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Zentrum für Medizinische Ethik
MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN
Heft 127
ETHIK UND THEORIE DES „MINIMALEN RISIKOS“
IN DER MEDIZINISCHEN FORSCHUNG
Giovanni Maio
September 2000
1
PD Dr. Giovanni Maio, Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Universität zu
Lübeck
Herausgeber: Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass Prof. Dr. med. Herbert Viefhues Prof. Dr. med. Michael Zenz Zentrum für Medizinische Ethik Bochum Ruhr-Universität Gebäude GA 3/53 44780 Bochum TEL (0234) 32-22750/49 FAX +49 234 3214-598 Email: [email protected] Internet: http://www.ruhr-uni-bochum.de/zme/ Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Schutzgebühr: DM 10,00 Bankverbindung: Sparkasse Bochum Kto.Nr. 133 189 035 BLZ: 430 500 01 ISBN 3-931993-08-6
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ETHIK UND THEORIE DES „MINIMALEN RISIKOS“
IN DER MEDIZINISCHEN FORSCHUNG
Giovanni Maio
1. EINLEITUNG
Der Begriff des Risikos ist lange Zeit in der bioethischen Diskussion vernachlässigt
worden. So ist es bemerkenswert, dass es mittlerweile Tausende von Publikationen gibt, die
sich mit der Einwilligung der Versuchsperson befassen, doch nur wenige einzelne, die die
Nutzen-Risiko-Abwägung thematisieren. Diese nur rudimentäre Auseinandersetzung ist nun
durchaus verständlich, stellt schließlich die Bewertung von Risiko und Nutzen eine äußerst
schwierige Angelegenheit dar, die sich nicht so leicht in anwendbare Skalen hineinpressen
lässt. Davon wird dieser Band zu berichten haben.
Zunächst muss der Begriff des Risikos von dem des Schadens unterschieden werden.
Das Risiko steht mit dem Schaden in einem bestimmten Zusammenhang, und zwar in der
Weise, dass man das Risiko als die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß eines ungewollten
Schadens in der Zukunft beschreiben kann.1 Wenn man also von Risiko spricht, so schließt
man damit implizit den Begriff des Schadens mit ein, wenngleich in hypothetischer Form.
Ganz einfach könnte man festhalten, dass “Risiko” immer gleichbedeutend ist mit
“Schadensrisiko”. So stellt beispielsweise ein schlechtes Versuchsprotokoll nicht
zwangsläufig einen Schaden dar, aber er bedeutet immer ein Risiko, ein Schadensrisiko für
die Versuchsperson.
Bei der Betrachtung des Risikos als zentraler Beurteilungsparameter für die ethische
Legitimierung von Versuchen stößt man auf vier völlig unterschiedliche Probleme. Das erste
Problem besteht in der Benennung und Definierung von Risiken, das zweite bezieht sich auf
die Feststellbarkeit und Quantifizierbarkeit von Risiken, während das dritte Problem das der
Risikowahrnehmung ist, und erst als viertes wird über die ethische Bewertung eines Risikos
zu sprechen sein. Definierung, Ermittlung Wahrnehmung und Bewertung von Risiken, das
sind die Leitmomente, an denen wir uns im folgenden halten wollen.
1 Die beste und umfassendste Darstellung des Begriffs des Risikos hat Eric Mark Meslin in seiner leider nicht veröffentlichten philosophischen Dissertation vorgelegt. Siehe Meslin 1989
3
2. DEFINIERUNG VON RISIKEN
Was also ist ein Risiko im Umgang mit der Forschung am Menschen? Wie wir
gesehen haben, heißt diese Frage nicht mehr als: Was ist ein potentieller Schaden? Nur bei der
Suche nach einer geeigneten Definition von Schaden stoßen wir wieder an schier
unüberwindliche Grenzen der Konkretisierung. Es böten sich hier verschiedene
Möglichkeiten der weiteren Definition von Schaden an.
Adressat: Der erste denkbare Differenzierungsparameter ist der des Adressaten, in dem Sinn:
Wer erleidet Schaden? Grundsätzlich bietet es sich an, hier zwischen Schaden oder Risiko für
den Einzelnen und Schaden für die Gesellschaft zu differenzieren. Freilich müsste man dann
bei den Einzelnen wiederum zwischen dem Einzelnen in der Gegenwart und dem Einzelnen in
der Zukunft unterscheiden, aber auch zwischen dem speziellen Einzelnen und dem Einzelnen
im Allgemeinen. Und bei der Gesellschaft stellt sich wiederum die Frage, ob man hierunter
die gesamte Gesellschaft versteht oder nur bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder gar nur
bestimmte Patientengruppen. Schon der Adressat von Schaden macht also grundsätzliche
Schwierigkeiten, die jedoch dadurch relativiert werden, dass es bei der Ethik der Forschung
am Menschen meist um das Risiko geht, den die einzelne spezielle Versuchsperson eingeht,
während die anderen Adressaten zwar von Bedeutung sind, aber doch eher von sekundärer
Tragweite.
Art des Schadens: Die zweite Kategorisierungsmöglichkeit ergibt sich aus der Frage nach
der Art des Schadens. Hier hat Beauchamp vier verschiedene Typen der
Definitionsmöglichkeit von Risiko vorgeschlagen. Er unterscheidet zwischen der
beschreibenden (descriptive), der vereinbarten (stipulative), der erneuernden (reforming) und
der realen (real) Definition von Schaden. Allein diese Kategorisierung macht deutlich, wie
sehr der Begriff des Schadens davon abhängt, von welcher Disziplin man sich ihm nähert.2
Jay Katz hat schon 1972 für eine Einteilung des Schadens anhand der damit verletzten Rechte
plädiert. Als wesentliche Rechte benennt Katz das Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf
psychische Integrität und das Recht auf physische Integrität.3 Eine andere Möglichkeit, die
die Form des Schadens als Differenzierungsmerkmal zu nehmen, bietet Meslin.4 Meslin
2 Beschreibend wäre eine Definition dann, wenn sie beispielsweise den physischen Schaden festhalten würde. Ein vereinbarter Schaden, ein Schaden also, den man mittels einer Übereinkunft definiert, wäre beispielsweise der Schaden, den man als typisch oder untypisch bezeichnet. Siehe Beauchamp 1989 3 Katz 1972 4 Meslin 1989, S. 17ff.
4
unterscheidet zwischen objektivem und subjektivem Schaden. Objektiver Schaden wäre nach
Meslin (1) harm as impairment of physical function, (2) harm as injury, (3) setback of
interests. Subjektiver Schaden wiederum wäre (1) harm as pain, (2) harm as frustration of a
preference, (3) moral harm (siehe Tab. 2).
1. Objektive harm 2. Subjective harm
1.1 Impairment of physical function 2.1 Pain
1.2 Injury 2.2 Frustration of a preference
1.3 Setback to interests 2.3 Moral harm
Tab. 1: Einteilung der Schadensarten nach Eric Mark Meslin, 1989.
Meslin ist ein gutes Beispiel für eine allgemeine Einteilung des Risikos. Was auf den
ersten Blick differenziert erscheint, erweist sich jedoch auf den zweiten Blick für den Bereich
der biomedizinischen Forschung als wenig handhabbar. Dies lässt sich exemplarisch am
Begriff der Beeinträchtigung einer physiologischen Funktion darlegen. Dieser Begriff
erscheint zunächst reizvoll, da er einen höheren Differenziertheitsgrad hat als der sonst
übliche Begriff des “körperlichen Schadens”. So macht es dieser Begriff möglich,
beispielsweise im Falle eines Beinbruchs zu unterscheiden zwischen dem Beinbruchschaden
als reiner Funktionsverlust und dem Beinbruchschaden als Ursache von Schmerz oder
Benachteiligung. Voraussetzung für die Verwendbarkeit dieses Schadensbegriffs ist natürlich
das Vorhandensein einer Vorstellung von einer physiologischen Funktion eines Organs.
Deswegen wird sich dieser Begriff natürlich gut auf den Bewegungsapparat und auch auf die
inneren Organe anwenden lassen, jedoch beim zentralen Nervensystem wird man bald an
Grenzen stoßen, da unser Verständnis der Physiologie der Gehirnfunktion noch in den
Kinderschuhen steckt. Doch noch schwerwiegender als dies ist die Überlegung, dass dieser
Begriff der physiologischen Funktion theoretisch jede Normvariante als Schaden erscheinen
lassen könnte, und zwar selbst jene Normvariante, die für den Träger mit Vorteilen einhergeht
und sich keineswegs als benachteiligend auswirken muss. Man denke hier beispielsweise nur
an die Normvariante der Körpergröße. Dieser Problematik kann an dieser Stelle nicht weiter
nachgegangen werden, aber allein am Beispiel dieses Begriffs sollte die Schwierigkeit
verdeutlicht werden, die bei scheinbar differenzierten Begriffen entstehen können. Ähnliche
Probleme ergeben sich auch aus dem Umgang mit den anderen von Meslin erwähnten
5
Begriffen5, die allesamt eher von allgemeiner Gültigkeit sind, jedoch auf den spezifischen
Bereich der biomedizinischen Forschung wenig anwendbar erscheinen.
Daher möchte ich an dieser Stelle danach fragen, welche spezifischen
Definitionsmöglichkeiten von Schaden es gäbe, die speziell im Umgang mit Versuchen am
Menschen auftreten. Eines der überzeugendsten Modelle hat Robert Levine erarbeitet. Levine
trennt vom Begriff des Risikos den Begriff der mere inconvenience ab, den er synonym
benutzt für discomfort oder embarassment, was man im Deutschen am ehesten als
Unannehmlichkeit beschreiben könnte. Levine definiert diese Kategorie als presenting no
greater risk of consequential injury to the subject than that inherent in his or her particular
life situation6. Somit fallen Momente in diese Kategorie, wie die Aufwendung von Zeit, die
Notwendigkeit einer Übernachtung im Labor, der Aufwand für das Ausfüllen von
Fragebögen. Levine zählt auch die Mitverwendung einer im therapeutischen Setting
abgenommen Körperflüssigkeit zu Forschungszwecken zu dieser Kategorie.7 Diese Kategorie
ist eine entscheidende, weil die meisten Versuche am Menschen eher mit
Unannehmlichkeiten im Levineschen Sinne einhergehen als mit “echten” Risiken.
Die Risiken wiederum teilt Levine in vier verschiedene Formen eines möglichen
Schadens auf, von denen manche wieder unterteilt werden können.8 Da eine eingehende
Behandlung jeder einzelnen Risikoart den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde,
beschränken wir uns auf eine tabellarische Darstellung der von Levine vorgenommen
Unterteilung (siehe Tab. 2), zumal es uns hier nicht um eine Handlungsanleitung gehen kann
als vielmehr um die Darlegung der grundsätzlichen Schwierigkeiten, die eine ethische
Analyse eines Experimentes am Menschen mit sich bringt.
Als Ergänzung sei noch kurz auf die Arbeit von Richard H. Nicholson hingewiesen,
der am Beispiel der Forschung an Kindern eine Risikoeinteilung vorgenommen hat, die viel
Beachtung gefunden hat. Auch Nicholson unterscheidet zwischen physischem und
psychischem Schaden, macht jedoch eine wesentliche Ergänzung. Er ergänzt diese
5 Auch der Begriff der injury erscheint auf den ersten Blick nützlich, nützlicher als “körperlicher Schaden”, doch für den Problembereich der Forschung erweist sich auch dieser bald als wenig hilfreich, da er nicht nur eine beschreibende, sondern auch eine wertende Komponente enthält. Denn “injury” bedeutet mehr als Verletzung und ist spezifischer als Schaden. Injury rekurriert etymologisch auf den lateinischen Begriff der “injuria”, der von Aristoteles in seiner Nicomachischen Ethik verwendet wird, und umschreibt nicht nur einen Schaden, sondern gleichsam ein Unrecht. “Injury” ist daher komplexer als (körperlicher) Schaden, doch gerade seine normative Komponente macht ihn wiederum zu ungenau, denn die Unterscheidung zwischen Unrecht oder nicht ist so kontextgebunden, dass sich der Begriff der “injury” zumindest für die Beurteilung eines Forschungsvorha-bens sehr diffizil ist. 6 Levine 1986, S. 40 7 Levine 1986, S. 41 8 Levine 1978b, S. 2.6ff.
6
Schadensformen durch den Schaden, der zwar nicht direkt mit dem Versuch in
Zusammenhang steht, dem sich die Versuchsperson aber nicht ausgesetzt gesehen hätte, wenn
sie nicht am Experiment teilgenommen hätte. Als Beispiel führt Nicholson das Risiko an, das
schlicht mit dem Aufenthalt in einem Krankenhaus verbunden sein kann (Stichwort
nosokomiale Infektion), oder das Risiko, das sich allein aus der wiederholten Fahrt ins
Krankenhaus oder ins Labor ergibt.9 Diese Ergänzung macht deutlich, dass die Definierung
der Risiken eine höchst komplexe Angelegenheit sein kann. Dies ist wohl ein entscheidender
Grund dafür, dass sich die Bioethik dieses Problems bislang kaum angenommen hat.
1. Physical harms 1.1 necessary harms in early phases of drug development 1.2 delayed harms 1.3 loss of benefit 1.4 permanent harm form nonvalidated therapy 1.5 harm caused by research design such as placebo-controls 2. Psychological harms 2.1 harm of inflicted insight 2.2 self-blame or guilt 2.3 deprivation of defense mechanisms 2.4 distrust of research and researchers 3. Economic harms 3.1 forseeable economic harm 3.2 forseeable but not anticipated economic harm 3.3 forseeable but unavoidable 4. Social harms 4.1 effect on one’s standing in community 4.2 effect on one’s reputation in community
Tab. 2: Einteilung der Schadensarten nach Robert Levine, 1986.
3. ERMITTLUNG VON RISIKEN10
Um ein Risiko ermitteln und in irgendein quantitatives Schema einpressen zu können,
muss man das Risiko in seine zwei wesentlichen Komponenten von Wahrscheinlichkeit des
Auftretens und Ausmaß des Schadens aufteilen. Die Ermittlung der Wahrscheinlichkeit mag
zunächst wenig problematisch erscheinen, doch auf den zweiten Blick wird sie dadurch
9 Nicholson 1986, S. 79ff. 10 Zur Problematik der Risikoermittlung siehe näher Barber 1978b; Hattis u. Smith 1987; Humphreys 1987; Kopelman 1981; Levine 1978b; Pochin 1982; Shrader-Frechette 1985
7
verkompliziert, dass auch hier subjektive Momente immer eine Rolle spielen werden.
Letztlich wird es praktisch kaum gelingen, für jede denkbare Nebenwirkung eine
nachprüfbare Wahrscheinlichkeit auszumachen, ohne dass die subjektive Beurteilung des
Forschers oder Statistikers hier Einfluss hätten. Es muss fraglich bleiben, ob sich eine solche
Wahrscheinlichkeitserhebung überhaupt realisieren lassen wird.11
Noch schwieriger wird das Problem im Umgang mit dem zu erfassenden Ausmaß
eines Schadens. Dieses Problem stellt sich dann ein, wenn man beispielsweise beantworten
müsste, ob es ein größerer Schaden wäre, sich bei einem Versuch eine Phlebitis zuzuziehen
oder zwei Tage lang Kopfschmerzen zu haben. Um eine solche Frage annähernd beantworten
zu können, müsste man sich auf die Parameter einigen, die in die Schadensermittlung
eingehen sollen. Man könnte beispielsweise die Größe eines Schadens einfach davon
abhängig machen, was von gesetzlicher Seite bereits im Umgang mit Schmerzensgeld und
Entschädigung geregelt ist. Doch sehr bald wird man hier feststellen, dass die meisten
Symptome, die studieninduziert sind, gar nicht in den entsprechenden Regelungen
auftauchen, ganz zu schweigen davon, dass ihre Skalierung in entsprechende
Summenkategorien nicht zwangsläufig eine geeignete Quantifizierungsmethode sein muss.
Eine andere Quantifizierungsmöglichkeit böte der Rekurs auf die
Elementarbedürfnisse des Menschen. Je mehr ein Schaden in die Nähe eines
Grundbedürfnisses lokalisiert werden kann, desto schwerer fällt es ins Gewicht. Mit dieser
Theorie könnte man begründen, warum beispielsweise das Risiko, sein Leben zu verlieren,
stärker gewichtet werden müsste als das Risiko, einen großen finanziellen Schaden zu
erleiden. Doch sehr bald würde sich auch dieser Zugang als wenig handhabbar erweisen, denn
so einfach ist die Positionierung des Kopfschmerzes in diese Grundbedürfniskoordinaten
nicht.
Eine aussichtsreichere Möglichkeit der Quantifizierung von Schaden wäre weniger die
philosophische, als vielmehr die empirische Ermittlung einer derartigen Skala, wie sie
Nicholson in seiner Studie vorschlägt.12 So könnte man beispielsweise eine Liste
unerwünschter Nebenwirkungen erstellen und eine bestimmte spezifische Populationsgruppe
in Form von standardisierten Fragebögen nach deren subjektiven Bewertung der
Nebenwirkungen befragen. Durch diese psychometrische Methode würde der Tatsache
Rechnung getragen werden, dass ein Schaden letztlich nur aus der subjektiven Betrachtung 11 Humphreys hat drei verschiedene Typen von Wahrscheinlichkeit unterschieden: a. relative frequency or statistical interpretation b. propensity or physical interpretation c. subjective or degree of belief interpretation. Siehe Humphreys 1997, S. 216 12 Nicholson 1986, S. 81 u. 109
8
des einzelnen Subjekts heraus fassbar gemacht werden kann. Eine derartige psychometrische
Erhebung wäre ein erster Schritt hin zu einer solchen Individualisierung, denn man könnte auf
diese Weise ermitteln, wie unterschiedlich eine bestimmte Untersuchungsmethode von
verschiedenen Patientenkollektiven empfunden würde. Je spezifischer das zu befragenden
Kollektiv, desto aussagekräftiger und richtungsweisender das Ergebnis, denn immerhin ließen
sich Tendenzen ausmachen, die beispielsweise verdeutlichen könnten, dass Menschen mit
einer bestimmten Erkrankung auch bestimmte Risiken oder Nebenwirkungen anders
wahrnehmen als andere Personengruppen. Die Grenze eines solchen Umgangs besteht freilich
darin, dass die spezifische Versuchsperson eine andere Konzeption von Schaden haben
könnte als der ermittelte Durchschnitt. Daher kann eine derartig erstellte Skala nur als eine
erste Matrix dienen, die dann durch die subjektive und persönliche Einschätzung der je
einzelnen Versuchsperson ergänzt werden müsste.
4. WAHRNEHMUNG VON RISIKEN
Es ist bereits im vorangegangen Abschnitt darauf hingewiesen worden, dass sich die
Größe eines Schadens nicht ohne die Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung des
Schadens ermitteln lässt.13 Das Moment der Risikowahrnehmung ist von entscheidender
Bedeutung, weil mehrere Studien belegen, dass der Forscher bestimmte Risiken ganz anders
wahrnimmt als die Versuchsperson.14 Ein solches Ergebnis kann freilich nicht verwundern, ist
doch die Wahrnehmung eines Risikos jeweils von verschiedenen sozialen, kulturellen und
politischen Faktoren genauso abhängig wie von bestimmten Interessenslagen und
Zielvorstellungen. Hinzu kommt die Tatsache, dass das popularisierte Wissen von Medizin zu
einem großen Teil ein medial vermitteltes Wissen ist, und die Medien tendieren dazu, nur
bestimmte Aspekte der Wirklichkeit aufzugreifen und zu verstärken; es ist geradezu ein
Spezifikum der medialen Darstellung von Inhalten aus den Bereichen Medizin und
Wissenschaft, dass der Aspekt des Risikos, die Assoziation zur Gefahr besonders
hervorgehoben wird.15
Der Forscher nimmt Risiken in der Regel insofern anders wahr, als er sich mehr auf
quantifizierbare und nachweisbare Momente beruft, wie beispielsweise auf die Todesfallrate.
Für den Nicht-Experten hingegen ist eine solche Todesfallrate äußerst abstrakt und von
geringer Aussagekraft. Mag der Experte mit mathematischen Wahrscheinlichkeiten
13 Zur Risikowahrnehmung siehe näher Waldavsky u. Dake 1990; 14 Siehe Meslin 1993, S. 48 15 Siehe hierzu Maio 1999c
9
bestimmte Inhalte verbinden, der Nicht-Experte kann in der Regel statistische Aussagen nicht
mit Inhalt, geschweige denn mit Sinn füllen. Hinzu kommt, dass der mit der Todesfallrate
gemessene Schaden der Tod ist, der Tod, der sich zwar leicht statistisch erheben lässt, der
aber gerade für die Problematik der Forschung am Menschen nur wenig weiterhilft. Damit das
Risiko eines Versuchs auch adäquat wahrgenommen wird, müssten demnach Parameter
entwickelt werden, die sich an den konkret zu erwarteten Risiken orientieren und nicht an
absoluten Gefahren, die realiter fast nie eintreten. So unerheblich dies für die
Risikowahrnehmung des Forschers sein mag, für die Wahrnehmung der Versuchspersonen
wären die mit einem Versuch einhergehende “Übelkeitswahrscheinlichkeit” und
“Müdigkeitsrate” wesentlich aufschlussreicher als eine Todesfallrate unterhalb des
Promillbereiches.16
Wenn wir betont haben, dass der Wissenschaftler Risiken eher anhand
quantifizierbarer Parameter beschreibt, so heißt dies nicht zwangsläufig, dass die
Wahrnehmung eines Wissenschaftlers eine objektivere wäre als die des Laien. So gibt es
beispielsweise Untersuchungen, die belegen, dass Forscher eher dazu neigen, die Risiken
eines Versuches unrealistisch optimistisch zu betrachten,17 was ja im Grunde nicht sehr
überraschend ist. Überraschend ist jedoch, dass es Risiken gibt, die von Laien wie von
Forschern gleichermaßen als schwerwiegender beurteilt werden als dies statistisch der Fall ist
(wenn man sie am Parameter der Todesfallrate misst), während andere Risiken von beiden
Gruppen bagatellisiert werden, obwohl sie statistisch mit einer beträchtlichen Lebensgefahr
einhergehen.18 Dies verdeutlicht nochmals die Eigenständigkeit der Risikowahrnehmung, die
nicht mit dem tatsächlichen Risiko gleichgesetzt werden kann.19
Aus diesen Überlegungen ergibt sich die besondere Bedeutung, die der
Kommunikation zukommt, damit die unterschiedliche Wahrnehmung des Risikos nicht zu
Missverständnissen führt. Aus den Überlegungen ergibt sich aber auch die Erkenntnis, dass
der Aspekt der Wahrnehmung eines Risikos am Ende das entscheidungsleitende Moment im
Umgang mit einem Versuch ist. Die Entscheidung eines Patienten oder eines Probanden, an
einem wissenschaftlichen Versuch teilzunehmen, wird mehr von der Risikowahrnehmung
abhängen als von der “realen” Risikogröße. Und so ist auch der Begriff der Akzeptabilität
eines Risikos eng mit der Risikowahrnehmung verknüpft - je nachdem, wie man
Akzeptabilität definieren möchte. Und genau das ist die Frage, mit der sich der vierte Ansatz 16 Siehe hierzu Wildawsky u. Dake 1990 17 Siehe Nicholson 1986, S. 105f. 18 Siehe Nicholson 1986, S. 106 19 Zur Risikowahrnehmung siehe auch Wildavsky u. Dake 1990
10
zur Beurteilung des Risikos beschäftigt.
5. BEWERTUNG VON RISIKEN, ODER: WAS IST EIN MINIMALES RISIKO?
Bernhard Irrgang hat in seinem bemerkenswerten Buch zur Forschungsethik mit Recht
darauf hingewiesen, dass das wesentliche Problem, das sich aus dem Umgang mit dem Risiko
ergibt, nicht die Quantifizierbarkeit alleine ist.20 Für die ethische Bewertung des Risikos ist
ebenso die Frage nach der Zumutbarkeit bzw. Akzeptabilität eines Risikos von zentraler
Bedeutung. Und der Begriff des minimalen Risikos drückt genau diese Grenze der
Zumutbarkeit aus, denn der Ausdruck “minimales Risiko” heißt implizit nichts anderes als
“tolerables Risiko”. Hieraus wird deutlich, dass wir es hier mit einem nicht nur
beschreibenden Begriff zu tun haben, sondern vor allem anderen mit einem normativen
Begriff.21 Wie wir bereits angedeutet haben, ist jedoch die Zumutbarkeit eines Risikos nicht
mit der tatsächlichen gesellschaftlichen Akzeptanz eines Risikos identisch, denn diese
Akzeptanz korreliert nicht mit dem faktischen Risiko, sie hängt vielmehr von der
Wahrnehmung eines Risikos ab.22 Irrgang spricht hier von “intuitiver Risikobeurteilung” und
betont, dass eine solche soziale Akzeptanz mit ethischer Legitimation nicht zwangsläufig
deckungsgleich sein müsse.23 Dies bedeutet, dass nicht jeder allgemein akzeptierte Versuch
gleichsam ethisch akzeptabel sein muss und dass umgekehrt nicht jeder ethisch akzeptable
Versuch auch in der Gesellschaft als akzeptabel gelten muss. Wenn die Zumutbarkeit nicht
zwangsläufig mit der Akzeptanz eines Risikos in der Gesellschaft korreliert, so stellt sich die
Frage, anhand welcher Parameter man diese Zumutbarkeit dann festzumachen habe.
Wenn wir nun statt der gesellschaftlichen Akzeptanz das sogenannte “minimale
Risiko” als Leitschiene nehmen, so ist damit nicht viel gewonnen. Denn mit dem Begriff ist
zum einen das Moment der gesellschaftlichen Wahrnehmung keineswegs ausgeblendet, und
zum anderen stellt der Rekurs auf diesen Begriff lediglich eine semantische Verschiebung des
Problems dar. Das “minimale Risiko”24 sagt von sich aus überhaupt nichts aus; es erhält seine
Konturen erst, wenn wiederum die Parameter festgelegt werden, die dieses minimale Risiko
definieren sollen. Da es sich hierbei um einen äußerst komplexen und bislang nur
unbefriedigend gelösten Sachverhalt handelt, der für die Diskussion um die Forschung am 20 Irrgang 1997 21 Zur Risikobewertung siehe näher Gibson 1987 22 Siehe Irrgang 1997, S. 145 23 Siehe Irrgang 1997, S. 146 24 Der Begriff des minimalen Risikos hat zwar weite Verbreitung gefunden. Synonym werden in einigen Dokumenten die Begriffe negligible risks (British Medical Research Council 1991) oder low risks (Council for International Organizations of Medical Sciences, 1993) oder auch no serious risks (Law Reform Commission of Canada, 1989)
11
Menschen von zentraler Bedeutung ist, wollen wir auf diese Problematik im folgenden näher
eingehen.
6. ZUR ETHISCHEN PROBLEMATIK DES SOGENANNTEN “MINIMALEN
RISIKOS”25
6.1 Das Risiko des “täglichen Lebens” als Parameter?
Der Belmont Report von 1978 hat das minimale Risiko definiert als the probability and
magnitude of physical or psychological harm encountered in the daily lives, or in the routine
medical, dental, or psychological examination of healthy persons.26 Auch das “Department of
Health and Human Services” kommt 1981 in Anlehnung an den Belmont Report zu einer
ähnlichen Definition, die sich am Begriff des “täglichen Lebens” orientiert:
Minimal risk means that the risks anticipated in the proposed research are not greater, considering probability and magnitude, than those ordinarily encountered in daily life or during the performance of routine physical or psychological examinations or tests.27
Doch mit dieser Definition ist das Problem noch nicht gelöst. So stellt sich abermals die
Frage, anhand welcher Parameter man nun das tägliche Leben festmachen wolle. Ist mit
täglichem Leben das Leben einer Sekretärin, eines Profifußballspielers oder eines Piloten
gemeint? Wie schwierig eine solche Ausrichtung am täglichen Leben für die Praxis sein kann,
zeigt sich allein daran, dass dieser Satz vielfältig zu interpretieren ist. Denn die Risiken
ordinarily encountered in daily life kann drei Bedeutungen haben. Es kann damit gemeint
sein:
(1) alle Risiken, denen der Durchschnittsmensch begegnet
(2) die Risiken, denen alle Menschen im Durchschnitt begegnen
(3) die minimalen Risiken, denen alle Durchschnittsmenschen im Durchschnitt
begegnen.
Kopelman hat in einer Arbeit von 1989 aufgezeigt, dass alle drei Interpretationsweisen
größte Probleme mit sich bringen.28 Nimmt man nämlich alle Risiken, denen sich der
Durchschnittsmensch aussetzt, so müsste man auch die Risiken mit berücksichtigen, die sich
aus dem Autofahren, aus dem Fliegen, aus dem Fußballspielen ergeben. Doch diese könnten
25 Zum Problemfeld des minimalen Risikos siehe näher Glass u. Speyer-Ofenberg 1992 26 The President Commission 1978 27 U.S. Department of Health 1981 28 Kopelman 1989
12
weder als minimal bezeichnet werden, noch könnten sie als Maßstab für die Bestimmung
eines Risikos bei wissenschaftlichen Versuchen fungieren, da sie damit nicht vergleichbar
wären. Das Problem bei der zweiten Variante besteht in der faktischen Unmöglichkeit, die
Risiken angeben zu wollen, denen sich alle Menschen im Durchschnitt aussetzen, weil wir
diese Risiken nicht definieren, geschweige denn quantifizieren können. Und selbst wenn wir
es könnten, wäre es dann nicht sinnvoller, die Risiken des einzelnen Versuchs zu bestimmen
als die Risiken aller Menschen? Die dritte Variante schließlich leidet unter einem
tautologischen Fehlschluss, denn sie versucht das minimale Risiko mit dem minimalen Risiko
des Durchschnittsbürgers zu definieren, und das macht freilich keinen großen Sinn, weil unter
dieser Tautologie immer noch nicht klar wäre, was denn minimales Risiko zu bedeuten hätte.
So sehr der Versuch, das minimale Risiko an die Risiken des alltäglichen Lebens zu
binden, Eingang in verschiedenste Kodizes gefunden haben mag, er erscheint am Ende nur
wenig hilfreich, ja geradezu inadäquat und fast schon gekünstelt, denn es ist keine logische
Verbindung herzustellen zwischen den Risiken des Alltages und dem Risiko, durch eine
Teilnahme an einer Studie einen Schaden davonzutragen. Dies zeigt sich allein schon an dem
Gedankenspiel, dass ja der Begriff des alltäglichen Lebens und des Durchschnittsmenschen
ohne Referenz auf eine bestimmte Gruppe gar nicht auskommt, denn man kann
schlechterdings die ganze Welt und alle Lebensstandards zu einem Durchschnitt
zusammenrechnen. Man muss sich also immer auf eine bestimmte Gruppe, auf eine
bestimmte Region festlegen. Je nachdem aber, wie diese Festlegung erfolgt, erscheint eben
ein minimales Risiko in Kalkutta durchaus höher als in Kopenhagen. Folgt man der Definition
des minimalen Risikos, so müsste man sagen, dass es gerechtfertigter wäre, eine
risikobehaftete Studie mit einem Kind in Kalkutta durchzuführen als mit einem Kind in
Kopenhagen. Und dies macht freilich keinen Sinn. Dass diese Argumentation jedoch
keineswegs so abwegig ist, zeigt die Reaktion der Willowbrook-Forscher. Denn diese haben
ihre Versuche an den Heiminsassen unter anderem mit dem Argument gerechtfertigt, dass die
von ihnen mit Hepatitisstuhl gefütterten Kinder einem geringeren Risiko ausgesetzt worden
seien als die anderen Kinder in dem von Seuchen heimgesuchten Heim. - Der Rückgriff auf
die alltäglichen oder durchschnittlichen Risiken ist somit nicht nur wenig hilfreich, er kann
mehr als inadäquat sein.
Doch der Bezug auf das alltägliche Leben oder den Durchschnittsmenschen ist ja nur
ein Teil der zitierten Definition des minimalen Risikos. Der zweite Definitionsteil vergleicht
das minimale Risiko mit den Risiken, die bei diagnostischen oder therapeutischen Verfahren
im Rahmen der normalen Heilbehandlung auftreten. Für den sogenannten therapeutischen
13
Versuch bestünde die Möglichkeit, das “minimale Risiko” mit dem Risiko gleichzusetzen, die
mit der Behandlung verbunden wäre, der sich der Patient im Falle einer Nichtteilnahme an der
Studie aussetzen würde.29 Doch auch dieser Vergleich stößt auf Widersprüchlichkeiten, denn
es gibt so viele Untersuchungen und Therapien des Klinikalltags, die bei vielen Menschen
derartige Ängste auslösen und auch stellenweise höchst risikobehaftet sind, dass es
ungerechtfertigt erscheint, alle denkbaren Belastungen des klinischen Alltags einfach als
minimale Risiken zu bezeichnen.30 Auch der Rekurs auf die “Standardrisiken” ist somit kein
sehr hilfreicher.
6.2 Der Begriff der “bloßen Unannehmlichkeit” als Alternative?
Robert Levine hat den Vorschlag gemacht, statt des minimalen Risikos den Begriff der
sogenannten mere inconvenience, der bloßen Unannehmlichkeit als Legitimierungsgrenze zu
nehmen.31 Diese Terminologie hätte den Vorteil, dass in ihr bereits der Bezug zur speziellen
Lebenssituation des je Einzelnen stärker zum Ausdruck käme. Außerdem wären mit
“Unannehmlichkeit” die gängigsten Belastungen, die mit wissenschaftlichen Versuchen
einhergehen, treffender beschrieben als mit dem Begriff des Risikos bzw. des damit
ausgedrückten Schadens. Denn der Terminus des “minimalen Risikos” impliziert semantisch
immer auch ein Stück Gefahr, und wenn man bedenkt, dass mit diesem Begriff Inhalte wie
Urinuntersuchungen, Mituntersuchungen von Blut oder gar Langeweile oder Zeitverlust
gemeint sind, dann erscheint diese Konnotation zur Gefahr wenig adäquat. Allein auf der
konnotativen Ebene wäre der Begriff der Unannehmlichkeit daher vorzuziehen. Dieser hat
einerseits einen engeren semantischen Hof hat als das Risiko; vor allem aber ist der Begriff
der Unannehmlichkeit weniger negativ besetzt als der Begriff des Risikos.
Ob die Unannehmlichkeit dem Begriff des minimalen Risikos definitiv vorzuziehen
ist, muss dennoch fraglich bleiben, denn die bloße Unannehmlichkeit hat den großen
Nachteil, dass sie sich nur auf eine Variable bezieht, nämlich den Grad eines bestimmten
Schadens. Der Begriff des minimalen Risikos hingegen reflektiert zwei Variablen, den Grad
eines Schadens und die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens.32 Nun ist es von wesentlicher
Bedeutung für die Bewertung der Forschungsrisiken, hervorzuheben, dass es hierbei immer
nur um Potentialitäten von Schaden geht und nicht um faktischen Schaden. Und wenn ein
Begriff diesen Aspekt der Potentialität nicht enthält, so ist dies eine gravierende semantische
29 Diese Auffassung vertreten z. B. Evans u. Evans 1997, S. 67 30 Siehe auch hierzu Kopelman 1989 31 Levine 1979, S. 40f. 32 Siehe hierzu Freedman, Fuks u. Weijer 1993, S. 14
14
Verschiebung, die unangebracht wäre, denn damit wäre eine Definitivität von Schaden
nahegelegt, die es bei keinem Versuch geben kann. Daher erscheint uns das minimale Risiko
als der vielschichtigere und damit auch differenziertere Begriff. Allenfalls müsste man hier
von potentieller oder wahrscheinlicher Unannehmlichkeit sprechen, und dies ist freilich wenig
handhabbar.
6.3 Das minimale Risiko als relationaler Begriff
Das Grundproblem, das sich bei der Ermittlung des sogenannten “minimalen”, d.h.
“tolerablen Risikos” ergibt, ist die Unvermeidbarkeit subjektiver Elemente. Diese
Subjektivität kommt auf zwei Ebenen zum Tragen. Die erste Ebene betrifft die Orientierung
des “Tolerablen” an den eigenen Wünschen oder Abneigungen. Ein Risiko ist dann für die
Versuchsperson nicht tolerabel, wenn es beispielsweise die Realisierung bestimmter Wünsche
behinderte oder an spezielle persönliche Aversionen anknüpfte. Nun kann es keine objektiven
Parameter geben, anhand derer solche Momente wie Wünsche und Aversionen bestimmt
werden könnten. Diese Festlegung ist ein vornehmlich subjektiver Vorgang. Doch die
Subjektivität ragt auch auf einer zweiten Ebene in die Entscheidung hinein, denn nicht nur die
Definition von Wünschen und Aversionen obliegt der Subjektivität, sondern gleichsam die
Parameter, anhand derer diese Momente gegeneinander aufgewogen werden. Der
Abwägungsprozess ist kein rein rationales Ausbalancieren; gerade in diesen Prozess der
Abwägung fließen in den meisten Fällen Momente wie Hoffnungen, Ängste und persönliche
Überzeugungen hinein, so dass nicht nur die Präferenzen als solche, sondern auch der Prozess
des Abwägens mit größter Subjektivität behaftet sind.33
Aber es sind nicht nur die subjektiven Elemente, die eine Konturierung des minimalen
Risikos erschweren. Was genauso schwer wiegt, ist die Überlegung, dass das Risiko nicht nur
von der einzelnen Person abhängt, sondern gleichsam vom gesamten Kontext, in dem dieses
Risiko auftritt. Eine Blutabnahme beispielsweise kann nicht schlechthin als minimales Risiko
eingestuft werden. Die Subjektgebundenheit der Definition resultiert daraus, dass ein Kind
oder ein Patient mit Alzheimer Demenz eine Blutabnahme durchaus als große Belastung
empfinden kann. Die grundsätzliche Kontextgebundenheit des minimalen Risikos kommt in
diesem Beispiel darin zum Ausdruck, dass eine Blutabnahme je nach Situation durchaus auch
als großes Risiko eingestuft werden kann. Allein der Kontext gibt hier vor, zu welcher
Kategorie die Blutabnahme gehört. Denn eine Blutabnahme bei einem Markumarpatienten ist
beispielsweise etwas anderes als eine Blutabnahme bei einem gesunden Probanden, und dies 33 Siehe hierzu näher Humber u. Almeder 1987, S. 242f.
15
ganz unabhängig von der subjektiven Bewertung der Abnahme. Gleichermaßen ist eine
Blutabnahme in einem Krankenhaus eher mit einer Infektionsgefahr verbunden als eine
Blutabnahme in der freien Praxis; und die Gefahr eines durch die Blutabnahme
hervorgerufenen Hämatoms hängt wiederum von der Erfahrung oder der Disposition des
Abnehmers ab wie von der Situation, in der diese Abnahme erfolgt. Denn eine Blutabnahme
unter Notfallbedingungen ist durchaus risikoreicher als eine Routineblutabnahme im täglichen
Stationsbetrieb.
Gerade das minimale Risiko ist ein relationaler und kontextgebundener Begriff, und es
wird schwer sein, minimale Risiken schablonenhaft festzulegen. Letztlich wird jede wie auch
immer definierte Schwelle, ab der ein Risiko akzeptabel sein soll, eine Grenze sein, die nur
aufgrund von Urteilen abgesteckt werden wird und nicht aufgrund von Zahlen.
Diese Vorüberlegungen sind insofern von Bedeutung, als wir daraus schlussfolgern
können, dass man nie zu einer objektiven Methode gelangen wird, um ein minimales Risiko
zu definieren. Hier wird man freilich einwenden können, dass es doch bei aller Subjektivität
dennoch möglich ist, bestimmte Risiken zu definieren, die auf alle Fälle nicht akzeptabel sind.
Man wird einwenden können, dass die Statistik wenn auch nicht einen Punkt, so zumindest
einen bestimmten mehr oder weniger breiten Bereich angeben kann, innerhalb dessen sich die
Schadenswahrscheinlichkeit bewegt. Beide Einwände sind berechtigt, und beide Einwände
machen deutlich, dass die Risikoanalyse trotz aller Einschränkungen ein wertvolles
Instrument bleibt. Was zur Debatte steht, ist eben nicht die grundsätzliche Nützlichkeit dieses
Instrumentes, sondern der Grad der Aussagekraft, die man der Statistik zuschreiben will.
“Nützlich” ist die Auseinandersetzung mit Schwellenwerten und mit minimalen Risiken
gerade aus dem Grund, weil dies eine genauere Beleuchtung zumindest der Argumente und
Parameter ermöglicht, anhand derer man überhaupt zu einem konsistenten Urteil über
tolerable Risiken kommen kann.
7. PRAKTISCHE SCHWIERIGKEITEN
Soweit einige theoretische Vorbemerkungen zum Risiko-Begriff in der medizinischen
Forschung, die wir im folgenden durch einige Überlegungen ergänzen wollen, die die
Schwierigkeit der Anwendung des Risiko-Begriffs verdeutlichen sollen.
7.1 Dem Risikobegriff inhärente subjektive und normative Vorgaben
Wenn wir betonen, dass in die Risikoanalyse immer subjektive und normative
Entscheidungen mit einfließen, so heißt dies zunächst dreierlei nicht. Es heißt nicht, dass jede
16
Risikoanalyse deswegen nutzlos wäre. Es heißt nicht, dass dies schädlich sein muss. Und es
heißt nicht, dass subjektive Momente mit normativen Momenten gleichgesetzt werden
dürften. Eine subjektive Entscheidung kann wertfrei erfolgen, genauso wie ein Werturteil ein
objektives Urteil sein kann. Doch bleiben wir zunächst bei der Subjektivität.
Der Begriff der Risikoermittlung suggeriert zwar Objektivität, doch de facto kann eine
Aussage über Risiken nur aus einer Mischung von objektiven und subjektiven Elementen
bestehen. Diese subjektiven Elemente ragen beispielsweise dann in die Risikoermittlung
hinein, wenn es um die Frage der Relevanz geht bzw. um die Frage, was denn überhaupt als
Risiko gewertet werden soll.34 Will man also Forschungsrisiken ermitteln, so müsste zunächst
geklärt werden, welche Symptome überhaupt für eine Risikoanalyse von Bedeutung sind, und
diese vorausgehende Definition ist keine naturwissenschaftliche, sondern eine normative
Definition. Aber nicht nur die Festlegung der Risiko- bzw. der Schadensart, sondern auch die
Festlegung der Grenze, ab der ein Schaden überhaupt als solcher bewertet werden soll, ist das
Produkt einer Wertentscheidung. Jedes festgelegte Risiko ist ein selektiertes Risiko, jedes
Risiko ist der Korn, der vom Sand ausgesiebt wird. Ob es nur ein Korn oder mehrere Körner
sein werden, die das Sieb nicht passieren, hängt von der Feinheit der Poren ab, und die
Bestimmung dieser Poren, das Festlegen eines bestimmten Schwellenwertes, das ist das nicht-
objektive und normative Element der Risikoermittlung.35 Die Entscheidung, ob ein Symptom
als Risiko gewertet werden soll oder nicht, wird aufgrund von Wertzuweisungen fallen und
nicht aufgrund von Statistiken.36 Daher kann es eine rein objektive und völlig wertfreie
Risikoermittlung nicht geben. Es kann sie nicht geben, weil der Wissenschaftler selbst sich
von subjektiven Entscheidungen nicht freimachen kann. Es kann sie aber auch deswegen
nicht geben, weil die Risikoermittlung und vor allem die Risikobewertung nicht dem
Wissenschaftler alleine überlassen werden kann. Für die Risikobewertung wäre
beispielsweise die Sicht des Laien nicht weniger bedeutungsvoll als die des Experten.
All diese Überlegungen machen deutlich, dass es sich beim Begriff des Schadens -
ähnlich wie beim Begriff des minimalen Risikos - um einen kontextgebundenen Begriff
handelt, um einen Begriff, der nicht als eigenständige Größe gehandhabt werden kann,
sondern dessen Bedeutung vom jeweiligen Kontext abhängt. Nehmen wir das Beispiel des
34 Siehe hierzu Hattis u. Smith 1987, S. 61 35 Siehe hierzu auch Stempsey 1999 36 Ein Beispiel hierfür wäre beispielsweise die Frage, ob der durch ein Medikament ausgelöste Husten ein Schaden sein soll. Abgesehen davon, dass eine solche Entscheidung nicht kontextfrei gefällt werden kann, so ist der Husten als solcher nicht für sich genommen schon so ein unbestrittener Schaden wie ein Hautschnitt beispielsweise. Hier also kann keine Statistik weiterhelfen, hier wird mithilfe von Werten entschieden werden müssen.
17
Hustens. Ob der durch eine Arzneimittelprüfung ausgelöste Husten als Schaden gewertet
werden kann, hängt freilich davon ab, wer diesen vermeintlichen Schaden erleidet. Ein Patient
mit einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung wird den Husten anders werten als ein
zwanzigjähriger gesunder Proband. Nehmen wir den Hautschnitt. Auch das Beispiel des
Hautschnittes zeigt auf, wie sehr die Definition des Schadens vom Kontext abhängt. Denn in
Kulturen, wo der Hautschnitt als Initiationsritus etabliert ist, dort wird er von der Bevölkerung
nicht als Schaden gewertet werden. Mag er objektiv eindeutig als Schaden bezeichnet werden
können, so unterliegt die subjektive Schadensbewertung offensichtlich soziokulturellen
Deutungsmustern. Denn der Hautschnitt ist gemessen an der Kategorie der physiologischen
Funktionseinschränkung sehr wohl ein Schaden, während er gemessen an der sozialen und
psychischen Kategorie je nach Kultur keinen Schaden darstellt. Die Kontextgebundenheit des
Schadens- bzw. Risikobegriffs betrifft damit insbesondere die subjektiven Schadensformen,
weniger die objektiven.
Was bedeutet all dies? Allein die Erkenntnis, dass der Risikobegriff zwangsläufig ein
wertbeladener, ein relationaler und kontextgebundener Begriff bleibt, ist nicht weiter
beklagenswert, denn auch ein aufgrund von Wertzuweisungen entstandener Risikobegriff
kann ein tauglicher Referenzpunkt sein. Entscheidend ist das Bewusstsein um diese normative
Komponente, damit der Umgang mit dem Risiko frei bleibt von Verabsolutierungstendenzen.
Diese Überlegungen betreffen freilich nicht den Risikobegriff alleine; letztlich ist die
Wertbeladenheit des Risikos nur ein Ausdruck dafür, dass die Wissenschaft an sich keine
wertfreie Unternehmung ist.37 Dies klingt auf den ersten Blick widersprüchlich, denn der
Begriff des Werturteils wird meist mit Gefühl und Emotion konnotiert. Abgesehen davon,
dass auch und gerade Gefühle zur Erklärbarkeit bestimmter Phänomene beitragen können,
muss hervorgehoben werden, dass Wertentscheidungen nicht zwangsläufig emotional
getragene Entscheidungen sein müssen. Hier unterscheidet die englische Sprache zwischen
“evaluating” und “valuing”, zwischen beurteilen und bewerten. So lässt sich beispielsweise
die Funktionsfähigkeit eines Computers danach beurteilen, wie schnell er eine bestimmte
Aufgabe lösen kann. Die Geschwindigkeit ist der Parameter, anhand dessen die
Funktionsfähigkeit gemessen werden kann. Dies wäre eine kognitive Beurteilung einer
charakteristischen Fähigkeit des Computers, und diese Beurteilung erfolgt auf rein kognitiver
Basis und ohne die Implikation von Gefühlen. Anders ist es nun mit der Bewertung der
Funktionsfähigkeit als solche. Wollte man also danach fragen, ob speziell diese eine
37 Eine recht breite Diskussion um die Wertfreiheit der Wissenschaft hat - abgesehen von Max Weber - schon in den Fünfzigerjahren angefangen. Siehe beispielsweise Rudner 1953
18
charakteristische Aufgabe des Computers wirklich ein Gut an sich sein soll oder ob nicht
andere Fähigkeiten “wertvoller” wären, so ragen nun in diese Beurteilung subjektive und
emotionale Momente hinein, weil sich diese Beurteilung nun nicht mehr auf ein Faktum
(Schnelligkeit), sondern auf eine mehr oder weniger subjektive Bewertung bezieht.
Uns erscheint genau diese Frage wesentlich, weil im Umgang mit der Forschung am
Menschen immer wieder der Einwand geäußert wird, dass doch jede Nutzen-Risiko-Analyse
am Ende nur subjektiv und daher nicht verwertbar sei. Bedenkt man diese Differenzierung
von “evaluating” und “valuing”, so wird deutlich, dass eine solche Kritik gegenstandslos ist,
zumindest in ihrer absoluten Form. In die Risikoabschätzung ragen freilich subjektive und
normative Momente hinein, aber wollte man sie als rein willkürliche Urteile abzutun, so
würde man ihr - wie wir am Beispiel der Bewertung von Wissenschaft erläutert haben - nicht
gerecht werden.38
7.2 Der Risikobegriff und ontologische Vorverständnisse
Es ist nicht nur die Subjektivität, die in die Risikoermittlung hineinragt. Hinzu
kommen ontologische Vorgaben, wie sie die wissenschaftliche Methode selbst mit sich
bringt. Wenn wir einen Wissenschaftler bitten, die mit einem Versuch verbundenen Risiken
zu benennen, so kann dieser nur jene Risiken benennen und quantifizieren, die er mit seiner
wissenschaftlichen Methode erfassen kann. Freilich lassen sich auch Kopfschmerzen
wissenschaftlich erfassen und Übelkeit auch, aber solange der Wissenschaftler mit seiner
Risikoermittlung alleine bleibt, wird sein Risikospektrum zwangsweise begrenzt bleiben, weil
subtilere Größen und Symptome durch die wissenschaftlichen Instrumente methodisch nicht
erfasst werden. Deswegen hängt die Risikoermittlung in den meisten Fällen von methodisch
bedingten ontologischen Vorgaben ab, die zwangsläufig mit sich bringen, dass jeweils nur ein
Ausschnitt der gesamten Risikopalette erfasst wird. Shrader-Frechette hat diesen Umstand
sehr treffend mit folgenden Worten zusammengefaßt: Knowing which data to collect, how to
simplify myriad facts into a workable model, and how to extrapolate because of unknowns all
require one to make numerous value judgements.39
7.3 Grundsätzliche Unsicherheit
Gerade das Beispiel der Medikamentenprüfungen macht deutlich, dass der Ersteinsatz
eines Arzneimittels am Menschen immer mit Unwägbarkeiten verbunden ist, die der
Tierversuch nie ganz eliminieren kann. Denn irgendwann ist immer der erste Einsatz beim 38 Siehe hierzu näher Shrader-Frechette 1987 39 Shrader-Frechette 1987, S. 152
19
Menschen, und die daraus resultierenden Nebenwirkungen können zwar in den meisten Fällen
von den bei Tieren aufgetretenen Nebenwirkungen extrapoliert werden, doch am Ende ist
jeder erste Einsatz am Menschen ein mit größten Unsicherheiten verbundener Einsatz. Dies
nicht nur, weil die menschliche Physiologie von der der Tiere abweichen kann, sondern auch
weil der Mensch Unwohlsein empfinden kann, das bei Tieren nicht messbar. Die Geschichte
der Medikamentenprüfungen ist gespickt mit vielen Überraschungen, und es wäre
unangemessen, beim Ersteinsatz von Medikamenten von abwägbaren Risiken zu sprechen.
Diese grundsätzliche Unsicherheit gehört zu den kaum überwindbaren ethischen Problemen,
mit denen sich die Arzneimittelprüfung konfrontiert sieht.
7.4 Vielfältigkeit der zu berücksichtigenden Faktoren
Wie schwierig die Evaluierung von Risiken ist, lässt sich am Beispiel des physischen
Risikos verdeutlichen, und dies obwohl das physische Risiko das noch am leichtesten
evaluierbare ist. Doch die Komplexität auch dieses Risikos macht sich bemerkbar, wenn man
darüber nachdenkt, welche Parameter in die Abschätzung dieses Risikos hineinragen müssten,
denn es würde nicht genügen, allein die Wahrscheinlichkeit und die Schwere des zu
befürchtenden Schadens auszumachen. Von wesentlicher Bedeutung wäre noch die Dauer des
Schadens nach Beendigung des Versuchs. Berücksichtigung müsste überdies der Faktor der
Reversibilität genauso finden, wie die Möglichkeiten der Früherkennung des Schadens; und
auch die Möglichkeiten der Behebung des Schadens wären nicht unerheblich für die
Evaluierung des Risikos eines Versuchs.40 Mit diesen sechs Faktoren (a. Wahrscheinlichkeit,
b. Schwere, c. Dauer, d. Reversibilität, e. Früherkennung, f. Behebung des Schadens) sind
wiederum nur ein Teil der Momente benannt, die in die Evaluierung des physischen Schadens
hineinragen, und der physische Schaden ist, wie gesagt, der noch am einfachsten zu fassende.
Daher erscheint der Schluss gerechtfertigt, dass allein die Komplexität der zu evaluierenden
Faktoren den Begriff des Risikos zu einem schwierigen macht.
7.5 Risiko des Unterlassens
Die Komplexität der Evaluierung von Risiken in der Forschung wird noch dadurch
verstärkt, dass bei kontrollierten Studien das mit der Studie verbundene Risiko nicht nur aus
dem Risiko besteht, der sich aus dem Versuch selbst ergibt. Vielmehr muss hier auch der
potentielle Schaden mit berücksichtigt werden, der sich aus dem Aussetzen der
Standardtherapie ergibt. Testet man beispielsweise ein neues Medikament an einem Patienten
40 Siehe Näheres hierzu bei Levine 1978b
20
und setzt dies ein anstelle des erprobten Medikamentes, so besteht der potentielle Schaden
nicht nur aus den möglichen Nebenwirkungen des unerprobten Medikamentes, sondern auch
aus den Folgen, die sich aus dem Absetzen des erprobten Medikamentes ergeben könnten.
Selbst wenn man das unerprobte Medikament nur additiv zur Standardtherapie einsetzen
sollte, so bleibt das selbe Problem dann bestehen, wenn die Kontrollstudie eine Placebogabe
notwendig macht. Und noch komplexer wird die Evaluierung ab dem Moment, wo wir es mit
einem Doppelblindversuch zu tun haben, denn hier kommt zur Gefahr, die sich aus dem
Fehlen des Medikamentes ergibt, noch eine andere Gefahr hinzu, die in die Risikobeurteilung
mit einfließen muss, und zwar die Gefahr, dass die Versuchsperson in eine Notfallsituation
hineingeraten könnte, aus der heraus es schädlich sein könnte, nicht zu wissen, unter welchem
medikamentösen Einfluss die Versuchsperson steht. Dies bedeutet also, dass der
Doppelblindversuch völlig unabhängig von der jeweiligen Intervention an sich schon ein
höheres Risiko beinhaltet als die Versuchsaufbauten, bei denen die applizierte Substanz
bekannt ist.
Auf der anderen Seite bedeutet Risiko des Unterlassens aber auch, dass es verkürzt
wäre, wollte man die Vornahme eines Versuchs als Risiko bezeichnen und das Unterlassen
eines Versuchs als Unterlassen von Risiko bewerten. Diese Argumentation würde außer Acht
lassen, dass das Verzichten auf einen Versuch genauso mit Risiken verbunden sein kann wie
das Vornehmen, allerdings mit Risiken nicht für die spezifisch einzelne Versuchsperson,
sondern z.B. für zukünftige Patienten.
7.6 Das Studienrisiko ist nicht additiv
Ein anderes grundsätzliches Problem im Umgang mit der Evaluierung des Risikos
besteht darin, dass das Risiko, das durch die Teilnahme an einem Versuch eingegangen wird,
nicht einfach zu den Risiken des gewöhnlichen Lebens oder den Risiken einer
Heilbehandlung hinzukommt. Ein Proband, der sich einer Studie unterzieht, läuft in der Zeit,
in der er sich im Labor aufhält beispielsweise nicht Gefahr, von einem Auto überfahren zu
werden, und umgekehrt trägt der Patient, der an einer Studie nicht teilnimmt, nicht
zwangsläufig ein geringeres Risiko als sein Bettnachbar, der in eine solche eingeschleust
wird. Denn durch die Teilnahme an der Studie entzieht sich der Patient möglicherweise den
Risiken, die mit der Heilbehandlung verbunden sind. Das Risiko, das mit der Teilnahme an
einem Experiment verbunden ist, muss somit mit dem Risiko verrechnet werden, das sonst
eine Therapie oder die Verrichtungen des Alltags mit sich bringen würde. Und dieser
Abgleich macht es besonders schwer, bestimmten Versuchen eine standardisierte Risikoskala
21
zuzuordnen.41
7.7 Schwierige Frage der Kausalität
Wenn ein Pharmakologe eine Studie über zwei noch unerprobte Herzpräparate, wie
z.B. über zwei ACE-Hemmer, durchführt, und im Laufe dieser Studie erleiden zwei von 25
Patienten einen Herzinfarkt, so sagt dies allein nichts über das mit den Medikamenten
verbundene Risiko aus, weil die Kausalität zwischen neuem ACE-Hemmer und Herzinfarkt
zunächst nicht geklärt ist. So können die Herzinfarkte eher der spezifischen Art des
Patientenkollektivs zuzuschreiben sein als der Wirkung des Medikaments. Andererseits
müsste hier geklärt werden, ob der Herzinfarkt nicht indirekt Folge des Versuches sein
könnte, weil dieser möglicherweise mit einer Medikamentenumstellung verbunden ist, die
eine derartige Wirkung entfalten könnte.
Dieses Beispiel macht deutlich, dass eine Schwierigkeit bei der Ermittlung und
Bewertung von Risiken darin bestehen kann, dass es oft schwierig ist, die Kausalitätskette
eines Schadens auszumachen. Bekommt ein Patient während einer Studie
Herzrhythmusstörungen, so können diese entweder durch den Studienaufbau selbst oder auch
nur akzidentell aufgetreten sein. Doch was ist akzidentell? Im Grunde wäre es ja durchaus
vorstellbar, dass die veränderte psychische Verfassung des Patienten oder die studienbedingte
Abwesenheit von der Familie zu entsprechenden Symptomen prädisponieren könnte. Auch
aus diesem Beispiel wird deutlich, dass es letztlich nicht immer möglich sein wird, einen
klaren Kausalitätszusammenhang herzustellen.
8. KRITISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUM BEGRIFF DES (THERAPEUTISCHEN)
NUTZENS
Das (minimale) Risiko wird selten für sich genommen betrachtet. Es wird meist in
Beziehung zum Nutzen gesetzt. Der Nutzen für die Versuchsperson ist eine wesentliche
Legitimierungsmöglichkeit eines Experimentes am Menschen, da im Falle eines konkreten
Nutzens für die Versuchsperson der Zweck des Experiments zumindest nicht ausschließlich
ein subjektfremder Zweck ist, sondern idealiter mit dem Zweck für die Versuchsperson
zusammenfällt, so dass auf diese Weise die rechtfertigungsbedürftige Instrumentalisierung der
Versuchsperson aufgehoben wäre. Doch ab wann kann man von einem therapeutischen
Nutzen für die Versuchsperson sprechen? Wie lässt sich ein “therapeutischer” Versuch von
41 Siehe hierzu Freedman 1993
22
einem “nicht-therapeutischen” Versuch unterscheiden? Was ist nun ein Experiment zum
Nutzen des Patienten und was ein Experiment zum Nutzen der Wissenschaft? Genau auf diese
Fragen ist man zurückgeworfen, wenn man die Nutzen-Risiko-Analyse als zentrale
Legitimitätsbedingung der Forschung am Menschen betrachtet. Daher soll zunächst auf den
Begriff des Nutzens eingegangen werden, um am Ende die Nutzen-Risiko-Analyse als solche
zu hinterfragen.
8.1. Gibt es ein “therapeutisches Experiment”? Kritik einer Dichotomie
Die Unterscheidung von sogenannten therapeutischen und nicht-therapeutischen
Versuchen hat schon eine lange Geschichte. Die Reichsrichtlinien von 1931 unterscheiden
zwischen neuartiger Heilbehandlung und wissenschaftlichem Versuch, die Deklaration von
Helsinki kategorisiert in Versuche, die im wesentlichen im Interesse des Patienten liegen und
Versuche, die mit rein wissenschaftlichem Ziel ohne unmittelbaren diagnostischen oder
therapeutischen Wert für die Versuchsperson sind.42 Gerade die Helsinki-Deklaration des
Weltärztebundes von 1964 hat einen wesentlichen Einfluss darauf gehabt, dass diese
Aufteilung in therapeutische und nicht-therapeutische Versuche seitdem eine weite
Verbreitung gefunden haben. Neben vielen anderen offiziellen Verlautbarungen hebt auch die
amerikanische “National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical
and Behavioral Research” 1978 die Bedeutung dieser Unterscheidung hervor. Sie
unterscheidet wie folgt:
Therapeutic research refers to research designed to improve the health or condition of the research subject by prophylactic, diagnostic or treatment methods that depart from standard medical practice [...] Nontherapeutic research refers to research not designed to improve the health condition of the research subject by prophylactic, diagnostic or treatment methods.43
Aber ist es von der Sache her überhaupt gerechtfertigt, eine solche Einteilung
vorzunehmen? Hier lassen sich mehrere Einwände vorbringen, die auf verschiedenen Ebenen
angesiedelt sind.
8.2. Die teleologische Unterscheidung als Fallstrick
Ein ernsthafter Einwand besteht darin, dass der Begriff des “therapeutischen
Experiments” in sich widersprüchlich ist. Das Experiment ist von der Methode und vom
Ablauf her auf den Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft ausgerichtet. Diese Zielvorgabe ist
42 Beide Dokumente sind abgedruckt in Sass 1989 43 National Commission 1978
23
ja das Spezifische des Experimentes, und es kann daher per se nicht auf das Wohl der
Versuchsperson ausgerichtet sein, allenfalls auf das Wohl zukünftiger Patienten. Natürlich
schließt ein Experiment nicht aus, dass auch Versuchspersonen daraus einen therapeutischen
Nutzen ziehen, doch dieser Nutzen ist dann nur ein Nebeneffekt und nicht der mit dem
Experiment unmittelbar angestrebte. Dieser Nutzen rührt streng genommen nicht daher, dass
die Person am Experiment teilgenommen hat, sondern daher, dass zufällig eine Therapieform
an ihr ausgetestet wurde, die bei ihr angeschlagen hat.
Genau dieses Moment des Zufälligen als Bestandteil der experimentellen Methode
macht den Unterschied zur Therapie aus, denn im therapeutischen Akt wird die Entscheidung
über die Behandlung gerade nicht dem Zufall überlassen, sondern sie ist streng an der
Situation des Patienten ausgerichtet. In einer kontrollierten Studie ist es dem Forscher
hingegen im Grunde untersagt, an den therapeutischen Nutzen einer bestimmten Methode zu
glauben. Zumindest wäre es entweder unwissenschaftlich oder unehrlich, das Experiment vor
Beginn als therapeutisch zu bezeichnen, weil man auf diese Weise ein Ergebnis des
Experimentes voraussetzen würde, was zu befördern ja der eigentliche Sinn des Experimentes
ist. Man macht ein Experiment gerade mit dem Anliegen zu erfahren, ob die Methode einen
therapeutischen Effekt hat oder nicht. Wird ein Experiment als therapeutisch bezeichnet, so
impliziert dies, dass der Effekt schon bekannt sei, und dann wäre ein solches Experiment ja
sinnlos.
Der Begriff des “therapeutischen Experimentes” ist somit in sich widersprüchlich,
weil der eigentliche Sinn des Experimentes nicht die Therapie der einzelnen Versuchsperson
sein kann. Annas hat in einer jüngeren Publikation diesen Umstand zugespitzt in der Weise
dargelegt, dass der Forscher, der von therapeutischem Experiment spreche, entweder dem
Patienten gegenüber unehrlich sei oder seinem wissenschaftlichen Anspruch nicht genüge.44
Unabhängig davon, ob wir dieser strengen Beurteilung folgen wollen, der Begriff des
“therapeutischen Versuchs” ist allemal nicht nur unlogisch, er ist auch präjudizierend, weil er
von vornherein einen therapeutischen Nutzen suggeriert, den er de facto nur mehr oder
weniger vage in Aussicht stellen, aber nicht mit Sicherheit vorhersagen kann.
Hier wäre freilich einzuwenden, dass man sich doch durchaus Versuche vorstellen
könne, bei denen der Forscher zwar einem wissenschaftlichen Interesse folgt, aber
gleichzeitig mit diesem Interesse auch die Verbesserung des Leidenszustands eines Patienten
bezweckt. Wer könnte einem solchen Forscher widersprechen? Aber gerade dieser
44 Siehe auch Annas 1996
24
Gedankengang macht deutlich, wie künstlich die Unterscheidung von therapeutisch und nicht-
therapeutisch ist, wenn man sich allein auf den Parameter der Intention stützt. Jeder Versuch
würde auf diese Weise letztlich als therapeutisch eingestuft werden können, einfach weil es
nur ein gradueller und kein qualitativer Schritt ist, der zwischen der Hilfe für zukünftige und
der Hilfe für den jetzigen Patienten steht, aber auch deswegen, weil es ein Leichtes ist, einem
Versuch zumindest rhetorisch zwei parallele Intentionen zugrundezulegen.
Angesichts dieser künstlichen Dichotomisierung wäre es angebrachter, man würde
statt von therapeutischen und nicht-therapeutischen Versuchen eher von vorrangig
therapeutischen bzw. vorrangig nicht-therapeutischen Versuchen sprechen. Diese Ausdrücke
würden implizit eine Vermengung von therapeutischen und nicht-therapeutischen Momenten
zum Ausdruck bringen. Sie würden damit unserer Dichotomie-Kritik Rechnung tragen und
wären damit von der Sache her adäquater. Ob sie jedoch auch handhabbarer wären, das
wiederum hängt von der näheren Bestimmung dessen ab, was man unter therapeutischem
Nutzen zu verstehen habe. Und genau dieser Nutzen ist Grundlage unserer zweiten
Dichotomie-Kritik.
8.3. Wer definiert den Nutzen in einem “therapeutischen Experiment”?
Auch die Definition von “therapeutischem Nutzen” ist eine höchst diffizile. De facto
wird die Einstufung eines Experimentes in die therapeutische oder nicht-therapeutische
Kategorie vom Forscher bzw. vom Arzt vorgenommen, was damit zusammenhängt, dass in
vielen Fällen der therapeutische Nutzen durch die Krankheit selbst definiert und durch die
Mess- und Untersuchungsmethoden des Arztes kontrolliert wird (aus der Krankheit
Hypertonie beispielsweise ergibt sich der therapeutische Nutzen der Blutdrucksenkung). In
vielen Fällen jedoch bedarf es zur Einteilung in therapeutische oder nicht-therapeutische
Experimente auch der Sichtweise des Patienten. So kann gerade bei psychischen
Erkrankungen - aber nicht nur hier - die Definition des therapeutischen Nutzens nicht dem
Arzt alleine überlassen werden. Der Patient ist es hier, der darüber befinden kann, ob die
Teilnahme an einem Versuch für ihn von therapeutischer Relevanz war. Welche Effekte “zu
seinem Wohle”, “in seinem Interesse” oder “zu seinem Besten” sind, kann somit nur der
Patient und nicht der Forscher entscheiden, zumindest nicht der Forscher allein.
Ein Beispiel hierfür ist der an Alzheimer-Demenz erkrankte Patient. Wird dieser nun
in eine Studie eingeschleust, die vom Versuchsleiter als nicht-therapeutisch eingestuft wurde,
weil sie keinen therapeutischen Nutzen für den spezifischen Patienten bringen kann, so ist es
durchaus denkbar, dass der Alzheimer-Patient diese Studie durchaus subjektiv als
25
therapeutisch empfinden könnte, weil die Studie ihm möglicherweise Selbstbewusstsein
verleiht oder mit besonderer Aufmerksamkeit verbunden ist, die sich günstig auf seinen
seelischen wie geistigen Zustand auswirken könnte. Hier könnte man also von “sekundär
therapeutisch” sprechen. Jedenfalls läuft eine therapeutisch-nichttherapeutische Einteilung
ohne die Berücksichtigung der Sichtweise des Patienten Gefahr, sich im nachhinein als Irrtum
zu erweisen.
8.4. Semantischer Einwand
Und schließlich kommt die Problematik der Differenzierung zwischen therapeutisch
und nicht therapeutisch auch auf semantischer Ebene zum Tragen. Diese Problematik ist nicht
unerheblich für die ethische Bewertung der Forschung, weil durch die Verwendung des
Begriffs des “therapeutischen Experimentes” schon terminologisch die
Legitimierungsbedürftigkeit des Experimentes abgeschwächt wird. Der Begriff der Therapie
besitzt einen großen Hof positiver Konnotationen. Diese assoziative Nähe zu Heilung,
Gesundung, Sicherheit, Vertrauen könnte bewirken, dass der “therapeutische” Versuch in
ungerechtfertigter Weise verharmlost würde. So könnte die Polarisierung von therapeutischen
und nicht-therapeutischen Experimenten dazu führen, dass zwei unterschiedlich strenge
Einwilligungsstandards entstünden, wie z. B. das Erfordernis einer direkten Einwilligung
beim nicht-therapeutischen Versuch und die Möglichkeit einer stellvertretenden Einwilligung
beim therapeutischen Versuch. Unter dem Deckmantel des “therapeutischen” Versuchs
könnten dann risikoreiche Experimente unter weniger strengen Schutzvorkehrungen
vorgenommen werden, und dies obwohl solche “therapeutischen” Versuche für die
Versuchsperson möglicherweise schädlicher oder weniger “nützlich” sind als sogenannte
“nichttherapeutische” Versuche. Die Dichotomisierung von therapeutischen und nicht-
therapeutischen Versuchen suggeriert eine Gleichsetzung von therapeutisch und ungefährlich
bzw. nicht-therapeutisch und gefährlich, ja gar eine Gleichsetzung von therapeutisch und
human bzw. nicht-therapeutisch und inhuman (weil nicht am einzelnen Menschen
interessiert). Dass es aber genau umgekehrt sein kann, wird nur wenig bedacht. Der
sogenannte “therapeutische Versuch” kann durchaus wesentlich gefährlicher und gewagter
sein als der sogenannte “nicht-therapeutische” und er kann gleichsam von weniger lauteren
Motiven geleitet sein als der “nur” wissenschaftliche Versuch.
26
8.5. Ein Beispiel für die Fragwürdigkeit der Dichotomisierung von therapeutisch und
nicht-therapeutisch
Ein eklatantes Beispiel für die Fragwürdigkeit der Gleichsetzung von “therapeutisch”
und “ungefährlich” sind die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren durchgeführten Versuche
an der “Willowbrook State School for mentally retarded children” von New York.45 Es war
dies ein großes Heim für geistig behinderte Kinder, das für insgesamt 3.000 Insassen
konzipiert war, in dem aber beispielsweise im Jahre 1963 mehr als 6.000 Kinder
untergebracht waren.46 Diese Überfüllung und die Tatsache, dass viele der
schwerstbehinderten Kinder inkontinent waren, führte dazu, dass endemisch immer wieder
relativ blande verlaufende Hepatitis-Infektionen auftraten.47 Spätestens nach einem Jahr
Aufenthalt in dem Heim hatte sich jedes Kind peroral an Hepatitis infiziert. Um eine effektive
Infektionsprophylaxe zu entwickeln, begannen Saul Krugman und seine Mitarbeiter im Jahre
1956 mit einer Studie, die vorsah, dass ein Teil der neu aufgenommenen Kinder, die bislang
keine Hepatitis durchgemacht hatten, auf einer Isolierstation untergebracht und dort in zwei
Kontrollgruppen aufgeteilt wurden, wovon eine Gruppe Hepatitis-Viren intramuskulär
injiziert bekam und die andere virenhaltige Stuhlextrakte von anderen infizierten Kindern oral
verabreicht bekam. Insgesamt wurden im Laufe der Jahre 750 bis 800 Kinder dieser Prozedur
unterzogen (von insgesamt 10.000 aufgenommenen Kindern in dieser Zeit). Krugman hatte
alle Waisenkinder aus dieser Studie ausgeschlossen und die Eltern jeweils um eine
schriftliche Einwilligung gebeten, wobei die Eltern hierbei offenbar meist gefragt worden
waren, ob sie einverstanden damit wären, dass ihre Kinder einer neuen Präventivmaßnahme
unterzogen würden, ohne dass ihnen genaueres zu Versuchsaufbau und Infektionsrisiko
erläutert worden zu sein scheint.48
Für unsere Fragestellung ist es nun von besonderem Interesse, dass die später -
bemerkenswerterweise erst Jahre nach Beechers Enthüllungen - in der Öffentlichkeit
angeprangerten Forscher ihr Tun damit rechtfertigten, dass sie ja einen therapeutischen
Versuch vorgenommen hätten, der den Patienten von Nutzen gewesen sei, da die isolierten
Kinder vor einer Infektion mit den vielfältigen Infektionsherden des Heimes geschützt
worden seien. Wenn sie nicht isoliert worden wären - so die Forscher - so wären sie ohnehin 45 Näheres zu diesen Studien siehe Goldman 1971; Krugman 1971; Krugman 1986; Krugman u. Gillmore 1974; 46 Faden u. Beauchamp 1986, S. 163 47 Die Hepatitis war nur eine Form der verbreiteten Infektionserkrankungen in Willowbrook. Häufig kamen auch Shigellosen und verschiedene respiratorische Infektionen vor. Siehe Krugman 1986 48 So zumindest Beecher 1966 und Goldman 1971. Hinzu kommt, dass das Heim, das mehrere tausend Kinder beherbergte, überfüllt war und die Zustimmung der Eltern zu der Studie die einzige Möglichkeit für viele war, überhaupt einen Platz zu bekommen. Dies ist ein Paradebeispiel eines Verstoßes gegen das Prinzip der Freiwilligkeit einer Einwilligung.
27
erkrankt; und durch die kontrollierte Gabe der viralen Substanzen hätten die Kinder eine
Chance bekommen, an einer nur subklinisch manifesten Infektion zu erkranken, um dann
gegen das bestimmte Hepatitisvirus immun zu sein.49 Außerdem habe allein die Präsenz einer
klinischen Forschungsgruppe in dem Heim zu einer Verbesserung der hygienischen
Verhältnisse geführt, so die Argumentation des Forscherteams.
Diese Willowbrook-Studie macht deutlich, wie schwierig es ist, einen nicht-
therapeutischen von einem therapeutischen Versuch zu unterscheiden, hätten doch die meisten
Kritiker dieses Versuches diesen eher als nicht-therapeutisch bezeichnet, während die
Forscher selbst vom Gegenteil überzeugt waren - oder zumindest vorgeben konnten, dies zu
sein. Was Willowbrook aber noch deutlicher macht, ist die Tatsache, dass auch
“therapeutische” Versuche gefährlich, ja kriminell sein können und dass es nicht
gerechtfertigt erscheint, schablonenhaft einen ethischen Dualismus bei der Bewertung der
nicht-therapeutischen und therapeutischen Forschung anzuwenden.
Die Annahme, dass nicht-therapeutische Versuche an sich legitimierungsbedürftiger
seien als therapeutische Versuche, kann aber auch noch aus einem anderen Grund sehr
trügerisch sein. Denn die Anfälligkeit der Versuchsperson für Manipulationen ist im
klinischen Setting ungleich ausgeprägter als im außerklinischen Umfeld. Während der
gesunde Proband allenfalls durch sein finanzielles Interesse verführbar ist - wir lassen hier
bewusst das Problemfeld der Gefängnisinsassen außen vor - steht der Patient hingegen in der
Regel in einem viel stärkeren Abhängigkeitsverhältnis, das ihm die freie Entscheidung
durchaus erschweren kann. Die durch die Krankheit bedingte Notlage des Patienten, seine
emotionale Bindung an den Arzt und seine Hoffnungen auf therapeutischen Erfolg machen
den Patienten äußerst verführbar. So könnte man hieraus folgern, dass im Grunde die
Anforderungen an die Einwilligung gerade beim therapeutischen Experiment strenger sein
müssten als bei der Einwilligung eines gesunden Probanden.
Ob also der nicht-therapeutische oder der therapeutische Versuch strengeren
Schutzmaßnahmen unterworfen werden soll, ergibt sich nicht aus der Typologisierung des
Versuchs allein. Die Zuordnung eines Versuchs zur therapeutischen oder nicht-
therapeutischen Kategorie kann keine Zuordnung auf dem Boden ethischer Überlegungen
sein. Allein dass ein Versuch als therapeutisch eingestuft wird, bedeutet nicht gleichzeitig,
dass dieser Versuch zwangsläufig auch weniger legitimierungsbedürftig wäre als ein nicht-
therapeutischer. Ob ein Versuch ethisch fragwürdig oder unbedenklich ist, hängt nicht von der
49 Krugman 1971; Krugman u. Gillmore 1974
28
Art des Versuchs ab, sondern von dessen Legitimierungsbedürftigkeit, und diese korreliert
eben nicht zwangsläufig mit der Nähe zur Therapie.
Angesichts dieser Schwierigkeiten ist in den letzten Jahren eine zunehmende
Distanzierung von der Dichotomie zu konstatieren. Verschiedene offizielle Verlautbarungen
haben diese Unterscheidung zwischen sogenannter therapeutischer und nicht-therapeutischer
Forschung mittlerweile aufgegeben, so der Belmont Report von 1978, so der kanadische
“Medical Research Council” von 1987,50 so die Menschenrechtskonvention des Europarates
zur Biomedizin von 199651. Zur Zeit wird auch beim Weltärztebund ein Änderungsvorschlag
beraten, nach dem die bisherige Unterscheidung in Heilversuche und medizinische
Experimente aufgegeben werden soll. Hierzu bemerken Moorhouse und Weisstub:
When all research is classified as therapeutic, there are no ethical obligations to act in a person’s best interests when the research offers no promise of benefits at risk of being exposed to more than minimum risk because the research is not classified as nontherapeutic. The way to resolve the problem is to focus on the risk-benefit ratio for the incapable subject.52 Die ethische Rechtfertigung von Forschung hängt von einer Vielzahl weiterer Faktoren
ab, die unabhängig vom Nutzen ihre Geltung besitzen.53 Wir wollen sogar noch einen Schritt
weiter gehen und danach fragen, ob es denn tatsächlich der therapeutische Aspekt ist, der der
Forschung ihre Legitimität verleiht oder ob es der Forschung inhärente Momente gibt, die für
sich schon legitimierend wirken. Denn der Wert der Forschung bemisst sich nicht alleine nach
den Resultaten, die sie generiert. Dies wäre eine zu utilitaristische Betrachtungsweise der
Forschung. Letztlich kann der Forschung auch ein intrinsischer Wert zugesprochen werden.
Sie kann begriffen werden als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Werte, als Ausdruck
einer Kultur, die Momente wie Neugier und Kreativität hochschätzt.54 Dieser Aspekt wird in
der ethischen Diskussion um die Forschung am Menschen nicht genügend bedacht, was dazu
führt, dass der forschungslegitimierende Charakter des therapeutischen Nutzens insgesamt
überbewertet wird.
50 Medical Research Council of Canada 1987 51 Zu dieser Konvention siehe Alméras 1998 52 Moorhouse u. Weisstub 1996, S. 129 53 Der amerikanische Bioethiker Tom L. Beauchamp bringt dies sehr deutlich zum Ausdruck, indem er betont: Ethically justified investigations must satisfy several conditioins, including the pursuit of important knowledge, a reasonable prospect that the research will generate the knowledge that is sought, fair selection of subjects, and the necessity of using human subjects - as well as a favorable balance of benefits over risks. Beauchamp 1995, S. 237 54 Siehe hierzu auch Lebacqz 1978
29
8.6. Praktische Konsequenzen
All dieser relativierenden Überlegungen zum Trotz kann die Schlussfolgerung unserer
Untersuchung nicht darin bestehen, die Differenzierung zwischen therapeutischen und nicht-
therapeutischen Versuchen ganz aufzugeben. Wichtig erscheint es uns, nach all dem Gesagten
die möglichen argumentativen Stricke, die diese Unterteilung mit sich bringt, im Auge zu
behalten. Eine gänzliche Aufgabe der Unterscheidung zwischen therapeutischen und nicht-
therapeutischen Versuchen hätte wiederum beträchtliche Konsequenzen, denn eine solche
Aufgabe würde bedeuten, dass jeder Versuch automatisch als therapeutisch eingestuft werden
müsste, wodurch gerade die nicht Einwilligungsfähigen besonders in Gefahr gerieten, zu
Forschungen herangezogen zu werden, die mit mehr als nur minimalen Risiken verbunden
sind, da ja nur der nicht-therapeutische Versuch dieses Schutzniveau garantieren würde. Wie
gefährlich eine solche Handhabung wäre, haben Moorhouse und Weisstub mit folgender
Schlussfolgerung sehr deutlich zum Ausdruck gebracht:
Given current research guidelines, classifying all clinical research as therapeutic carries risks for subjects, substitute decision-makers, health care professionals, and researchers. When all research is classified as therapeutic, there are no ethical obligations to act in a person’s best interests when the research offers no promise of benefits to the prospective subject. This reductionist move can place incapable subjects at risk of being exposed to more than minimum risk because the research is not classified as nontherapeutic.55
Ein triftiges Argument für die Beibehaltung der Unterscheidung von therapeutischen
und nicht-therapeutischen Studien ist somit der Schutz vulnerabler Gruppen. Wenn - wie wir
vorausgesetzt haben - der Nutzen als ein legitimierender Faktor für den Menschenversuch ist,
so stellt sich diese Frage nach dem Nutzen gerade bei den nicht einwilligungsfähigen
Personengruppen, weil bei diesen der legitimierende Faktor der Einwilligung wegfällt. Gerade
bei den nicht Einwilligungsfähigen ist man somit um so mehr darauf angewiesen, zu wissen
ob ein Versuch mit einem therapeutischen Vorteil für den Betroffenen einhergeht oder nicht.
Daher bleibt die Unterscheidung von zentraler ethischer Bedeutung.
55 Moorhouse u. Weisstub 1996, S. 129
30
9. KRITISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUM BEGRIFF DER NUTZEN-RISIKO-
ANALYSE56
Der Begriff der Nutzen-Risiko-Analyse hat sich weitgehend etabliert. Kaum eine
Abhandlung über die Ethik der Forschung, ohne dass dieser Terminus auftaucht. Und doch -
ist es überhaupt gerechtfertigt, Risiko und Nutzen zu einem Begriff verschmelzen zu lassen?57
Handelt sich hier überhaupt um vergleichbare, kommensurable Größen oder ist die Nutzen-
Risiko-Analyse einfach nur eine Metapher?
9.1 Medizintheoretische und epistemologische Überlegungen
Bleiben wir zunächst bei der philosophischen Betrachtungsweise. Die philosophischen
Schwierigkeiten, die sich aus einer Verschmelzung von Risiko und Nutzen ergeben, lassen
sich auf zwei Ebenen beschreiben. Zum einen stellt sich die Frage, ob überhaupt
Kopfschmerzen gegen Fieberfreiheit aufgerechnet werden können. Handelt es sich hier um
Größen, die einen gemeinsamen Bezugspunkt haben, anhand dessen man einen Vergleich
starten könnte? Doch dies ist nur das eine philosophische Problem. Noch gravierender als dies
ist die Überlegung, dass Risiko und Nutzen von der Bedeutung her nicht auf der gleichen
Stufe stehen. Denn Nutzen ist von der Sache her greifbar, ja im Grunde real, während das
Risiko nur die Potentialität eines Schadens darstellt und nicht den Schaden selbst. Wenn man
also von Nutzen-Risiko-Analyse spricht, so suggeriert man damit, dass es sich um zwei reale
Größen handelte, doch dies ist nicht der Fall. Man vergleicht damit vielmehr eine
Wahrscheinlichkeit mit einer Tatsache - vorausgesetzt natürlich, dass der Nutzen überhaupt so
sicher angenommen werden kann. Die Praxis sieht zwar anders aus, aber allein vom Terminus
her impliziert Nutzen eine tatsächliche Größe, und daher wäre Nutzen allenfalls mit Schaden
vergleichbar, jedoch nur schwerlich mit Risiko.
Wie sehr sich die Tatsache von der Wahrscheinlichkeit einer Tatsache unterscheiden
kann, lässt sich daran verdeutlichen, dass Wahrscheinlichkeit nicht nur statistische
Wahrscheinlichkeit heißt. Wäre dem so, dann könnte man eine Vergleichbarkeit von Nutzen
und Risiko allein dadurch erreichen, dass man Risiko aufteilte in statistische
Wahrscheinlichkeit multipliziert mit dem Schaden. Doch Wahrscheinlichkeit ist mehr als nur
statistische Wahrscheinlichkeit. In den Begriff der Wahrscheinlichkeit mischen sich
gleichsam subjektive Momente, die an Vermutungen und Erwartungen gekoppelt sind und
nicht an Statistiken. Meslin teilt den Begriff der Wahrscheinlichkeit auf in eine statistische
56 Zur Nutzen-Risiko-Analyse siehe Barber 1978b 57 Näheres hierzu siehe Ladimer 1969; Starr 1976
31
und eine epistemologische Komponente.58 Epistemologisch in dem Sinne als das Verständnis
von Wahrscheinlichkeit immer auch gekoppelt ist an einen bestimmten Glauben an die
Möglichkeit des Auftretens. Und dieser subjektive Glaube an die Möglichkeit des Auftretens
ist gerade für die Bewertung des Risikos einer Studie von zentraler Bedeutung.
9.2 Semantische Überlegungen
Ein weiterer Einwand gegen die sogenannte “Nutzen-Risiko-Analyse” bezieht sich auf
die Sprache selbst. Denn dieser Ausdruck ist ja kein genuin für die ethische Bewertung der
Forschung entwickelter, er ist ein importierter Ausdruck, importiert aus den
Wirtschaftswissenschaften. Was mit der Verwendung dieses Terminus geschieht, ist der
Versuch, ein ethisches Problem mithilfe einer Wirtschaftssprache zu lösen. Allein die
Auswahl der Sprache suggeriert damit, dass sich die mit der Forschung aufgeworfenen
Probleme in irgendeiner Weise quantifizieren und gegeneinander abwägen lassen, eine
Vorstellung, die - wie wir gesehen haben - irrig ist, und daher erscheint uns auch der
präjudizierende Ausdruck der “Nutzen-Risiko-Analyse” für die Bewertung der Forschung
unangemessen.59
9.3 Frage der Kommensurabilität
Die Vergleichbarkeit von Nutzen und Risiko ist auf zwei verschiedenen Ebenen in
Frage zu stellen.60 Die erste Ebene ist die Frage nach der Vergleichbarkeit verschiedener
Schadensarten. Die zweite Ebene ist die Frage nach der Vergleichbarkeit einer Schadensart
bei verschiedenen Personen.61 Das erste Problem ließe sich beispielsweise durch eine
Präferenzskala lösen, die jeder einzelne für sich erstellen müsste. Durch eine solche Skala
wäre es möglich, unterschiedliche Schadensarten vergleichbar zu machen, jedoch immer nur
in Bezug auf die individuelle Einschätzung und nicht in Bezug auf eine “allgemeingültige”
Skala. Die zweite Form der Inkommensurabilität von Risiko und Nutzen ist noch gravierender
als die erste, weil letztlich nie vorausgesagt werden kann, wie eine andere Person einen
bestimmten Eingriff bewerten wird. Hier kann nur die Anstrengung eine Hilfe sein, die darauf
ausgerichtet ist, gruppenspezifische Wahrnehmungen von Risiken empirisch zu untersuchen.
Es müsste verstärkt überprüft werden, wie bestimmte Patientengruppen spezifische Risiken
und Nutzen wahrnehmen und bewerten. Nur auf dem Boden solcher empirischer Daten kann
58 Siehe hierzu Meslin 1993, S. 40 59 Siehe hierzu auch Beauchamp u. Childress 1983, S. 168 60 Siehe näheres bei Martin, Meslin, Kohut u. Singer 1995 61 Siehe hierzu auch Martin, Meslin, Kohut u. Singer 1995
32
die grundsätzliche Schwierigkeit der Inkommensurabilität von Nutzen und Risiken etwas
vermindert werden.
9.4 Praktische Konsequenzen
Diese letzten Überlegungen machen ähnlich wie beim Problemfeld des minimalen
Risikos deutlich, dass die Nutzen-Risiko-Analyse trotz aller Vorbehalte weder entbehrlich
noch nutzlos sein braucht. Es gibt gute Gründe, die Nutzen-Risiko-Analyse weiterhin als ein
Kriterium für die ethische Legitimität des Versuchs am Menschen zu betrachten, gute Gründe,
die sich beispielsweise weniger auf das Ergebnis einer jeden Nutzen-Risiko-Analyse beziehen
brauchen als vielmehr auf das Verfahren selbst. Mag die Nutzen-Risiko-Analyse am Ende nur
selten in der Weise realisierbar und quantifizierbar sein wie es der Ausdruck selbst nahe legt,
so ist die Analyse für sich genommen und völlig unabhängig von der Verwertbarkeit ihres
Ergebnisses etwas Wertvolles, denn die Analyse als solche hat eine sensibilisierende
Funktion. Sie sensibilisiert für die Werthaltigkeit bestimmter Handlungen und fördert das
Bewusstsein für die Inhärenz normativer Grundmuster in den Entscheidungen für oder gegen
einen medizinischen Versuch. Aus diesem Grund hat Barber die Nutzen-Risiko-Analyse als
Wert an sich bezeichnet.62
Aber auch abgesehen von dieser edukativen Funktion lässt sich ja nicht leugnen, dass es
für eine Entscheidungsfindung hilfreich sein kann, etwas über das Ausmaß bestimmter
Risiken und bestimmter Nutzen zu wissen. Man kann noch so sehr betonen, dass man Äpfel
nicht mit Birnen vergleichen soll, doch lässt sich auf der anderen Seite nicht von der Hand
weisen, dass der Vergleich dann leichter fällt, wenn man wenigstens etwas über die Zahl und
das Aussehen der Äpfel und Birnen weiß.63 Was sich aus der Beschäftigung mit dem Begriff
des Risikos und dem Hinweis auf dessen Relativität, Kontextgebundenheit und Normativität
am Ende ergibt, kann somit weder Resignation sein noch die Notwendigkeit, von jedweder
Nutzen-Risiko-Analyse Abstand zu nehmen. Wenn wir betont haben, dass es subjektive
Elemente in der Risikoermittlung gibt, so bedeutet dies nicht, dass die gesamte Risikoanalyse
subjektiv ist. Uns ging es in diesem Beitrag darum, den Blick dafür zu schärfen, dass nicht
alles scheinbar Objektive auch tatsächlich diese Bezeichnung verdient. Denn nur unter
Berücksichtigung dieser Erkenntnis kann ein sorgsamer Umgang mit Risikoanalysen möglich
werden, ein Umgang, der die Grenzen der Aussagekraft bestimmter “statistischer” Daten im
Auge behält. Der Wissenschaftstheoretiker Paul Humphreys hat diesen Umstand sehr treffend
62 Barber 1978b, S. 19.10f. 63 Siehe hierzu Pochin 1982
33
mit folgenden Worten beschrieben:
Although conscious of the fact that in most cases one has to act in some way, and does not have the luxury to wait for data, I suggest that it might in some cases be beneficial for the answer to be ‚We don’t know,‘ rather than an estimate of risk based solely on experts’s degrees of belief. Numbers are beguiling, and carry with them an authority that is not always warrented.64
9.5 Bedeutung der Nutzen-Risiko-Analyse für die ethische Bewertung eines Versuchs am
Menschen
Im Vergleich zur Diskussion um die Einwilligung hat die Behandlung der Nutzen-
Risiko-Analyse nur wenige Ethiker auf den Plan gerufen. Die Gründe, die wir bislang für eine
verstärkte Zuwendung zur Nutzen-Risiko-Analyse genannt haben, fallen alle nur wenig
imperativ aus, wenn man auf der anderen Seite die wesentliche Erkenntnis sieht, dass es
letztlich die subjektive Wahrnehmung der einzelnen Versuchsperson ist, die das letzte Wort in
der Vornahme einer Nutzen-Risiko-Analyse haben soll. So sehr diese subjektive Sicht der
Risiken und des Nutzens ins Gewicht fallen mag, sich ganz darauf zu stützen, wäre wiederum
unangemessen. Denn eine solche Zentrierung auf die Einwilligung der Versuchsperson würde
Gefahr laufen, dass Menschen sich, aus welchen Motiven auch immer, gefährlichen
Versuchen aussetzen würden, an deren Vornahme die Gesellschaft à la longue jedoch kein
Interesse haben kann.
An dieser Stelle mag der engagierte Anti-Paternalist den Finger erheben, doch wir
meinen gute Gründe dafür zu haben, die Entscheidung über die ethische Legitimität eines
Versuches nicht allein von der freien und aufgeklärten Einwilligung der Versuchsperson
abhängig zu machen. Ein Versuch am Menschen wird nicht einfach dadurch zu einem ethisch
vertretbaren Versuch, indem die Versuchsperson sich bereiterklärt, daran teilzunehmen. Es
gibt Versuche, von denen man sagen können muss, dass sie erst gar nicht einer
Versuchsperson vorgeschlagen werden dürfen, weil sie eine Zumutung darstellen. Wenn ein
Forscher oder ein Arzt einer potentiellen Versuchsperson die Teilnahme an einem Experiment
vorschlägt, so muss die befragte Person davon ausgehen können, dass der Versuch, der ihm
da vorgeschlagen wird, von einer Art ist, dass ein vernünftiger Mensch ihm vom Grundsatz
her zustimmen könnte. Wenn man diese Regel nicht beachtete, so geriete man in die Situation
hinein, dass man - staatlich sanktioniert - bestimmten Menschen die Inkaufnahme größerer
Gefahr nahe legt, während man gleichzeitig jedem vernünftigen Menschen beispielsweise
unter Strafe untersagt, sich nicht anzuschnallen. Auf diese Weise entstünde eine Doppelmoral,
64 Humphreys 1997, S. 222
34
die da hieße: Der Staat fühlt sich verpflichtet, seine Bürger davor zu schützen, sich
unangemessenen Risiken auszusetzen; er macht aber dort eine Ausnahme von dieser Regel,
wo durch die freiwillige Inkaufnahme der Gefahr ein bestimmter Nutzen für Dritte erzielt
werden kann. Eine solche Handhabung wäre somit ein Paradebeispiel eines nackten
Utilitarismus, und an einem solchen kann die Gesellschaft à la longue kein Interesse haben.
Wenn man die Verantwortung der Gesellschaft ernst nimmt, seine Bürger vor
bestimmten Gefahren zu schützen, selbst dann zu schützen, wenn der Bürger diese freiwillig
in Kauf zu nehmen gewillt wäre, dann gehört es zu dieser Verpflichtung, zu verhindern, dass
einer Versuchsperson ein Versuch vorgeschlagen wird, von dem man nicht ausgehen kann,
dass ein vernünftiger Mensch ihn vom Grundsatz her akzeptieren könnte. Jede
Versuchsperson müsste darauf vertrauen können, dass ihm nur Versuche “angeboten” werden,
die nicht unterhalb einer Toleranzschwelle liegen, und genau diese Schwelle festzumachen ist
die wohl bedeutendste Funktion, die die Nutzen-Risiko-Analyse einnimmt. Sie ist sozusagen
der Filter, der vor jeder Einwilligung kommt, und daher meinen wir mit gutem Grund
festhalten zu können, dass jede Beachtung der Nutzen und der Risiken eines Versuches von
der Bedeutung her der Beachtung der Einwilligung nicht unterliegt, da ein Versuch mit einer
unausgeglichenen Nutzen-Risiko-Analyse durch keine wie auch immer geartete Einwilligung
gerechtfertigt werden kann, während umgekehrt die fehlende Einwilligung durch die
Berücksichtigung der Nutzen und der Risiken durchaus in bestimmten Fällen ersetzt werden
kann. Der ausschlaggebende Punkt ist somit nicht die Frage nach der Einwilligung, sondern
ausschlaggebend ist am Ende die Art des Versuches, und zwar einfach aus der Überlegung
heraus, dass es die Art der Studien ist, die eine mutmaßliche Einwilligung auch einer nicht
einwilligungsfähigen Person wahrscheinlich macht, weil die mit der Studie verbundenen
Belastungen vernachlässigbar und daher höchstwahrscheinlich auch für die spezielle Person
akzeptabel erscheinen könnten.
ZUSAMMENFASSUNG
Zu den grundlegenden Legitimitätsbedingungen einer Forschung am Menschen gehört
ein ausgewogenes Nutzen-Risiko-Verhältnis. Doch längst ist nicht geklärt, nach welchen
Kriterien ein solches beurteilt werden soll. Hierbei ist man insbesondere auf den Begriff des
minimalen Risikos angewiesen, der in diesem Beitrag unter epistemologischen und ethischen
Gesichtspunkten untersucht wird. Es zeigt sich, dass der Begriff des minimalen Risikos als
ein wertbeladener, relationaler und kontextgebundener Begriff zu verstehen ist, der letztlich
35
von den methodisch bedingten ontologischen Vorgaben des Untersuchers abhängt. Aus dieser
Überlegung heraus ist jede Risiko-Nutzen-Analyse nicht als „objektives“ Instrument zu
verstehen, sondern vielmehr als ein Unternehmen, das nicht frei ist von normativen
Vorverständnissen. Auch wenn es pragmatische Gründe geben mag, auf die Nutzen-Risiko-
Analyse weiterhin zurückzugreifen, so sollte jedoch die Inhärenz bestimmter Werthaltungen
hierbei stets mitbedacht werden.
36
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ZUSAMMENFASSUNG: ETHIK UND THEORIE DES „MINIMALEN RISIKOS“ IN DER MEDIZINISCHEN FORSCHUNG Giovanni Maio diskutiert in kritischer Analyse die internationale klinische und klinisch-ethische Auseinandersetzung mit den Begriffen von "Risiko" und "Schaden" in der klinischen Forschung und stellt als Ergebnis seiner Überlegungen die verbreitete Unterscheidung zwischen therapeutischer und nichttherapeutischer Forschung infrage. Auch der Begriff des "Nutzens" und die Modelle von "Risiko-Schaden-Nutzen" Abwägungen enthalten normative Vorgaben, denen sich Forscher und Ethikkommissionen bewusst sein sollten. ABSTRACT Giovanni Maio's critical analysis of the international debate on clinical research and clinical-ethical aspects of risk and harm in clinical research questions the validity of differentiating between therapeutic research and non-therapeutic research. He also points out that concepts of utility and models of risk-harm-utility assessment are not without normative implications, researcher and review boards need to be aware of. ISBN 3-931993-08-6
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