren Aussagen vermuten lassen.

Wir finden in dem obengenannten Zitat das egoistische Element wieder: Sara soll einzig

die Stütze ihres Vaters sein. Von Liebe wird wiederum nicht geredet. Gustafson

bemerkt dieses egozentrische Benehmen auch: “His [Sir William] greatest fear is to

become a father without, without a daughter to mirror and adore him.”41 Sie fährt fort:

“As his daughter, she exists as a gift from God to gratify, entertain, treasure, and care

40 Wurst, 1988, S.111 41 Gustafson, S. 123

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only for him.”42

Am Ende des Stückes denkt Sir William über sein egoistisches Benehmen nach:

“Soll ein Vater so eigennützig handeln? Sollen wir nur die lieben, die uns lieben?”

(MSS, V, 9; S. 89). Er betont also seine Fehler, mit denen er selbst auch die Vater-

Tochter-Beziehung zerstört hat. Als er Mellefonts Angst um die vergiftete Sara gesehen

hat, versucht er doch die Liebe zwischen Sara und Mellefont auf eine objektive Weise

zu betrachten. Diesmal kann er ohne bittere Gefühle sprechen, wenn er zu seiner

Tochter sagt: “Nun weiß ich es, daß er dich aufrichtig liebet; nun gönne ich dich ihm.”

(MSS, V, 9; S. 89).

Sir William muss am Ende des Dramas aber erkennen, dass er zu spät kommt.

Wiederum hat er Schuld, denn er hätte verhindern können, dass seine Tochter der

Marwood begegnete. Sir William bedauert seine Trägheit: “Warum vergab ich dir nicht

gleich? Warum setzte ich dich in die Notwendigkeit, mich zu fliehen?” (MSS, V, 9; S.

89) Sowohl Sara (denn auch sie wartet, weil sie keine Antwort auf seinen Brief schreibt)

als auch Sir William wollen, dass die andere Person den ersten Schritt macht. Weil

beide auf den/die Andere/n gewartet haben, hat auch niemand Saras Tod verhüten

können. Sir William ist bei keinem der Attentate auf seine Tochter anwesend: nicht als

sie mit Mellefont flieht und nicht als Marwood sie vergiftet.

Er beklagt deshalb sein Benehmen:

Und noch heute, da ich dir schon vergeben hatte, was zwang mich, erst eine Antwort von dir zu erwarten? Itzt könnte ich dich schon einen Tag wieder genossen haben, wenn ich zugleich deinen Umarmungen zugeeilt wäre. Ein heimlicher Unwille mußte in einer der verborgensten Falten des betrognen Herzens zurückgeblieben sein, daß ich vorher deiner fortdauernden Liebe gewiß sein wollte, ehe ich dir die meinige wiederschenkte. (MSS, V, 9; S. 89).

Er sieht ein, dass er egoistisch gewesen sei: “ich sahe mehr auf meine Freude an dir als

auf dich selbst.” (MSS, V, 9; S. 89). Aber auch wenn er dies erkennt, ist er bis zum

letzten Moment doch egozentrisch vorgegangen.

Die Vater-Tochter-Beziehung ist durch Saras Tugendrigorismus und Sir Williams

Egoismus überhaupt nicht perfekt. Doch schaffen sie es am Ende, als Sara stirbt, wieder

eine enge Beziehung zu bekommen, wo Sir William Sara öffentlich seine Fehler

eingesteht.

42 Gustafson, S. 126

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3.4 Mellefonts Familie

Nicht nur Sir Williams Familie ist auseinandergefallen, sondern auch Mellefonts

ursprüngliche Familie. Es sieht erst so aus, als ob Marwood einzig Mellefonts alte

Geliebte wäre. Erst indem Marwood Arabella dazu ruft, um Mellefont zu überzeugen,

wieder zu seiner alten Familie zurückzukehren, stellt sich heraus, dass er mit ihr auch

ein Kind hat. So erfahren wir ebenso, dass Marwood keinen Zugang zu dieser Tochter

hatte, und sie fast aus London “geraubt” hat.

Aber ist Marwood wirklich die schlechte Mutter, für die sie gehalten wird?

Weshalb darf Marwood, schon vor ihrer Gräueltat, nicht für das Kind sorgen? Mellefont

hat Marwood von dem Kind abgeschlossen, weil er sie eine Erziehung bieten konnte,

und Marwood offensichtlich nicht.

Schnell bemerken wir aber, dass Marwood ihre Tochter nicht nur als emotionelles

und psychologisches Druckmittel benützt (Marwood nennt es die “Sprache des Bluts”

[MSS, II, 1; S. 20]), um Mellefont wieder für sie zu gewinnen43, sondern dem Kind

gegenüber auch sehr grob ist: “Schweig, kleine Närrin!” (MSS, II, 5; S. 31) und “Sei

doch nur Stille-” (MSS, II, 5; S. 32). Marwood weiß wohl, dass Mellefont ihr nichts

verweigern kann, wenn sie das Kind bei sich hat. Auffallend ist aber, dass Marwood

sich lange nicht um das Kind gekümmert hat, nur wenn sie ihn zurückgewinnen will,

kann das Kind dabei helfen. Als sich aber herausstellt, dass ihr Plan nicht die

erwünschten Resultate zeitigt, zeigt sie sich rasend, wie eine “neue Medea” (MSS, II, 7;

S. 34). Sie versucht erst Mellefont zu töten. Später will sie auf Medea-Weise ihr Kind

umbringen, erzählt Mellefont auch wie sie das Kind töten wird, so dass er aus Angst

wieder zu ihr kommen würde:

Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat, sich verstellen, verzerren und verschwinden sehen. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen und das kleinste derselben auch da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon nichts mehr sein wird als ein empfindungsloses Aas. (MSS, II, 7; S. 35).

Letztendlich kann Mellefont den Mord verhindern. Laut Gustafson ist “[h]er pleasure in

the fantasy of Arabella’s torturous death [...] a celebration of the mutilation of the father

across or through the body of his daughter”44. Marwood fühlt sich offenbar nicht mit

ihrer Tochter verbunden, denn Arabellas Tod wurde laut ihr nur Einfluss auf Mellefont

43 Ebenso betont von Fiedel, S. 40-41 44 Gustafson, S. 153

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haben. Marwood fühlt sich nur mit Mellefont verbunden, wie folgender Dialog beweist:

Marwood. Wenn es nicht das beste, das getreuste Herz wäre, würde ich mir wohl so viel Mühe geben, es zu behalten?

Mellefont. Zu behalten? Sie haben es niemals besessen, sage ich Ihnen.

Marwood. Und ich sage Ihnen, ich besitze es im Grunde noch.

Mellefont. Marwood, wenn ich wüßte, daß Sie auch nur noch eine Faser davon besäßen, so wollte ich es mir selbst, hier vor Ihren Augen, aus meinem Leibe reißen.

Marwood. Sie würden sehen, daß sie meines zugleich herausrissen. (MSS, II, 3, S. 23).

Nachdem Marwood Sara vergiftet hat, wird die Medea in ihr wieder wach. Sie

flieht mit Arabella in ihrer Kutsche und droht das Kind zu töten, wenn man ihr folgt.

Sara empfiehlt Mellefont, Marwood fliehen zu lassen und so seiner Tochter das Leben

zu retten. Eigentlich kümmert Marwood sich nicht um Arabella wie es einer Mutter

passt, denn wenn sie problemlos im Hafen kommt, wird sie das Kind dort lassen.

Man kann aber auch Mellefont keinen perfekten Vater nennen, denn auch er

benimmt sich nicht immer, wie es einem liebenden Vater passt. Er hat Arabella einer

Erzieherin in London anvertraut, während er mit Sara irgendwo anders ist. Er kommt

also seinen väterlichen Aufgaben auch nicht nach. Er würde ohne Arabella nach einem

anderen Land gezogen sein, um Sara zu heiraten. Auch will er nicht, dass sie Sara

begegnet: “Sie soll nie vor Ihre Augen kommen, die kleine Unglückliche, der man

nichts vorwerfen kann, als ihre Mutter.” (MSS, V, 4; S. 83). Der Leser bemerkt also

schnell, dass Freiheit und Liebe für die Eltern wichtiger sind, als sich um das Kind zu

kümmern. Arabella läuft ihren Eltern folglich vor die Füße. Offensichtlich glaubt

Mellefont, dass die einzige väterliche Aufgabe ist, dem Kind eine gute Bildung zu

geben. Aber er vergisst, dass Kinder auch die Liebe und Anwesenheit ihrer Eltern

brauchen, wie es in Nathan der Weise ständig betont wird. Arabella liebt ihren Vater

aber sehr, und das ist offenkundig auch gegenseitig. So sagt Marwoods Dienerin

Hannah über Arabella: “sie ist sein kleiner Abgott” (MSS, II, 1; S. 20). Das Kind

bewundert ihn auch sehr: “Er ist ja so gut, so gut - -” (MSS, II, 5; S. 31). Aber weshalb

lässt er dann diesen kleinen “Abgott” zurück? Man muss also erkennen, dass Mellefonts

Benehmen paradox ist, er liebt dieses Kind, aber eigentlich nur, wenn es ihm passt.

Mellefont will aber vor allem verhüten, dass seine Tochter von ihrer Mutter

gepflegt wird. Marwood protestiert, als sie vernimmt, dass sie ihre Tochter nie wieder

zu sehen bekommen sollte: “Es ist grausam, da Sie ihr Vater nicht bleiben können, daß

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sie ihr auch die Mutter nehmen wollen.” (MSS, IV, 4; S. 64). Marwood verweist darauf,

dass auch er nicht in der Nähe der Tochter lebt. Mellefont erwidert aber gleich: “Ich

kann ihr Vater bleiben und will es auch bleiben.” (MSS, IV, 4; S. 64). Jedoch soll seine

Tochter weit von ihm von einer Fremden erzogen werden. Erst nachdem Sara sagt, dass

das Töchterchen für sie nicht verborgen bleiben soll, will er seine Erziehungstaktik

ändern. Indem Sara Arabella annimmt, wird sie selbst zur Mutter und bildet sie sich

eine Familie zusammen. Als Grund für die Adoption gibt Sara an: “Sie läuft Gefahr, in

den Händen ihrer Mutter ihres Vaters unwürdig zu werden.” (MSS, V, 4; S. 83).

Als einzigen Wunsch hat Sara vor ihrem Tod noch diesen: “Wenn ich hoffen dürfte,

liebster Vater [Sir William], daß sie einen Sohn, anstatt einer Tochter annehmen

wollten! Und auch eine Tochter wird Ihnen mit ihm nicht fehlen, wenn sie Arabellen

dafür erkennen wollen.” (MSS, V, 10; S. 91). Und so wird Arabella – wie Sir William

es nennt – “ein Vermächtnis meiner Tochter” (MSS, V, 11; S. 94). So bekommt

Arabella einen festen Platz in einer Familie. Dalemans beschreibt die Adoption wie

folgt: “Durch diese Tat, die gewissermaßen den Lernprozess des Vaters und seiner

Tochter bekrönt, bekommt Sir William die große Chance, den Schaden, den er seinen

Tochter zugefügt hat, wiedergutzumachen, bzw. zu vermeiden.”45 An diesen Moment

ist Sara noch nicht tot und hofft Sir William noch immer auf eine Wiedervereinigung

mit seiner geliebten Tochter. Die Frage ist aber, ob er es letztendlich mit Arabella

richtig machen wird, und in dieser neuen Vater-Tochter-Beziehung nicht egoistisch

vorgehen wird.

Das Verhältnis zwischen Mellefont und Arabella ist nicht durch Egoismus (wie

bei Sir William), sondern durch Patriarchalismus gekennzeichnet: Marwood beschreibt

Mellefont als “Beschützer” (MSS, II, 4; S. 28). Jedoch sollen wir auch bemerken, dass

sie ihn auch als “Freund” (MSS, II, 4; S. 28) vorstellt. Das Kind begegnet dem Vater

aber mit patriarchalischen Formeln, wie “Herr” (MSS, II, 4; S; 28), auch redet Arabella

ihn ständig mit “Sie” an. Doch wird auch die Mutter von Arabella mit den Worten

“Madam” und “Sie” (MSS, II, 4; S. 28) angeredet. Hier herrscht eine gewisse Distanz

zwischen Eltern und Kind. Das Kind ist von den Eltern verfremdet, weil sie beide schon

lange nicht gesehen hat. Wir müssen aber auch diese Situation zeitgemäß betrachten.

45 Dalemans, S. 204-205

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So schreibt Christoph Bördlein folgendes: “Eltern duzten in der Regel ihre

minderjährigen Kinder (Hingegen galt zumindest vom höheren Bürgertum aufwärts,

daß Kinder ihre Eltern zu siezen hatten).”46 Sara und ihren Vater dagegen duzen

einander, was – meiner Meinung nach – auf eine sehr enge Beziehung zwischen Vater

und Tochter weist.

Nicht nur gibt es eine Distanz zwischen Arabella und ihren Eltern, sondern auch

zwischen Marwood und Mellefont. Sie können nicht mehr auf eine höfliche Weise mit

einander umgehen und streiten sich ständig. Lorey schreibt über den Zank zwischen

Mellefont und Marwood folgendes: “nachdem Mellefont selbst vor den Augen des

Kindes den Beleidigungen und Demütigungen kein Ende bereitet, [...], fängt die

Beleidigte, nicht ohne die Tochter wegzuschicken, zu rasen an.”47 Marwood hält sich

noch zurück, weil das Kind da ist, Mellefont nicht. Wir erfahren, dass das negative Bild

der Marwood durch die Augen von Mellefont hergestellt wird. Deshalb findet Sara

auch, dass Marwood eine Buhlerin ist, denn diese Idee hat sie einfach von ihrem

Geliebten übernommen. Sara urteilt also, bevor sie einer Person selbst begegnet ist, sie

ist voller Vorurteile.

Lorey bemerkt aber zutreffend, dass es nicht Marwood ist, die die Verbindung

zwischen Mellefont und Sara zerstört:

Es ist nämlich nicht die Marwood, die die Heiligkeit zärtlicher Familienbande zerstört und verhindert: es ist Mellefont, der sie seit Jahren immer wieder hinausschiebt und der mit seinen ständigen Ausflüchten, Lügen und Erbgeschichten ein harmonisches Familienleben für die Marwood, Arabella und nun auch Sara unmöglich macht.48

Auch Gustafson schätzt Mellefont nicht sehr positiv ein: “He deceives Sara with the

same stories of financial hardship in order to postpone their marriage and cannot free

himself from the pattern of enticement that marks his own abject behavior.”49 Mellefont

hat Sara nämlich erzählt, dass er durch eine Heirat mit einer Anverwandten eine riesige

Erbschaft bekommen kann, wodurch er Sara nicht sofort heiraten kann. Wir bekommen

aber niemals Sicherheit darüber, ob die Heirat mit dem Familienmitglied, um das Geld

46 Bördlein, Christoph: Anredeformen im Deutschen des 18.Jahrhunderts am Beispiel von Christian Fürchtegott Gellert: Die Betschwester (1745) Jakob Michael Reinhold Lenz: der Hofmeister(1774) und Emmanuel Schikaneder: Die Zauberflöte. Diplomarbeit. Im Studiengang Germanistik In der Fakultät Sprach- und Literaturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, S. 16 Auf: http://www.boerdlein.gmxhome.de/seiten/pdf/anrede.pdf 47 Lorey, S. 157 48 Lorey, S. 158 49 Gustafson, S. 142

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einer Erbschaft zu bekommen, eine Lüge ist, oder Wirklichkeit.

Mellefont ist sogar eine negativere Figur als Marwood. Denn was Mellefont heimlich

tut, das macht Marwood dann doch öffentlich. Mellefont erkennt seine Schuld erst, als

Sara stirbt. Aber verübt er deshalb Selbstmord? Gail K. Hart schreibt über diesen

Selbstmord: “Mellefont’s suicide is the most obvious indication of this inability to

transcend authoritarian patriarchy.”50 Nicht nur kann Mellefont seine eigenen

väterlichen Aufgaben nicht aufnehmen, er will (offensichtlich) auch eine andere

väterliche Autorität nicht akzeptieren.

Über Mellefonts Beziehung zu seinen eigenen Eltern erfahren wir nicht viel, nur,

dass er schon sehr jung die beiden verloren hat. Lorey sagt über ihn: “Ganz

offensichtlich kennt Mellefont, durch den frühen Verlust seiner Eltern, nicht die

familiale Geborgenheit, von der ihm Sara vorträumt.”51 Das könnte auch erklären,

weshalb Mellefont seine Verantwortlichkeiten nicht aufnimmt; nicht in seiner alten

Familie mit Marwood und Arabella, und nicht in der Familie, die er mit Sara stiften

will.

Während Sara sich mehrmals sehr passiv benimmt, kann das gar nicht von

Marwood behauptet werden. Sie ist durchaus tatkräftig. Wie Marwood die Gelegenheit

bekommt, Sara zu vergiften, nutzt sie diese Chance.

Melanie Konrad sieht doch auch Ähnlichkeiten zwischen Marwood und Sara:

“Verbunden werden diese beiden Charaktertypen durch den gemeinsamen Wunsch nach

einer familialen Lebensgemeinschaft mit demselben Mann und der Bereitschaft für

diesen die unbürgerliche Lebensform der Geliebten zu führen.”52 Beiden gelingt es aber

nicht, mit Mellefont eine wirkliche beständige Familie zu gründen. Auch Fiedel sieht

Parallelen zwischen Sara und Marwood: “Ebenso wie Sara hat die Marwood ihre Liebe

höher gestellt als ihr Ansehen, ihre Ehre und ihre Tugend. Sara sieht diese Parallele

bereits in ihrem Traum, zieht sie aber nicht bewußt.”53 Obwohl beide Frauen auf

sozialer Ebene in einer niedrigen Position geraten sind, ist Marwood doch ziemlich

selbständig. Dies hat auch Stephan bemerkt: “Sie [Marwood] setzt sich selbst als

50 Hart, S. 8 51 Lorey, S. 151-152 52 Konrad, Melanie: Frauenfiguren in Lessings “Miss Sara Sampson” – Sara und Marwood – zwei völlige Gegensätze? Norderstedt Germany: GRIN Verlag 2005 S. 28. Auf: http://books.google.be/books? id=cb1eU0v5jRoC&printsec=frontcover&source=gbs_v2_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false 53 Fiedel, S. 42-43

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autonomes, vom Mann unabhängiges Wesen, das frei über die eigene Sexualität verfügt

und die doppelte Moral der Männer durchschaut”54 Jedoch ist sie sozial nicht sehr

unabhängig, denn zehn Jahre nach ihrer ersten Begegnung mit Mellefont kann sie noch

immer nicht ohne ihn leben.

Mellefont ist ganz und gar nicht tatkräftig. Genau wie er seine eigene Tochter nicht vor

seiner früheren Geliebten schützen konnte, hat er auch Sara nicht vor Marwood

bewahrt. Mellefont fehlt, als Marwood in London die Tochter abholt und ist abwesend,

als Sara vergiftet wird. Wie Sir William ist er bei Attentaten auf die Geliebten immer

abwesend.

Indem Mellefont nicht kann verhüten, dass die eifersüchtige Marwood Sara aus

Rache vergiftet, so wird deshalb die Wiedervereinigung von Sara und ihrem Vater

zerstört.

3.5 Wiedervereinigung

Sir William will am Ende Mellefont in seiner Familie willkommen heißen: “Er

will kommen und seine Kinder selbst zurückholen. Seine Kinder, Waitwell! [...] Er sagt,

derjenige verdiene nur allzu wohl sein Sohn zu sein, ohne welchen er keine Tochter

haben könne.” (MSS, III, 3; S. 48). Sara sieht dies wie Großmut ihres Vaters, aber

meiner Meinung nach zeigt dies nur Sir Williams Egoismus. Sir William weiß sehr gut,

dass Sara nicht zurückkommen wird, wenn er Mellefont nicht in seine Familie

aufnimmt. Er braucht die Liebe seiner Tochter als eine Art Selbstbestätigung. Für ihn

deuten seine Aussagen wahrscheinlich auf eine große Liebe, wie folgendes Zitat zeigt:

“Ich würde doch lieber von einer lasterhaften Tochter als von keiner geliebt sein

wollen.” (MSS, I, 1; S. 6). Aus seiner Sicht weist das wohl auf seine große

Vergebungskraft; für die Leser ist es aber deutlich, dass es sich hier um eine einseitige

und egozentrische Bitte um Liebe handelt.

Sobald die Familie in Richtung Wiedervereinigung geht, fängt auch Mellefont an,

seinen neuen “Vater” zu preisen: “Ach, Miß, warum haben wir so einen göttlichen

Mann betrüben müssen? Jawohl, einen göttlichen Mann” (MSS, III, 5; S. 52; meine

Hervorhebung). Wiederum finden wir die Divinisierung der Vaterfigur. Er nennt Sir

William jetzt auch Vater. Sir William sagt dann auch zu ihm, nach Saras Tod: “Laß dich

54 Stephan, S. 1

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umarmen, mein Sohn, den ich teurer nicht erkaufen konnte!” (MSS, V, 10; S. 93). Diese

Aussage klingt doch ziemlich bitter. Offensichtlich erfährt Mellefont es auch so, denn

tief verschämt, die Tochter eines so edlen Mannes verführt zu haben, sagt er: “Diese

blühende Schönheit, über die Sie allein ein Recht hatten” (MSS, V, 10; S. 93). Auf

diese Weise pflichtet Mellefont der patriarchalischen Idee dieser Zeit bei. Weil

Mellefont sich für Saras Tod strafen will, ersticht er sich und stirbt. Im Leben kann er

die väterliche Autorität weder an- noch aufnehmen. Nur im Augenblick des Todes kann

er zu Sir William sagen: “Wollen Sie mich nun Ihren Sohn nennen, Sir, und mir als

diesem die Hand drücken, so sterb ich zufrieden.” (MSS, V, 10; S. 93).

3.6 Zwei-Väter-Familie

Sara hat ihre Mutter nie gekannt, denn die starb im Wochenbett. Sara beschreibt

es so: “Mein Leben war ihr Tod.” (MSS, IV, 1; S. 57). Sara gesteht Mellefont: “eine

Mutter würde mich vielleicht mit lauter Liebe tyrannisiert haben” (MSS, IV, 1; S. 58;

meine Hervorhebung). Die Tyrannei der Liebe kann auf eine große Bekümmernis

zeigen. Meiner Meinung nach ist es doch ein negatives Wort, denn es weist zugleich auf

eine sehr erstickende Liebe, die meine These bestätigt, dass die Mütter in Lessings

Dramen öfters negativ charakterisiert werden.

Weil ihre Mutter im Wochenbett starb ist Sara also von ihrem Vater und Waitwell

erzogen geworden. Sara gesteht, dass ihr Vater gut für sie gesorgt hat: “einen Vater, der

mich noch nie nach einer Mutter seufzen lassen” (MSS, IV, 1; S. 58). Sara hat aber

Angst, dass sie nicht nur einen (unbeabsichtigten) Muttermord, sondern auch einen

Vatermord begangen hat. Als Waitwell ihr den Brief ihres Vaters überreichen will,

denkt sie, dass ihr Vater gestorben sei, aus Kummer, weil sie ihn verlassen hat. Wurst

kommentiert: “Das Bewußtsein über ihren Übergriff auf das Wohl ihres Vaters führt zu

den massiven Schuldgefühlen, die sie das Leben kosten.”55 Ich glaube, dass diese

Aussage etwas zu weit geht, denn Sara stirbt nicht durch Schuldgefühle, sondern weil

sie vergiftet wird. Es hat aber beigetragen zu ihrem Tod, denn Sara leidet, weil sie ihren

Vater verlassen hat.

Waitwell versucht Sara und Sir William zu versöhnen: “ein Vater, dächte ich, ist

doch immer ein Vater; und ein Kind kann wohl einmal fehlen, es bleibt deswegen doch

55 Wurst, 1988, S. 112

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ein gutes Kind.” (MSS, III, 3; S. 46). Waitwell betont auch, was für ein Vergnügen es

ist, jemandem zu vergeben:

ist denn nicht Vergeben für ein gutes Herz ein Vergnügen? Ich bin in meinem Leben so glücklich nicht gewesen, daß ich dieses Vergnügen oft empfunden hätte. Aber der wenigen Male, die ich es empfunden habe, erinnere ich mich noch immer gern. Ich fühlte so etwas Sanftes, so etwas Beruhigendes, so etwas Himmlisches dabei, daß ich mich nicht entbrechen konnte, an die große, unüberschwengliche Seligkeit Gottes zu denken, dessen ganze Erhaltungen der elenden Menschen ein immerwährendes Vergeben ist. (MSS, III, 3; S. 47; meine Hervorhebungen).

Wir können hier bemerken, dass auch Waitwell öfters auf Gott verweist, wahrscheinlich

weil er weiß, dass Sara dann auf seine Aussagen hören wird.

Meiner Meinung nach können wir Waitwell in der Sampson-Familie, neben seiner

Stelle als Diener, auch wie einen zweiten Vater für Sara betrachten. Auffallend ist, dass

Sara dem “zweiten” Vater Waitwell öfter begegnet im Stück, anders als dem

biologischen Vater. Es fällt auf, dass beide eine “innige Beziehung”56 zueinander haben.

Er hat Sara sofort vergeben, anders als ihr biologischer Vater. An einem bestimmten

Moment sagt Sara: “Lieber alter Vater, ich glaube, du hast mich überredet.” (MSS, III,

3; S. 47), während es Waitwell ist, mit dem sie redet. Nennt Sara Waitwell Vater, weil

er sich wie ein echter Vater benimmt? Oder verweist sie nur darauf, dass sie jetzt

gewillt ist, den Brief des Vaters zu lesen? Diese Aussage ist nicht eindeutig, auch weil

Sara von den zwei “Vätern” erzogen worden ist. Wurst schreibt Folgendes über

Waitwell: “Waitwell, the male “mother figure,” takes care of the emotive and physical

work usually done by the mother in the bourgeois household. He is the one who holds

her as a child and who admires her smiles and first sounds (267).”57 Waitwell hat also

die Mutterrolle auf sich genommen. Wurst sagt weiter:

Das Mitglied dieser idealen humanen Gemeinschaft besitzt die Weisheit, im Angesicht der Schwächen und der essentiellen Schwachheit des Menschen Verständnis, Geduld und Vergebung aufzubringen und damit sich und den anderen und somit die Gesellschaft auf einen höheren Grad der Vervollkommnung zu bringen.58

Wurst lenkt diese Beschreibung auf Sir William, während sie meiner Meinung nach

besser bei der Figur von Waitwell passt. Auch Karl Eibl betont den aufgeklärten

Charakter Waitwells: “Gerade das Verhalten Waitwells ist eine dem Werk immanente

Kritik am Verhalten Saras. Nicht nur daß er, der Diener, als Vertreter des ‚gesunden 56 Siehe auch Fiedel, S. 26 57 Wurst, Karin A.: “Gender and Identity in Lessing’s Dramas”. In: A Companion to the works of Gotthold Ephraim Lessing. Hg. von Barbara Fischer und Thomas Fox. Rochester (N.Y.) : Camden House 2005, S. 241 58 Wurst, 1988, S. 108

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Menschenverstandes’ auftritt, ist bezeichnend, sondern auch wie er das tut.”59

Wir haben also gesehen, dass Waitwell (ein Diener!!) viel aufgeklärter ist, als sein

Meister und Saras biologischen Vater, Sir William. Weshalb kommt dies? Können wir

eventuell eine Lösung für diese Frage im damaligen Zeitgeist finden?

3.7 Zeitgeist

Sir William Sampson steht als erster auf der Personenliste; er redet auch die ersten

und letzten Worte des Dramas. Er wird folglich am meisten aufgeführt, wir lesen am

meisten, wie er über die Sachen denkt. Seine Sehweise ist ziemlich autoritär, sonst

wären Sara und Mellefont nicht geflohen. Er verteidigt sich selbst gegen seinen Diener

(MSS, III, 1): er habe nicht streng sein wollen, aber er musste. Schon im Kontext des

achtzehnten Jahrhunderts war sein Verhalten sehr normal, denn der Vater herrschte über

seine Familie.

In der Sekundärliteratur findet man oft die Ansicht zurück, Sir William hätte aus

den Ereignissen gelernt, sich in seiner Liebe nicht mehr eigennützig zu benehmen. So

schreiben Fischer und Fox, dass Saras Tod aus Sir William einen humaneren Menschen

gemacht habe: “Through the tragedy of Sara’s passing, her father Sir William Sampson

becomes capable of unconditional love for humanity. He learns to overcome the barriers

that separate people, including family members, by shedding his own role of

authoritarian patriarch in order to become a prime example of bourgeois virtue.”60 Aber

während Sara, schon sterbend, Sir William zu Füßen fallen will, sagt er: “Ein andermal,

bei mehrern Kräften, will ich dich nicht ungern mein zitterndes Knie umfassen sehen.”

(MSS, V, 9; S. 88). In diesem Zitat erkennen wir wieder Sir Williams Egoismus und

seinen Trieb nach Selbstbestätigung. Weiter können wir lesen, dass Sara als Modell und

Warnung für Arabella dienen will. So billigt sie letztendlich die autoritäre Erziehung

ihres Vaters. Sara kann deshalb auch sehr schwer die Vergebung ihres Vaters

annehmen. Sie ist immerhin mit dem Konzept des autoritären, strengen Vaters

aufgewachsen, und hat folglich Schwierigkeiten dem aufgeklärten, lieben Vater zu

begegnen.61 Auch Sørensen bemerkt dies: “Daß es Sara so schwer fällt, die Vergebung

59 Eibl, S. 152-153 60 Fischer, Barbara und Fox, Thomas: “Lessings Life and Work”. In: A Companion to the works of Gotthold Eprhaim Lessing. Hg. von Barbara Fischer und Thomas Fox. Rochester (N.Y.): Camden House 2005, S. 23 61 Siehe auch Hart, S. 9

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des Vaters zu begreifen und anzuerkennen, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß sie

in den von ihr einseitig ausgelegten Kategorien der allgemeinen familialen

Verhaltensnormen denkt.”62 Auch Wurst betont dies mit Recht: “Nicht die direkte

Macht des Vaters trägt die Schuld an ihrem Untergang, sondern sein in ihrem

Gewissen--in ihrem Über-Ich-- fest verankertes Moralsystem”63.

Wir sehen also Zeichen, dass die Familie (Sir William und Arabella) wieder in

ihre autoritären Normen zurückkehrt, auch nach dem Tod der geliebten Tochter. Denn

ohne diese Autorität wäre Saras Liebe für Mellefont niemals falsch gewesen, und wäre

sie nicht gestorben. Elena Tresnak hat also Recht, wenn sie sagt, dass in Miß Sara

Sampson zumindest teilweise eingesehen wird, dass der Tugendrigorimus unhaltbar

geworden ist64: Sir William bedauert sein Benehmen. Aber auch wenn man die

Unhaltbarkeit davon einsieht, bedeutet das nicht, dass er den Tugendrigorismus auch

völlig aufgegeben wird. Man kann sich also fragen, ob Sir William am Ende wirklich so

aufgeklärt ist, denn meine Untersuchung wurde das verneinen.

Wir können den Zeitgeist nicht nur im väterlichen Benehmen erkennen, sondern

auch im Misslingen von Saras Beziehung zu Mellefont. Dalemans behauptet mit Recht,

dass Saras “Beziehung zu ihrem Geliebten weder gesetzlich noch moralisch

abgesichert”65 ist. Monika Fick führt diesen Gedankengang aus: “Saras Untergang

besitze darin eine innere Logik, daß ihr der Übergang von der Herkunftsfamilie in die

Zeugungsfamilie nicht gelinge, sie sich deshalb in einem gesellschaftlichen Vakuum

bewege.”66 Dies zeigt gewissermaßen, wie es auch für Marwood sein muss. Sara hat

nicht mehr den Schutz von der Familie, die sie mit ihrem Vater bildete, und nicht den

Schutz von einer Familie mit Mellefont, da die einfach noch nicht gebildet worden ist.

Dieses Drama soll als Lernprozess dienen, sowohl für die Figuren als auch für die

Zuschauer. Sir William erkennt dan auch, dass er in seiner Beziehung zu Sara egoistisch

vorgegangen ist. Doch wird er, meiner Meinung nach, in seiner Beziehung zu Arabella

62 Sørensen, S. 75 63Wurst, 1988, S. 118 64 Tresnak, Elena: Weiblichkeitsentwürfe und empfindsame Moral in G.E. Lessings ‘Miß Sara Sampson’ und ‘Emilia Galotti’. Magisterarbeit. Grin Verlag: Norderstedt Germany 2006, S. 12. Auf: http://books.google.be/books?id=zoydvUmCxUQC&printsec=frontcover&source=gbs_v2_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false 65 Dalemans, S. 42 66 Fick, S. 125

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wenig ändern. Waitwells Benehmen zu Sara ist dagegen ein überzeugender Beweis,

dass auch Männer Kindern eine liebevolle Erziehung geben können.

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4. Emilia Galotti 67

4.1 Fabel

Das Setting dieses Stückes ist die Heirat von Emilia mit dem Grafen Appiani. An

diesem Tag wird Emilia aber entführt, im Auftrag des Prinzen, der sich in sie verliebt

hat. Appiani wird beim Überfall ermordet. Emilia, die sich in dieser – für sie neuen –

höfischen Welt unfähig fühlt, ihre Tugend zu bewahren, bittet ihren Vater, sie zu töten.

Odoardo erfüllt diesen Auftrag und zerstört auf diese Weise seine Familie.

4.2 Tugend

Das zentrale Problem lässt sich in mehrere Teilbereiche auffächern. Wenn erst mit

dem Tugendsystem anfangen wird, so aus dem Grund. Das Stück Emilia Galotti wird

durch ein Tugendbewusstsein gekennzeichnet, das eigentlich besser als

Tugendrigorismus beschrieben werden sollte. Bevor wir aber mit diesem Kapitel

anfangen, ist es sinnvoll, die Idee “Tugend” zu definieren. Wenn wir Duden68

nachschlagen, finden wir:

1 [...] Tugendhaftigkeit [...]

2 sittlich wertvolle Eigenschaft (eines Menschen)[...]

3 [...] (veraltet) a) Keuschheit

b) Jungfräulichkeit

Bevor wir aber tiefer eingehen auf die Art und Weise, wie Lessing die Tugend in

diesem Werk gestaltet hat, ist es ebenso nützlich, nach der Bedeutung der Tugend im

achtzehnten Jahrhundert zu fragen. Inge Stephan schreibt darüber: “Während sie [die

Tugend] in der Frühaufklärung eine gesellschaftlich gefaßte Eigenschaft war, die für

Männer und Frauen gleichermaßen gefordert wurde, wird sie nun zunehmend verengt

zu einer moralischen Kategorie. Tugend wird immer stärker identisch gedacht mit

weiblicher Unschuld.”69 (Meine Hervorhebung)

Beim Lesen von Emilia Galotti werden wir vor allem Tugend in der Bedeutung von

Keuschheit benützen, weil von Emilia erwartet wird, dass sie ihre Jungfräulichkeit

schützt. Es ist also wichtig, dass wir beim Lesen des Stückes darauf achten, wie Emilias

67 Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart: Reclam 1996 68 Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 6., überabeitete und erweiterte Auflage. Mannheim: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG 2007 S. 1717 69 Stephan, S. 7

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Tugend von sich selbst und anderen betrachtet wird.

Emilias Tugend wird besonders durch Odoardo mit Argusaugen beobachtet: sie soll ihre

Tugend bewahren. Obwohl Emilia sehr fromm und tugendhaft ist, zweifelt Odoardo

daran. Sogar an ihrem Heiratstag kommt er, um sie zu kontrollieren.

Dass Odoardo keine sympathische Figur ist, hat auch Ter-Nedden bemerkt. Er hat eine

Zusammenfassung von Odoardos Mängel gemacht, wo uns vor allem das Wort

“Tugendrigorismus” auffällt. Das Wort ist nämlich die ideale Umschreibung von zu

weit getriebener Tugend.

Das Sündenregister Odoardos stellt am vollständigsten Ter-Nedden (1986) zusammen. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe sind: Sein Mißtrauen Frau und Tochter gegenüber, die er entmündigt, seine Egozentrik (er denkt mehr an seine Ehre als an das Wohl der Tochter), seine Unbesonnenheit, sein Jähzorn [...], und immer wieder: sein Tugendrigorismus, dem er das ›Leben‹ opfert, sein weltanschaulicher Stoizismus, der auf Ausmerzung der Gefühle dringt.70 (Meine Hervorhebung)

Diese Mängel haben einen Effekt auf seine Vaterrolle. Laut Fiedel ist Odoardo “ein

strenger, aber dennoch schwacher Vater.”71 Der schwache Vater weiß, dass er nur durch

seine Strenge seine Gewalt gelten lassen kann und er sich nur auf diese Weise in der

patriarchalischen Welt aufrechthalten kann. Seine Schwäche veranlasst ihn auch dazu,

an seinen Tugendprinzipien festzuhalten. Wurst kommentiert ihn so: “Likewise, her

father is driven by passion. His blind, rigid morality and rage both cloud his judgment

and cause him to neglect his duties, that is, to protect his family from harm and

dissolution. He thus fails in his masculinity.”72 (Meine Hervorhebung) Wurst betont auf

diese Weise auch Odoardos Schwäche.

Odoardos Tugendrigorismus wird mehrmals von den anderen Figuren ausgenützt.

Orsina, die vormalige Geliebte des Prinzen, versucht ihn für ihre Sache zu gewinnen

indem sie ihm sagt “Ihnen wird sie nicht fehlen, diese Gelegenheit [den Prinzen zu

ermorden], und Sie werden sie ergreifen, die erste, die beste – wenn Sie ein Mann

sind.” (EG, IV, 6; S. 64; meine Hervorhebung). Sie hetzt ihn außerdem auf, indem sie

ihm die Geschichte erzählt, weshalb Emilia entführt worden ist, so betont auch Prutti73.

70 Ter-Nedden, Gisbert: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986. Zitiert bei Fick, S. 327 71 Fiedel, S. 81-82 72 Wurst, 2005, S. 244 73 Prutti, Brigitte: Bild und Körper: Weibliche Präsenz und Geschlechterbeziehungen in Lessings Dramen Emilia Galotti und Minna von Bernhelm. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH 1996, S. 116. Auf http://books.google.be/books?id=XBJ0ubLVq QEC&pg=PP1&dq=prutti+brigitte#v=onepage &q= &f=false

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Hier kommt Odoardo, weil er zweifelt, Orsina einigermaßen entgegen, bis er seine

Fassung wiederfindet und sagt: “Was hat die gekränkte Tugend mit der Rache des

Lasters zu schaffen? Jene allein hab ich zu retten.” (EG, IV, 8; S. 68). Ironisch ist aber,

dass Odoardo die Waffe benützt, die eigentlich dient um die Ehre der Orsina zu rächen,

um die Ehre seiner Tochter zu retten.

Auch Marinelli und der Prinz nutzen diesen Zweifel über die Tugendhaftigkeit seiner

Tochter aus und flüstern Odoardo ein, dass seine Tochter vielleicht am Attentat beteiligt

gewesen sei:

Marinelli. Man hat Verdacht, daß es nicht Räuber gewesen, welche den Grafen angefallen.

Odoardo. (höhnisch). Nicht? Wirklich nicht?

Marinelli. Daß ein Nebenbuhler ihn aus dem Wege räumen lassen.

Odoardo. (bitter) Ei! Ein Nebenbuhler?

Marinelli. Nicht anders.

Odoardo. Nun dann – Gott verdamm’ ihn, den meuchelmörder’schen Buben!

Marinelli. Ein Nebenbuhler, und ein begünstigter Nebenbuhler –

Odoardo. Was? ein begünstigter? – Was sagen Sie?

Marinelli. Nichts, als was das Gerüchte verbreitet.

Odoardo. Ein begünstigter? von meiner Tochter begünstiget? (EG, V, 5; S. 72).

Odoardo gerät dadurch sehr leicht aus der Fassung, denn er glaubt, dass seine fromme,

liebe Tochter Teil des Komplotts ist: “Aber – (Pause) wenn sie mit ihm sich verstünde?

[...] Wenn sie es nicht wert wäre, was ich für sie tun will?” (EG, V, 6; S. 75). Er macht

also genau, was Marinelli und der Prinz wollen. In dem Lessing-Handbuch finden wir

aber eine mögliche Erklärung für Odoardos Benehmen: “Vor allem in

Heiratsangelegenheiten steht die Gehorsamspflicht auf dem Prüfstand. Wo die Liebe der

Kinder eigene Wege geht, wird dies als Auflehnung gegen die Eltern verstanden.”74

Wenn Emilia in der Tat an dem Attentat auf Appiani beteiligt wäre, bedeutete das auch,

dass sie die Heiratswahl ihrer Eltern (Appiani) ablehnte und sich folglich von den Eltern

absetzte.

Nicht nur Leute aus dem außerfamilialen Raum zwingen Odoardo, seinen eigenen

Tugendprinzipien nachzukommen. Sogar seine eigene Tochter erpresst ihn später, mit

seiner eigenen Tugendsprache dazu, sie zu töten um ihre Ehre zu bewahren: “Oder Sie

sind nicht mein Vater.” (EG, IV, 7; S. 76). Obwohl es am Ende klar ist, dass Odoardos

74 Fick, S. 127

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Stellung als Herr und Meister seiner Familie und sein – auf Emilia übertragener –

Tugendrigorismus für ihren Tod verantwortlich sind, wendet Emilia sich nicht von ihm

ab: “Auffallend ist in dem letzten Gespräch zwischen Vater und Tochter, daß sie ihn

immer wieder mit „mein Vater“ anspricht, in achtzehn Äußerungen verweist sie ebenso

häufig auf seine Vaterrolle.”75 Emilia bleibt also auch im Moment des Sterbens ihrem

Vater loyal, wie auch Prutti bemerkt: “Emilia selbst deklariert sich noch im Augenblick

ihres Todes als alleinigen väterlichen Besitz”76. Sie ist so durch ihren Vater

indoktriniert, dass sie diesen Tod normal findet. Wosgien behauptet, dass für Odoardo

“der Verlust der Unschuld seiner Tochter für Odoardo schlimmer als der Tod [ist]”77.

Offensichtlich teilt Emilia diese Sehweise.

Odoardo hat aber Unrecht, nicht an die Tugend seiner Tochter zu glauben, so

behauptet Fick: “Offenkundig zweifelt Emilia nicht an Sinn und Inhalt der »Tugend«

und ist selbst tugendhaft, dennoch fühlt sie sich von ihrem »Blut« und ihren »Sinnen«,

d.h. von ihrer Sexualität bedroht.”78 Sie will sterben, bevor sie eben gesündigt hat.

Hieraus bemerken wir, dass Emilias Glaube an ihre eigene Tugend, durch Odoardos

Misstrauen immer geringer wird. Außerdem betont Lorey mit Recht: “Die

Verantwortung und der Druck, die in diesem Idealbild auf der Frau haften bleiben, sind

nicht zu unterschätzen.”79 Emilia weiß, dass auch wenn sie an ein und demselben Tag

von dem Prinzen bedrängt und in seinem Auftrag entführt wird, sie dieses Idealbild

hochhalten soll. Emilia ist fast immer ängstlich und unsicher, weil sie fürchtet, ihre

Tugend aufzugeben. Sie weiß, dass sie ihre Tugend vor diesem Mann schützen soll, sie

hat aber nur die Kraft nicht mehr, es zu tun. Wenn sich herausstellt, dass auch ihr Vater

nicht im Stande ist, sie vor diesem Mann zu schützen, sieht sie nur in dem Tod noch

eine Lösung. Das Tugendideal, das Emilia von ihrem Vater gelernt hat, macht Emilias

Leben unhaltbar, denn jeder Tritt kann zum Fehltritt werden. Sogar ohne schuldig zu

sein, fühlt sie sich schuldig, weil sie es einfach so gelernt hat. In Miß Sara Sampson

bemerken wir dasselbe Phänomen. Diese (unerträgliche) Tugend trägt bei zu dem Tod

75 Fiedel, S. 55 76 Prutti, S. 130 77 Wosgien, Gerlinde Anna: Literarische Frauenbilder von Lessing bis zum Sturm und Drang. Ihre Entwicklung unter dem Einfluß Russeaus. Frankfurt am Main: Lang 1999, S. 221. Zitiert bei Keil, S. 29 78 Fick, S. 318 79 Lorey, S. 11

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der beiden Protagonistinnen.

In der Sekundärliteratur wird auch öfters auf diese unerträgliche Tugend

hingewiesen, und meistens findet man in Emilias Erziehung den Grund für ihre Angst,

ihre Tugend zu verlieren. Auch Gerd Hillen hat dies bemerkt: “Emilia erscheint nicht

mehr als Opfer fürstlicher Willkür, sondern als Opfer einer Erziehung, in der jede

sinnliche Regung als ›Sünde‹ gilt.”80

4.3 Erziehung

Einen Grund für Emilias Tugendrigorismus können wir also in ihrer Erziehung

vorfinden. In diesem Stück wird mehrmals über ihre Bildung gesprochen, so dass wir

eine ziemlich gute Idee davon bekommen. So zweifelt Odoardo, ob eine Erziehung in

der Stadt wirklich so gut ist für seine tugendhafte Tochter. Deshalb sagt er zu seiner

Frau Claudia:

Du möchtest meinen alten Argwohn erneuern: – daß es mehr das Geräusch und die Zerstreuung der Welt, mehr die Nähe des Hofes war als die Notwendigkeit, unserer Tochter eine anständige Erziehung zu geben, was dich bewog, hier in der Stadt mit ihr zu bleiben – fern von einem Manne und Vater, der euch so herzlich liebet. (EG, II, 4; S. 22-23).

Gustafson bestätigt Odoardos Sehweise: “The mother’s longing for the illicit culture of

the city life subverts the unity of the family structure, separating the daughter from her

father and exposing her to the lust that would prove most deadly to her father.”81 Wurst

vertritt aber eine entgegengesetzte Meinung, bei der ich mich eher anschließe: “Yet a

closer inspection reveals that regarding her [Claudia] as a self-serving character without

morality would be to adopt Odoardo’s problematic perspective.”82 Odoardos

Perspektive ist problematisch, insofern, dass seine Tugendideale nicht realisierbar sind.

Deshalb erscheint fast jeder in dieser Sicht tugendlos und unmoralisch, wie zum

Beispiel seine Frau Claudia. Inge Stephan teilt diese Meinung: “Das Mißtrauen der

Väter und Geliebten überträgt sich auf die Zuschauer und Leser”83. Doch übernehmen

wir fast gedankenlos Odoardos Perspektive. Wir müssen darauf achten, objektiv zu

bleiben und nicht direkt Lessings Textstrategie zu übernehmen.

Während Emilia sich auf dem Lustschloss des Prinzen befindet, kritisiert Odoardo

80 Hillen, Gerd: “Die Halsstarrigkeit der Tugend. Bemerkungen zu Lessings Trauerspielen.” In: Lessing Yearbook 2 (1970). Zitiert bei Fick, S. 327 81 Gustafson, S. 174 82 Wurst, 2005, S. 247 83 Stephan, S. 9

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seine Frau: “Nun, Claudia? Nun, Mütterchen? – Haben wir nicht Freude erlebt!” (EG,

IV, 7; S. 63). Er wirft ihr deutlich die städtische Erziehung und die Gefährdung der

tugendhaften Tochter vor. Als Claudia ihrem Mann begegnet, kommt sie ihm mit den

folgenden Worten entgegen: “Ah, unser Beschützer, unser Retter!” (EG, IV,8; S. 65).

Claudia versucht zuerst ihren Mann mit dieser Begrüßung zu schmeicheln. Sobald sie

bemerkt, dass es nicht wirkt, behauptet sie unmittelbar, dass sowohl sie als auch die

Tochter unschuldig seien: “Aber wir sind unschuldig. Ich bin unschuldig. Deine Tochter

ist unschuldig. Unschuldig, in allem unschuldig!” (EG, IV, 8; S. 65).

Aber ist Claudia wirklich unschuldig? Oder hat sie doch auch Schuld an diesem

Konflikt, weil sie Emilia empfohlen hat, die Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche

vor ihrem Verlobten und ihrem Vater zu verschweigen? Soll Emilia das als zukünftige

Ehefrau Appiani nicht erzählt haben? Vielleicht hätte Appiani dann dafür gesorgt, dass

die Kutsche, die sie von der Stadt auf das Land brachte, mehr Begleitung hatte. Ist

Claudia folglich nicht mitschuldig an dem Tod ihres “Sohnes”? Das würde aber auch

Emilia mitschuldig machen, denn sie hat letztendlich zugestimmt, Appiani und dem

Vater den Vorfall zu verschweigen. Odoardo soll als pater familias alles wissen, denn

sonst kann er seine Familie nicht gegen Eindringlinge schützen. Wie Claudia ihrem

Mann dann kurz vor der Heirat erzählt, dass Emilia dem Prinzen bei einer Begegnung

sichtbar gefallen hat, nennt Odoardo Claudia eine “eitle, törichte Mutter!” (EG, II, 4; S.

24). Claudia wird in der Tat durch mehrere Figuren als eitel betrachtet, so beweist auch

die folgende Aussage von Marinelli: “es ist doch einmal die Mutter, die wir auf unserer

Seite haben müssen. – Wenn ich die Mütter recht kenne – so etwas von einer

Schwiegermutter eines Prinzen zu sein, schmeichelt die meisten.” (EG, III, 6; S. 45).

Jedoch ist Claudia nicht mehr zu schmeicheln, nachdem sie die ganze Intrige entdeckt

hat. Auf einmal sehen wir eine ganz andere Mutter, die sogar gegen Marinelli (einen

Vertreter des Hofes!!) in Wut ausbricht:

Es ist klar! – Ist es nicht? – Heute im Tempel! vor den Augen der Allerreinesten! in der nähern Gegenwart des Ewigen! – begann das Bubenstück, da brach es aus! (Gegen den Marinelli.) Ha, Mörder! feiger, elender Mörder! Nicht tapfer genug, mit eigner Hand zu morden, aber nichtswürdig genug, zu Befriedigung eines fremden Kitzels zu morden! morden zu lassen! – Abschaum aller Mörder! – Was ehrliche Mörder sind, werden dich unter sich nicht dulden! Dich! Dich! – Denn warum soll ich dir nicht alle meine Galle, allen meinen Geifer mit einem einzigen Worte ins Gesicht speien? – Dich! Dich Kuppler! (EG, III, 8; S. 47-48).

Nach ihrem emotionalen Ausbruch macht Claudia einen Vergleich mit der Tierwelt:

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“Was kümmert es die Löwin, der man die Jungen geraubt, in wessen Walde sie

brüllet?” (EG, III, 8; S. 48). Claudia benützt hier eine harte Sprache, die zugleich auch

ihre Liebe für ihre Tochter zeigt. Claudia fällt aber eben so schnell wieder in die alte

Mutterrolle zurück, wenn der Prinz auf die Bildfläche erscheint. So sagt Marinelli zu

seinem Meister: “und wie zahm sie auf einmal ward, bei dem ersten Anblicke von Ihnen

[dem Prinzen]” (EG, IV, 1; S. 49).

Wir bemerken, dass beide Eltern offenkundig ein anderes Bild von der idealen

Erziehung haben: während Odoardo seine Tochter weit von der Stadt und dem Hof

halten will, hat sie gerade in der Stadt (und in der Nähe des Hofes) ihre Erziehung

bekommen. Emilias Bildung ist nicht nur inkonsistent, sondern sie verursacht auch ihre

Verunsicherung. Weil Emilias Eltern immer so besorgt um ihre Tochter sind, sieht ihr

Benehmen fast wie Misstrauen gegen die Tochter aus. Deshalb ist es für Emilia schwer

Selbstvertrauen zu haben. Für Odoardo ist “Einer [der wenigen Schritte, die sie zur

Kirche machen muss] ist genug zu einem Fehltritt!” (EG, II, 2; S. 19). Auffallend ist

jedoch, dass obwohl Odoardo einen Fehltritt fürchtet, er lieber seinen Schwiegersohn

Appiani besucht, als auf seine Tochter zu warten. Dadurch enttäuscht er seine Tochter,

die dadurch wieder unsicher wird.

Außerdem wird die Familie ständig von Odoardo überwacht, obwohl er nicht mit ihr

zusammenlebt. Er will immer wissen, was passiert ist und warum. In diesem

überwachenden Klima hat Emilia auch niemals eine normale Beziehung zu Männern

entwickeln können. Es ist dann auch nicht verwunderlich, dass sie nicht weiß, wie sie

sich in der Nähe des Prinzen benehmen soll. Hier muss aber doch erwähnt werden, dass

auch Appiani ein adliger Mann ist. Jedoch missbraucht er nicht seine Macht um Emilia

für sich zu gewinnen.

Ich glaube, dass es gerade die fehlende Kenntnis höfischer Sitten und Bräuche ist,

wodurch Emilia sich nicht fähig fühlt, dem Prinzen gegenüberzustehen und ihn

abzuweisen. Weil sie seine Avancen nicht abweisen kann, so muss sie sie akzeptieren

und folglich ihre Tugend aufgeben.

Wir merken hier, dass der ganze Konflikt eigentlich durch das Fehlen höfischer Sitten

und Bräuche verursacht wird. Saße beschreibt die Wichtigkeit einer richtigen Bildung in

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diesem Drama:

Emilia sei durch ihre Rolle als Tochter definiert. Eine doppelte Botschaft habe ihr ihre Erziehung vermittelt: Zum einen, daß die Welt außerhalb der Familie lasterhaft sei, zum anderen, daß sie selbst als Frau des Schutzes der Familie bedürfe, um ihre Unschuld zu bewahren, daß sie allein dazu nicht fähig sein werde. Emilia habe nicht gelernt, sich außerhalb des Familienverbandes zu behaupten. Ausweglos werde ihre Situation dadurch, daß der Vater seine Rolle als Familienoberhaupt nicht mehr erfülle, daß er sie nicht mehr vor dem Prinzen beschütze. Indem Emilia ihn dazu aufstachele, sie zu töten, überwinde sie dessen Handlungsohnmacht und bringe ihn dazu, seiner Rolle als Beschützer ihrer Tugend erneut gerecht zu werden84

Saßes Einsichten überzeugen, bis auf seine Meinung, dass Odoardo wieder der

Beschützer der Familie wird, als er seine Tochter tötet. Im Gegenteil: dann zeigt er erst,

dass er sie wegen Mangel an Schutz tötet. Er nimmt seine Rolle als Beschützer nicht

auf, er verlässt sie gerade. Diese These wird im Kapitel “Mord” erörtert.

Lorey ergänzt die Beschreibung von Emilias Erziehung: “Wesentlicher Bestandteil der

Erziehung ist selbstverständlich das Gesetz der bedingungslosen Befolgung der

christlichen Normen und Tugenden, wobei auch hier das Familienoberhaupt die

dominierende Instanz auf dem Gebiet der Morallehre darstellt.”85 Indem Emilia

Odoardos Tugendlehre verkörpert und dadurch immer an sich selbst zweifelt, ist sie

sehr unsicher geworden. Über Odoardos Erziehung schreibt Fiedel mit Recht: “Er übt

also seine Rolle als pater familias nicht aus. Emilia wird nicht in ausreichender Weise

auf die Welt vorbereitet und steht den Werbungen des Prinzen vollkommen hilflos

gegenüber.”86 Auch sagt sie, dass er “der gehorsamen Tochter eine übermäßige Angst

vor der Schwachheit an[erzieht].”87

Emilia hört meiner Meinung nach aber zu viel auf ihre Eltern. So sagt sie einmal

zu ihrer Mutter: “Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen.” (EG, II, 6; S. 28). Aber

hat Emilia wohl einen eigenen Willen? Oder wird alles, was sie tut, durch den

widersprüchlichen Rat ihrer Eltern bestimmt? Ihre Ideen von Tugend und Sünde sind

sehr befremdlich gebildet, denn für Emilia ist “sündigen wollen auch sündigen.” (EG,

II, 6; S. 25). Sie mischt den Wille und die Tat in einander über.

Nur ihr Glaube bietet ihr noch einen Halt. Die Religion stellt für Emilia auch die

84 Saße, Günter: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zu Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tübingen 1988. Zitiert bei Fick, S. 324 85 Lorey, S. 17-18 86 Fiedel, S. 24 87 Fiedel, S. 53

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Lösung des Konflikts dar: “Nichts Schlimmers zu vermeiden, sprangen Tausende in die

Fluten und sind Heilige!” (EG, V, 7, S. 77).

4.4 Religion

Emilias Erziehung ist – wie oben gesagt – auch eng mit ihrem Glauben

verbunden. Fick betont deshalb auch die Wichtigkeit der Religion in Emilias Leben:

“Emilias »Schwachheit« ist das Produkt, das Resultat ihrer (religiösen) Erziehung.”88

Emilia hat sowohl Angst vor dem irdischen als auch dem himmlischen Vater.

Odoardo ist aber nicht nur Emilias irdischer Vater, er benimmt sich sogar wie eine

Art Gott: er entscheidet, dass ihr Leben vorbei ist, worüber in der christlichen Lehre nur

Gott zu entscheiden hat. Odoardo geht dadurch, selbst in seinem absoluten

Tugendglauben, viel zu weit. In der Sekundärliteratur wird nicht oft auf Odoardos Gott-

Benehmen verwiesen, aber wir lesen öfters, dass Odoardo Gott als eine Entschuldigung

für seine Tat (der Mord an seiner Tochter) benützt: “Ah! er will meine Hand, er will

sie!” (EG, V, 6; S. 75; meine Hervorhebung). Bevor er diese Aussage macht, lesen wir

in der Regieanweisung “(Gegen den Himmel.)” (EG, V, 6; S. 75). Doch finde ich es

befremdlich, dass ein gläubiger Mensch wie Odoardo erlaubt, dass die “er” von Gott

nicht großgeschrieben wurde.

Wenn es Emilia klar wird, dass ihr Vater eine Waffe hat und diese benützen wird

um den Prinzen und Marinelli zu töten, legt sie ein Veto dagegen ein: “Dieses Leben ist

alles, was die Lasterhaften haben.” (EG, V, 7, S. 77). Emilia weiß, dass sie, als

Gläubige, wohl ein zweites Leben nach dem Tod haben wird, auf das sie auch in ihrer

Virginia-Geschichte verweist: “ihr zum zweiten Male das Leben gab.” (EG, V, 7; S.

78).

Odoardo hat seine Tochter als tugendhafte, fromme Frau geformt, die aber so unsicher

ist, dass der Tod die einzige Lösung bildet, sobald ihre Tugend bedroht wird. Sie

vertraut aber darauf, dass es nach diesem Leben noch ein zweites Leben gibt.

4.5 Der abwesende Vater

Im Gegensatz zu Miß Sara Sampson und Nathan der Weise haben wir in Emilia

88 Fick, S. 338

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Galotti am Anfang die einzige “vollzählige” Familie: Vater, Mutter und Tochter.89 Aber

wirklich vollzählig ist sie auch dann nicht, denn während Odoardo auf dem Land lebt,

leben Mutter und Tochter zusammen in der Stadt. Wir können uns fragen, weshalb die

Familie von dem pater familias getrennt lebt. Können wir Odoardo noch als Teil der

Familie Galotti betrachten, wenn er nicht zusammen mit Frau und Kind lebt? Odoardo

ist also nicht da, um seine Familie zu schützen. Außerdem ist es doch in diesem

Zeitalter auf soziologischer Ebene gesehen auffallend, dass Claudia, als Mutter und

Frau, offensichtlich selbst entscheiden kann, wo sie mit ihrem Kind lebt. Es ist fast, als

ob Odoardo darüber nicht viel zu sagen hat. Das kann dann auch erklären, weshalb der

Vater so froh ist, dass Emilia mit dem Grafen in “väterlichen Tälern” (EG, II, 4; S. 22)

leben wird. Was ihm nicht gelingt, sollte Appiani wohl gelingen.

Obwohl Odoardo nicht mit seiner Familie zusammenlebt, gelingt es ihm doch, sie

ständig zu kontrollieren. Lorey beschreibt Odoardo zutreffend als “Patriarch[en] voller

Mißtrauen”90. Während Odoardo, der abwesende Vater, deshalb eher unsympathisch

erscheint, wird er doch von vielen Figuren bejaht. Der Graf spricht von Odoardo als

dem “Muster aller männlichen Tugend” (EG, II, 7; S. 29). Obwohl Appiani Emilia noch

nicht geheiratet hat, benimmt er sich als ob er schon Teil ihrer Familie wäre. So sagt er

zu Claudia: “Ah, meine Mutter, und Sie können das von Ihrem Sohne argwohnen?”

(EG, II, 8; S. 31; meine Hervorhebungen). Andere Figuren versuchen auch in die

Familie einzudringen, wie Gräfin Orsina und der Prinz. Fast alle wollen sie, dass

Odoardo ihr Vater wird. So preist Orsina ihn: “Was gäbe ich darum, wenn Sie auch

mein Vater wären!” (EG, IV, 7; S. 62).

Laut Sørensen “dient [die mehrfache Benennung von Odoardo als Vater] aber vor allem

der Profilierung Odoardos als der eigentlichen und einzigen Vatergestalt dieses

Dramas.”91

Doch mutet es ziemlich fremd an, dass diese Personen Odoardo als Vaterfigur

anerkennen wollen, während er nicht einmal seine eigene Tochter schützen kann. Oder

liegt gerade darin die Ironie, dass jeder ihn auf seiner Vaterrolle anspricht, während er

den väterlichen Aufgaben nicht nachkommt? Auch Fiedel beschreibt diese Ambivalenz:

89 Siehe auch Gustafson, S. 170 90 Lorey, S. 195 91 Sørensen, S. 88

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“Die scheinbare Geborgenheit durch Halt und Sicherheit innerhalb der Familie bricht

auf und ihre eigentliche Schutzlosigkeit durch ihre Abhängigkeit und Unselbständigkeit

wird offenbar.”92

Wir müssen aber auch darauf achten, nicht nur Odoardo die Schuld zu geben an

der Entführung und dem Tod seiner Tochter. Denn auch ihre Mutter spielt darin eine

wesentliche Rolle. Claudia lässt ihre Tochter nämlich gewisse Geschehnisse (so wie die

erste und zweite Begegnung mit dem Prinzen) vor Odoardo und Appiani verheimlichen,

wodurch sie die väterliche Autorität doppelt beleidigt. Als Tochter ist Emilia

verpflichtet, alles ihrem Vater zu sagen und als zukünftige Frau verpflichtet, Appiani

nichts zu vorenthalten. Sørensen betont auch Claudias Fehler:

Als Claudia dann unmittelbar nach dem Gespräch mit Odoardo Emilia dazu überredet, die aufdringliche Annäherung des Prinzen in der Kirche zu verschweigen, verstößt sie noch einmal [das erste Mal, war das Verschweigen der Begegnung des Prinzen in der Veghia] – und diesemal gröber – gegen die Pflicht der Offenheit und der Berichterstattung, die im patriarchalischen System als Vorbedingung der hausväterlichen „Wachsamkeit“ vorgesehen war.93

Sørensen verteidigt Claudia doch auch einigermaßen: “Claudia, die bei der ersten

Begegnung auf der Bühne ihren Mann zuerst mit „Sie“ anredet, während er sie duzt,

fürchtet den leicht erregbaren Zorn des Hausvaters”94. Sie fürchtet ihn mit Recht, denn

in seiner Wut ist er sogar im Stande (und macht es letztendlich auch), die Tochter zu

töten.

Aber obwohl Claudia auch Fehler gemacht hat, trägt Odoardo doch die größte

Verantwortung für den Tod seiner Tochter, denn er lässt seine Familie bis zum Schluss

im Stich. Odoardo ist nämlich immer so aktiv, dass er nie da ist, seiner Tochter zu

helfen. Odoardos Geschäftigtun hat kein Ziel, er tut als ob er handelt, vermeidet aber

wirklich zu handeln. Wenn er aber von Anfang an bei Emilia gewesen wäre, wäre es

nicht notwendig gewesen, am Ende seine Tochter umzubringen.

Jetzt möchte ich versuchen wie man Emilias Tod (Mord? Selbstmord? Diktierter

Mord?) definieren soll.

92 Fiedel, S. 57 93 Sørensen, S. 83 94 Sørensen, S. 82

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4.6 Mord

Odoardo vermeidet das ganze Stück lang zu handeln, indem er rasch nach da,

rasch nach dort soll. Als Odoardo seiner Tochter im Lustschloss des Prinzen begegnet,

ist schon so viel passiert, dass er nur noch einen Ausweg sieht: die Tochter töten, so

dass der Prinz sie nicht mehr genießen kann. Nach Prutti wird Odoardo erst nach einem

Gespräch mit seiner Tochter über ihren Tod entscheiden: “Die Äußerung Odoardos in

dem dieser Begegnung mit der Tochter vorangehenden Monolog- “Das Spiel geht zu

Ende. So, oder so!”(V,6)- kann als Hinweis aufgefaßt werden, daß die Konfliktlösung

wesentlich davon abhängen wird, wie sich die dialogische Auseinandersetzung

zwischen Vater und Tochter entfaltet.”95 Odoardo wird entweder den Prinzen (die eine

“so”), oder seine Tochter (die andere “so”) töten. Was aber für ihn dann schon sicher

ist, ist das jemand sterben wird.

Emilia, die Odoardos Tugendlehre so massiv absorbiert hat, ist sofort mit einer

Tötung (um ihre Ehre zu bewahren) einverstanden, sie schlägt es sogar selbst vor! Um

ihren Vater zu zwingen, sie zu töten, erinnert sie ihn an die Virginia-Geschichte. Wir

sollen uns nicht fragen, wer ihr die Geschichte erzählt hat... denn wir kennen die

Antwort: Odoardo!

Am Ende ist es sehr schwer auszumachen, ob Emilias Tod ein Mord, ein

Selbstmord oder ein von ihr diktierter Mord war. Objektiv gesehen, haben wir es hier

mit einem Mord zu tun, denn Odoardo hat sie mit einer Waffe umgebracht. Der Mord

ist aber auch insoweit ein Selbstmord, als Emilia zuerst Selbstmord verüben wollte, bis

Odoardo ihr den Dolch wegnahm. Und es kann ebenso wie ein diktierter Mord

betrachtet werden, weil Emilia ihren Vater dazu auffordert, indem sie ihn mit der

Aussage, er sei ihr Vater nicht mehr, wenn er sie am Leben lasse, aufhetzt.

Hier sollen wir uns dann fragen, ob Emilias Aussagen nicht schon seit langem von

Odoardo in ihre Seele gepflanzt worden sind. Darüber wurde schon mehr in meinem

Tugend-Kapitel ausgesagt.

Ritchi glaubt, dass Emilias Tod eine Art Selbstmord ist, weil Odoardo “zwar den

Dolch führte, doch die wirkende Hand am Dolch nicht er selbst, sondern seine Tochter

war.”96 Ich bin mit Ritchis Aussage gar nicht einverstanden, denn Emilias eigene Worte

95 Prutti, S. 104 -105 96 Ritchi, Gisela F.: Der Dichter und die Frau. Literarische Frauengestalten durch die drei Jahrhunderte. Bonn: Bouvier 1989, S. 45. Zitiert bei Keil, S. 30

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und die Antwort ihres Vaters machen deutlich, dass Odoardo Emilias Tod als Mord

beobachtet:

Emilia. Nicht Sie, mein Vater – Ich selbst – ich selbst –

Odoardo. Nicht du, meine Tochter – nicht du! - Gehe mit keiner Unwahrheit aus der Welt. Nicht du, meine Tochter! Dein Vater, dein unglücklicher Vater! (EG, V, 8; S. 78-79; meine Hervorhebungen).

So wird meine Meinung von Odoardo selbst unterstützt. Er hat Emilia von klein auf

gelehrt, wie wichtig die Tugend (für eine Frau!) war und wie schlimm es ist, wenn man

diese Tugend verliert.

Ich habe schon vorher betont, dass Odoardo seine Tochter wegen seines

Tugendrigorismus töten muss. Emilia bleibt aber sterbend noch ihrem Vater loyal. Sie

reicht ihm sogar eine Formel dar [“Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert.”

(EG, V, 7; S. 78)], durch die er seine Tat dem Prinzen gegenüber rechtfertigen kann.

Erst in Moment von Emilias Sterbens wird die Kluft des Misstrauens zwischen

Vater und Tochter überbrückt, so bemerkt auch Fiedel: “Bedauerlicherweise erst in

diesem Tod sind sich Tochter und Vater so nah und so einig wie nie zuvor.”97

Odoardo ist sicher von seiner Tat, erscheint jedoch danach sehr erschüttert: “Gott,

was hab ich getan!” (EG, V, 7; S. 78). Es ist aber nicht deutlich, ob er damit seine Tat

bedauert oder einfach Gott anruft. Irgendwo hat Odoardo doch eine Art

Schuldbewusstsein: “Hier liegt er, der blutige Zeuge meines Verbrechens. Ich gehe und

liefere mich selbst in das Gefängnis. Ich gehe und erwarte Sie als Richter.” Dann aber

fängt er wieder an, dem Prinzen zu drohen: “Und dann dort - erwarte ich Sie vor dem

Richter unser aller!” (Beide: EG, V, 8; S. 79). Wie auch Prutti98 bemerkt, will Odoardo

am Ende seine Verantwortlichkeit fliehen. Prutti schreibt: “Mit Emilias Tod ändert sich

augenblicklich Odoardos Tonfall, und die Klage über den Verlust seiner Tochter wird

zu einer wortgewaltigen Anklage gegenüber dem Prinzen”99. Odoardo schiebt dem

Prinzen die Schuld in die Schuhe, dem dann wieder Marinelli alles vorwirft. Beide tun

alles, um keine Verantwortlichkeit zu tragen.

Dieser Mord hängt aber auch sehr eng mit meinem nächsten Kapitel

“Besitzdenken” zusammen, denn verübt Odoardo diesen Mord auch nicht, weil sie seine

97 Fiedel, S. 55 98 Prutti, S. 105 99 Prutti, S. 127

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Tochter ist? Aber nicht nur Odoardo, sondern auch andere Figuren benützen eine

Sprache, die Emilia objektiviert.

4.7 Besitzdenken

Obwohl Emilia ein Mensch ist, wird über sie mehrmals in merkantilen

Begriffen100 geredet. So behauptet Inge Stephan mit Recht über Odoardo: “Wie ein

Kaufmann seine Ware, so bewacht der Vater die Tugend seiner Tochter.”101 Niemand

soll in die Beziehung zwischen Vater und Tochter eindringen. Er sagt deshalb zum

Prinzen: “Prinz, die väterliche Liebe teilet ihre Sorgen nicht gern.” (EG, V, 5, S. 71).

Um ihre Tugend zu bewahren, will er seine Tochter sogar in einem Kerker einschließen,

so dass sie für keinen zugänglich ist. Odoardo geht sehr possessiv mit seiner Tochter

um, wie auch seine Aussage dem Prinzen gegenüber beweist: “Sie soll mit mir .” (EG,

V; 3; S. 69; meine Hervorhebung).

Aber nicht nur Odoardo betrachtet Emilia als eine Art Objekt, sondern auch

Marinelli: “Waren, die man aus der ersten Hand nicht haben kann, kauft man aus der

zweiten: - und solche Waren nicht selten aus der zweiten um so viel wohlfeiler.” (EG, I,

6; S. 16). Wenn man dies liest, kann man sich fragen, ob der Prinz Emilia wirklich liebt

oder sie nur wie ein Objekt besitzen will. Meiner Meinung nach sieht er sie einfach wie

ein Ding, denn wenn er mit Marinelli und Odoardo über Emilias Schicksal verhandelt,

wird Emilias Meinung nicht berücksichtigt; sie ist nicht einmal bei der Besprechung

anwesend: “Diese Entscheidung wird ohne Zustimmung von Emilia getroffen, sie wird

dadurch wieder in die Passivität gedrängt.”102, betont Keil.

Der Prinz benutzt also öfters ein Besitzdenken in seinem Diskurs über Emilia. Er

benimmt sich sogar, als ob Emilia ein Objekt sei, das er kaufen kann:

Dich hab ich für jeden Preis noch zu wohlfeil. – Ah! schönes Werk der Kunst, ist es wahr, das ich dich besitze? – Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur! – Was Sie dafür wollen, ehrliche Mutter! Was du willst, alter Murrkopf! Fodre nur! Fodert nur! – Am liebsten kauft’ ich dich, Zauberin, von dir selbst! (EG, I, 5; S. 11; meine Hervorhebungen).

Keil schreibt das Besitzdenken des Prinzen nicht seiner Liebe für Emilia zu: “[D]ie

Motivation des Prinzen, für die späteren Ereignisse ist nicht Liebe, sondern das

100 Siehe auch De Vos, Jaak : Geist der Goethezeit.Uneinheitlichkeit einer einheitlichen Periode. Universiteit Gent : Academiejaar 2007-2008, S. 30-31 101 Stephan, S. 13 102 Keil, S. 28

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Verlangen, Emilia zu besitzen”103. Gustafson schreibt über diese Szene: “Emilia [...] is

the object the prince hopes to extract from her parents through monetary means”104.

Und, in der Tat, die “ehrliche Mutter” könnte Claudia sein, während der “alte[r]

Murrkopf” dann Odoardo wäre.

Auch Stephan bemerkt, dass die Personen Emilia als Objekt betrachten:

In der Verständigung zwischen Odoardo und Appiani kommt Emilia nur als Tauschgegenstand vor, sie ist die Prämie, mit der das Bündnis zwischen den beiden Männern besiegelt wird. Auch in der Auseinandersetzung zwischen Odoardo und dem Prinzen kommt Emilia als lebendige Person nicht vor, sie ist das Faustpfand des Vaters, mit dem er sich gegen die Libertinage und Willkür des feudalen Herrschers auflehnt.105

Der Prinz aber glaubt, dass die Liebe, die er für Emilia empfindet, sein Benehmen

geändert hat. Seine jetzigen Gefühle sind sehr anders, als diejenigen, die er für seine

frühere Geliebte Orsina hatte: “Als ich dort liebte, war ich immer so leicht, so fröhlich,

so ausgelassen. – Nun bin ich von allem das Gegenteil. – Doch nein; nein, nein!

Behäglicher oder nicht behäglicher: ich bin so besser.” (EG, I, 3; S. 7). Es ist auch diese

Liebe, die ihn dazu bewegt, sich in ernsthaften Angelegenheiten lässig zu benehmen. Er

unterschreibt zum Beispiel ein Todesurteil “[r]echt gern” (EG. I, 8; S. 18). Diese Liebe

veranlasst ihn ebenso, Marinelli freie Hand zu lassen, weil er selbst nicht im Stande ist,

mit diesen Gefühlen umzugehen und folglich nicht mehr logisch nachdenken kann.

Auch Fiedel betont dies: “Hettore Gonzaga, der Prinz, stellt sich von Anfang an als ein

Mann dar, der sich von seinen Gefühlen treiben läßt und unberechenbar ist.”106

Während Fiedels Beschreibung noch ziemlich zart ist, wird sich rasch herausstellen,

dass die Galottis den Hof wirklich fürchten sollen...

4.8 Hof

Dass diese Familie sich einem Prinzen widersetzen muss, macht die ganze

Verwicklung in Emilia Galotti noch schlimmer. Wie schwer das ist, bemerken wir

sofort, sobald Odoardo in das Lustschloss eintritt: er benimmt sich dem Prinzen

gegenüber sehr unsicher und unterwürfig. Claudia, Odoardo und Emilia sind aber keine

schwachen Figuren. Sie werden das erst, wenn sie mit einer höheren Macht – wie dem

103 Keil, S. 26 104 Gustafson, S. 172 105 Stephan, S. 16 106 Fiedel, S. 48

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Prinzen – konfrontiert werden. Die Etikette des Hofes fordert natürlich die Höflichkeit

von Untergebenen gegenüber Vorgesetzten. Diese Höflichkeit und die Tatsache, dass

sie dort untergeordnet sind, macht sie verwundbar. Oder wie Odoardo es ausdrückt, als

er vernimmt, dass Emilia dem Prinzen begegnet hat: “Das gerade wäre der Ort, wo ich

am tödlichsten zu verwunden bin! – Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt.” (EG, II,

4; S. 24). Hinzu kommt noch, dass Odoardo noch immer in einem ungelösten Konflikt

mit dem Prinzen verwickelt ist. Deshalb ist er auch so froh, dass seine Tochter noch

denselben Tag Appiani heiraten und nach anderen Orten (weit von seinem Gegner, dem

Prinzen, entfernt) ziehen wird. Die Tochter soll so schnell wie möglich die Stadt, wo sie

ihre Erziehung bekommen hat, verlassen, um auf dem Land zu wohnen. Odoardo ist

davon überzeugt, dass auf dem Land seine Tochter weniger Verführung bedrohen kann

als in der Stadt. Ironischerweise finden die zwei Attentate auf seine Tochter an Orten

statt, den für Odoardo als sicher galten. Zuerst wird Emilia in der Kirche von dem

Prinzen bedrängt. Fiedel bemerkt auch die besondere Bedeutung dieses Ortes:

Ein weiterer Ort der Sicherheit neben der Familie, auch in ideologischer und emotionaler Hinsicht, ist für Emilia die Kirche. In diesen Ort der Sicherheit bricht der Prinz nun relativ früh im Verlauf des Dramas ein, noch bevor er in ihre Familie eindringt und ihr so auch in diesen Räumen die Sicherheit und den Halt raubt.107

Auch Gustafson betont, dass die Kirche “[the] ultimate symbol of patriarchal-Symbolic

virtue”108 ist, wiederum ein Ort, wo Odoardo zu verwunden ist.

Etwas später lesen wir auch, dass ein Keim der Vernichtung der Familie sich

sogar in dem Haus der Familie befindet, denn ihr Diener Pirro gibt den Mördern

nützliche Informationen über die Kutsche und deren Insassen mit. Die Familie ist sogar

im eigenen Haus nicht sicher.

Als Emilia dann letztendlich entführt wird, passiert dies auf dem Weg zum Haus des

Vaters, auf dem o so sicheren Land...

Odoardo hat geglaubt, dass Emilia auf dem Land fern von dem Hof und also sicher sein

würde. Das erweist sich als Fehleinschätzung, denn gerade auf dem Land wird sein

geliebter Schwiegersohn ermordet und seine Tochter einer Verführung ausgesetzt. Die

Familie meinte, auf dem Land vor dem Prinzen fliehen zu können, aber auch so weit

reicht seine Macht.

107 Fiedel, S. 50-51 108 Gustafson, S. 199

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Obwohl Odoardo sich zu Hause deutlich wie ein Patriarch benimmt, ändert sein

Benehmen sich unmittelbar am Hof. Während Odoardo sich in der höfischen

Umgebung befindet, kann er nichts anders als eine unterwürfige Haltung annehmen.

Auch Lorey hat die Diskrepanz zwischen dem Patriarchen und dem unterwürfigen

Galotti bemerkt: “Das Bücken und Kriechen nach außen, eindeutig Zeichen der

Submission, läßt sich kaum vereinbaren mit dem Bild des autoritären Alleinherrschers

nach innen.”109 Das Problem der Galottis ist, dass sie die Leute am Hof verachten, zu

gleicher Zeit aber auch für sie kriechen. Wie erwarten sie, dass Emilia dann lernen

kann, wie sie sich in der Nähe der Adligen bewegen soll? Wir müssen aber doch die

Situation betrachten, worin Odoardo sich so unterwürfig benimmt. Der Prinz ist nämlich

sein Feind und seine Tochter war in Gefahr.

Odoardo geht in seinem Benehmen aber wohl sehr extrem vor, denn seine Tat am

Ende ist eine sehr unterwürfige: er tötet nicht den Wollüstling, der die Tugend seiner

Tochter vernichten will, sondern die Unschuldige (Emilia hat noch nicht gesündigt).

Odoardo vernichtet auf diese Weise seine Familie, sozusagen um sie zu retten. Doch

können wir Odoardo nicht ausschließlich als kalten Unmenschen betrachten, denn am

Ende des Dramas zweifelt er noch immer, ob er die Tochter töten soll. Er sagt dann zu

Emilia: “Auch du hast nur ein Leben zu verlieren.” (EG, V, 7; S. 77), worauf Emilia

erwidert: “Und nur eine Unschuld!” (EG, V, 7; S. 77). Emilia zwingt ihren Vater, sie zu

töten, obwohl sie ihre Unschuld objektiv gesehen [ihrer Meinung nach hat sie aber

schon ihre Tugend verloren] noch nicht verloren hat.

Ich finde es dann doch auch befremdlich, dass Emilia offensichtlich auf eine normale

Weise mit dem Prinzen kommuniziert. Sobald sie aber ihren Vater sieht, wird sie

scheinbar wieder in die Angst, ihre Tugend zu verlieren, zurückversetzt. Ist es nur

Odoardos Anwesenheit, die diese Angst verursacht? Oder kann Emilia nur einige

Augenblicke in der Umgebung des Prinzen verbleiben, wenn sie tugendhaft bleiben

will? Emilia gesteht ihrem Vater, dass sie wochenlang gebetet hat um wieder zu sich

selbst zu kommen, nachdem sie in dem Haus der Grimaldis gewesen ist. Die Tatsache,

dass Emilia Angst hat, tugendlos zu werden, impliziert doch, dass Emilia etwas für den

Prinzen empfinden muss, denn soll man fürchten, die Ehre zugunsten einer Person

aufzugeben, für den man nichts empfindet?

109 Lorey, S. 198

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Wir können uns hier denn auch fragen, weshalb Emilia (die fast geheiratet hatte) sich so

benimmt? Liebt sie Appiani nicht?

4.9 Appiani

Wir finden eigentlich nur positive Umschreibungen über Appiani, auch am Hof,

wie wir im folgenden Zitat lesen: “bei alledem ist er doch ein sehr würdiger junger

Mann, ein schöner Mann, ein reicher Mann, ein Mann voller Ehre.” (EG, I, 6; S. 13).

Wenn er Emilia heiratet, soll er aber einen gewissen Lebensstil aufgeben: “Der Zirkel

der ersten Häuser ist ihm von nun an verschlossen” (EG, I, 6; S. 14). Wir können also

folgern, dass er diese Emilia sehr lieben muss. Aber ist es wirklich seine Liebe für

Emilia, die ihn dazu veranlasst, oder eher die Liebe, die er für seinen Schwiegervater

empfindet?

Die Liebe (oder besser gesagt, Bewunderung) zwischen Odoardo und Appiani ist

nämlich gegenseitig. Es sieht fast so aus, als ob Appiani versucht über Emilia zu

Odoardo zu gelingen. Man kann sich deshalb auch fragen, ob Appiani wirklich in

Emilia verliebt ist. Fast ist es, als ob Odoardo und Appiani mehr für einander

empfinden, als Emilia und Appiani. Auffallend ist aber, dass wir keine direkte

Begegnung von Appiani und Odoardo vorfinden, wir haben nur Beschreibungen ihrer

gegenseitigen Liebe. Die Männer loben einander mehrmals: Odoardo wird von dem

Grafen “[d]as Muster aller männlichen Tugend” (EG, II, 7; S. 29) genannt, und Odoardo

gesteht: “Kaum kann ich’s erwarten, diesen würdigen jungen Mann meinen Sohn zu

nennen. Alles entzückt mich an ihm.” (EG, II, 4; S. 22). Als Odoardo die Nachricht vom

Tod des Grafen vernimmt, sagt er: “Sie brechen mir das Herz.” (EG, IV, 7; S. 63), was

auf seine große Zuneigung zu seinem Schwiegersohn weist.

Gustafson schreibt denn auch: “Appiani’s priorities in marrying Emilia are clear.

First and foremost, he desires to be Odoardo’s son, and secondarily, to be Emilia’s

husband.”110 In dem Stück können wir dafür in Appianis eigenen Worten Beweise

finden: “Und womit sonst als mit der Erfüllung dieses Entschlusses kann ich mich der

Ehre würdig machen, sein Sohn zu heißen – der Ihrige zu sein, meine Emilia?” (EG,

II, 7; S. 29; meine Hervorhebungen).

Der Graf ist auch der Grund, weshalb Odoardo abwesend ist, als seine Tochter

110 Gustafson, S. 175

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nach dem ersten Anschlag durch den Prinzen wieder nach Hause kommt. Auch Fiedel

bemerkt, dass “die Beziehung zwischen den beiden Männern [...] inniger und herzlicher

[ist] als die zwischen den Brautleuten.”111 Vielleicht mag Odoardo Appiani so, weil sie

einander so ähneln. Wurst beschreibt Appiani dann auch treffend als “[t]he younger

version of the father”112.

Vermutlich ist die nicht so starke Liebe zwischen Emilia und dem Grafen auch

der Grund, weshalb sie so außer sich ist, als ein anderer Mann (der Prinz) Gefühle für

sie zeigt. Emilia hat nämlich nie gelernt, wie sie mit einem verliebten Mann umgehen

soll. Emilia und Appiani fühlen anscheinend doch eine gewisse Zuneigung zu einander,

aber Appiani ist nicht ihre erste Priorität nach dem Attentat. Emilia fragt nach ihrer

Entführung immer erst oder nur nach ihrer Mutter113: “Meine Mutter ist noch in der

Gefahr.” (EG, III, 4; S. 42) und “Wo sind sie? Wo ist meine Mutter ?” (EG, III, 5; S.

43; meine Hervorhebungen). Es wird also klar, dass die Liebe, die sie für ihre Mutter

empfindet, größer ist, als die für ihren Verlobten. Wir können uns also fragen, ob die

Ehe von Emilia und Appiani nicht eine Art Vernunftehe, ohne wirkliche Liebe, ist. Was

die Ehe von Emilia betrifft, können wir bei Lorey eine Erklärung finden: “Da die

Ehebindung meist von den Eltern diktiert wurde und generell von ihnen genehmigt

werden mußte, verfügten die Kinder selbst bei der Familienneugründung über wenig

individuelle Entscheidungsfreiheit.”114 Das kann auch erklären, weshalb die Liebe

zwischen den Brautleuten nicht sehr passioniert ist.

Emilias Heirat wurde aber für ihre Lage nichts ändern, denn sie wird von der

einen autoritären Beziehung in die andere gehen, so betont auch Lorey: “da sie allein

von der väterlichen Gewalt in den Machtbereich des Ehemannes tritt, der

wahrscheinlich ebenso über sie wachen und ihr Mißtrauen entgegenbringen wird, wie es

ihr Vater tut.”115

Erst nach Appianis Tod kommt Odoardo seiner Tochter näher: “Und deine Sache

– mein Sohn! mein Sohn! – Weinen konnt’ ich nie – und will es nun nicht erst lernen –

Deine Sache wird ein ganz anderer zu seiner machen! Genug für mich, wenn dein

111 Fiedel, S. 58 112 Wurst, 2005, S. 246 113 Siehe Fiedel, S. 51 114 Lorey, S. 8 115 Lorey, S. 202

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Mörder die Frucht seines Verbrechens nicht genießt.” (EG, V, 2; S. 68). Hier verliert

Appiani zum ersten Mal an Bedeutung, da es für Odoardo in diesem Moment wichtiger

ist, seine biologische Tochter (sein Fleisch und Blut) zu rächen als seinen (vielfach

bewunderten) Sohn.

4.10 Negatives Frauenbild

Während die Figuren aus Emilia Galotti Männer wie Odoardo sehr stark bejahen,

werden die Frauen aber ziemlich negativ beschrieben. Lessing lässt in diesem Drama

Gräfin Orsina philosophieren über die Unmündigkeit der Frauen: “Ist es wohl noch

Wunder, daß mich der Prinz verachtet? Wie kann ein Mann ein Ding lieben, das, ihm

zum Trotze, auch denken will ? Ein Frauenzimmer, das denkt, ist ebenso ekel als ein

Mann, der sich schminket.” (EG, IV, 3; S. 55-56; meine Hervorhebungen). Weiter sagt

sie auch noch: “Mitlachen kann ja wohl der gestrenge Herr der Schöpfung, ob wir arme

Geschöpfe gleich nicht mitdenken dürfen.” (EG, IV, 3; S.56). Orsina erklärt also, dass

die Frauen nur schön sein sollen und lieber in der Unmündigkeit stecken bleiben sollen.

Gustafson bemerkt mit Recht zu dieser Szene: “Orsina asserts that the female/feminine

subject who philosophizes, who reasons, is considered abject.”116 Orsina will ihre

Meinung geben, aber gleichzeitig erkennt sie, dass es nutzlos ist, denn keiner hört ihr

zu. Orsina hat, mit Rücksicht auf das Zeitalter, mit ihrer Aussage recht, denn die

Männer dachten wirklich so über denkende Frauen. Ich habe diese These schon in

meinem Kapitel über die Aufklärung besprochen.

Marinelli kränkt sie mutwillig, wenn er sie verrückt nennt. Er hat nämlich Angst,

dass sie Odoardo den wahren Hergang hinter dem Attentat erzählen wird. Aber indem

Marinelli sie verletzt, wird sie gefährlicher, als er je denken könnte. Außerdem ignoriert

ihr Geliebter, der Prinz, sie und hat keine Zeit für sie. In einem Moment wird sie von

Geliebter nach Nichtswürdiger in seinen Augen degradiert. Als Rache hetzt sie Odoardo

auf und gibt ihm einen Dolch, mit dem er den Prinzen ermorden könnte. Odoardo

benützt den Dolch aber für seine eigene Tochter...

Auffallend ist aber, dass Odoardo diese Frau als eine Ebenbürtige behandelt, er ist sogar

höflicher zu Orsina als zu seiner eigenen Frau. Er spricht Orsina immer mit “Sie” an,

116 Gustafson, S. 206

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während er seine eigene Frau mit “du” anredet. Wir sollen aber darauf achten, dass

Orsina eine Fremde für ihn ist, und dass er deshalb so höflich ist gegen sie.

Die zweite negative weibliche Figur finden wir dann in Claudia, der einzigen

lebenden biologischen Mutter (in den drei von mir gewählten Dramen). Odoardo

versucht nämlich sie immer ferne von seiner Tochter zu halten. Auch Gustafson betont,

dass die Mutter die Tochter dem Verlangen preisgibt und so eine Gefahr für die Familie

(und vor allem den Vater) bildet: “The mother appears as the originary site of illicit

desire [...], which rends the family unit apart and threatens to destroy both daughter and

father.”117

Auffallend ist aber, dass diese zwei negativ betrachteten und geringschätzten Frauen als

erste die Intrige durchschauen.

Meiner Meinung nach sind die Frauen nicht wirklich negativ und begegnen wir in

diesem Stück nur negativen Darstellungen von diesen Frauen.

Emilia wird an dem Tag ihrer Heirat mit Appiani im Auftrag des Prinzen entführt.

Weil sie so unsicher ist, und die Religion, ihre Bildung und der Tugendrigorismus ihr

keinen Halt bieten, um ihre Tugend in der höfischen Welt zu bewahren, sehen sie und

Odoardo nur noch einen Ausweg: der Tod.

117 Gustafson, S. 177

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5. Nathan der Weise118

Als Lessing Nathan der Weise schrieb, war er mit dem Hamburger Hauptpastor

Goeze über Religionsfragen119 in Konflikt geraten und durfte nichts mehr zum Thema

Religion publizieren. Im Anlauf zu Nathan der Weise schrieb er: “Ich muß versuchen,

ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater, wenigstens noch ungestört wird

predigen lassen.”120

Nicht nur der Religionskonflikt ist bestimmend für dieses Drama, sondern auch der Tod

von Lessings Frau und Kind. Kuschel schreibt über diese Periode: “Der Schmerz über

den Verlust der beiden geliebten Wesen sitzt tief in Lessing. Einsamkeit prägt von nun

an noch mehr sein Leben; die Krankheiten verschlimmern sich. Der „Nathan“ entsteht

in dieser Situation und Stimmung.”121

In diesem Drama begegnen wir zwei amputierten Familien: einerseits gibt es

Nathan, seine Adoptivtochter Recha und ihre Gesellschafterin Daja, und andererseits

Sultan Saladin und seine Schwester Sittah, die um den Tod ihrer Schwester und den

Verlust ihres Bruders Assad trauern. Während des Stückes fangen diese zwei Familien

an, ineinander überzugehen, und nehmen auch neue Menschen, wie den Tempelherrn,

darin auf.

Ich möchte hier einige Aspekte der Vater-Tochter-Liebe besprechen. So werde ich

näher eingehen auf die Liebe, die Recha und Nathan für einander empfinden. Ich

möchte auch die Sichtweise auf Religion und Erziehung näher betrachten. Weiter will

ich herausfinden, wie sich die Familie gegenüber Eindringlingen benimmt. Was ist

genau die Rolle von Saladin in diesem Stück? Benützt er Besitzdenken? Eine andere

Frage ist, wie man das Ende und die Ringparabel betrachten muss. Zuletzt möchte ich

näher auf die Betrachtungsweise auf Frauen und Daja insbesondere eingehen.

5.1 Vater-Tochter-Liebe

In Nathan der Weise sind Rechas und des Tempelherrn biologische Eltern längst 118 Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. Stuttgart: Reclam 1993 119 “Zu Lessings »Nathan der Weise«”. In: Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Stuttgart: Reclam 1976, S. 141 120 “Zu Lessings »Nathan der Weise«”. S. 141 121 Kuschel, Karl-Josef: Jud, Christ und Muselmann vereinigt? Lessings “Nathan der Weise” . Düsseldorf: Patmos 2004, S. 196

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verstorben. Beide sind folglich bei Surrogateltern aufgewachsen. Es ist wichtig zu

wissen, dass Nathan Recha nicht erzählt hat, dass sie seine Adoptivtochter ist.

Nathans enge Beziehung zu Recha lässt sich erklären, wenn wir die Umstände

ihrer Adoption etwas näher betrachten. Er hat Recha angenommen, kurz nachdem er

seine biologische Familie in einem angezündeten Feuer verloren hatte. Als er vernimmt,

dass er seine Adoptivtochter an ihre biologische Familie abtreten soll, fällt es ihm

schwer, dieses letztes Kind (Recha) auch aufgeben zu müssen: “Ob der Gedanke mich

schon tötet, daß / Ich meine sieben Söhn’ in ihr aufs neue / Verlieren soll: – wenn sie

von meinen Händen / Die Vorsicht wieder fodert, – ich gehorche!” (NdW, IV, 7; S.

111). Er soll sie nur gehen lassen, unter der Bedingung, dass sie ihn selbst darum bittet.

Außerdem findet er, dass wer mit ihm um Recha kämpft, “frühere [Rechte] zum

mind’sten haben” muss (NdW, IV, 7; S. 111). Saße erklärt Nathans Aussage wie folgt:

“Die »früheren Rechte« der biologischen Verwandtschaft begründen in den Augen

Nathans zwar kein »größeres« Vaterrecht als das seine, das er »allein / [...] der Tugend

[dankt]« (I, 35f.), sehr wohl aber einen faktischen Rechtsanspruch, dem er sich nicht

widersetzen will (s. V, 301-302).”122

Dass die Liebe zwischen Nathan und Recha groß ist, bemerkt auch Lorey: “Als Nathan

sie im Hause des Sultans wiederfindet -[...]-, durchbricht er die Etikette der Höflichkeit

und geht nicht dem Sultan, sondern Recha zuerst entgegen”123.

Als Nathan sie dann fragt: “bist doch meine Tochter noch?” (NdW, V, 8; S. 134),

antwortet sie unmittelbar: “Mein Vater!...” (NdW, V, 8; S. 134). Die Liebe zwischen

Vater und Tochter bleibt, trotz des Geheimnisses, selbstverständlich.

Was diese Vater-Tochter-Beziehung (außer der Adoption) von den zwei anderen

Dramen unterscheidet, ist, dass Vater (Jude) und Tochter (Christin) einer anderen

Religion angehören. Wie diese Tatsache die Beziehung beeinflusst, werde ich im

folgenden Kapitel besprechen.

5.2 Religion

Während die Religion für Emilia und Sara einen Halt bietet und sie mit den Eltern

122 Saße, Günter: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1988, S. 245 123 Lorey, S. 234

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vereint, bildet die Religion für Nathan und Recha einen kritischen Punkt, denn wegen

der Religionsunterschiede versuchen die anderen Figuren (wie z.B. Daja) Vater und

Tochter von einander zu trennen. Der jüdische Nathan verschweigt Recha, einer

geborenen Christin, dass sie nicht seine biologische Tochter ist. Das ist Daja, ihrer

christlichen Erzieherin, ein Dorn im Auge; sie kennt dieses Geheimnis, aber will doch

aus Recha gerne wieder eine Christin machen. Sie droht Nathan deshalb damit, Recha

dieses Geheimnis zu verraten. Obwohl Nathan sie besticht, erzählt sie das Geheimnis

weiter. Daja erkennt aber nicht, dass sie damit Nathan in Gefahr bringt. Als sie es dem –

in Recha verliebten – Tempelherrn erzählt, ist der erzürnt, dass der tolerante Nathan

offenbar doch nicht so tolerant ist.

Der Tempelherr wollte nämlich Teil dieser Familie sein und nannte Nathan sofort

“Mein Vater!” (NdW, II, 9; S. 80). Nathan weist dies aber ab, weil er die Herkunft des

Tempelherrn nicht kennt. Nur wenn sich herausstellt, dass er Rechas biologischer

Bruder ist, will Nathan diesen Namen “Vater” annehmen. Weil der Tempelherr dies als

eine Abweisung seiner Heiratsabsicht sieht, geht er zum Patriarchen, sobald sich

herausstellt, dass Recha eigentlich eine geborene Christin ist. Er erzählt das Geheimnis

dem Patriarchen, der als Strafe für Apostasie den Scheiterhaufen in Aussicht stellt:

Nathan soll, wegen des Verbrechens, eine Christin nicht christlich erzogen zu haben,

verbrannt werden. Saße betont, dass es sich “nicht um die harmlose Drohung eines

machtlosen Patriarchen [handelt], sondern um die Bekanntgabe der Rechtslage. Auf

Apostasie steht der Scheiterhaufen.”124 Saße betont auch noch, dass wir den Patriarchen

sehen sollen “als Repräsentant[en] der bestehenden Rechtsordnung, der den Einzelfall

korrekt unter das einschlägige Gesetz subsumiert.”125 Damit gefährdet der Tempelherr

nicht nur Nathan, sondern auch Recha, wie Wurst beschreibt: “The rigidity of moral

norms is embodied in the negatively portrayed quintessential patriarchal authority – the

Patriarch, who would rather see Recha dead than brought up in a Jewish household –

which, in his estimation, will result in her eternal damnation.”126 Nachdem der Patriarch

auch noch vernimmt, dass Nathan Recha alle Religionen kennengelernt hat, steigert sich

noch seine Wut. Laut dem Patriarchen sind “Alle bürgerliche Bande / [...] aufgelöset,

[...] zerrissen, wenn / Der Mensch nichts glauben darf.” (NdW, IV, 2; S. 94). Wenn man

124 Saße, S. 226 125 Saße, S. 226 126 Wurst, 2005, S. 257

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ein Kind nicht in einem gewissen Glauben erzieht, wird das von dem Patriarchen sofort

als Atheismus betrachtet. Es ist wichtig zu wissen, dass Atheismus damals nicht

akzeptiert war. Der Templer schreckt vor dem Fanatismus des Patriarchen zurück und

gelingt so zur Einsicht, dass er sich zu viel von seinen Emotionen und zu wenig von

seiner Vernunft hat führen lassen. Der einzige positive Aspekt der Religion, liegt darin,

dass Recha und der Tempelherr die positiven Seiten von Vernunft erkennen, indem sie

negative Kontakte mit Fanatikern erleben. So lernen sie vernünftiger mit

Andersgläubigen umzugehen. Sie übernehmen Nathans Einstellung, um Personen als

Menschen und nicht als Gläubigen zu begegnen.

Doch benimmt der Tempelherr sich während des ganzen Dramas immerhin als ein

Christ. So sagt er sofort, als Nathan offenbart, dass Recha eigentlich Blanda heißt: “Ihr

verstoßt / Sie! gebt ihr ihren Christennamen wieder! / Verstoßt sie meinetwegen!”

(NdW, V, 8; S. 139). Wahrscheinlich sagt er dies, weil Nathan auf diese Weise Recha

ihre christliche Identität zurückgibt, aber ich glaube, dass von einer wirklichen

Verstoßung nicht die Rede sein kann. Nathan will Recha überhaupt nicht abtreten.

Die Christen, in den Figuren von Daja, dem Patriarchen und dem Tempelherrn,

werden also sehr negativ dargestellt. So kritisiert Sittah: “Ihr Stolz ist: Christen sein;

nicht Menschen.” (NdW, II, 1; S. 35). Wir dürfen aber nicht vergessen, dass als Lessing

dieses Stück geschrieben hat, er in einen Konflikt mit dem hamburgischen Pastor

Goeze127 geraten war.

Obwohl Nathans Geheimnis eine Fehleinschätzung war, sollen wir auch

bemerken, dass was Nathan für Recha getan hat, außergewöhnlich ist: er adoptiert als

Jude eine Christin in religiöser Kriegszeit. Dass Nathans Familie kurz vorher von

Christen ermordet worden ist, macht diese Tatsache noch außerordentlicher. Doch

verkehren Nathan und Recha miteinander wie Gleichgesinnte, weil er sie als seine

eigene Tochter betrachtet. Tolerant wird Nathan erst, indem er Recha adoptiert.

Zusammen bilden sie eine neue, tolerante Familie.

Weil Nathan ein Jude ist, wird er anfangs von vielen Figuren so angeredet. Er

wird aufgrund seines Glaubens missachtet, aber auch gebraucht, denn Juden haben den

Ruf, den Leuten Geld zu leihen. Die Menschen empfinden ihn nicht als einen Menschen

127 “Zu Lessings »Nathan der Weise«”. S. 141

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wie sie selbst, sondern wie eine niedrigere Person. Nur wenn Saladin und den

Tempelherrn mit ihm reden, sehen sie den Menschen im Juden.

Doch wird Nathan öfters gepriesen für seine Vaterrolle und erziehende Funktion.

Der Klosterbruder lobt die Erziehung von Recha, was die Religion betrifft:

Ei freilich, klüger hättet Ihr getan;

Wenn Ihr die Christin durch die zweite Hand

Als Christin auferziehen lassen: aber

So hättet Ihr das Kindchen Eures Freunds

Auch nicht geliebt. Und Kinder brauchen Liebe,

Wär’s eines wilden Tieres Lieb’ auch nur,

In solchen Jahren mehr, als Christentum.

Zum Christentume hat’s noch immer Zeit. (NdW, IV, 7; S. 109-110).

Dem Klosterbruder nach ist es wichtiger, Kinder zu lieben, als sie von Anfang an zur

“richtigen” Religion zu erziehen. Recha kann noch immer eine Christin werden, der

Mangel an Liebe ist für immer.

5.3 Erziehung

Nicht nur der Klosterbruder preist Nathans erzieherische Methode, sondern auch

Sittah. In einem Gespräch mit Recha über Nathan, gerät Sittah in Bewunderung für

Nathan: “O was ist dein Vater für / Ein Mann!” (NdW, V, 6; S. 129). Weiter betont sie

“Wie nah er immer doch / Zum Ziele trifft!” (NdW, V, 6; S. 129). Sittah stimmt auf

diese Weise Nathans Erziehungsmethode zu. Es stellt sich also heraus, dass Recha als

Frau aus dem achtzehnten Jahrhundert128 doch große Kenntnisse vermittelt bekommen

hat, denn Sittah gesteht Recha: “Was du nicht alles weißt!” (NdW, V, 6; S. 128).

Obwohl man Nathan seinen Vater-Titel wegnehmen kann, kann man die Spuren der

Erziehung, die er in ihrer Seele gelegt hat, niemals von ihr entfernen. Gustafson hat also

Recht, wenn sie Nathan Rechas “cultural father”129 nennt.

Sittah möchte wissen, wie Recha so eine große Kenntnis bekommen hat. Stolz

antwortet Recha, dass sie alles “allein aus seinem [Nathans] Munde” (NdW, V, 6; S.

129) weiß. Wir bemerken hier, dass Recha Nathan als Lehrer gehabt hat. Dies ist aber

128 Obwohl dieses Stück im Mittelalter situiert ist, geht es eigentlich um das achtzehnte Jahrhundert. Lessing benutzte diese Methode um ungestraft Kritik auf dem eigenen Zeitalter zu äußern. Ich bitte den Leser um während der weiteren Lektüre dieses Nathan der Weise Kapitels diese Transformation unterschwellig zu behalten. 129 Gustafson, S. 257

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kein außergewöhnliches Phänomen, wie auch van Laecke bestätigt. Sie berichtet, wie es

im achtzehnten Jahrhundert durchaus üblich war, dass die Kinder im engen Kreis der

Familie ihre Erziehung bekamen.130

Jedoch ist diese Erziehung nicht vollständig. Nathan hat seiner Tochter nämlich

nicht erlaubt, auch Bücher zu lesen, um ihre Kenntnis zu vergrößern. Nach

aufklärerischer Auffassung soll man jedermann erlauben, sich auf allen Gebieten zu

bilden.131

Als Rechtfertigung für die Abwesenheit von Büchern, sagt Recha: “Mein Vater liebt /

Die kalte Buchgelehrsamkeit, die sich / Mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt, / Zu

wenig.” (NdW, V, 6; S. 128). Bücher werden hier also ziemlich negativ dargestellt; dies

ist aber besser zu verstehen, wenn wir folgendes Zitat lesen: “Vor uns steht ein reich

gewordener Geschäftsmann, der – wie wir durch seine Tochter Recha erfahren – die

„kalte Buchgelehrsamkeit, die sich / Mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt“ (V/6)

überhaupt nicht liebt, was eine deutliche Orthodoxie-Kritik mit ihrer exklusiven

Fixierung auf das Buch (Tora, Talmud) bedeutet.”132 Nathan hält seine Tochter auf

diese Weise fern von dogmatischen Büchern, weil er ihr einen Einblick in mehrere

Religionen gönnen will.

Recha muss außerdem auch gestehen, dass sie kaum lesen kann. Doch glaube ich, dass

wir, trotz Rechas unvollständiger Bildung, erkennen müssen, dass Nathan seine Tochter

mehr gelehrt hat, als damals in der Bildung einer Frau (!) üblich gewesen war. Obwohl

wir es also gewissermaßen verstehen können, weshalb ihre Kenntnis gehemmt und

limitiert wird, bleibt es fremd, dass Nathan, der die Aufklärung beinahe personifiziert,

doch offensichtlich auch findet, dass Weisheit und Kenntnis hauptsächlich Männern

vorbehalten sein sollen.

Wir sollen aber unsere Besprechung über Rechas Bildung nicht auf tatsächliche

Kenntnis beschränken. Ebenso wichtig ist die soziale Kenntnis, die Nathan seiner

Tochter vermittelt hat. So hat er Recha mehrmals gezeigt, dass er Vertrauen zu ihr hat.

Folglich hat Recha Selbstvertrauen entwickelt. Über Vertrauen schreibt Fiedel:

130 Van Laecke, S. 91 131 Braeckman, S. 101 132 Kuschel, S. 84

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Dieses Urvertrauen bettet das Kind zunächst in seine Familie ein, es fühlt sich in ihrem Rahmen sicher und gut aufgehoben. Es ruht in ihr, denn es weiß, daß es dort immer Rückhalt findet. Von dort ausgehend kann es auch an im Laufe der Zeit immer weiter außerhalb Stehende sein Vertrauen verschenken, denn es hat die Gewißheit, in der Familie immer wieder aufgefangen zu werden, sollte sein Vertrauen enttäuscht werden.133

Nathan hat Recha gelehrt, wie sie mit Menschen umgehen soll, und er geht davon aus,

dass sie das in die Praxis umsetzen wird, auch wenn er nicht anwesend ist. Fiedel hat zu

Nathans Erziehung folgendes bemerkt: “Nathan hat also gewissermaßen nachgeholt,

was die Familie in der Erziehung zur Aufgabe hat, nämlich die Kinder zu mündigen und

guten Menschen zu erziehen und sie auf die Welt vorzubereiten.”134 Obwohl es Nathan

nicht gelingt, Recha wirklich zu “mündigen”, bereitet er sie doch auf die Welt und

Kontakte mit anderen Personen vor.

Nathan versucht folglich auf allen Ebenen Recha zu einer vernünftigen Frau zu

bilden. Er akzeptiert doch auch, dass sie Gefühle hat. Nathan ist, anders als Sir Sampson

oder Odoardo, weniger bekümmert über die Tatsache, dass seine Tochter einen Mann

lieben könnte. Nathan ahnt schon früh, dass seine Tochter den Tempelherrn liebt und

bespricht seine Annahme mit ihr: “Auch wenn ich wüßte, daß in deiner Seele / Ganz

etwas anders noch sich rege.” (NdW, II, 4; S.45). Nathan zeigt hier wiederum Vertrauen

zu seiner Tochter, bittet sie aber auch, ihm zu vertrauen: “Was auch in deinem Innern

vorgeht, ist / Natur und Unschuld. Laß es keine Sorge / Dir machen. Mir, mir macht es

keine. Nur / Versprich mir: wenn dein Herz vernehmlicher / Sich einst erklärt, mir

seiner Wünsche keinen / Zu bergen.” (NdW, II, 4; S. 45). Indem Nathan so offen mit

seiner Tochter redet, ist sie auch nicht geneigt, heimlich ihren Vater zu verlassen um

ihrem Geliebten zu folgen.

Obwohl Nathan die Gefühle seiner Tochter respektiert, herrscht seiner Meinung nach

doch die Vernunft vor.

Als Nathan zu Hause kommt, vernimmt er von Daja, dass sein Haus (mit Recha

darin) fast abgebrannt wäre. Ein Tempelherr hat Recha gerettet. Wie Nathan bemerkt,

dass seine Tochter sich unter Einfluss von Daja zu viel von ihren Gefühlen leiten lässt

und folglich aus dem Tempelherrn einen Engel macht, greift er ein. Weil dieses

Benehmen für Nathan nicht zulässig ist, erzählt er seiner Tochter eine Geschichte. Der

133 Fiedel, S. 13 134 Fiedel, S. 79

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Tempelherr soll krank geworden sein, denn weil seine Tochter an einen Engel glaubte,

hat sie ihm keine Geschenke als Dank für ihre Rettung angeboten. Weil sie ihm keine

Geschenke gegeben hat, könne dieser Engel vielleicht sterben. Recha wird nach dieser

Geschichte ganz emotional, fängt aber auch an zu denken. Folglich beendet sie die

Schwärmerei, die ihr von Daja eingeflüstert wurde, wie diese Szene zeigt: “und schon

dein Engel, / Wie wenig fehlte, daß er mich zur Närrin / Gemacht? – Noch schäm ich

mich vor meinem Vater / Der Posse!” (NdW, III, 1; S. 59-60).

Hier wird deutlich gemacht, dass Recha öfters einfach den Diskurs und die Worte der

anderen Figuren übernimmt. Deshalb bittet sie Nathan, in ihrer Nähe zu bleiben, so dass

sie nur noch den richtigen Diskurs übernehme: “Ah, / Mein Vater! laßt, laßt Eure Recha

doch / Nie wiederum allein!” (NdW, I, 2; S.16). Recha denkt nicht für sich selbst. Auch

Lorey hat das bemerkt: “doch hört sie [Recha] aufmerksam die Argumente des Vaters,

dessen Vernunft sie sich zu eigen macht.”135 Wenn wir Kants Behauptung über

Unmündigkeit aus einem vorigen Kapitel weiter verfolgen, hat Recha folglich an ihrer

eigenen Unmündigkeit Schuld, weil sie ihrem Vater einfach nachredet, ohne selbst

nachzudenken.

Nathans erzieherische Methode ist stark von der Aufklärung und dem Gebrauch

der Vernunft geprägt. Wir können sogar weiter gehen, denn die Weise, wie Nathan den

anderen Menschen begegnet, ähnelt dieser der Freimaurerei. In einem Interview mit Leo

Apostel beschreibt der Journalist Filip Verhoest es so: “Het is geen ontmoeting van

vrienden, gelijkgezinden, van aanhangers van dezelfde overtuiging, wel van mensen die

fundamenteel van elkaar verschillen omdat alleen een konfrontatie van aan elkaar

tegenovergestelde ideeën een verrijking brengt.”136 (Meine Hervorhebungen). Dies ist

genau, was Nathan in seinen Freundschaften mit Saladin und dem Tempelherrn sucht.

Zuerst stehen beide Männer Nathan sehr argwöhnisch gegenüber, aber sobald sie

Nathans interessanten Gedankengang erkennen, wollen sie sich mit Nathan anfreunden.

Apostel selber sagt: “Je kunt bij je tegenstander altijd iets diepmenselijks, iets

135 Lorey, S. 235 136 Verhoest, Filip: “„Ritueel in loge-werkplaats verloopt als in droom“. Gentse filozoof professor emeritus Leo Apostel schrijft testament van dertig jaar vrijmetselarij. ” In: De Gentenaar. 12 maart 1993, S.13

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waardevols ontdekken, als je maar goed zoekt.”137 Nathan versucht bei jeder Begegnung

immer wieder vorbei Religion, Herkunft und Äußeres zu sehen.

Nicht nur Nathans erzieherische Methode wird von den anderen Figuren bejaht,

sondern auch sein Charakter. Sogar der Tempelherr anerkennt letztendlich Nathans

Erziehung von Recha, denn ohne das, “was / Allein ihr [Recha] so ein Jude geben

konnte” (NdW, V, 3; S. 118), würde er nichts für Recha empfinden.

Auch Sittah, die einer anderen Religion angehört, lobt sein aufklärerisches Benehmen:

“wie frei von Vorurteilen / Sein Geist; sein Herz wie offen jeder Tugend, / Wie

eingestimmt mit jeder Schönheit sei.” (NdW, II, 3; S. 43). Nathan inkarniert fast die

Aufklärung.

Obwohl Nathan für viele Figuren ein Beispiel der Aufklärung ist und als guter

Vater gilt, wollen einige in seine Familie eindringen und ihn von seiner Tochter

entfernen.

5.4 Eindringlinge

Genau wie in Miß Sara Sampson und Emilia Galotti wird auch hier die Tochter

von ihrem Vater entfernt. Fast jede Figur dieses Dramas will Recha in ihre Familie

aufnehmen.

Der Tempelherr kann seinen Fehler – dem Patriarchen von Nathans Geheimnis

erzählt zu haben – zu seinem Vorteil lösen: er will Recha heiraten und sie

folgendermaßen vor dieser Gefahr schützen. Oder wie er selbst sagt:

Er [der Patriarch] kann Euch ja das Mädchen

Nur nehmen, wenn sie niemands ist, als Euer.

Er kann sie doch aus Euerm Hause nur

Ins Kloster schleppen. – Also – gebt sie mir!

[...]; und laßt ihn kommen. Ha!

Er soll’s wohl bleibenlassen, mir mein Weib

Zu nehmen. (NdW, V, 5; S. 124).

In Nathan der Weise ist die Heirat als ein negativer Gegenstand dargestellt, denn sie

dient zur Trennung von Vater und Tochter. Indem der Tempelherr Recha zu seiner Frau

macht, wird sie auch wieder eine Christin. Der Tempelherr geht aber zu weit in seinem

137 Verhoest, S. 13

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Streben, um Recha zu seiner Frau zu machen: er will sie sogar von dem Adoptivvater

und dem – dann noch unbekannten – biologischen Bruder trennen. Er schlägt Nathan

vor, Recha niemals die Wahrheit (über ihre Adoption) zu erzählen: “Gönnt's ihr doch,

daß sie Euch nie / Mit andern Augen darf betrachten! Spart / Ihr die Entdeckung doch!”

(NdW, V, 5; S. 125).

Der Tempelherr ist aber nicht die einzige Figur, die Recha von Nathan entfernen

will, denn auch Saladin und Sittah wollen Recha zum Teil ihrer Familie machen:

“Sobald der Väter zwei / Sich um dich streiten: – laß sie beide; nimm / Den dritten!”

(NdW, V, 7; S. 133) sagt Saladin zu Recha, wobei er deutlich gerne der dritte Vater sein

möchte. Er sagt sogar explizit: “Nimm dann mich zu deinem Vater!” (NdW, V, 7; S.

133). Sittah will auch nichts lieber, denn sie ruft ermutigend: “O tu’s! o tu’s!” (NdW, V,

7; S. 133).

Sittah versucht außerdem noch die Mutterrolle zu erfüllen. Sie sagt zu Recha: “Nenn /

Mich Sittah, – deine Freundin, – deine Schwester. / Nenn mich dein Mütterchen!”138

(NdW, V, 6; S. 128). Recha übernimmt all diese Namen, außer Mutter, wie diese

Aussage deutlich zeigt: “Du sollst vergebens dich zu meiner Freundin, / Zu meiner

Schwester nicht erboten haben!” (NdW, V, 6; S. 129). Sittahs Versuch, eine Mutter für

Recha zu sein, wird folglich abgelehnt.

Nathan und Recha sind die einzigen Figuren in diesem Stück, die sorgfältig mit

den Namen “Vater” und “Tochter” umgehen. Die anderen Figuren wie der Tempelherr,

Saladin und Sittah gehen sehr unbesonnen mit diesen Namen um.

Wir sollen aber bemerken, dass obwohl alle Bedrohungen inner- und außerfamiliär sind,

sie nicht einen wirklichen Bruch zwischen Vater und Tochter verursachen.

5.5 Saladin

Jetzt möchte ich etwas näher auf einen dieser Eindringlinge eingehen: Saladin. Er

hat eine doppelte Funktion in dieser Geschichte: er ist Herrscher, aber auch

Familienmitglied. Diese beiden Funktionen bestimmen denn auch sein Handeln. Auch

Sigrid Suesse-Fiedler hat dies bemerkt: “Das[s] Saladin neben Familienoberhaupt auch

Landesvater ist.”139 In dieser Zuständigkeit wirkt er als eine Art Richter: er entscheidet,

138 Siehe auch Gustafson, S. 254 139 Suesse-Fiedler, Sigrid: Lessings “Nathan der Weise” und sein Leser: Eine wirkungsästhetische Studie. Stuttgart: Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz 1980, S. 158

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wer lebt und wer stirbt. Saladin ist außerdem eine egoistische Figur, wie auch Suesse-

Fiedler betont: ihrer Meinung nach “benutzt er [Saladin] seine Rolle als Herrscher, um

seinen Bedürfnissen als Mensch, seinen familiären Bedürfnissen – ohne Rücksicht auf

die Bedürfnisse Nathans als Menschen – Genüge zu tun.”140 Er missbraucht also seine

Rolle als Herrscher. Er benimmt sich auch in familiären Beziehungen als Sultan: für ihn

ist nur seine eigene Familie heilig.

Die Liebe, die er für seine Schwester empfindet, ist sehr groß: So verliert er

absichtlich ein Schachspiel um Sittah glücklich zu machen. Ihrerseits bezahlt sie dann

monatelang – ohne sein Wissen – seine Kosten mit ihrem eigenen Geld, weil er kein

Geld mehr hat. Doch veranlasst diese große Liebe Saladin nicht dazu, seine Schwester

wie eine gleichwertige Person zu behandeln: Sittah darf nur unsichtbar anwesend sein,

wenn Saladin sich mit anderen Männern unterhält.

In familialen Gegenständen ist Sittah aber gleichwertig, denn wenn Saladin nicht seine

Rolle als Herrscher ausübt, verbringen beide viel Zeit mit einander. In der

Sekundärliteratur wird mehrmals betont, wie klug Sittah ist. Wie viele Frauen spielten

Schach (doch ein schwieriges Spiel) in dem achtzehnten Jahrhundert?

Obwohl Saladin sehr gut für seine eigene Familie sorgt, zeigt er doch sehr wenig

Respekt anderen Familien gegenüber. Auch nachdem er sich mit Nathan befreundet hat,

schmiedet er noch immer Pläne, Vater und Tochter von einander zu trennen. Außerdem

versucht er auch in seiner Eigenschaft als Herrscher Nathan mit der Frage nach dem

richtigen Glauben in die Falle zu locken, während er eigentlich nur Geld will.

Saladin entspricht auch vieles, schon bevor er über alle Entwicklungen weiß. Als

Recha den Sultan fragt: “Aber macht denn nur das Blut / Den Vater? nur das Blut?”

antwortet er: “das Blut, das Blut allein / Macht lange noch den Vater nicht! macht kaum

/ Den Vater eines Tieres!” (Beide: NdW, V, 7; S. 133). Als er aber entdeckt, dass er

(durch das Blut) mit Recha verbunden ist, entscheidet er sich doch wider diese Aussage,

und meint auf einmal, dass das Blut die wirkliche Bedingung ist für die Vaterschaft.

Als Nathan am Ende das Wort ergreifen will, sagt Saladin – auf diese Weise auch

Nathans gute Vaterschaft anerkennend – : “Unstreitig, Nathan, kömmt / So einem

Pflegevater eine Stimme / Mit zu!” (NdW, V, 8; S. 136). Erneut löst Saladin sein

140 Suesse-Fiedler, S. 289

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Versprechen nicht ein, denn er entscheidet, dass der Tempelherr und Recha seine

Kinder werden sollen.

Hier können wir Saladins Besitzdenken erkennen. Er ist aber nicht der Einzige, der

dieses Denken benützt...

5.6 Besitzdenken

Nathan zeigt öfters ein Besitzdenken auf, das sich schwer mit seinem aufgeklärten

Geist vereinen lässt. In einem Dialog mit Daja wird deutlich, dass Nathan Recha als

sein Eigentum betrachtet: “O Recha! / O meine Recha!” (NdW, I, 1; S. 6). Daja erwidert

kritisch auf diese Aussage: “Eure? Eure Recha?” (NdW, I, 1; S. 6). Weiter sagt sie:

“Nennt Ihr alles, / Was Ihr besitzt, mit ebensoviel Rechte / Das Eure?” (NdW, I, 1; S.

6), worauf Nathan antwortet: “[...] Alles, was / Ich sonst besitze, hat Natur und Glück /

Mir zugeteilt. Dies Eigentum allein / Dank ich der Tugend.” (NdW, I, 1; S. 6). Nathan

macht also einen Unterschied zwischen materiellem Eigentum und seiner Tochter. Das

materielle Eigentum hat er zugeteilt bekommen, und ist deshalb nicht sein Verdienst.

Recha verdankt er nur seiner Tugend. Letzteres Eigentum ist wichtiger, weil es sein

eigenes Verdienst ist.

Wir finden ein ähnliches Besitzdenken bei dem Tempelherrn wieder. Kurz nach

seinem ersten Gespräch mit Nathan, kommt Daja ihm und Nathan entgegen.

Unmittelbar fragt er Nathan: “Unsrer Recha ist / Doch nichts begegnet?” (NdW, II, 5;

S. 50; meine Hervorhebung). Es wird klar, dass der Tempelherr sich benimmt, als ob er

schon Teil dieser Familie sei, und schon Anspruch erhebt auf Recha. Dieses Denken

wird im Laufe des Dramas von Saladin kritisiert: “Was du gerettet, ist / Deswegen nicht

dein Eigentum.” (NdW, V, 8; S. 135).

Trotzdem befolgt Saladin seine eigenen Prinzipien nicht. Obwohl Saladin selbst

(dann noch) kein Recht auf Recha hat, verspricht er sie dem Tempelherrn: “Wär' um das

Mädchen dir / Im Ernst zu tun: sei ruhig. Sie ist dein!” (NdW, IV, 4; S. 102). Als

Verteidigung für sein Benehmen sagt Saladin: “Was hätte Nathan, / Sobald er nicht ihr

Vater ist, für Recht / Auf sie? Wer ihr das Leben so erhielt, / Tritt einzig in die Rechte

des, der ihr / Es gab.” (NdW, IV, 4; S. 103). Er benutzt seine Rechte als Fürst, um zu

entscheiden was mit Recha passiert.

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Als sich dann später herausstellt, dass der Tempelherr und Recha die Kinder seines

Bruders sind, sagt er zum Tempelherrn: “Nun mußt du doch wohl, Trotzkopf, mußt

mich lieben!” (NdW, V, 8; S. 140; meine Hervorhebung). Auch Recha wird auf eine

ähnliche Weise gezwungen, Saladin zu lieben: “Nun bin ich doch, wozu ich mich erbot?

/ Magst wollen, oder nicht!” (NdW, V, 8; S. 140; meine Hervorhebung). Saße sieht

hierin den Ausdruck “einer pflichtgemäßen Liebe”.141 Er betont aber auch, dass die

Blutsverwandtschaft ein “unabweisbares Zugehörigkeitskriterium”142 sei. Wenn wir

dies zeitgebunden betrachten, ist es normal, dass Recha nicht gefragt wird, wie sie diese

Vaterwahl empfindet. Auffallend ist aber, dass auch den Tempelherrn (ein Mann!) nicht

gefragt wird, ob er mit dieser Vaterwahl einverstanden ist.

Nathan dagegen hat dem Tempelherrn noch die Wahl gelassen, ob dieser ihn als Vater

anerkennen will: “Denn meiner Tochter Bruder wär' mein Kind / Nicht auch, – sobald er

will?” (NdW, V, 8; S. 139). Nathan kann nur versuchen, die Kinder als seine eigenen

Kinder anzunehmen, solange die Blutsverwandtschaft mit Saladin unbekannt ist. Als

bekannt wird, dass Recha und der Tempelherr Verwandte von Saladin sind, versucht

Nathan doch für seine neugewonnenen Kinder zu kämpfen, wie seine Aussage zu

Saladin zeigt: “Noch wissen sie von nichts! Noch steht’s bei dir / Allein, was sie davon

erfahren sollen!” (NdW, V, 8; S. 140). Nathans Versuch misslingt aber, denn Saladin

will sie als seine Kinder...

Aber verliert Nathan wirklich alles im Augenblick, in dem der wahre Hergang

bloßgestellt wird?

5.7 Ende

Während Nathan auf die Suche nach Rechas Vater geht, wird er von dem

Tempelherrn gewarnt: “Der Blick des Forschers fand / Nicht selten mehr, als er zu

finden wünschte.” (NdW, II, 8; S. 53). Und was der Templer vorhersagt, passiert auch,

denn Nathan muss Recha an ihre Blutsverwandten abtreten. Suesse-Fiedler fasst dieses

Dilemma so zusammen: “Die Schranken, die Nathan mit Hilfe grundlegender Werte der

bürgerlichen Tugendlehre (Vorrang des Menschen, gesellschaftliches Miteinander und

tätige Nächstenliebe) auf religiösem und politischem Gebiet eingerissen hatte, werden

141 Saße, S. 223 142 Saße, S. 223

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durch die natürlichen Bindungen (Blutsverwandtschaft) wieder legitimiert”143. Weil

Saladin nicht von seiner Blutsverwandtschaft mit Recha weiß, darf Nathan noch Rechas

Vater sein. Sofort die Blutbande deutlich werden, sind diese wichtiger als die

aufklärerischen Ideen.

Nathan, der jeden gelehrt hat, human zu sein, scheint am Ende des Stückes doch

gewissermaßen vergessen zu werden. Nicht er, sondern Saladin spricht die letzten

Worte des Dramas. Saladin hat also als Vormund, figürlich und buchstäblich, das letzte

Wort in dieser Sache, er ist der neue pater familias. Vielleicht ist dies auch der Grund,

weshalb Saladin in der Personenliste des Dramas an erster Stelle steht. Doch gibt es

keinen einzigen Grund zu denken, dass Nathan nicht an den “allseitige[n]

Umarmungen” (NdW, V, 8; S. 140) am Ende des Stückes teilnimmt. Auf

aufklärerischer Ebene hat Nathan am Ende des Dramas aber sehr viel gewonnen: es ist

ihm gelungen, sehr verschiedene Menschen mit einander zu verbinden. Persönlich

verliert er alles, denn seine Kleinfamilie ist auseinandergefallen. Nathan wird vielleicht

als Vater beiseitegeschoben, er verdient jedoch in dieser Großfamilie – die verschiedene

Religionen und Familienkonstellationen umfasst – einen Platz.

5.8 Ringparabel

Nathan erzählt Saladin die Ringparabel als Antwort auf Saladins Frage, welche

die richtige Religion ist. Diese Frage ist aber ein Fallstrick von Saladin, der hofft, dass

Nathan diese Frage nicht beantworten kann. Dadurch könnte er dann Nathan zwingen,

ihm Geld zu borgen.

Die Ringparabel erzählt von einem Vater, der einen wunderbaren Ring besitzt.

Wer diesen Ring hat, ist Herr des Hauses. Der Vater soll sich entscheiden welchen

seiner Söhne er am meisten liebt. Der auserwählte Sohn bekommt vom Vater dann den

Ring. In unserer Geschichte kann der Vater sich aber zwischen seinen drei Söhnen nicht

entscheiden. Deshalb lässt er drei identische Ringe herstellen. Nachdem versuchen die

drei Söhne herauszufinden, wer sich den rechtmäßigen Erben des Vaters nennen darf.

Diese Geschichte dient um Saladin zu zeigen, dass es ebenso schwer ist für einen Vater

seine Erben zu wählen, wie die richtige Religion zu finden.

143 Suesse-Fiedler, S. 291

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Sowohl die Ringparabel als auch das Drama erzählen über einen familialen Konflikt.

Ein Zitat aus der Ringparabel kann auf den beiden Geschichten bezogen werden: “Nun,

wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am wenigsten in Zweifel? Doch der

Seinen? / Doch deren Blut wir sind? doch deren, die / Von Kindheit an uns Proben ihrer

Liebe / Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo / Getäuscht zu werden uns heilsamer

war?” (NdW, III, 7; S. 73). Dieses Zitat kann sich nicht nur auf den richtigen Glauben

beziehen, sondern auch auf Nathans Liebe für seine Tochter. Nathan hat immer gezeigt,

dass er sie liebt, hat ihr wahrscheinlich nur das Geheimnis vorenthalten (“getäuscht”)

um sie zu schützen. Weil Recha auch glaubte, dass sie Nathans biologische Tochter

war, hat sie auch niemals an ihm oder seiner Liebe gezweifelt.

Die Ringparabel zeigt, meiner Meinung nach, dass der Verlust des einen Ringes

scheinbar zu Chaos führt. Gleichermaßen zwingt es die Söhne, um über ihre Position

nachzudenken. Sie sollen die Position, in der sie sich befinden, nicht mehr Gott, sondern

dem eigenem Benehmen (indem sie gut und liebevoll zu den Mitmenschen sind) zu

verdanken haben.

Obwohl Saladin nach dieser Geschichte Nathan seine Freundschaft anbietet,

verstößt er am Ende des Dramas gegen die Moral, indem er den einen Ring wählt und

so die Blutsverwandtschaft mit den Kindern geltend macht. Er akzeptiert nicht, dass

Nathan ohne “gültigen” Ring seine Familie zusammenhält, und hält an dem Konzept

des einen Ringes fest, um seine Familie zu regieren.

5.9 Frauen

Sowohl das Drama Nathan der Weise als auch die Ringparabel werden von

Männern dominiert: Nathan, Sultan Saladin, der Patriarch, der Tempelherr, der

Klosterbruder, der Derwisch und die Männer der Ringparabel. In der Ringparabel gibt

es sogar keine einzige Frau! In dem Stück selbst gibt es keine biologischen Mütter, und

die Mutterfiguren, die übrig bleiben, sind negativ. Recha und Nathan brauchen in der

Vater-Tochter-Beziehung keine Mutter, auch Sittah wird von Recha nicht anerkannt.

Die drei Frauenfiguren des Dramas (Recha, Sittah und Daja) werden als negativer als

Männer betrachtet.

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Vor allem Daja wird in diesem Drama als eine sehr negative Figur dargestellt.

Verwunderlich ist doch, dass auch Recha sie auf diese Weise betrachtet. Im Drama

bemerken wir, dass Recha immerhin mehr Wert auf die Aussagen ihres Vaters legt, als

auf die von Daja. Indem Recha eine andere Frau (in diesem Fall Daja) für unfähig hält,

interessante Gedanken hervorzubringen, trägt sie zu der Unmündigkeit der Frauen bei.

Doch ist Rechas Attitüde im achtzehnten Jahrhundert nicht so ungewöhnlich. Ellen Van

Laecke bestätigt, wie man die Frau für unfähig hielt nachzudenken und selber

Meinungen zu bilden.144 Meiner Meinung nach, ist es aber schlimm, dass Frauen das

von ihren Artgenossen glauben können.

Obwohl Daja unverkennbar Teil dieser Familie ist, wird sie doch aus der intimen

Vater-Tochter-Beziehung gewehrt. Recha fragt sie mehrmals, weshalb Daja sie von

ihrem Vater trennen will:

Was tat er dir, mir immer nur mein Glück

So weit von ihm als möglich vorzuspiegeln?

Was tat er dir, den Samen der Vernunft,

Den er so rein in meine Seele streute,

Mit deines Landes Unkraut oder Blumen

So gern zu mischen? – Liebe, liebe Daja,

Er will nun deine bunten Blumen nicht

Auf meinem Boden! – Und ich muß dir sagen,

Ich selber fühle meinen Boden, wenn

Sie noch so schön ihn kleiden, so entkräftet,

So ausgezehrt durch deine Blume; fühle

In ihrem Dufte, sauersüßem Dufte,

Mich so betäubt, so schwindelnd! (NdW, III, 1; S. 59; meine Hervorhebung).

Rechas Aussagen sind ziemlich frech, denn Nathan wird mit Vernunft gleichgesetzt,

während sie Dajas Ideen mit Unkraut vergleicht. Wiederum handelt es sich nicht

wirklich um dasjenige, was Recha denkt, denn in dem Gesagten ist Nathans Einfluss

spürbar. Sie spricht erst davon, dass Nathan (!!) die “Blumen” nicht will, bevor sie über

ihre eigenen Gefühle redet.

Doch betrachtet Recha Daja manchmal positiv, denn diese hat ihr “eine Mutter /

So wenig missen lassen!” (NdW, V, 6; S. 130). Rechas Umschreibung “gute böse Daja”

144 Van Laecke, S. 64

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(NdW, V, 6; S. 130) zeigt aber deutlich, dass die Beziehung zwischen den zwei Frauen

sehr doppeldeutig ist. Daja liebt Recha sehr, aber Daja ist ihr Glaube (und vor allem

Recha wieder in den richtigen Glauben zu führen) wichtiger als Rechas Glück.

Auffallend ist, dass Daja zusammen mit Nathan Recha erzogen hat. Recha

bemerkt denn auch die Diskrepanz zwischen der gemeinsamen Erziehung und Dajas

Benehmen: “Liebe Daja, / Das hat mein Vater uns so oft gesagt; / Darüber hast du selbst

mit ihm so oft / Dich einverstanden: warum untergräbst / Du denn allein, was du mit

ihm zugleich / Gebauet?” (NdW, III, 1; S. 60).

Daja wird deshalb auch von Nathan negativ bewertet. Als er Daja besticht, damit sie das

Geheimnis bewahrt, spricht er zu ihr in Imperativen: “Nimm du so gern, als ich dir geb:

– und schweig!” (NdW, I, 1; S. 7; meine Hervorhebungen). Er behandelt aber nur die

böse Mutter Daja auf diese Weise. Daja hat diese Behandlung doch sich selbst zu

verdanken, denn als sie Nathans Geheimnis weiter erzählt und doch sein Geld annimmt,

ist sie ziemlich unverlässig, undankbar und opportunistisch. Nathan behandelt seine

Tochter und Daja auf eine verschiedene Art und Weise. Als Recha Dajas Reden

übernimmt, tadelt Nathan Recha dann immer auf lieblichste Weise.

In diesem Plädoyer für Toleranz haben wir dem aufgeklärten Juden Nathan

begegnet. Es gelingt ihm sich mit sehr verschiedenen Menschen zu befreunden,

ungeachtet ihrer Religion. Obwohl seine Beziehung zu seiner Tochter liebevoll und

positiv ist, bekommt Recha eine neue Familie, denn ihre Blutsverwandten sind entdeckt

worden.

Das Ende von Nathan der Weise zeigt dem Publikum also den Triumph des

Aufklärungsgedankens: alle Menschen sind Brüder. Dieser Triumph ist für Nathan aber

bittersüß: er hat seine Kleinfamilie abtreten müssen und dafür doch recht wenig im

Tausch gekommen.

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6. Synthese

Ich habe in dieser Magisterarbeit die Vater-Tochter-Beziehung in Lessings Miß

Sara Sampson, Emilia Galotti und Nathan der Weise untersucht. Während meiner

Suche bin ich nachgegangen, wie das Leben im achtzehnten Jahrhundert aussah, wie die

Familie gebildet war und ob Frauen auch eine wirkliche Erziehung bekamen. Es stellte

sich heraus, dass die Frauen weniger gesellschaftliche Chancen bekamen als die

Männer. Die unmündigen Frauen wurden auf den Haushalt vorbereitet.

Nach dieser sozial-historischen Skizze, habe ich in allen Dramen separat die Vater-

Tochter-Beziehung und damit einhergehende Aspekte betrachtet.

Ein meiner Ausgangspunkte bei der Forschung dieser Magisterarbeit war diese Frage:

“Warum stirbt Recha in Lessings Nathan der Weise nicht?” Jetzt möchte ich versuchen

eine Antwort auf diese Frage zu formulieren.

Einen ersten Hinweis für die Lösung dieser Frage finden wir in der Gattung der

ersten zwei Stücke: Miß Sara Sampson und Emilia Galotti sind nämlich beide

Tragödien, während Nathan der Weise ein “dramatisches Gedicht” ist. Es ist

charakteristisch für die Gattung der Tragödie, dass eine (oder mehrere) Figur(en) am

Ende des Stückes sterben, in diesem Fall Sara und Emilia.

Zweitens möchte ich hier näher auf die Tatsache eingehen, dass Recha nicht

Nathans biologische Tochter ist. Die Weise, wie Nathan sie liebt, ist anders, als die, wie

man die biologischen Kinder liebt. In den Familien, die auf Blutsverwandtschaft

basieren, gibt es einen größeren Zwang der Liebe als in den Adoptivkonstruktionen, wo

man die Mitglieder selbst über das Maß der Liebe entscheiden lässt. Diese Verhältnisse

können wir in den Dramen vorfinden: In Miß Sara Sampson und Emilia Galotti finden

wir den patriarchalischen/autoritären Zwang der Liebe, in Nathan der Weise und am

Ende von Miß Sara Sampson erkennen wir die zarte Liebe, eigen an der Adoptivfamilie.

Doch kommt dieser Zwang der Liebe auch in Nathan der Weise vor. Wie sich

herausstellt, dass Saladin den Kindern biologisch verwandt ist, zeigt auch er seine

Autorität, um Recha und den Tempelherrn zu zwingen, seine Vaterrolle anzunehmen.

Wie schon gesagt, gehen die biologischen Eltern, wie Sir William und Odoardo, anders

mit ihren Töchtern um. Saße nach, handelt es sich bei Blutsverwandtschaft um “eine[r]

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pflichtgemäße[n] Liebe”145. Die Liebe zwischen Nathan und Recha ist viel freier als

diese zwischen biologischen Verwandten. So behauptet Fiedel mit Recht: “Nathan ist

als nichtleiblicher, sondern geistiger Vater als einziger in der Lage, eine wirkliche

tragfähige Familie aufzubauen.”146 Meiner Meinung nach stimmt diese Aussage nur

teilweise. Nathan ist, in der Tat, der einzige, der versucht, seine Tochter liebevoll und

vernünftig zu erziehen. Durch sein Geheimnis wird seine Familie aber doch

auseinandergezogen.

Die folgende Ursache für den Tod der beiden tugendhaften Töchter, hängt meiner

Meinung nach auch mit der Tatsache zusammen, dass sowohl Sara als auch Emilia

einen lebenden biologischen Vater haben.

Saras und Emilias Tod wird auch dadurch verursacht, dass ihre autoritären Väter zu viel

Wert auf die Tugend legen. Sowohl Sara als auch Emilia können den Druck – die

Tugend zu bewahren – nicht bewältigen. Die Autorität des Vaters verschlimmert noch

durch die Abgrenzung der Familie von der Außenwelt. Dadurch übernehmen die

Töchter nicht nur die Ideen der Eltern (vor allem die des Vaters), sie werden außerdem

auch weit von anderen Männern entfernt gehalten. Weil sie nicht wissen, wie sie sich in

der Umgebung von Männern zu verhalten haben, kennen die Dramen auch die

tragischen Folgen. In Emilia Galotti ist die Familie so exklusiv, dass auch die Bedienten

daraus gewehrt werden. Waitwell, der Diener von Sir William, ist aber doch ein Teil der

Familie. Auch Nathan hat auf die Familienbildung eine ganz andere Sicht: so ist seine

Dienerin Daja Teil der Familie, und versucht er seine kleine Familie auch mit Freunden,

wie zum Beispiel dem Derwisch, zu erweitern.

Ein anderes Problem ist, dass die Eltern nicht viel Vertrauen zu den Kindern haben.

Dieser Mangel an Vertrauen bewirkt in der Familie Sampson und Galotti die eigentliche

Katastrophe und das Ende der Familie. Doch vertraut Nathan offensichtlich seine

Tochter auch nicht ganz, denn sie weiß nicht, dass sie nicht seine biologische Tochter

ist. So wird auch diese Beziehung mit Trennung bedroht. Doch hat Nathan – davon

abgesehen – Vertrauen zu seiner Tochter. Zusammen reden sie viel über ihre Gefühle.

In den zwei anderen Familien wird aber wenig über die Gefühle der Töchter

gesprochen, wodurch eine gewisse Trennung zwischen Vater und Tochter entsteht. 145 Saße, S. 223 146 Fiedel, S. 81

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Wenn man die Tochter für unzuverlässig und nicht vertrauenswürdig hält, wird die

Trennung nur größer, bis letztendlich die Katastrophe unvermeidlich ist. Außerdem sind

die Töchter nicht sehr mündig: die Eltern halten sie klein, in der Hoffnung, die Töchter

so bei sich zu behalten. Wenn dies misslingt, vergrößert die Katastrophe nur. Außerdem

haben sowohl Sara als auch Emilia eine minimale Erziehung bekommen, wo sie nicht

gelernt haben, mit anderen Leuten umzugehen. Sie sind genau so leicht verführbar, weil

ihre Kontakte mit Männern durch die Eltern aufs Minimum beschränkt wurden. Die

Erziehung dieser beiden jungen Frauen (Sara und Emilia) bildet die wirkliche Tragik.

Hätten die Eltern den Kindern mehr Freiheit und Erziehung gegeben, so wären Sara und

Emilia nicht frühzeitig in den Tod gegangen. Dieses possessive Verhältnis zwischen

Familienmitgliedern ist also auch teilweise verantwortlich für die Zerstörung der

Familie.

Wenn Lorey behauptet, “daß gerade in den Trauerspielen die Katastrophe

hauptsächlich auf die gestörten Familienverhältnisse zurückgeführt werden kann”147,

können wir ihm nur beipflichten. Das bemerken wir vor allem in Miß Sara Sampson

und Emilia Galotti. Aber auch in Nathan der Weise – sei es auch in geringerem Maß –

können wir gestörte Familienverhältnisse wiederfinden. Die Probleme werden in Miß

Sara Sampson und Emilia Galotti durch den Tugendrigorismus verursacht, und in

Nathan der Weise durch das Geheimnis. Der Keim der Vernichtung liegt also innerhalb

der Familie.

Es ist außerdem auffallend, dass Sara und Emilia dem Vater nur in der letzten

Szene zum ersten und letzten Mal im Drama begegnen. Ich glaube, dass es gerade

bezeichnend ist für die Liebe zwischen Vater und Tochter, dass sie einander nur einmal

begegnen. Die Liebe ist irgendwo da, aber sie wird nicht genügend gezeigt. Beide Väter

zweifeln zu lange, ob sie die Tochter sehen wollen, und wenn sie sich dazu im Stande

fühlen, ist der dramatische Konflikt so weit vorangekommen, dass sie nur noch

rechtzeitig da sind, um die Tochter sterben zu sehen. Auch Fick behauptet Ähnliches:

“indem die Figuren über ihre Empfindungen reflektierten, versäumten sie eben die

emotionsgesteuerten Handlungen, durch die die Katastrophe hätte vermieden werden

147 Lorey, S. 2

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können”148. Sowohl Sir William als auch Odoardo haben an der Tugendhaftigkeit ihrer

Tochter gezweifelt, und gerade dieses Denken hat sie im Handeln gehemmt. Während

Sir William und Odoardo zu stark auf eine Eigenschaft (wie z.B. Tugend) fokussieren,

versucht Nathan zwischen verschiedenen Eigenschaften ein Gleichgewicht zu finden.

Weil er seiner Tochter ausgeglichen begegnet, ist er der bessere Vater.

Während Sir William seinen Tugendrigorismus letztendlich bedauert, verursacht

Odoardos Tugendrigorismus – noch gerade bevor Emilia ihre Tugend hätte aufgegeben

können – den Tod seiner Tochter. Odoardo zeigt nach dem Tod Emilias auch kein

Bedauern, dass er sie wegen seiner Angst, dass Emilia sonst ihre Tugend aufgeben

würde, getötet hat.

In Miß Sara Sampson erkennt Sir William außerdem letztendlich, dass er in seiner

Liebe sehr eigennützig gewesen ist. Diese Erkenntnis positioniert ihn näher zu Nathan

als zu Odoardo. Denn Odoardo findet am Ende des Stückes noch immer, dass er richtig

gehandelt hat. Er bedauert den Tod seiner Tochter, aber nicht aus dem richtigen Grund.

Er ist mit seinem Tugendbegriff zu weit gegangen, als dass er sich leicht von diesem

Tugendrigorismus wieder entfernen könnte. Nathan, nicht so streng in

Tugendprinzipien, verliert auch seine Tochter, sie bleibt aber am Leben. Obwohl Recha

die Trennung von ihrem Vater furchtbar findet, denkt sie logisch darüber nach. Deshalb

weiß sie auch Saladin und Sittah von ihrer Liebe für ihren Vater zu überzeugen. Sara

und Emilia sind emotional, sie denken wenig nach, und können folgendermaßen

niemanden von ihrer Meinung überzeugen. Beide stützen sich auf die Religion, die mit

dem Herzen und nicht mit dem Kopf ausgeübt wird.

Nathan ist die einzige Figur, die seine Tochter bedingungslos liebt. Er erwartet

auch nicht, dass sie sich uneinhaltbaren Tugendprinzipien unterwirft. Nathan ist also im

Vergleich zu den anderen Vätern am wenigsten tyrannisch. Folgende Umschreibung

von Lorey lässt sich auf Nathan beziehen: “Die familiale Gemeinschaft muß auf einer

bedingungslosen Liebe beruhen, die sich nicht nach der Bestätigung der Tugend und

dem hiermit verbundenen “Wert” der Individuen richtet.”149 Er versucht seine Familie

mit Liebe zusammen zu halten, was ihm auch gewissermaßen gelingt, denn er ist (und

das ist auffallend!) der einzige Vater, der seine Tochter nicht durch den Tod verliert.

Meiner Meinung nach ist Nathan der vollkommenste Vater der drei Dramen. Diese 148 Fick, S. 126 149 Lorey, S. 168

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Meinung teilt auch Fiedel: “Anders als die beiden Väter der anderen Dramen vereinigt

er das Liebevolle mit der Strenge, die Weichheit und Emotionalität mit der nötigen

Härte”150.

Sowohl in Miß Sara Sampson als auch in Emilia Galotti wird am Ende aber die

patriarchalische Vaterfigur noch immer anerkannt. Beide Töchter erkennen nicht oder

wollen nicht erkennen, dass ihr Tod – an erster Stelle – durch den Patriarchalismus

verursacht wird. Sørensen bemerkt hier mit Recht: “Diesen beiden Töchtern [Sara und

Emilia] sind auch die letzten, unmittelbar vor dem Sterben gesprochenen Worte

gemeinsam: „– mein Vater!“”151. Sogar im Moment des Sterbens betonen die Töchter

noch die “Richtigkeit” der Väter.

Diese drei Gründe sind die wichtigsten für den Tod von Sara und Emilia. Doch

gibt es auch noch andere, wie die Eindringlinge. In allen Dramen finden wir eine

Erweiterung der Familie, erwünscht oder unerwünscht. Die Eindringlinge sind vor

allem Figuren, die sich nicht in einer familialen Verbindung befinden, die Teil der

Hauptfamilie ausmachen wollen. Obwohl die Eindringlinge meistens den Wert der

Familie betonen, zeigen sie diesen Familien gegenüber doch wenig Respekt. Der

Mangel an Respekt kommt daher, dass die Bedränger der Töchter andere familiale

Wertvorstellungen haben. So hat Mellefont vor keiner Familie Respekt, nicht vor seiner

ehemaligen Familie und nicht vor der Vater-Tochter-Beziehung von Sara und Sir

William. Prinz Gonzaga ist es gewohnt, immer zu bekommen, was er will, und benimmt

sich auch in seinem Verhältnis zu Emilia auf diese Art. Der Tempelherr, letztendlich,

setzt seine Religion, genau wie Daja, höher als die zarte Beziehung zwischen einem

Vater und seiner Tochter.

Ich möchte näher eingehen auf zwei dieser Eindringlinge, weil sie (mehr als die

anderen) beteiligt sind an dem Tod der beiden Töchter: die Liebhaberinnen. Nicht nur

sind sie an deren Tod beteiligt, sondern sie wirken zugleich als Spiegel. Sie sind eine

Warnung vor dem Schicksal, das Sara und Emilia erwartet, wenn sie bei diesen

Männern bleiben. Auch Lorey hat dies bemerkt: “Ähnlich wie die Marwood in Miss

Sara Sampson wird die Orsina zum Spiegel des bevorstehenden Schicksals von Emilia 150 Fiedel, S. 64 151 Sørensen, S. 82

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in den Händen des Prinzen”152 (Meine Hervorhebung).

Marwood und Orsina werden doch in scharfen Kontrast zu den tugendhaften

Töchtern Emilia und Sara gesetzt. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass diese Frauen

auch einmal tugendhaft gewesen sind, bis sie dem Verführer begegneten. Desto

merkwürdiger, ist, dass der Verführer vom Leser als eine bessere Person empfunden

wird als die verführte Frau.

Auffallend ist, dass Marwood und Orsina Ausnahmen von dem Frauenbild des

achtzehnten Jahrhunderts sind. Sie sind starke Frauen, die sich nicht das Stillschweigen

auferlegen lassen. Wenn sie betrogen werden, wollen sie sich rächen. Doch können wir

die beiden Frauen auch als schwach betrachten, denn sie können die vergangene Liebe

nicht aufgeben. Dies ist vielleicht aus finanziellen Gründen zu erklären.

Marwood und Orsina sind aber tätiger als Sara und Emilia, denn sie wollen sich rächen.

Auffallend ist, dass beide verführte Frauen nicht mehr unter dem Schutz eines Vaters

stehen. Inge Stephan schreibt darüber:

So sind die Marwood und die Orsina nicht nur die Verkörperung einer negativ gefaßten Weiblichkeit, sondern sie sind auch verzerrte Nachklänge eben jenes Typus der weltklugen, selbständigen, nach Autonomie strebenden Frau, der als Ideal in der Frühaufklärung ausgebildet wurde.153

Doch werden sie negativ bewertet, so auch bei Stephan: “Am Leben bleiben die

Mätressen [...], also die Frauen, die dem Gebot der Reinheit so gar nicht

entsprechen.”154

Der Leser bekommt – durch die Augen von Mellefont und Gonzaga hergestellt – ein

sehr negatives Bild von Marwood und Orsina, noch bevor wir ihnen zum ersten Mal

begegnet sind.

Obwohl diese Dramen in dem Zeitalter des Patriarchalismus geschrieben werden,

ergreift die Position der Frau mich sehr. Sie wird als negativ betrachtet, auch durch ihre

Artgenossen, was mich erstaunte.

Auffallend ist, dass sowohl Sara als auch Emilia positiv betrachtet werden, aber nur

wenn sie die von ihren Vätern auferlegten Tugendvorstellungen verfolgten. In Nathan

der Weise finden wir keine so strengen Tugendprinzipien. Wir begegnen denn auch

152 Lorey, S. 212 153 Stephan, S. 5 154 Stephan, S. 10

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zwei ziemlich klugen Frauen, nämlich Recha und Sittah. Es gelingt ihnen auch nicht,

sich von ihrer Unmündigkeit zu befreien und sich auf vollwertige Weise an der

Gesellschaft zu beteiligen.

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7. Bibliographie 7.1 Primärliteratur Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart: Reclam 1996 Lessing, Gotthold Ephraim: Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart: Reclam 1975 Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. Stuttgart: Reclam 1993 Sekundärliteratur Bördlein, Christoph: Anredeformen im Deutschen des 18.Jahrhunderts am Beispiel von Christian Fürchtegott Gellert: Die Betschwester (1745) Jakob Michael Reinhold Lenz: der Hofmeister(1774) und Emmanuel Schikaneder: Die Zauberflöte. Diplomarbeit. Im Studiengang Germanistik. In der Fakultät Sprach- und Literaturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Auf: http://www.boerdlein.gmxhome.de/seiten/pdf /anrede.pdf Bohnert, Christiane: «“Wer käme schon ohne seinen Kant aus?” Praktische Vernunft in den achtziger Jahren.» In: Aufklärung nach Lessing. Beiträge zur gemeinsamen Tagung der Lessing Society und des Lessing-Museums Kamenz aus Anlaß seines 60jährigen Bestehens. Hg. von Wolfgang Albrecht, Dieter Fratzke und Richard E. Schade. Kamenz: Schriftenreihe des Lessing-Museums Kamenz 1992 Braeckman, Johan: Historisch Overzicht van de wijsbegeerte. Universiteit Gent: Academiejaar 2005-2006 Cocalis, Susan L.: “Der Vormund will Vormund sein: Zur Problematik der weiblichen Unmündigkeit im 18. Jahrhundert.” In: Gestaltet und Gestaltend. Frauen in der deutschen Literatur. Hg. von Marianne Burkhard. Amsterdam: Rodopi N.V. 1980 Dalemans, Jacques: Bild und Rolle des Hausvaters im frühen deutschen bürgerlichen Drama unter besonderer Berücksichtigung von Gellerts Zärtlichen Schwestern (1747) und Lessings Miss Sara Sampson (1755). Vrije Universiteit Brussel: Academisch Jaar 1982-1983 De Vos, Jaak : Geist der Goethezeit. Uneinheitlichkeit einer einheitlichen Epoche. Universiteit Gent: Academiejaar 2007-2008 Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG 2007 Eibl, Karl : Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1971

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Wurst, Karin: Familiale Liebe ist die ‘wahre Gewalt’. Die Repräsentation der Familie in G.E. Lessings dramatischem Werk. Amsterdam: Rodopi 1988. Wurst, Karin A.: “Gender and Identity in Lessing’s Dramas”. In: A Companion to the works of Gotthold Ephraim Lessing. Hg. von Barbara Fischer und Thomas Fox. Rochester (N.Y.): Camden House 2005 “Zu Lessings »Nathan der Weise«”. In: Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Stuttgart: Reclam 1976