Was eine Familienaufstellung ist 1 - Wiley-VCH · 2016. 3. 22. · psychosomatischen Symptomen,...

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1 Was eine Familienaufstellung ist In diesem Kapitel Wissen, was eine Familienaufstellung ist Was in einer Familienaufstellung bearbeitet wird und wann sie sinnvoll ist Die Lösung fest im Blick haben W er mehr über sich und seine Rolle in der Familie er- fahren will, kann eines der vielen Wochenendsemina- re besuchen, bei denen Familienaufstellungen angeboten werden. Familien- und Systemaufstellungen in einer Gruppe gehören wohl zu den erlebnisintensivsten Methoden der Fa- milientherapie. Sie erlauben einen ganz anderen Blick auf das »System«, dem man normalerweise ausgeliefert ist, ohne es zu verstehen. Sie erfahren in diesem Kapitel, wann eine Aufstellung sinn- voll ist, was Sie dort erwartet und wie Sie sich jetzt schon darauf vorbereiten können. Was man unter einer Familienaufstellung versteht Fühlen Sie in bestimmten Situationen unsichtbare Bande, Verpflichtungen, Loyalitäten gegenüber bestimmten Fami- lienmitgliedern? Fühlen Sie manchmal den Zwang, sich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten, ja zu fühlen? Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob das Asthma Ihres Kindes etwas mit der Familie zu tun haben könnte?

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1Was eine Familienaufstellung ist

In diesem Kapitel

Wissen, was eine Familienaufstellung ist

Was in einer Familienaufstellung bearbeitet wirdund wann sie sinnvoll ist

Die Lösung fest im Blick haben

W er mehr über sich und seine Rolle in der Familie er-fahren will, kann eines der vielen Wochenendsemina-

re besuchen, bei denen Familienaufstellungen angebotenwerden. Familien- und Systemaufstellungen in einer Gruppegehören wohl zu den erlebnisintensivsten Methoden der Fa-milientherapie. Sie erlauben einen ganz anderen Blick aufdas »System«, dem man normalerweise ausgeliefert ist,ohne es zu verstehen.

Sie erfahren in diesem Kapitel, wann eine Aufstellung sinn-voll ist, was Sie dort erwartet und wie Sie sich jetzt schondarauf vorbereiten können.

Was man unter einer FamilienaufstellungverstehtFühlen Sie in bestimmten Situationen unsichtbare Bande,Verpflichtungen, Loyalitäten gegenüber bestimmten Fami-lienmitgliedern? Fühlen Sie manchmal den Zwang, sich ineiner bestimmten Art und Weise zu verhalten, ja zu fühlen?Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob das Asthma IhresKindes etwas mit der Familie zu tun haben könnte?

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Seit den späten 1960er-Jahren haben Therapeuten verschie-dene Methoden entwickelt, um Verstrickungen und negativeEinflüsse in Familiensystemen zu erkennen und positiv zuverändern. Die bekannteste ist die Familienaufstellung.

Was bei einer Familienaufstellungbearbeitet wirdViele Menschen fühlen Belastungen in ihrem Leben, die sienicht so leicht loswerden und die sie sich manchmal nicht sorecht erklären können, etwa wenn es darum geht, eine neueBindung einzugehen, sich aus einer belastenden Partner-schaft zu lösen, eine Berufswahl zu treffen und Ähnliches.

Oftmals sind wichtige Lebensentscheidungen mit Schuldge-fühlen oder mit nagenden Selbstzweifeln verbunden. Im sys-temischen Ansatz geht man davon aus, dass die Einstellun-gen zum Leben, Gefühle und das Verhalten eines Menschenin hohem Maß durch die Familie geprägt werden – und dasmanchmal über mehrere Generationen hinweg.

Systeme können uns bereichern und beglücken,manchmal das Beste in uns hervorbringen. In ande-ren Fällen spannen sie uns vor ihren Karren und las-sen uns wie Marionetten durchs Leben humpeln. Siekönnen uns manchmal dazu nötigen, Gefühle zuhaben, die nicht unsere eigenen sind, fremdeSchicksale auf uns zu nehmen, Opfer zu bringen, zudenen wir im Grunde nicht bereit waren.

Die tieferen Ursachen für Lebenskrisen, mit denen wir alleeinmal konfrontiert werden, sind manchmal in unbewusstenAllianzen, Koalitionen, Loyalitäten zu Familienangehörigen

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zu suchen, zum Beispiel das Schuldgefühl gegenüber dembehinderten Bruder, in der Übernahme von Gefühlen undVerantwortung, zum Beispiel die Identifikation der Tochtermit der Mutter, die von ihrem Mann schlecht behandeltwurde.

Auch Glaubenssätzen wie »Niemals im Leben Schulden ma-chen« oder »Schuster, bleib bei deinem Leisten« setzenenge Grenzen und können zu schweren Gewissensbissenführen, wenn man dagegen verstößt.

Kräfte, die in Systemen wirken

Die Methode der Familienaufstellung dient dazu, dieKräfte, die in Familiensystemen wirken, sichtbar zu ma-chen und den eigenen Einfluss wiederherzustellen. ImEinzelnen geht es um die Bearbeitung folgender Muster:

Loyalitäten: Das sind unbewusste Bindungskräfte,die wie ein unsichtbares Bungee-Seil wirken. Ent-fernt man sich zu weit von ihnen, ziehen sie einenmit Macht wieder zurück. Oftmals wird damit eine»Bringschuld« gegenüber einem anderen Familien-mitglied verbunden. Sie können Lebensentschei-dungen, ja ganze Lebenswege, bestimmen.

Allianzen, Koalitionen: Sie werden häufig unbe-wusst geschlossen, um der vermeintlichen Über-macht eines anderen Familienmitglieds oder einesfamiliären Subsystems (etwa der Verwandtschaftdes Vaters) entgegenzutreten. Die Mutter verbindetsich zum Beispiel mit der Tochter gegen den Vaterund dessen Familie. Es herrscht eine »Wir gegen

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den Rest der Welt«- beziehungsweise » . . . gegen denRest der Familie«-Atmosphäre vor.

Übernahme von Gefühlen und Aufträgen: Geradedas, worüber nicht gesprochen wird, kann eine be-sondere Anziehungskraft ausüben. Sehnen sich dieEltern nach gesellschaftlichem Aufstieg und wol-len, dass ihr Sohn oder ihre Tochter Arzt oderRechtsanwalt wird, ohne dass es offen ausgespro-chen wird, geraten die Kinder oft in innere Kon-flikte, bekommen Symptome, wenn sie nicht sofühlen, wie die Eltern. Es ist schon vorgekommen,dass ein Sohn Lähmungserscheinungen wie seinquerschnittsgelähmter Vater bekam, wenn er sichden elterlichen Vorgaben widersetzte.

Familiengeschichte und Glaubenssätze: Jede Fami-lie hat ihre eigenen Traditionen, die sich in Formvon ausgesprochenen oder unausgesprochenenMottos, Leitlinien oder Glaubenssätzen ausdrü-cken: »Sei ein echter Müller«, »Die Krauses heira-ten niemanden unter ihrem Stand«, »Der Lebens-wandel von Tante Anna ist tabu«, »Du stammst auseiner Offiziersfamilie, deshalb wirst auch du Offi-zier«, »Katholisch sein, heißt . . . «, die enge Gren-zen setzen und bei einem Verstoß dagegen zuschweren Gewissensbissen führen können.

Ausgleich von Geben und Nehmen: In einer gutfunktionierenden Familie und Ehe gibt es einGleichgewicht von Geben und Nehmen. Elterngeben ihren Kindern Liebe und Zuneigung und

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bekommen diese meistens auch zurück – und sei esnur in Form von Gesten. Gibt in einer Beziehungeiner der Partner zu viel an Vertrauen und wird die-ses Vertrauen enttäuscht, etwa durch eine Außenbe-ziehung, entsteht ein Ungleichgewicht, das nacheinem Ausgleich ruft, etwa einer Entschuldigungoder einem Versprechen. Findet dieser Ausgleichnicht statt, kommt es meist zu Konflikten, unterdenen auch die Kinder leiden. Die Familie reagiertals Ganze und oft trifft es dabei die schwächsten Mit-glieder, die Kinder, die den Familienkonflikt in Formvon Symptomen nach außen hin sichtbar machen.

Ziele einer FamilienaufstellungEine Familienaufstellung kann, je nach Anliegen, ganz un-terschiedlichen Zielen dienen. Machen Sie sich schon imVorfeld klar, was erreicht werden soll:

Das eigene Rollenverhalten in der Familie erleben

Krank machende Beziehungsmuster und Verstrickun-gen erkennen und verändern

Die Funktion des Symptoms und des Symptomträgersin der Familie erkennen

Sich von geheimen Bindungen und Schuldgefühlenlösen

Die »innere« Familie miteinander in Harmonie bringen

Die eigenen und die im Familiensystem vorhandenengeistigen Ressourcen besser nutzen

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Eine Familienaufstellung kann helfen, die familiärenUrsachen von seelischen Belastungen zu ergründenund geeignete Lösungen dafür zu entwickeln. Siekann diese Beziehungsmuster wie keine andere Me-thode sichtbar machen. Durch das emotionale Nach-spüren und Erkennen unserer Beziehungsmusterwerden nachhaltige Veränderungen und Lösungenmöglich, die sowohl befreien als auch mit der Ver-gangenheit versöhnen.

Die richtigen Fragen stellenWer eine Aufstellung durchführen möchte, braucht ein An-liegen. Ohne Fragen keine Antworten. Dieser Grundsatz giltvor allem für eine Familienaufstellung. Sind Sie die aufstel-lende Person, sollten Sie ein möglichst konkretes Anliegenformulieren, zum Beispiel:

Sie möchten wissen, weshalb Ihr Vater eigentlich niefür Sie da war.Sie sind daran interessiert zu erfahren, welche RolleIhr Bruder oder ihre Schwester, der beziehungsweisedie nie besonders reden von sich machte, in Ihrer Fa-milie spielte und welchen Einfluss er beziehungsweisesie auf Ihr Leben hatte.Sie möchten dem Familienmotto »Niemals im LebenSchulden machen« einmal auf den Grund gehen.Sie möchten herausfinden, ob Ihre ständige Traurigkeitetwas mit Ihrer Familiengeschichte zu tun hat.Sie interessiert, welche Rolle Ihre längst verstorbeneGroßmutter in Ihrem Leben spielte.Wie ist mein körperliches Symptom in meine Familieeingebunden?

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Lösungen sind gefragtDie Lösung besteht oftmals in der Loslösung von alten Be-ziehungsmustern, Bindungen, im Abschiednehmen, imNeuanfang, der auf das Alte aufbauen kann, aber nicht vonihm beherrscht wird. Dazu ist es jedoch notwendig, dasjeni-ge zu erkennen, was einen die ganze Zeit blockiert, gelenktund beeinflusst hat. Vielleicht eine allzu starke Bindung zurMutter, eine Hassliebe zum Vater, ein schlechtes Gewissengegenüber Bruder oder Schwester, weil man in deren Augenmehr im Leben erreicht hat. Vielleicht sind es Glaubens-und Denksysteme, die man schon früh verinnerlicht hat,zum Beispiel »Sei kein Frosch«, »Sei perfekt«, »Männer wei-nen nicht«, »Frauen gehören an den Herd« und so weiter.

Durch das emotionale Nachspüren und Erkennenunserer Beziehungsmuster werden nachhaltige Ver-änderungen und Lösungen möglich, die sowohl be-freien als auch mit der Vergangenheit versöhnen. Da-für eignet sich das Instrument des Familienstellens.

Familienaufstellungen sind kein AllheilmittelDie Methode des Familienstellens dient dazu, die Kräfte, diein Familiensystemen wirken, sichtbar zu machen und deneigenen Einfluss wiederherzustellen, um danach freier undunbelasteter durchs Leben zu gehen. Familienaufstellungensind kein Allheilmittel gegen alle Probleme, Symptome undStörungen – zum Beispiel gegen eine Angst- oder Zwangs-störung, bei ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivi-tätssyndrom), auch bei einer Depression sollte man vorsich-tig sein. Heute wissen wir, dass psychische Symptome einesEinzelnen auch genetische Ursachen haben können. Die

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Familie fungiert allerdings als »bedeutsame Umwelt« fürgenetische Dispositionen und kann diese verstärken oderunterdrücken.

Familienaufstellungen sind kein Allheilmittel gegenalle Probleme, Symptome und Störungen. Sie sindnur dann sinnvoll, wenn es verlässliche Hinweise fürden familiären Hintergrund eines Problems gibt.

Manche Aufstellungsleiter sind allzu schnell geneigt, für einpsychisches Symptom allein die Familie (Eltern) verantwort-lich zu machen, wodurch das Leiden des Klienten nur nochverschlimmert wird. Halten wir fest: Eine Familienaufstel-lung ist nur dann geeignet, wenn es verlässliche Hinweise fürden familiären Hintergrund eines Problems gibt, etwa bei

unverarbeiteter Trauer,

schief hängendem Haussegen, wenn sich die Konfliktein der Familie häufen,

Schuldgefühlen, Abgrenzungsproblemen,

Beziehungsproblemen mit Familienangehörigen,

psychischen Beeinträchtigungen, Selbstwertproblemen,die in der Erziehung begründet sind,

Essstörungen (Magersucht, Bulimie, Fettsucht) undpsychosomatischen Symptomen, für die es familiäreUrsachen gibt,in der Familie erfahrenen Traumata, sofern die Fami-lienaufstellung Teil einer Psychotherapie ist.

In Kapitel 5 gehe ich auf das Für und Wider einerFamilienaufstellung näher ein und erläutere, in wel-chen Fällen eine Aufstellung nicht hilfreich ist.

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