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PROF. DR. TILMAN BORSCHE INSTITUT FÜR PHILSOPHIE UNIVERSITÄT HILDESHEIM Was der Mensch schaffen kann Kreativität und Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen bei Giovanni Pico della Mirandola und Nikolaus von Kues Hausarbeit zum Seminar: Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen WS 2011/12 xxx Master Philosophie – Künste – Medien, 3. Semester

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PROF. DR. TILMAN BORSCHE INSTITUT FÜR PHILSOPHIE UNIVERSITÄT HILDESHEIM

Was der Mensch schaffen kann

Kreativität und Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen bei Giovanni Pico della Mirandola und Nikolaus von Kues

Hausarbeit zum Seminar:

Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen WS 2011/12

xxx

Master Philosophie – Künste – Medien, 3. Semester

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Gliederung

1. Menschenbilder gestern und heute

2. Gemeinsamer Ausgangspunkt: Der Mensch als Geschöpf

2.1. Pico della Mirandola:

Kreativität als Freiheit zur Wahl des eigenen Lebensvollzugs

2.2. Nicolaus Cusanus:

Kreativität als Schöpferkraft des Menschen in Ebenbildlichkeit zu Gott

3. Vergleich der Bestimmungen Gottes und des Menschen bei Pico und Cusanus

3.1. Man muss nur können.

Potentialität und Dynamisierung von Cusanus zu Pico

3.2. Und was macht der Schöpfer?

Ein anderer Blick auf die Bestimmung der Freiheit

3.3. Wie tief kann man sinken?

Das untere Ende der Skala bei Pico und Cusanus

4. Fazit

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1. Menschenbilder gestern und heute

7 Wochen Ohne, die beinahe dreißig Jahre alte Fastenaktion der evangelischen Kirche,

charakterisiert ihr Fastenmotto für das Jahr 2012 folgendermaßen:

„Jeden Tag ein bisschen besser – mit diesem Slogan preist nicht nur die Werbung ihren Ehrgeiz. Auch Eltern, Lehrer, Arbeitgeber könnten in das Credo einstimmen. Nach den jüngsten Erfolgen werden immer gleich die neuen Ziele ausgerufen. Was gestern gut war, muss morgen überboten werden: Die Skala ist nach oben immer offen. Jeder könnte besser, schneller, attraktiver sein. (…)

7 Wochen ohne falschen Ehrgeiz, das klingt auf diesem Hintergrund wie eine Aufforderung zum Scheitern, ein Lockruf der Sünde in einer optimierten Welt.

Gut genug!, lautet die Botschaft, die wir Ihnen dafür mit auf den Weg geben. Sieben Fastenwochen lang dürfen Sie’s gut genug sein lassen und den Blick schulen für den Punkt, wo’s reicht. Darf Zufriedenheit aufkeimen mit dem Gegebenen, dem Geschenkten.“1

Gut genug! 7 Wochen ohne falschen Ehrgeiz, schleudert also die Kirche der maßlosen

Gegenwart entgegen – und beruft sich dabei2 auf einen bekannten Psalm:

„Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschenkind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Ochsen allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und was im Meer geht.“3

Ausgehend von der Betrachtung des Himmels, einem Ausschnitt aus Gottes Schöpfung,

drängt sich hier dem Psalmisten die Frage auf, womit sich die Berücksichtigung des

Menschen in Gottes Plan rechtfertigen ließe. Als Antwort – oder Ausweitung – der Frage

folgt die Positionsbestimmung des Menschen, knapp unterhalb der Herrschaft Gottes und

dabei selbst „zum Herrn“ über die Schöpfung eingesetzt. Der Mensch als Geschöpf Gottes

und Herr über die Welt, diese Bestimmung übte, ausgehend vom biblischen

Schöpfungsbericht, großen Einfluss aus. Doch es finden sich in der Bibel auch andere

Ansichten über den Menschen.

„Man arbeite, wie man will, so hat man doch keinen Gewinn davon. Ich sah die Mühe, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie darin geplagt werden. (…) Denn es geht dem

1 http://7wochenohne.evangelisch.de/content/vergangene-fastenaktionen, zuletzt aufgerufen am 16.12.2012 2 Ebd. 3 Psalm 8, 4-8.

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Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh; denn es ist alles eitel.“4

Ganz so eindeutig ist es also nicht, welches Menschenbild „das Christentum“ nahelegt.

Zumindest in der Bibel lässt sich keine unwidersprochene Antwort dazu finden. Allerdings

hätte diese, aufgrund ihrer Autorität alleine, ohnehin keine ausreichende Überzeugungskraft

entfalten können, um die Frage nach dem Menschen zu erledigen. Wohl aber die Argumente

derer, die über den Menschen nachgedacht haben. Da fällt der suchende Blick unwillkürlich

auf die Renaissance, jene Epoche der Geistesgeschichte, in welcher der Mensch in den

Mittelpunkt des Nachdenkens rückte.

Ein Film, der diese Zeit in Bilder fassen wollte, müsste Florenz zeigen, das Zentrum der

Renaissance, die Stadt der Medici, müsste den jungen Grafen Giovanni Pico della Mirandola

vorstellen und seinen Traum bebildern, einen Kongress der großen Denker aus ganz Europa in

Rom abzuhalten. 900 Thesen hatte er zur Disputation verfasst. Doch der Kongress wird

abgesagt. Ketzerische Inhalte werden Pico vorgeworfen, würde eine dunkle Kommentar-

Stimme sich einschalten. Es bleibt uns bis heute – Steigerung der untermalenden Musik im

Hintergrund – die Rede zur Kongress-Eröffnung, die Rede über die Würde des Menschen5.

Schnitt. Kamerafahrt über die Gassen von Rom. Zu Tausenden strömen Pilger durch die

Straßen, nur einer steht still. Zoom auf einen blassen, würdevoll gekleideten Herrn, der

staunend auf einer Brücke stehend das Treiben beobachtet. Offenbar hat Nicolaus Cusanus

sich in dieser Figur selbstironisch karikiert, seine Lehre aber legt er in den Mund einer

anderen Figur. Der PHILOSOPH wird von einem Ortsansässigen erkannt und angesprochen.

Jener REDNER führt den Fremden, der „über die Unsterblichkeit des Geistes belehrt zu

werden“6 wünscht, zu einem Freund: Der LAIE führt, mit dem Philosophen und dem Redner

im Keller sitzend und an einem Löffel arbeitend, seine Gedanken über den Geist aus: Idiota

de mente.

Ist eine filmisch aufbereitete Rezeption nicht sogar angemessener als die stille Lektüre?

Schließlich präsentieren sich beide Texte zunächst als die Abschrift des gesprochenen Wortes.

Der eine als Text einer Rede, deren Bestimmung es ist, ihre Wirkung im Vortrag zu entfalten,

4 Salomo 3,9f.; 3,19. 5 Diesen Titel erhielt die Rede nicht von Giovanni Pico della Mirandola selbst, sondern von seinem Neffen Gian Francesco Pico, der die Rede nach dessen Tod veröffentlichte. 6 Nikolaus von Kues, Idiota de mente. Der Laie über den Geist. Lateinisch-Deutsch. Übers. u. hrsg. von Renate Steiger, Hamburg: Felix Meiner, 1995, cap. I, n. 52, S. 5.

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und der andere als im Austausch dreier Männern unmittelbar Gesagtes, welches in

Schriftform notwendigerweise defizitär widergegeben wird.

An einem Punkt aber sperren sich beide Texte gegen Modernisierungsversuche dieser Art.

Picos Text beginnt mit einer Szene, die zwar nacherzählbar, aber schwer zu verfilmen ist.

Gott richtet sein Wort, kaum ist die Schöpfung getan, unmittelbar an den Menschen. Die

folgende Beschäftigung mit Picos Rede wird im Wesentlichen um diese Ansprache zu kreisen

haben.

Cusanus verweist auf die zukünftigen Leser als die eigentlichen Adressaten des im Verlauf

dieses fiktiven Zusammentreffens Gesagten, indem er den Laien sich mit dem Auftrag an den

Redner wenden lässt, das Gesagte „durch geziemende Verfeinerung“7 so aufzuarbeiten

(„adaptare“8), dass „es für die Leser angenehmer“9 sei. Doch in der Antwort des Redners ist

bereits festgeschrieben, welcher Auffassung der gute Leser diesbezüglich zu sein hat: „[E]s

wird denen, die nach der Wahrheit suchen, voller Zier erscheinen.“10

Ich lasse also ab von meinen Ideen zur filmischen Ausschmückung und besinne mich auf die

genaue Lektüre der vorliegenden Texte. – Dabei fällt auf, dass das, was man für ein

Phänomen der heutigen, „optimierten Welt“ (s.o.) zu halten versucht ist, eine durchaus nicht

neue Auffassung ist: „Die Skala ist nach oben immer offen.“, klagt die Kirche mit Blick auf

die heutige Zeit. Doch es wird sich zeigen, dass schon Pico und Cusanus das nicht anders

sehen wollten.

Auch in das „Gut genug“ der Fastenaktion hätten beide nicht vorbehaltlos miteingestimmt.

Das liegt nicht etwa daran, dass sie den Menschen als Elends- und Mangelgeschöpf

ausweisen, wie es die Tradition der miseria-Literatur jahrhundertelang vor ihnen getan hatte.

Im Gegenteil: Ihr Anliegen ist es, den Menschen in seiner Würde erscheinen zu lassen. Aber

der Weg zur Auszeichnung des Menschen führt über die Anerkennung seiner

Unvollkommenheit: Gerade in der Unvollkommenheit – und damit Entwicklungsfähigkeit des

Menschen – liegt seine Bestimmung und seine Würde. Interessant an beiden Ansätzen ist

eben diese Verschränkung von Unzulänglichkeit und Vollkommenheit des Menschen. Gerade

hier aber findet sich auch der größte Unterschied zwischen den beiden Ansätzen, wie sich am

Ende der Ausführung zeigen wird. Doch zunächst soll erst das Menschenbild des Pico, dann 7 Idiota de mente, c. VII, n. 106, S. 63. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd., n. 107, S. 65.

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das des Cusanus dargelegt werden, bevor beide in einem weiteren Schritt miteinander

verglichen werden.

2. Gemeinsamer Ausgangspunkt: Der Mensch als Geschöpf

2.1. Pico della Mirandola:

Kreativität als Freiheit zur Wahl des eigenen Lebensvollzugs

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“11 – Die christliche Deutung Gottes als Schöpfer

und Erhalter der wohlgeordneten Welt, die ihre Grundlage im biblischen Schöpfungsbericht12

findet, wird bei Pico wie bei Cusanus vorausgesetzt. Auch die aus der Schöpfungserzählung

hervorgehende Sonderstellung des Menschen gegenüber den übrigen Geschöpfen wird von

beiden aufgegriffen. Doch schon dabei trennen sich die Argumentationswege.

Pico hält sich an die Reihenfolge der Priesterschrift, wonach zunächst die Welt mit allen

Lebewesen, dann erst, in einem separaten Akt, der Mensch erschaffen wird.13 Darüber

hinausgehend stellt er mehrfach eine Verbindung des Schöpfungsaktes mit einem

künstlerischen Akt her. Mit dem ablativus absolutus „opere consummato“14, „als das Werk

vollendet war“15, betont Pico die Abgeschlossenheit der Weltschöpfung, die, gleich einem

Kunstwerk, nach der Fertigstellung einen Betrachter fordert. Entsprechend wird Gott als

„artifex“16 und „architectus“17, als Künstler und Architekt bezeichnet, der nachvollziehbare

Bedürfnisse hegt: Er ersehnt die Existenz eines urteilsfähigen und liebenden Betrachters und

Bewunderers, „desiderabat […] esse aliquem, qui tanti operis rationem perpenderet,

pulchritudinem amaret, magnitudinem admiraretur“18.

Doch die Weltordnung ist bereits errichtet, der anschließend hinzugesetzte „contemplator“19

bleibt ohne spezifischen Ort in der Welt und außerhalb aller Rangordnungen.20 Das aber ist

kein Mangel. Picos strategisch wie ästhetisch feingeschliffene Erzählung wird an dieser Stelle 11 Genesis 1,1. 12 Genauer: In den Schöpfungsberichten, sowohl in der älteren jahwistischen Version (Gen. 2,4b-3,24) als auch in der jüngeren, später an den Anfang gesetzten Priesterschrift (Gen. 1,1-2,4a). 13 Vgl. Gen. 1,1-1,30. Auch die nachfolgende jahwistische Version betont die Sonderstellung des Menschen, um dessentwillen die Tiere geschaffen werden (Vgl. Gen. 2,8-20). 14 Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Lateinisch-Deutsch. Übers. und herausgegeben von Gerd von der Gönna, Stuttgart: Reclam, 2009, S. 6. 15 Ebd., S. 7. 16 Ebd., S. 6. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. Ebd.

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durch ein Argument geradezu unterbrochen: Es wäre mit der Allmacht, Allwissenheit und

Güte bzw. „Schöpferkraft“, „Weisheit“ und „Liebe“21 Gottes – für die offenbar keine

Argumente genannt werden müssen – unvereinbar, ließe sich in der dargelegten

Charakterisierung des Menschen ein Nachteil erkennen. Und an dieser Stelle setzt Picos freie

Nacherzählung des Schöpfungstextes wieder ein. Gott richtet das Wort unmittelbar an den

Menschen und erklärt diesem, warum er über „keinen bestimmten Platz […], auch keine

bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe“22 verfüge:

„Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen.“23

„Wir sind geboren worden unter der Bedingung, dass wir das sein sollen, was wir sein

wollen.“24, schließt Picos Zusammenfassung hier an, indem er die Unbestimmtheit des

menschlichen Wesens mit der vorbestimmten Entwicklung der Tiere sowie der „von Ewigkeit

zu Ewigkeit“ gleichbleibenden Existenz der höheren Geistwesen vergleicht und als

„übergroßes und bewundernswertes Glück des Menschen“ 25 bezeichnet. Alle Möglichkeiten

hat Gott zur Verfügung gestellt, aus den Lebensformen von der Pflanze bis zum Engel kann

der Mensch wählen, was und wie er sein will. Die Wertung dieser Möglichkeiten, ist

eindeutig, die Grenze nach oben hin ist offen:

„Und wenn er [der Mensch] unzufrieden ist mit jedem Lose der Geschöpfe und sich zurückzieht in den Mittelpunkt des eigenen einheitlichen Wesens, wird er mit Gott zu einem Geist vereint im einsamen Dunkel des Vaters, der über alle Dinge gesetzt ist, alle Geschöpfe übertreffen.“26

Als sein eigener Schöpfer, als „Former und Bildner [s]einer selbst“27 in Analogie zu Gott,

dem höchsten Künstler28, hat der Mensch die Möglichkeit, sich der Würde Gottes anzunähern.

Wie das zu tun ist, ist folgerichtig Thema der anschließenden Ausführungen.

Um selbst mit den Engeln rivalisieren zu können, dient das Wissen um deren Lebensstil als

nützliche Orientierungshilfe. Wie Cherub, Thron und Seraph, soll der Mensch sich mit Hilfe

der Moralphilosophie läutern, mit der Dialektik seinen Verstand schärfen und schließlich in

der Auseinandersetzung mit Naturphilosophie und Theologie zur Gotteserkenntnis aufsteigen.

21 Ebd. 22 Ebd., S.9 23 Ebd. 24Ebd., S. 13 25 Ebd., S. 9. 26 Ebd., S. 11. 27 Ebd. 28 Vgl. ebd., S. 6.

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Es ist die Hervorhebung der diesseitigen Möglichkeiten des Menschen, die Picos Werk

auszeichnet. Wir können29 und sollen „auf Erden zum Leben der Cherubim streben“30, die

Einheit mit Gott nicht erst nach dem Tod erwarten. Dieses Vertrauen in den Menschen ist

beeindruckend. Dennoch bleiben Wünsche offen. Pico scheint sich mehr auf die spontan

einleuchtende Logik seiner Geschichte, auf die Sogwirkung der Narration, als auf eine

durchdachte Argumentation zu verlassen. Obwohl in ihrer rhetorischen Zuspitzung genial,

bleibt die Rede in der Ausführung der Gründe und Konsequenzen ihres Lobliedes auf die

Möglichkeiten des Menschen unbefriedigend. Nach dem Genuss – denn das war es zweifellos

– von Picos Ausführungen bleibt das Verlangen nach einer weiteren, tiefergehenden

Auseinandersetzung mit der Sonderstellung des Menschen. Dem suchenden ersten Blick

erscheint da ein Werk vielversprechend, welches, rund 30 Jahre zuvor entstanden, nicht als

mitreißende Rede, sondern als ausführlicher Dialog angelegt ist. Der Autor, dem gar das für

diesen Zusammenhang hochinteressante Attribut „ein Lehrer Picos“ 31 verliehen wurde, gerät

in seiner Schrift Idiota de mente, Der Laie über den Geist in ähnliche Jubelstimmung

angesichts der menschlichen Möglichkeiten, für die er jedoch aus anderen Gründen eintritt.

Worin gründet die Hochschätzung des Menschen bei Cusanus?

2.2. Nicolaus Cusanus:

Kreativität als Schöpferkraft des Menschen in Ebenbildlichkeit zu Gott

Nicht in göttlichen Höhen und paradiesischen Zuständen, sondern im alltäglichen

Lebenszusammenhang der praktischen Arbeit, angesiedelt in einem Kellerraum, nimmt das

cusanische Nachdenken über den Menschen seinen Ausgang. Punktsymmetrisch zum Werk

29 Vgl. ebd., S. 15: „Wenn auch wir so leben (denn das können wir), haben wir ihren Rang schon erreicht.“ 30 Ebd., S. 17. 31 Harald Schwaetzer, Aequalitas. Erkenntnistheoretische und soziale Implikationen eines christologischen Begriffs bei Nikolaus von Kues. Eine Studie zu seiner Schrift "De aequalitate", Hildesheim: Olms, 2004, S. 11. Die Diskussion, ob und wie Pico Cusanus gekannt hat und von ihm beeinflusst wurde, kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Eine aufschlussreiche Zusammenfassung bietet Kurt Flasch, „Nikolaus von Kues und Pico della Mirandola“, in: Rudolf Haubst (Hg.), Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 14, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1980, 113-120. Einige dort ausgeführte Punkte sind jedoch zu interessant, um hier nicht zu genannt zu werden: Aus dem Bericht päpstlicher Nuntien ist bekannt, dass Pico 1488 im Zusammenhang mit seiner Flucht (vor der Inquisition) nach Frankreich geplant hatte, die Bibliothek in Kues zu besichtigen und eventuell zu kaufen. Demnach muss Pico zumindest von Cusanus gewusst haben. In Picos eigener Bibliothek findet sich kein Werk, als dessen Autor Cusanus genannt wird, wohl aber nennt der Katalog dieser Bibliothek den Titel De mathematicis complementis. Ob es sich um das gleichnamige Werk des Cusanus handelt, kann weder bewiesen noch ausgeschlossen werden. Ob ein Einfluss durch Cusanus inhaltlich nachzuvollziehen ist, untersucht Flasch im Folgenden in den 900 Thesen, nicht aber in deren Einleitung.

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des Pico ist der Anlass dieser überaus diesseitigen Eröffnungsszene jedoch eine durchaus ins

Absolute verweisende Fragestellung.

Die Unsterblichkeit des Geistes mit dem Verstand (ratione) zu ergründen ist das Ziel des

Philosophen. Sogleich fügt er jedoch hinzu, dass die Ungebildeten, denen die Unsterblichkeit

des Geistes als Glaubensinhalt selbstverständlich und klar vor Augen stehe, offenbar den

Philosophen aller Orte und Zeiten voraus seien, welche sie, obgleich sich alle – ob bewusst

oder unwissentlich – über die These einig seien, doch nicht beweisen könnten.32 Also sucht er,

vermittelt durch den Redner, das Gespräch mit einem Laien, der in einer Kellerstube

Holzlöffel schnitzt.33 In diesem Bild des Löffelschnitzers ist die Hochschätzung für jene,

Geist und Körper gleichermaßen erfassende, „Übungen“ 34 ausgedrückt, die sowohl die Arbeit

des Geistes unterstützen, welche immer „auf symbolischen Wege“35 geschieht, als auch,

durch die Beschäftigung beim Schnitzen wie in der Sicherung des Lebensunterhaltes durch

den Verkauf der fertigen Löffel, zum Erhalt des Körpers beiträgt. Vor allem aber ist der

Löffel ein Beispiel für das Vermögen des Menschen, geistige wie materielle Entitäten zu

erschaffen. Wie wird die so ins Bild gesetzte schöpferische Kraft des Menschen bei Cusanus

begründet?

Auch hier beginnt die Argumentation mit der Genesis, jedoch sieht Cusanus die zentrale

Aussage der Schöpfungserzählung in dem Bild-Verhältnis des Menschen zu seinem

Schöpfer36, welches er, in Übereinstimmung mit der augustinischen Tradition, auf den

menschlichen Geist bezieht.37 Im Gegensatz zur übrigen Schöpfung ist der Mensch bzw. der

endliche Geist nicht Ausfaltung der göttlichen Einheit, die von Cusanus als Einfaltung aller

Dinge gedacht ist, welche alles Geschaffene wie Samen in sich enthält, sondern er ist Abbild

dieser Einfaltung.38 Jedoch beschreibt diese Abbild-Relation keinen gesicherten Status,

sondern bleibt lebenslange Aufgabe des Menschen zur fortwährenden Angleichung an Gott.

Dementsprechend ist der Mensch nicht Kopie, sondern viva imago Dei, lebendiges, also sich

beständig selbst entwickelndes Bild Gottes39: Während Jesus Christus als die zweite Person

32 Vgl. Idiota de mente, cap. I, n. 52, S. 5f. 33 S. ebd., n. 54, S. 5: „Und als sie nahe beim Tempel der Aeternitas in einen kleinen unterirdischen Raum hinabstiegen, spricht der Redner einen Laien an, der gerade aus einem Holz einen Löffel schnitzt.“ 34 Ebd., S. 7 35 Ebd. 36 Vgl. Gen. 1, 26f. 37 Idiota de mente, cap. IV, n. 76, S28/29: „Videtur, quod sola mens sit dei imago.“/„Es scheint, dass allein der Geist Gottes Bild ist.“ 38 Ebd., cap. II, n. 68, S. 21; cap. III, n. 72, S. 25. 39 Ebd. cap. XIII, n. 149, S. 112/113.

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der göttlichen Trinität das vollkommene, eben selbst göttliche Bild Gottes in der Gleichheit

darstellt40, ist die Bildlichkeit des Menschen als Geschöpf Gottes durch Ähnlichkeit

charakterisiert, dessen Aufgabe und Bestreben es ist, sich dem Urbild immer mehr, in

unabschließbarer Annäherung an die Vollkommenheit Gottes, anzugleichen.

Bei Cusanus also ist, wie bei Pico, die Richtung der Entwicklung (zu Gott hin) bestimmt und

– aufgrund der Unabschließbarkeit der Angleichung – die Skala nach oben hin offen. Doch

wenn Cusanus, anders als Pico, die Entwicklungsfähigkeit des Menschen in der

Ebenbildlichkeit begründet sieht, ist damit nicht das Ziel der Entwicklung vorgegeben. Denn

Gott ist nicht als umgrenzte, dem Menschen bekannte Identität zu denken, sondern als niemals

erschöpfend erkennbare „Einfaltung der unendlichen Einfachheit“41, als „die Gesamtheit der

Dinge in der Vollkommenheit“42, welche „ohne Andersheit und Verschiedenheit ist"43, sodass

in Gott alle Gegensätze und ebenso alle unterscheidbaren Eigenschaften zusammenfallen.

Wenn also der Mensch sich Gott nähern soll, ist damit über spezifisch erstrebenswerte

Eigenschaften noch nichts gesagt. Inwiefern kann dann aber der Mensch zum Bilde Gottes

geschaffen sein?

So wenig wir von Gott sagen können, so wissen wir doch, dass er der Schöpfer der Welt ist.

In Analogie zu dieser Schöpferkraft Gottes als der göttlichen Kunst wird in der Entfaltung

ihrer endlichen Kunst die endliche mens schöpferisch tätig.44 Diese endliche Kunst umfasst

zum Einen die Welt- und Selbsterkenntnis, die damit als ein schöpferischer Prozess

verstanden ist. In der Absetzung zur Gleichheit, die nur dem Gottessohn, der zweiten Person

der Trinität zukomme, wird Ähnlichkeit zum Schlüsselbegriff der menschlichen Verfassung.

Der endliche Geist ist Ähnlichbild der unendlichen Einfaltung. Als solches ist er selbst

Einfaltung und erkennt die Welt in Ähnlichkeit. Gerade weil der Mensch über den wahren

Namen und die damit verbundene vollständige Erkenntnis der Gottes und Welt nicht verfügt,

gehört es zur Realisierung seiner Erkenntnisfähigkeit im Erkenntnisvorgang, dass der

menschliche Geist selbst Begriffe hervorbringt, als Ähnlichkeitsabbilder der Dinge.45 Begriff

und Erkenntnis können das Wesen der Dinge nie genau erfassen. Darum sind beide stetig in

Bewegung: Sie müssen unabschließbar verbessert und dabei immer wieder von Neuem den

40 Vgl. ebd. cap. XI, n. 139, S. 100/101. 41 Ebd., cap. IX, n. 122, S. 81. 42 Ebd. Cap. XI, n. 129, S. 89. 43 Ebd. S. 91. 44 Vgl. ebd. cap. XIII, n. 148, S. 113. 45 Vgl. Ebd. cap. II-III.

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sich ändernden Zeiten und Lebensbedingungen der Menschen angepasst werden. Die Aufgabe

der Begriffsschöpfung kann und wird nie abgeschlossen sein. Das ist aber nicht Mangel,

sondern Auszeichnung des Menschen.

Zum Anderen umfasst die schöpferische Kunst des Menschen auch die ars in der

herstellenden Funktion des Handwerks. Das perfekte Beispiel hat der Laie gleich zur Hand:

Als Löffelschnitzer beschränkt sich sein Handwerk nicht auf die Nachahmung der Gestalt von

Naturdingen, die Gott geschaffen hat: „Der Löffel hat außer der von unserem Geist

geschaffenen Idee kein anderes Urbild“46.

Es ist die Kreativität, die Schöpferkraft des Menschen, auf welche die Erfindung des Löffels

zurückgeht. Obwohl damit der Körper in die Umsetzung der ars humana als der Herstellung

von Gegenständen eingebunden wird, ist dennoch die entscheidende Leistung der

menschlichen „Schöpferkunst“47, die Schaffung neuer Urbilder, im menschlichen Geist

verortet. Die oben bereits thematisierte (augustinisch geprägte) Festlegung, dass „allein der

Geist Bild Gottes ist“48, wird darin noch einmal verdeutlicht.

Kann man nun abschließend die cusanische Charakterisierung des Menschen folgendermaßen

zusammenfassen?

« Pour N. de Cues, l’homme n’est grand que parce que Dieu est grand. Il demeure dans une anthropologie théologique. S’il reconnaît à l’homme un pouvoir de création, c’est seulement à l’image de Dieu. »49

Und muss man im Hinblick auf die Positionierung des Cusaners in seiner Zeit hinzufügen:

«Sur cette phase de l’affirmation de soi de l’homme, la position de Nicolas de Cues paraît encore en retrait. Pour lui, l’homme doit chercher à s’accomplir, à atteindre sa propre perfection au sein du plan prévu par Dieu. L’homme n’a pas à se distinguer individuellement, à réaliser une individualité intrinsèque. Nicolas de Cues sera dépassé par ses successeurs immédiats comme Pic de La Mirandole dans son Discours sur la dignité de l’homme (…), au siècle suivant. »50?

Die Antwort muss Nein lauten. Warum es dem Text nicht gerecht wird, ihm eine mangelnde

Aufmerksamkeit für die je verschiedene Entwicklung des Individuums vorzuwerfen, und

46 Ebd. cap. II, n. 62, S. 15. 47 Ebd. cap. XIII, n. 148, S. 113. 48 Ebd. cap. IV, n. 75, S. 29. Spezifisch cusanisch hingegen ist die Verbindung des Begriffes mens mit mensurare, messen. Vgl. ebd. cap. II, n. 58, S. 11. 49 Jean-Marie Nicolle, La modernité de Nicolas de Cues, 2000, http://jm.nicolle.pagesperso-orange.fr/cusa/articles/modernite.htm, letzter Aufruf: 09.07.2012.

50 Ebd.

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inwiefern Cusanus von Pico gerade nicht „überholt“ wird, soll im Folgenden gezeigt werden.

Dabei soll herausgearbeitet werden, inwiefern in den im Zitat so gefeierten Individualismus

des Pico selbst problematische Aspekte eingearbeitet sind. Doch zunächst ist herauszustellen,

dass eine charakteristische Verlagerung der Aufmerksamkeit, auf der aufbauend Pico seinen

Begriff des Menschen entwerfen kann, gerade nicht über Cusanus hinausgeht, sondern von

diesem allererst vorgenommen wurde.

3. Die Bestimmungen Gottes und des Menschen bei Pico und Cusanus im Vergleich

3.1. Man muss nur können.

Potentialität und Dynamisierung von Cusanus zu Pico

Auf den ersten Blick scheint die Sachlage geklärt zu sein. Cusanus hat (vergeblich) versucht,

das mittelalterliche, theologische Bild des Menschen zu retten. Die Nachgeborenen aber, die

Humanisten der italienischen Renaissance, vermochten den einen Schritt weiterzugehen, den

Cusanus nicht tun konnte oder wollte. Sie radikalisieren die tragfähigen Einfälle des Cusanus

über die Beschaffenheit des Menschen, die zentrale Stellung und Größe Gottes hingegen

schaffen sie ab. Das Hauptaugenmerk liegt endlich auf dem Menschen. Nicht mehr in

Anbetracht der Größe Gottes wird ihm Würde zugebilligt, sondern als eigenständiges Wesen

verdient er das Lob der Denker. Gott, der noch einen kurzen Auftritt zu Beginn von Picos

Oratio hat, verschwindet dann im Verlauf der Ausführungen bald (als der

Orientierungspunkt) im Hintergrund. Es ist der Mensch, der sich zu entwerfen, zu entwickeln,

zu entfalten hat. Endlich darf der Mensch frei sein, wählen, Individuum sein. In dieser

Darstellung wirkt Picos Oratio wie eine Befreiung des Menschen von der Herrschaft Gottes,

unter die noch der mittelalterliche Kardinal den Menschen ‚eingeordnet‘ hatte.

Doch in dieser Darstellung fehlt etwas. Was also stimmt noch nicht?

Eine Überlegung, die nur dem oberflächlichen Vergleich der beiden Menschenbilder folgt,

übersieht leicht eine Bewegung in der Tiefe, welche jene Fokussierung auf die Möglichkeiten

des Menschen erst ermöglicht. Bei genauerem Hinsehen offenbart sich hier doch mehr als

eine Kleinigkeit: Die Freiheit und Würde des Menschen in seinem Potential zu sehen, was

auch immer er wolle, aus sich zu machen, ist angewiesen auf eine Denkmöglichkeit von

Potentialität selbst. Diese Möglichkeit, die Möglichkeit zu denken, hatte Cusanus geschaffen,

als er die bis dahin vorherrschende Denkweise von Gott als dem absoluten und

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unveränderlichen Sein51 zurückstellte zugunsten eines Konzepts von Gott als der höchsten

Potentialität. In Übereinstimmung damit wird auch der Geist nicht statisch, sondern als Kraft

gedacht, wird dem endlichen Geist als Bild des ewigen Geistes das Adjektiv lebendig

zugeschrieben.52 Bereits anhand der hier dargelegten Gedanken aus dem Werk Idiota de

mente dürfte die Dynamisierung des Gottes- und Menschenbildes hervorgehen. Ein in dieser

Arbeit bisher noch nicht besprochenes Kapitel dieses Werkes thematisiert explizit das

Werden-Können, das Wirken-Können und beider Verbindung.53 Noch einmal anders und

erneut herrlich pointiert wird dies auch ausgedrückt in dem Trialogus de possest von 1460,

auf den hier nur in aller Kürze verwiesen sei. Der Gottesname Possest, am besten getroffen in

der Übersetzung als Können-Ist, bringt den Zusammenfall von Möglichkeit und Wirklichkeit

zum Ausdruck, indem das Können, posse, mit der Konkretheit des es ist in einer Kunstform

sprachlich ineins gesetzt wird. Das Gottesbild wird damit zugleich dynamisiert und

konkretisiert, mit der Schöpfermacht Gottes tritt auch die Kreativität des Menschen in den

Vordergrund. Auch wenn an dieser Stelle nur ein Ausblick auf diesen Zusammenhang

gegeben werden kann54, so dürfte dennoch zunächst klar geworden sein: Cusanus ist

derjenige, der Picos Denken eines sich selbst formenden Menschen ermöglicht, indem er eine

Verschiebung vornimmt, die das Denken über Gott und Mensch wesentlich verändert. In

diesem Sinne ist es Cusanus, der eine Neuheit einführt, die Pico in einem bestimmten Punkt,

der Charakterisierung des Menschen, radikalisiert. Oder könnte auch diese naheliegende

Schlussfolgerung aus einer anderen, weiteren Perspektive gesehen werden?

3.2. Und was macht der Schöpfer?

Ein anderer Blick auf die Bestimmung der Freiheit

Beim Durchleuchten des cusanischen Entwurfs des Menschen fällt auch ein anderes Licht auf

Picos Ausführungen und ermöglicht es nun, hier einen Aspekt hervorzuheben, der ohne den

Vergleich mit Cusanus vielleicht im Dunkeln geblieben wäre. Nach Cusanus schafft der

Mensch Neues, zuvor nicht Dagewesenes und nicht Denkbares. Damit ist er selbst Schöpfer in

51 Man denke nur an Augustinus, der in seinen Confessiones nicht müde wird, die Unveränderlichkeit Gottes zu betonen. Die Unveränderlichkeit Gottes ist schon bei Plotin Theorem! Anm. 7.8.13. 52 Siehe u.a. Idiota de mente, cap.V, n. 80, S. 34: “Unde mens est forma substantialis sive vis in se omnia suo modo complicans, vim animativam, per quam corpus animat vivificando vita vegetativa et sensitiva, et vim ratiocinativam et intellectualem et intellectibilem complicans.” 53 Vgl. Idiota de mente, cap. XI, n. 130ff. 54 Zu diesem Thema zur weiterführenden Lektüre zu empfehlen: Thomas Leinkauf, „Renovatio und unitas. Nicolaus Cusanus zwischen Tradition und Innovation – Die `Reformation´ des Möglichkeitsbegriffs“, in: Thomas Frank, Norbert Winkler (Hg.), Renovatio et unitas – Nikolaus von Kues als Reformer. Theorie und Praxis der reformatio im 15. Jahrhundert, Göttingen: V&R unipress, 2012, S. 87-104.

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Nachahmung des ewigen Schöpfers, welcher die Welt in einem Akt der creatio ex nihilo aus

dem Nichts geschaffen hat. Der menschliche Geist bezieht aus den Wahrnehmungen der

Sinne den Anstoß zu seiner Tätigkeit, in Ähnlichkeit zu den von Gott geschaffenen

Einzeldingen immer neue Begriffe und Gegenstände zu schaffen. Picos „Former und

Bildner“55 aber schafft nicht Neues, er pflegt die Samen, die Gott ihm gegeben hat.

Das ist ein enormer Zuwachs an Potential im Vergleich zu dem, was zuvor über den

Menschen gesagt wurde. Man denke an Augustinus, der auch die Pflege der Samen nicht dem

Menschen, sondern Gott zuschreibt.56 Und doch ist es zugleich sehr viel weniger Potenzial im

Vergleich zu dem, was Cusanus dem Menschen an Vermögen zubilligt.

So wirkt zwar Picos Entwurf des Menschen in seiner großzügigen Entscheidungsfreiheit über

das eigene Wesen auf den ersten Blick beinahe schockierend radikal, auf den zweiten Blick

aber bleibt er doch hinter der Bestimmung zurück, die Cusanus dem Menschen zuweist, als

Schöpfer zwar nicht der gleichen Dinge wie Gott, aber doch als Schöpfer im vollen Sinne des

Wortes, welcher neue, eigene Begriffe hervorbringt, Urbilder schafft und diese selbst

wiederum durch Handwerkskunst zu neuen Einzeldingen werden lässt.57

Und dennoch verbinden beide ihre Charakterisierung des Menschen mit einer faszinierenden

Pointe: Gerade weil der Mensch nicht perfekt ist58, ist er auch in seinen Eigenschaften,

Entscheidungen und Fähigkeiten nicht festgelegt, sondern kann sich entwickeln. Gerade in

seiner Unvollkommenheit liegt das Potential zur Entwicklung und damit die Würde des

Menschen. Diese Würde in ihrer jeweiligen Bestimmung soll abschließend noch einmal

vergleichend auf ihre Konsequenzen hin untersucht werden.

55 A.a.O., s.o. 56 Vgl. Augustinus, Sermon 87, „Jener [Gott] aber pflegt uns wie der Ackersmann den Acker. Worin Er uns also pflegt, macht Er uns besser, weil auch der Ackersmann den Acker pflegend besser macht: und als Frucht eben sucht Er in uns, daß wir Seiner pflegen. Seine Pflege (cultura) ist in uns, da Er nicht aufhört, durch Sein Wort die schlechten Keime aus unsern Herzen auszureißen, unser Herz zu öffnen wie mit dem Pflug der Rede, die Samenkörner der Gebote zu pflanzen, die Frucht der Frommheit abzuwarten. Wenn wir nämlich diese Pflege (culturam) in unserm Herz so empfangen, daß wir Seiner gut pflegen, stehen wir nicht da als Undankbare, zu unserm Ackersmann, sondern entrichten die Frucht, daran Er Sich freue. Und unsere Frucht macht Ihn nicht reicher, aber uns seliger.“ Zitiert nach Rolf Elberfeld, Was ist Kultur? Powerpoint-Präsentation zur Vorlesung im Wintersemester 2011/12, Universität Hildesheim. 57 Die jeweilige Ausdeutung von Kreativität als auszeichnendes Merkmal des Menschen lässt sich hervorragend anhand der zwei Stammübersetzungen des lateinischen Verbs creare, schaffen und wählen, verdeutlichen. Bei Pico wird Kreativität, genau betrachtet, als Fähigkeit zu wählen, als Wahl-Freiheit, bei Cusanus als Fähigkeit zu (er-)schaffen, als Schaffenskraft verstanden. 58 Man beachte hier ausnahmsweise die vielsagende Abstammung des Fremdwortes perfekt vom Partizip Perfekt Passiv des lateinischen perficere, einem Compositum von facere, machen: Als nicht perfekt geschaffener ist der Mensch noch nicht „fertig gemacht“, noch nicht vollkommen ausgestaltet. Ihm bleibt noch Spielraum, aus sich selbst zu machen, was er möchte, eben weil er nicht ganz und gar schon von Gott perfektioniert ist.

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3.3. Wie tief kann man sinken?

Das untere Ende der Skala bei Pico und Cusanus

Während Cusanus seine Überlegung auf den Geist bezieht, indem er den Menschen als

endlichen Geist bezeichnet, beschreibt Pico den Menschen als das Geschöpf, welches sich

ebenso für eine durch stumpfe Körperlichkeit gekennzeichnete Lebensform entscheiden kann.

Aus Sicht des Cusanus ist der Mensch durch das (hierarchisch festgelegte) Ineinander von

Körper und Geist in Sinn, Einbildungskraft, Verstand und Vernunft bestimmt.59 Aus dieser

Grundstruktur kann der Mensch ebenso wenig ausbrechen, wie er sie verspielen kann. Aus

Picos Sicht aber ist die Grenze nach unten ebenso offen wie diejenige nach oben. Wer die

falsche Entscheidung trifft, der gleicht vielmehr einem „Strauch“60 als einem Menschen.

Das aber lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Konsequenz der Rede über die Würde des

Menschen: Wer das Entwicklungspotential des Einzelnen so deutlich hervorhebt, dabei aber

in keiner Weise die Bedingungen der Möglichkeit zur Wahl und Verwirklichung der

Entwicklung des jeweils Einzelnen thematisiert, der erklärt sich auch stillschweigend

einverstanden mit dem Umkehrschluss. Was immer der Mensch sein will, das kann er aus sich

machen. Das heißt auch: Was immer der Mensch ist, das wollte er sein. Und: Wer die Wahl

des Wesens uneingeschränkt in die Hand des Menschen legt, wer äußere Bedingungen und

Hindernisse nicht thematisiert, der sagt, mit Blick auf die vorgefundenen Verhältnisse auch:

Wer in Armut, ohne Zugang zu Bildung, ohne Zeit für die Beschäftigung mit irgendetwas

anderem außer einfacher Arbeit – nach Picos Beschreibung also wie ein Tier – lebt, der hat

sein Sein so gewählt, der hat es nicht anders gewollt. Pico legt alle Entscheidungen in die

Hand des Menschen, thematisiert aber in keiner Weise die jeweils individuellen Bedingungen,

die der Einzelne zur Verwirklichung seiner Wesensentscheidung benötigt. Hinter der

beeindruckenden Heraushebung unter den Geschöpfen und der Ermächtigung des Menschen

zur Selbstgestaltung verbirgt sich also, auf diesem Wege nachvollzogen, eine gewissermaßen

menschenverachtende Haltung. Aus der Hervorhebung des Individuums folgt bei Pico eine

Blindheit für den Einzelnen.

Doch darf man einem 24jährigen, der seinen Text selbst nicht für die Veröffentlichung

vorgesehen und auf diese vorbereitet hatte, der seine Rede nicht in späteren Jahren

überarbeiten konnte, vor allem aber einem Menschen seiner Zeit, der gerade das, was man

59 Vgl. Idiota de mente, cap. VIII, n. 114f. 60 Pico della Mirandola, De hominis dignitate, S. 11.

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später Individualismus nennen wird, entdeckt, in seinen Konsequenzen aber noch nicht zu

Ende gedacht hatte, schon gar nicht im Rahmen der vorliegenden Rede, solche Vorwürfe

machen? Man darf zeigen, wohin der Weg führt, den Pico mit seiner Version von Gottes

Ansprache an den Menschen eröffnet hat. Man wird dem Autor aber nicht gerecht, wenn man

die Absicht vernachlässigt, die er damit verfolgt. Denn es ist nicht Picos Anliegen, eine ideale

Bestimmung des Menschen auf die Wirklichkeit des je Einzelnen zu beziehen. Wer Pico dies

vorhalten möchte, würde denselben Fehler begehen, den er oder sie bei Pico vorzufinden

glaubte, eine Ausblendung der Umgebung bzw. des Kontextes. Und dazu gehören, neben den

Umständen, unter denen Pico seine Rede ausarbeitete, auch das Ziel, das er mit seiner Rede

erreichen wollte: Die Rechtfertigung seiner eigenen Vorgehensweise und seines Vorhabens,

einen Kongress in Rom zu veranstalten, der 900 Thesen zu behandeln hat. Pico behauptet, der

Mensch müsse sein Wesen selbst bestimmen. Die von ihm genannten Möglichkeiten der

Entwicklung beweisen die Dringlichkeit zur Selbstbestimmung, aber auch die drohende

Gefahr, falls die Aufgabe nicht wahrgenommen wird: Der Mensch wird zum Tier oder zur

Pflanze. An den Anfang einer Rede gestellt, die einen Kongress über 900 Thesen eröffnen

soll, ist diese Bestimmung des Menschen Argument für die Berechtigung und Notwendigkeit

des Nachdenkens über den Menschen. Sie belegt die höhere Rechtfertigung des gemeinsamen

Nachdenkens und Diskutierens über 900 Thesen, denn nur durch das Denken und den Drang

zur Erkenntnis hebt der Mensch sich ab von Pflanze und Tier, macht sich der Mensch zum

Menschen.

Wer jedoch heute Picos Rede zur Kongress-Eröffnung gelesen hat, um etwas über die Würde

des Menschen zu erfahren, den beschleichen am Ende Zweifel in zweierlei Richtung. Zum

einen ist man unsicher, ob unter Würde das zu verstehen sein sollte, was Pico beschreibt. Zum

anderen fragt man sich, ob es hier überhaupt um Würde geht, taucht doch der Begriff nur

wenige Male innerhalb der Rede auf. Handelt es sich bei der nachträglichen Betitelung von

Picos Rede durch seinen Neffen um ein Fehlurteil oder gar um einen Etikettenschwindel?

Wäre dem nicht einfach beizukommen, indem der Titel korrigiert würde? Varianten – „Über

das Wesen des Menschen“, „Über die Freiheit des Menschen“, „Über das Glück des

Menschen“ – gäbe es viele. Warum nicht einfach die „irreführende“ Benennung des Themas

verändern? Jeder andere Titel aber würde der Rede insofern nicht gerecht, als er den Rahmen

nicht erkennen ließe, innerhalb dessen dieser Text geschrieben ist. Es ist die Zeit eines neuen

Selbstbewusstseins, in der (weltliche) Gelehrte beginnen, in Absetzung von einem Bild des

Menschen als Elendsgeschöpf über die Würde des Menschen, de dignitate hominis, zu

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schreiben. In diesem Sinne lässt der Titel Picos Anliegen deutlich werden, für ein positives

Menschenbild zu argumentieren, welches sich mit dem Begriff der dignitas im Gegensatz zu

dem der miseria kennzeichnen lässt.

Welchen Blick haben wir heute auf den Menschen? Diese Frage soll zum Schluss noch

einmal aufgegriffen werden.

4. Fazit

Die vorausgehende Arbeit hat zwei Entwürfe des Menschen nebeneinandergestellt. Anlass

dazu war die gemeinsame Hervorhebung der schöpferischen Kraft des Menschen.

Als Bildhauer seiner selbst wird der Mensch bei Pico gesehen (durch die Sicht Gottes), als

Schöpfer in Ebenbildlichkeit zum Schöpfergott, dem ewigen Geist, erscheint der menschliche

Geist bei Cusanus. Diese ähnliche Pointierung legt, ebenso wie der gemeinsame

Ausgangspunkt vom augustinisch interpretierten biblischen Schöpfungsbericht her, einen

Vergleich nahe. Dieser hob zunächst den Stellenwert der Möglichkeit zur Entwicklung, die

beiden gemeinsame Dynamisierung und Konkretisierung bzw. Individualisierung hervor.

Dabei zeigte sich auch, dass die cusanische Bestimmung des schöpferischen Menschen in

ihrer Radikalität keinesfalls hinter Picos Formulierung der Freiheit des Menschen

zurückbleibt. Während jedoch beide eine unbegrenzte Entwicklungsfähigkeit zum Positiven

sehen, ist bei Cusanus die Skala gewissermaßen nach unten hin begrenzt, während der

Mensch bei Pico auch „nach unten hin ins Tierische entarten“61 kann. Gerade in Bezug auf

ihre Konsequenzen wurde noch einmal der große Unterschied im Status des jeweiligen

Entwurfs deutlich.

Ein junger Graf von 24 Jahren plant, einen Kongress in Rom zu veranstalten. Die Publikation

der 900 Thesen, die dort zur Diskussion gestellt werden sollen, provoziert Einwände gegen

sein Vorhaben, die sich auf sein geringes Alter sowie den übermäßigen Umfang des

Vorhabens beziehen und ihm Prunksucht unterstellen.62 Gegen diese Kritik argumentiert Pico

im zweiten Teil der Rede, die er zur Kongresseröffnung vorbereitet. Doch der Kongress wird

abgesagt, die Rede wird weder gehalten noch zu Picos Lebzeiten veröffentlicht. So fehlte

auch dem hier zu Beginn exponierten Menschenbild eine befruchtende und anregende, tiefere

61 Ebd. S. 9. 62 Vgl. Gerd von der Gönna, „Nachwort“, in Pico della Mirandola, De dignitate hominis, S. 108f.

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Auseinandersetzung und genauere Ausformulierung erzwingende Reaktion. Es bleibt als eine

singuläre, obgleich beeindruckende, rhetorische Zuspitzung, eng auf den Kongress bezogen,

welcher die Umsetzung der im Menschenbild angelegten Forderung nach Selbstentwicklung

leisten soll. Man muss sich nicht einmal darauf festlegen, dass das Loblied auf die

Möglichkeiten des Menschen im Dienste einer Rechtfertigung der geplanten Disputation

steht, um festhalten zu können, dass mit dem geplanten Kongress ein konkreter Anlass den

Rahmen der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Menschen bildet, auf welchen

auch Pico selbst deutlich Bezug nimmt. Der Titel, welcher umgekehrt die gesamte Rede unter

das Motto der menschlichen Würde stellt, geht auf die Nachwelt zurück. Picos eigenes

Anliegen ist es nicht, einen philosophischen Entwurf des Menschen auf seine

(philosophischen wie praktischen) Bedingungen und Konsequenzen hin zu prüfen, sondern

sein Publikum von der Berechtigung, ja unbedingten Notwendigkeit einer großen

Zusammenkunft der Gelehrten zu überzeugen.

Cusanus hingegen ist 54 Jahre alt, als er seinen Dialog Idiota de mente als einen unter vielen

großen und kleinen Schriften verfasst, in denen er sich immer wieder mit den philosophisch-

theologischen Fragen seiner Zeit und seiner Tradition beschäftigt und seine eigenen Theorie-

Entwürfe auch in Auseinandersetzung mit Einwänden immer weiter überdacht und

überarbeitet hatte. An diesen Unterschied sollte abschließend noch einmal erinnert werden,

bevor der Blick auf das Heute gelenkt wird.

Was sagt es über unsere Zeit aus, dass der Mensch selbst sich zurufen möchte: Gut genug!

Es ist eine Zeit, der – noch immer – ein Menschenbild naheliegt, das Pico mit seiner Rede in

der Rede, der Ansprache Gottes an den Menschen, auf den Punkt gebracht hat. Nicht umsonst

zitiert ein Entwicklungspsychologe ausgerechnet diese Passage aus Picos Rede, um daran

anschließend das heutige Alltagsverständnis des Menschen folgendermaßen

zusammenzufassen: Die grundsätzliche Möglichkeit des Menschen, „sich und seine

Entwicklung zum Gegenstand planenden Handelns zu machen“ bedinge die je individuelle

„Verantwortung, aus seinem Leben „das Beste“ zu machen.“63 Doch anders als bei Pico folgt

hier umgehend der Verweis auf „die akzidentellen und heteronomen Einflüsse (…), denen

jede menschliche Aktivität unterliegt“64. – Offenbar kann die heutige Zeit nicht hinter diese

Erkenntnis zurück. Ein souveränes Subjekt, das sich völlig frei entscheidet, vorauszusetzen, 63 Jochen Brandstädter, „Konzepte positiver Entwicklung“ in: Jochen Brandstädter, Ulman Lindenberger (Hg.) Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Ein Lehrbuch, S. 681-723, S. 683. 64 Ebd.

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ist uns ebenso unmöglich geworden, wie wir vollständig auf die Voraussetzung der

grundsätzlichen Entwicklungsfähigkeit jedes Menschen verzichten könnten.

Doch die sogenannte Entdeckung des Individuums und seiner Möglichkeiten in der

Renaissance scheint in der Postmoderne, falls man die Jetzt-Zeit so nennen möchte, zu einem

Zwang zur Individualität und damit zur Last geworden zu sein. Die eingangs beispielhaft

zitierte Charakterisierung der „heutigen Zeit“ zeichnet ein Bild des Menschen, der überfordert

ist von dem vervielfältigten Auftrag: „Sei Du selbst. Entwickle Dich! Verwirkliche dich

selbst. Sei individuell.“ Vielleicht beschleicht diesen imaginierten Menschen von heute, in

dessen Leben Gott keine große Rolle mehr zu spielen hat, bei all dem Druck der

Selbstverwirklichung gar ein Gefühl der Isolation und Einsamkeit?

Spätestens jetzt sollte man den Kardinal aus Kues befragen. Denn der bietet eine

überraschende Antwort, wenn man seine Texte unvoreingenommen liest. Mag sein, dass er

den christlichen Gott als unhinterfragten Bezugspunkt in sein System hineinbaut. Doch wenn

die menschliche Erkenntniskraft und Rede weder in Bezug auf Gott noch im Hinblick auf die

Welt Wahrheit und Genauigkeit erreichen kann, ist auch kein Absolutes greif- oder

benennbar, um die Güte irgendeiner Aussage im unmittelbaren Vergleich zu bemessen. Eine

Aussage prüfen können nur ihre Adressaten. Damit muss alles Gesagte auf den Anderen hin

orientiert werden: Schön und gut, wenn ich Neues sagen kann. Sinnvoll, im „wahrsten Sinne“

des Wortes, ist es erst dann, wenn es jemand versteht.

Als wolle er darauf antworten, beginnt ein prominenter Denker der jüngeren Zeit, der

Philosoph Jacques Derrida, seinen Aufsatz Außer dem Namen (Post-Scriptum)

folgendermaßen:

- … - Nicht mehr einer, verzeihen Sie, man muss immer mehr als einer sein, um zu

sprechen, dazu braucht es mehrere Stimmen… - Ja, da stimme ich ihnen [sic!] zu, und das gilt in ganz besonderer, sagen wir

exemplarischer Weise dann, wenn es um Gott geht…“65

Vielleicht schärft hier die Derrida-Lektüre in besonderer Weise den Blick für das, was die

Cusanus-Lektüre für uns heute noch immer so interessant macht: Man mag die

vorausgesetzten Annahmen des Cusaners, insofern sie spezifisch christlich sind, nicht teilen.

Und kann doch in Cusanus´ Werken immer noch aktuelle Erkenntnisse entdecken, wenn man

65 Jacques Derrida, „Außer dem Namen (Post-Scriptum)“, in: Ders., Über den Namen. Drei Essays, Wien: Passagen-Verlag, 2000, S. 65.

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sich klar macht, dass seine Ausführungen über die Unnennbarkeit Gottes kein Selbstzweck

sind, sondern als Sonderfall der menschlichen Rede in der unaufhebbaren Beschaffenheit des

menschlichen Denkens gründen. Cusanus kommt, von der entgegengesetzten Richtung her

argumentierend, zu demselben Schluss wie Derrida: Nicht nur, um von Gott zu reden, sondern

um überhaupt zu reden, braucht es viele Stimmen.

Unter dieser Voraussetzung betrachtet rücken Derrida und Cusanus erstaunlich nah

zusammen. Denn dann erkennt man zum Beispiel in Idiota de mente eine Beschreibung

dessen, was Derridas Projekt der Dekonstruktion erst möglich macht, was ihren

Ausgangspunkt und ihr Beweisziel gleichermaßen darstellt: Alle Begriffe, Einteilungen und

Ordnungen, mit denen wir umgehen, sind menschengemacht, unsere Wahrnehmungen und

Beschreibungen der Welt ebenso wie unsere Begriffe für abstrakte Konzepte. Nicht einmal,

zum Beispiel, die Opposition von Natur und Kultur ist damit klar unterschieden. Cusanus

würde dem ebenso zustimmen wie Derrida.

Und ist das nicht auch die Konsequenz aus Picos Schöpfungserzählung? Seine Rede ist, aus

der Distanz betrachtet, eine beeindruckende, schöne, hoffnungsvolle wie furchteinflößende

Geschichte, eine Erzählung, die die conditio humana heute wie damals beschreibt. Die aus der

Cusanus-Lektüre gewonnene Konsequenz gilt auch bei ihm. Da wir die vollkommene –

umfassende wie treffende – Erkenntnis irgendeines Erkenntnisziels, Gott oder eines Dinges

der Welt, eines abstrakten Begriffs oder uns selbst, niemals erreichen können, steht sie uns

ebenso wenig zur Verfügung, als ob es sie gar nicht gäbe. Obwohl die Freiheit wie

Notwendigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung bei Pico in einem Geschenk Gottes

begründet wird, ist sie damit also ihrer inneren Bestimmung nach kaum zu unterscheiden von

dem, was heute bisweilen als Nebeneffekt der säkularisierten und pluralisierten Postmoderne

beklagt wird. Nicht zufällig ist eben hier die Skala nach oben hin offen (s.o.). Es sind jene

prominenten Denker an der Schwelle zur Neuzeit, Cusanus und Pico della Mirandola, die den

Gedanken von der Unabschließbarkeit der menschlichen Entwicklung „in die Welt setzten“.

Ist es nicht beinahe beruhigend, dass sich die scheinbar klare Gegenüberstellung einer

Geborgenheit im christlichen Menschenbild früherer Zeiten versus der Überforderung durch

das säkulare Menschenbild der Jetztzeit letztendlich als doch nicht so klar und einfach

erwiesen hat?

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Literatur :

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hrsg. von Renate Steiger, Hamburg: Felix Meiner, 1995. [IM]

Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Lateinisch-

Deutsch. Übers. und herausgegeben von Gerd von der Gönna, Stuttgart: Reclam, 2009.

Tilman Borsche, Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon,

Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, München: Fink, 1990 (v.a. Teil IV).

August Buck, „Einleitung des Herausgebers“, in: Gianozzo Manetti, Über die Würde und

Erhabenheit des Menschen, Hamburg: Felix Meiner, 1990, S. VII-XXXIV.

Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München: dtv, 2011.

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Menschenbild des Nikolaus von Kues und der christliche Humanismus, Mainz: Matthias-

Grünewald-Verlag, 1978, S. 117-143.

Jacques Derrida, „Außer dem Namen (Post-Scriptum)“, in: Ders., Über den Namen. Drei

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Kurt Flasch, „Nicolaus von Kues und Pico della Mirandola“, in: Rudolf Haubst (Hg.),

Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanusgesellschaft 14, 1980, 113-120.

Thomas Leinkauf, „Renovatio und unitas. Nicolaus Cusanus zwischen Tradition und

Innovation – Die `Reformation´ des Möglichkeitsbegriffs“, in: Thomas Frank, Norbert

Winkler (Hg.), Renovatio et unitas – Nikolaus von Kues als Reformer. Theorie und Praxis der

reformatio im 15. Jahrhundert, Göttingen: V&R unipress, 2012, S. 87-104.

Harald Schwaetzer, „Semen universale“. Die Anthropologie bei Nikolaus von Kues und

Giovanni Pico della Mirandola, in: Martin Thuner (Hg.), Nicolaus Cusanus zwischen

Deutschland und Italien, Berlin 2002, 555-574.

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Harald Schwaetzer, Aequalitas. Erkenntnistheoretische und soziale Implikationen eines

christologischen Begriffs bei Nikolaus von Kues. Eine Studie zu seiner Schrift "De

aequalitate", Hildesheim: Olms, 2004.