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308 Ernährungs Umschau | 6/07 wissenschaft & forschung | Original Was Menschen motiviert, richtig zu essen. Wie verbessert Ernährungsberatung ihren Erfolg? Teil 1: Prinzipien der Ernährungsberatung Prof. Dr. rer. nat. Volker Pudel (Beiratsmitglied der Ernäh- rungs Umschau) Ernährungspsychologische Forschungsstelle, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Göttingen Von-Siebold-Straße 5 37075 Göttingen Ernährungsberatung und -aufklärung sind etabliert. Verschiedene Zertifikate bescheinigen dem/der Berater/in, dass er/sie auf dem aktuellen Stand der Er- nährungswissenschaft aktuelle Informationen übermittelt. Die Ernährungswis- senschaft ihrerseits basiert auf umfangreichem Wissen, das durch Experimente, klinische Forschung und Epidemiologie gesichert ist. Ernährungsberatung und -aufklärung werden seit über 50 Jahren betrieben. Allerdings ist ihre Wirkung nicht so, wie man sie sich gewünscht hat, denn das Essverhalten der Bevölke- rung fördert weiterhin Übergewicht und ernährungsabhängige Erkrankungen. Die Zukunftsperspektiven sind nicht be- ruhigend. Wenn keine grundlegende Veränderung erfolgt, wird die Prävalenz von Ernährungsproblemen und Essstö- rungen weiterhin zunehmen. So soll der Versuch unternommen werden, die Ur- sachen zu verstehen, die die Menschen davon abhalten, die Empfehlungen von Ernährungsberatung und -aufklärung in ihrem Essverhalten zu verwirklichen, um daraus Vorschläge abzuleiten, wie die Ef- fektivität von Ernährungsberatung und -aufklärung gesteigert werden kann. Zum Essverhalten Essverhalten ist emotionales Verhalten Es sind primär nicht kognitiv-rationale Überlegungen, die das menschliche Ess- verhalten steuern. Nicht Vernunft, son- dern gelernte Bedürfnisse bestimmen die Speisenwahl, auch wenn „kluge Ar- gumente“ häufig als Gründe angeführt werden. In einer Gesellschaft, in der Ver- nunft und Rationalität als Werte hoch geschätzt werden, werden Kinder, Ju- gendliche und Erwachsene trainiert und dazu verleitet, emotionale Entscheidun- gen zu rationalisieren. Das „gute Essen“ rangiert nach „Urlaub“, „Familie“ und „Sex“ auf Rangplatz 4 der Lusthierarchie, was belegt, welch hohen emotionalen Stellenwert das Essen ein- nimmt. Die Begriffe „Ernährung“ und „Essen“ sind keine Synonyme. „Ernäh- rung“ wird mehr mit kognitiven Inhal- ten assoziiert (z. B. Vitamine, Kalorien, Fett, nicht dick werden), während „Essen“ ausschließlich emotionale Be- züge herstellt (z. B. Geschmack, Am- biente, satt werden). Selbst Kinder und Jugendliche zwischen vier und 16 Jahren beurteilen Lebens- mittel treffend, wenn sie klassifizieren sollen nach „macht dick“, „macht stark“ oder „ist gesund“. Doch diese kognitive Einordnung deckt sich nicht mit ihren Präferenzen bzw. Aversionen – im Ge- genteil. So halten sie „Vollkornbrot“ für „gesund“, „macht stark“, „macht nicht dick“, aber sie mögen es nicht. Genau Glossar: (Nährstoff-)Bedarf = Menge an Nährstoffen, die für die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen zu- geführt werden müssen Bedürfnis = Subjektiv empfundener Zustand des Mangels, der als Antrieb zum Handeln erlebt wird. Bedürfnisse drücken aus, was eine Person zur Er- haltung und persönlichen Entfaltung braucht konditionierte Reaktion = Durch Wiederholung er- lernte immer gleiche (automatisierte) Reaktion auf einen auslösenden Reiz

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wissenschaft & forschung | Original

Was Menschen motiviert, richtig zu essen.Wie verbessert Ernährungsberatung ihren Erfolg?

Teil 1: Prinzipien der Ernährungsberatung

Prof. Dr. rer. nat. Volker Pudel(Beiratsmitglied der Ernäh-rungs Umschau) ErnährungspsychologischeForschungsstelle,Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie derUniversität GöttingenVon-Siebold-Straße 537075 Göttingen

Ernährungsberatung und -aufklärung sind etabliert. Verschiedene Zertifikatebescheinigen dem/der Berater/in, dass er/sie auf dem aktuellen Stand der Er-nährungswissenschaft aktuelle Informationen übermittelt. Die Ernährungswis-senschaft ihrerseits basiert auf umfangreichem Wissen, das durch Experimente,klinische Forschung und Epidemiologie gesichert ist. Ernährungsberatung und -aufklärung werden seit über 50 Jahren betrieben. Allerdings ist ihre Wirkungnicht so, wie man sie sich gewünscht hat, denn das Essverhalten der Bevölke-rung fördert weiterhin Übergewicht und ernährungsabhängige Erkrankungen.

Die Zukunftsperspektiven sind nicht be-ruhigend. Wenn keine grundlegendeVeränderung erfolgt, wird die Prävalenzvon Ernährungsproblemen und Essstö-rungen weiterhin zunehmen. So soll derVersuch unternommen werden, die Ur-sachen zu verstehen, die die Menschendavon abhalten, die Empfehlungen vonErnährungsberatung und -aufklärung inihrem Essverhalten zu verwirklichen, umdaraus Vorschläge abzuleiten, wie die Ef-fektivität von Ernährungsberatung und -aufklärung gesteigert werden kann.

Zum Essverhalten

Essverhalten ist emotionales VerhaltenEs sind primär nicht kognitiv-rationaleÜberlegungen, die das menschliche Ess-verhalten steuern. Nicht Vernunft, son-dern gelernte Bedürfnisse bestimmendie Speisenwahl, auch wenn „kluge Ar-gumente“ häufig als Gründe angeführtwerden. In einer Gesellschaft, in der Ver-nunft und Rationalität als Werte hoch

geschätzt werden, werden Kinder, Ju-gendliche und Erwachsene trainiert unddazu verleitet, emotionale Entscheidun-gen zu rationalisieren.Das „gute Essen“ rangiert nach „Urlaub“,„Familie“ und „Sex“ auf Rangplatz 4 derLusthierarchie, was belegt, welch hohenemotionalen Stellenwert das Essen ein-nimmt. Die Begriffe „Ernährung“ und„Essen“ sind keine Synonyme. „Ernäh-rung“ wird mehr mit kognitiven Inhal-ten assoziiert (z. B. Vitamine, Kalorien,Fett, nicht dick werden), während„Essen“ ausschließlich emotionale Be-züge herstellt (z. B. Geschmack, Am-biente, satt werden). Selbst Kinder und Jugendliche zwischenvier und 16 Jahren beurteilen Lebens-mittel treffend, wenn sie klassifizierensollen nach „macht dick“, „macht stark“oder „ist gesund“. Doch diese kognitiveEinordnung deckt sich nicht mit ihrenPräferenzen bzw. Aversionen – im Ge-genteil. So halten sie „Vollkornbrot“ für„gesund“, „macht stark“, „macht nichtdick“, aber sie mögen es nicht. Genau

Glossar:

(Nährstoff-)Bedarf =

Menge an Nährstoffen, die

für die Aufrechterhaltung

der Körperfunktionen zu-

geführt werden müssen

Bedürfnis = Subjektiv

empfundener Zustand des

Mangels, der als Antrieb

zum Handeln erlebt wird.

Bedürfnisse drücken aus,

was eine Person zur Er-

haltung und persönlichen

Entfaltung braucht

konditionierte Reaktion =

Durch Wiederholung er-

lernte immer gleiche

(automatisierte) Reaktion

auf einen auslösenden

Reiz

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umgekehrt bewerten sie Schokolade,Cola oder Burger – aber sie mögensie gerne [1].

„Richtige Ernährung“ wird dahereher als Forderung verstanden, dieumgesetzt werden sollte, die aber an-tizipieren lässt, dass die aktuelle Le-bensqualität darunter leidet. So ist zuverstehen, dass Verbraucher ein star-kes Interesse an Ernährungsfragenhaben, sich gerne Kochsendungenauf allen Kanälen anschauen, überzahllose Widersprüche in Ernäh-rungsfragen klagen und weiterhin soessen, wie sie es gewohnt sind. DerKonflikt zwischen Kognition undEmotion beunruhigt, aber er kannnicht zugunsten der Vernunft aufge-löst werden [2].

Wie wird Essen gelernt?

Wie ist zu verstehen, dass Präferenzenund gesundheitliche Bewertung ei-nander widersprechen? Kinder ler-nen ihre Geschmackspräferenzeninnerhalb der Esskultur, in die sie hi-neingeboren sind, überwiegenddurch Beobachtung. Lediglich dieSüßpräferenz scheint als evolutions-biologischer „Sicherheitsgeschmack“genetisch programmiert. Imitiertwird das Essverhalten der Eltern. Da-durch wird verständlich, dass Essver-halten über Generationen hinwegeine große Stabilität aufweist. Verknappung (durch Verbote oderPreis) verstärken Vorlieben, währendGebote mit gesundheitlicher Begrün-dung eher Abneigungen entstehenlassen. Grundsätzlich können Kinder

lernen, alles zu essen, was essbar ist,was ein internationaler Vergleich derSpeisenwahl belegt [3].

Entscheidende Prinzipiender Beratung

Konkrete Maßnahmen stattabstrakter Informationen Ernährungsberatung und Ernäh-rungsaufklärung orientieren sich anden wissenschaftlichen Erkenntnis-sen über den Nährstoffbedarf des Organismus, wie in den D-A-CH-Referenzwerten quantitativ beschrie-ben. Die Informationen über dieseWerte aber bleiben zu abstrakt, umMenschen wirklich zu informieren.Sie müssen auf Lebensmittelebene

transformiert werden, was nicht ein-fach ist. Immerhin bietet der deut-sche Lebensmittelmarkt über 240 000verschiedene Produkte an. Ein Handicap für den Verbraucherbesteht auch darin, dass ihn oft Ziel-vorstellungen erreichen, nicht aberMaßnahmen, mit denen er in derLage ist, die empfohlenen Ziele zu er-reichen. „Sie müssen abnehmen“,„Sie sollten mehr Ballaststoffe essen“oder „Essen Sie mehr Gemüse“ sindsicher zutreffende Ziele, die ohneweitere Maßnahmenbeschreibungenaber nicht erreichbar sind.

„Sie müssen mehr Ballaststoffeessen!“ Dieser Ratschlag ist sicherrichtig, aber kaum umzusetzen,

„Gut essen“ hat einen hohen emotionalen Stellenwert

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wenn nicht genau bezeichnet wird,was „mehr“ bedeutet und in welchenLebensmitteln wie viel Ballaststoffeenthalten sind. „Wenn Sie Ihre Ver-dauung positiv beeinflussen wollen“,so könnte es bedürfnisorientiert hei-ßen, „dann empfehle ich Ihnen, IhreBrotschneidemaschine auf 13 Milli-meter zu stellen, damit die Scheibendicker ausfallen…“.

Information verändert keineBedürfnisse

Grundsätzlich besteht ein Konfliktzwischen Bedarf und Bedürfnis: Diekognitiven Informationen über denBedarf führen noch nicht dazu, dassdie Bedürfnisse entsprechend geän-dert werden. Selbst wenn also Maß-nahmen genannt werden, wird damitnicht auch gleichzeitig die Motivationgeschaffen, also die Bedürfnisstruk-tur geändert, um diese Maßnahmenim eigenen Essverhalten zu realisie-ren.

So haben Ernährungsberatung undErnährungsaufklärung nicht nach-haltig dazu beigetragen, dass dieMenschen anders essen; allerdingsessen viele das, was sie immer geges-sen haben, mit einem „schlechten Ge-wissen“. Damit wird deutlich, dassdurchaus ein Effekt der Ernährungs-aufklärung zu verzeichnen ist, aller-dings beschränkt er sich auf eineLernfunktion des Gehirns und greiftnicht über auf eine Veränderung desVerhaltens [4].

Dieses Dilemma ist der Beratung seitlangem bekannt und wird ständig be-klagt. Doch dadurch wird es nicht be-hoben. Es sollte eingesehen werden,dass Essverhalten nicht durch Wissengesteuert wird (wie auch Rauchenoder Sex). Erfahrungen, die durchErlebnisse vermittelt werden, bestim-men das Verhalten deutlich mehr.Statt Seminare über Ernährungsfra-gen bieten sich Kochkurse, Restau-rantbesuche oder Einkäufe im Super-markt an. Wer einen sensorischenTest mit Fruchtsaft, Fruchtnektar undFruchtsaftgetränk erlebt hat, wirdden Unterschied bemerken und bei

zukünftigen Einkäufen erinnern –was die jahrelangen Informationenda rüber bislang nicht erreicht haben.

Wie können Bedürfnisse beein-flusst werden?

Bedürfnisse resultieren aus emotio-nalen Vorstellungen und Werthaltun-gen. Bedürfnisse werden im Sozia -lisationsprozess gelernt und auch imspäteren Leben in Interaktion mitder sozialen Umwelt modifiziert. Be-dürfnisse beruhen auch auf Gewohn-heiten und trainiertem Verhalten.Grundsätzlich können emotionaleBedürfnisse durch Lernprozesse wie-der verändert werden, doch das ge-lingt weder durch Informationennoch in kurzer Zeitspanne.

Wer erfahren hat, wie er abends sei-nen Stress mit einer Tafel Schoko-lade kompensieren kann, wird „anStelle dessen“ weder einmal um denBlock laufen noch Möhrenstifteessen, auch wenn ihm gesagt wird,dass 100 g Schokolade viel Fett und530 kcal enthalten.

Bedürfnisänderungen können nur inkleinen Schritten trainiert werden.Zunächst muss eine Selbstbeobach-tung erfolgen, die die situativen Rah-menbedingungen klärt, in denen dasbedürfnisgesteuerte Verhalten, diebegleitenden positiven Erwartungenund negativen Befürchtungen auftre-ten. Dann werden mögliche Verän-derungen geplant und ihre Konse-quenzen auf Befinden und Verhaltenfestgestellt.

Süßhunger auf Schokolade wirdabends erlebt, z. B. wenn man alleinist oder Langeweile hat. Wenn derVersuch, standhaft zu bleiben, miss-lingt, verschlechtern Schuldgefühleanschließend die Befindlichkeit.Evtl. wird dann sogar eine zweiteTafel verzehrt. Erster Schritt:Abends ausgehen. Alternativ: BeiLangeweile einen Freund oder eineFreundin anrufen. Alternativ: Fett-freie Süßigkeiten (Russisch Brot,Reis Crispies) bereit legen und ohneschlechtes Gewissen essen.

Tab. 1: Was Menschen motiviert, rich-tig zu essen

Motive für die LebensmittelwahlGeschmacksanspruch(Erdbeeren mit Schlagsahne sind derhöchste Genuss)

Hungergefühl(ich habe einfach Hunger/ich muss das jetztessen)

ökonomische Bedingungen(das ist im Sonderangebot, das esse ich)

kulturelle Einflüsse(morgens Brötchen mit Kaffee)

traditionelle Einflüsse(Omas Plätzchen zu Weihnachten)

habituelle Bedingungen(Ich esse immer eine Suppe vor der Mahlzeit)

emotionale Wirkung(Schokolade gegen den Stress)

soziale Gründe(bei Fondue lässt es sich gut unterhalten)

soziale Statusbedingung(die Schulzes laden wir zu Hummer ein)

Angebotslage(man isst das Mensaessen, weil es dies gerade gibt)

Fitnessüberlegungen(soll gut fürs Joggen sein)

Schönheitsansprüche(halte Diät, um schlank zu bleiben)

Verträglichkeit(Grünkohl esse ich nicht, vertrage ich nicht)

Neugier(mal sehen, wie das schmeckt)

Angst vor Schaden(Rindfleisch esse ich nicht mehr wegen BSE)

pädagogische Gründe(wenn du Schularbeiten machst, bekommstdu ein Bonbon)

Krankheitserfordernisse(Zucker darf ich nicht essen, wegen meinesDiabetes)

magische Zuweisungen(Sellerie esse ich für die Potenz)

pseudowissenschaftlich(Trennkost zum Abnehmen)

Gesundheitsüberlegungen(soll gesund sein, also esse ich das)

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Oft gelingt die Selbsthilfe („Standhaftbleiben!“) nicht, weil rigide Vorsätzegefasst werden, die in ihrer absolutenBeschränkung nicht eingehalten wer-den können (siehe unten: rigide Vor-sätze). Emotionale Bedürfnisse sindaußerdem kaum kognitiv kanalisier-bar, da es sich um situativ konditio-nierte Reaktionen handelt, daherkönnen sie leichter in anderer Um-gebung gemanagt werden.

Mit der Frage „Was essen Sie gerne,was sind Ihre Lieblingsgerichte?“kann ein Gespräch über die Essbe-dürfnisse eingeleitet werden. Mit„Können Sie erklären, warum Siegerne Schokolade essen?“ kann dieBedürfnisanalyse fortgesetzt wer-den. Wichtig ist, das Thema nur kurzanzureißen und dem Patienten dannzuzuhören. Ein bestätigendes„mmh“ oder ein Kopfnicken er-muntert den Patienten, weiter zusprechen. Er soll darüber nachden-ken, welche Situationen bei ihm dasEssbedürfnis auslösen und wie erdamit üblicherweise umgeht. Es gibtzahllose Bedürfnisse, die für das Ess-verhalten von Bedeutung sein kön-nen (�Tabelle 1). Man kann auchdie Liste aus Tabelle 1 vorlegen undden Patienten bitten, Motiv fürMotiv durchzugehen und festzustel-len, wann und wo bei ihm diese Mo-tive Einfluss auf das Verhaltennehmen.

Quantitative Vorgaben erzeugenErfolgserlebnisse

Die Ernährungsberatung und Ernäh-rungsaufklärung geben oft Empfeh-lungen, von bestimmten Lebens-mitteln oder Speisen „mehr“ oder„weniger“ zu essen. Obschon dieseWorte verstanden werden, können sienicht in konkretes Verhalten umge-setzt werden, da nicht klar ist, wann„mehr“ mehr genug oder „weniger“wenig genug ist. Eine Verhaltensän-derung, wenn sie erfolgt, brauchtihren wahrnehmbaren Erfolg, um sta-bilisiert zu werden. Die Verstärkungerfolgt durch Selbstkontrolle, dieaber nur erfolgen kann, wenn das Er-

gebnis deutlich als Erfolg bewertetwerden kann. Die unbestimmtenWorte wie „mehr“ oder „weniger“ er-füllen diese wichtige Voraussetzungnicht.Die Empfehlung „Nimm 5 am Tag“dagegen ist konkret und präzise. Werfünf Portionen Obst bzw. Gemüse amTag gegessen hat, kann sich amAbend verstärken: „Habe ich gut ge-macht“. Erfolgserlebnisse erhöhendie Wahrscheinlichkeit, dass das ver-stärkte Verhalten häufiger wird. Sol-che klar quantifizierbaren Empfeh-lungen auf Lebensmittelebene sindaber für das Essverhalten im Allge-meinen schwer zu formulieren.Die Praxis der Verhaltenstherapie be-legt, dass positive Konsequenzen, dieauf ein Verhalten hin erlebt werden,genau dieses Verhalten verstärken,d.h. auch in Zukunft wahrscheinli-

cher machen. Darum ist es günstig,konkrete Zielvorgaben zu machen,die eine hohe Wahrscheinlichkeithaben, auch tatsächlich erreicht zuwerden. Misserfolge dagegen be-günstigen die Non-Compliance [5].

Günstig ist, eine klare Zeitvorgabe(z. B. eine Woche) für eine beabsich-tigte Veränderung zu definieren. Die

Ziele müssen realistisch erreichbarsein. Es ist oft empfehlenswert, denPatienten selbst darum zu bitten,eine Schrittfolge festzulegen, die ersich zutraut. Meistens wird dannklar, dass sich Patienten mit ihren ei-genen Zielvorgaben überfordern.Die Zielvorgaben müssen konkretdefiniert sein, damit festgestellt wer-den kann, ob sie auch erreicht wur-den: „In der kommenden Wocheversuche ich, fünf Portionen Ge-müse zu essen.“ Auf einem Zettelwird pro Portion ein Strich gemacht.So ist der Erfolg „aktenkundig“.

Es kommt auf die Kontingenz-verhältnisse an

Als Kontingenzverhältnis bezeichnetman die Relation der Wichtigkeiteines Erlebnisses zu seinem zeitlichen

Eintritt. Beim Essen wird unmittelbardurch den angenehmen Geschmackund das aufkommende Sättigungsge-fühl eine positive Konsequenz ver-spürt. Gleichzeitig wahrnehmbarenegative Gedanken an eine Ge-wichtszunahme oder gesundheitlicheBeeinträchtigung durch diese Mahl-zeit projizieren die negativen Konse-quenzen dagegen in die Zukunft,

Die Empfehlung „Nimm 5 (Portionen Obst/Gemüse) am Tag“ ist präzise und leichtkontrollierbar.

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dadurch besitzen diese nicht die sub-jektive Wertigkeit wie die unmittelba-ren Erlebnisse.

Wenn die Mutter zu ihrer 6-jährigenTochter sagt: „Du musst unbedingtMilch trinken, damit Du – wenn Duso alt bist wie Oma – nicht an Osteo-porose leidest“, dann ist diese Auf-forderung richtig, aber unwirksam.Die Mutter verlangt von ihrer Toch-ter einen mindestens 50-jährigen„Belohnungsaufschub“ – und dafürsind die Kontingenzverhältnisse ab-solut ungünstig.

Für die kognitiven Informationen derErnährungsberatung und Ernäh-rungsaufklärung bestehen ungüns-tige Kontingenzverhältnisse – derBelohnungsaufschub ist zu hoch.Menschen optimieren ihre Lebens-qualität eher über „heute“ als über„morgen“. An dieser menschlichenGewichtung der Ereignisse leidet diegesamte Prävention, die „heute“ einanderes Verhalten nahe legt, das„morgen“ eine wahrscheinlich bes-sere Gesundheit verspricht.Daraus ist abzuleiten, dass Drohun-gen mit Krankheit in frühem Alterebenso wenig verhaltenswirksam sindwie Versprechungen von Gesundheitfür die Zukunft. Wirksamer sind In-

terventionen, die sich im Bereich von„heute“ bewegen und auf direkt er-lebbare Vor- und Nachteile abheben.Das Prinzip der „Token economy“ inder Verhaltenstherapie berücksichtigtdie Wirkung des Kontingenzverhält-nisses. So wird z. B. nicht eine Ge-wichtsabnahme von 10 kg als Zielvereinbart (ist von „heute“ viel zu weitentfernt), sondern eine Abnahmevon einem Kilogramm, die mit einemGutschein (Token) belohnt wird. 10Gutscheine können dann für einneues Kleid eingelöst werden. DurchStückelung der Zielerreichung wirdeine nachhaltigere Verhaltenswir-kung erreicht, weil der Belohnungs-aufschub geringer ausfällt.

Rigide und flexible Kontrolleprägen das Verhalten

Eigentlich sind es Erfolg und Misser-folg, die das menschliche Verhaltenstabilisieren bzw. destabilisieren.Doch Erfolg und Misserfolg hängenganz eng damit zusammen, welcheZielsetzungen getroffen werden. DieVorgaben bzw. Empfehlungen der Er-nährungsberatung oder Ernährungs-aufklärung sind oft weit entfernt vomtatsächlichen Essverhalten. Sie orien-tieren sich am Nährstoffbedarf, abernicht an den Essbedürfnissen. Nun

gibt es für Schokolade, Hamburgeroder Erdnüsse keinen Bedarf des Or-ganismus, sehr wohl aber Bedürfnisseder Verbraucher. Aufgrund seines(emotionalen) Schlankheitsbedürf-nisses beschließt ein Verbraucher, dersich selbst helfen möchte, auf diese„Dickmacher“ zu verzichten. Ein typi-scher Vorsatz lautet: „Ab morgen esseich keine Schokolade mehr!“

Solche Vorsätze, die durch Worte wie„nie mehr“, aber auch „nur noch“ ge-kennzeichnet sind, werden als rigideVorsätze bezeichnet. Sie leiden alleunter dem Nachteil, dass sie absolutformuliert sind und darum bei dergeringsten Überschreitung die ge-samte Verhaltenskontrolle außerKraft setzen: „Vorsatz gebrochen.Jetzt ist es auch egal!“ Eine ernäh-rungsphysiologisch vernachlässigbareAbweichung führt zur Gegenregula-tion. Das ist im Überfluss eine psy-chologische Katastrophe, die ständigeintritt und das Essverhalten destabi-lisiert.Im Gegensatz zur rigiden bietet dieflexible Verhaltenskontrolle mehrSpielraum, denn sie bezieht sich aufeine überschaubare Zeitspanne (z. B.eine Woche) und legt ein realistischesZiel fest, das nur etwas vom bisheri-gen Verhalten abweicht. Dadurchsind Verhaltenskorrekturen durch„Guthaben“ und „Kredite“ zwischenden Tagen möglich. Statt „Ich laufetäglich fünf Kilometer“ lautet die fle-xible Verhaltenskontrolle „Ich laufein der kommenden Woche 35 Kilo-meter“. Statt „Ich esse nie mehr Scho-kolade“ sollte der Vorsatz heißen „Ichversuche, in der nächsten Woche miteiner Tafel Schokolade auszukom-men“. Flexible Verhaltenskontrolleführt zu mehr Erfolgserlebnissen alsrigide Kontrolle. Sie wirkt damit ver-haltensstabilisierend und stärkt daseigene Selbstvertrauen [4, 6].

Es muss also immer das Verhalten imVordergrund stehen, nicht abstrakteGrößen wie Fett, Eiweiß, Kohlenhy-drate oder Kalorien. Es muss um Ver-halten gehen, das der Patient selbstbeobachten und bewerten kann. Alsonicht „Essen Sie in der kommendenFür Schokolade gibt es keinen Bedarf, aber ein Bedürfnis

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Woche täglich 250 GrammKohlenhydrate“, sondern„Essen Sie in der kommendenWoche 14 Portionen Obstoder Gemüse“. Es ist günstig,solche Zielsetzungen als Spiel-regeln zu formulieren. Dasbetont den spielerischen Cha-rakter, andererseits besitzenSpielregeln eine hohe Ver-bindlichkeit. Jedes Trainingversucht die Leistung zu stei-gern, aber in jedem Traininggibt es auch Trainingsstill-stand, manchmal auch -rück-schritt. Diese Bemerkungensollen dem Patienten erlau-ben, sein eigenes Verhaltennicht als „Misserfolg“ zu be-werten, wenn ein Ziel nichterreicht wird (Misserfolgspro-phylaxe).

Realistische Zielsetzung

In diesem Zusammenhangmuss auch gesehen werden,wie häufig unrealistische Ziel-vorstellungen den Misserfolgprogrammieren. Der Ge-danke „Ich will 20 Kilo ab-nehmen“ löst zwar in deraktuellen Vorstellung ein po-sitives Gefühl aus, sorgt aberin kurzer Zeit für Selbstwert-probleme, wenn festgestelltwird „Ich habe es wieder ein-mal nicht geschafft“. Daher istes ausschlaggebend, die Ver-änderungen zu einem günsti-geren Verhalten in kleinenSchritten zu trainieren, die zubewältigen sind und Erfolgs-gefühle vermitteln.

Der Berater ist nicht verant-wortlich dafür, wie sich derPatient verhält. Aber er hatdie Verantwortung dafür,dass der Patient sich nichtüberfordert (was meistensder Fall ist). Erfolgserleb-nisse stärken die Compli-ance und das Selbstwert-gefühl des Patienten, darumhaben realistische Zielset-zungen eine ausschlagge-

bende Funktion für den Be-ratungserfolg und geben denwichtigen Motivationsschubfür weitere Veränderungen.Der Berater muss daraufachten, dass die Fremdkon-trolle so gering wie möglichausfällt und statt dessen dieSelbstkontrolle gestärktwird, da Fremdkontrolle nurwirkt, wenn der Kontrolleuranwesend ist (z.B. „Ich ver-zichte heute auf Kuchen,damit mein Blutzucker fürden Arzt morgen in Ordnungist“).

Den 2. Teil dieses Beitrags:„Marketing in der Ernäh-rungsberatung und Grenzender Beratung“ veröffentlichenwir im nächsten Heft.

Literatur �1. Deutsche Gesellschaft für Er-

nährung: Ernährungsbericht2004. Deutsche Gesellschaftfür Ernährung, Frankfurt amMain, 2004

2. Pudel, V. (2001) Editorial:Adipositas: Schuld oder Schick-sal? Bundesgesundheitsblatt.Gesundheitsforschung-Ge-sundheitsschutz, 10: 952–951

3. Logue AW: Die Psychologie desEssens und Trinkens. Spek-trum, Heidelberg, 1995

4. Pudel V, Westenhöfer J: Ernäh-rungspsychologie – Eine Ein-führung. 3. Auflage. Hogrefe,Göttingen, 2003

5. Pudel V: Adipositas. Fort-schritte der Psychotherapie,Band 19. Hogrefe, Göttingen,2003

6. Westenhöfer J: Gezügeltes Essenund Störbarkeit des Essverhal-tens. Hogrefe, Göttingen, 1992

Zusammenfassung

50 Jahre Ernährungsberatung und -aufklärunghaben die Menschen über Ernährungsfragengebildet, jedoch kein Verhalten verändert. Ess-verhalten ist in hohem Maße emotional be-stimmt und an früh erlernte Gewohnheitengebunden. Entscheidende Prinzipien der Er-nährungsberatung müssen daher folgendesein:Konkrete Maßnahmen statt abstrakter Infor-mationen: Ernährungsinformationen müssenauf Lebensmittelebene übertragen und in kon-krete Maßnahmen gefasst werden.Information verändert keine Bedürfnisse: Ko-gnitive Informationen über den Nährstoffbedarfändern nicht das Ernährungsverhalten, son-dern fördern nur das schlechte Gewissen.Kochkurse, gemeinsame Einkäufe und senso-rische Tests sind Maßnahmen, die Erlebnissevermitteln, Bedürfnisse ansprechen und damitverhaltenswirksam werden. Bedürfnisse beeinflussen: Bedürfnisse beru-hen auf emotionalen Vorstellungen und trai-niertem Verhalten. Selbstbeobachtung inbedürfnisgesteuerten Situationen und Verhal-tenstraining in kleinen Schritten helfen, Be-dürfnisse zu verändern.Quantitative Vorgaben erzeugen Erfolgserleb-nisse: Klare Zielvorgaben, die in kleine Schritteeingeteilt und leicht kontrolliert werden kön-nen, erzeugen Erfolgserlebnisse und verstär-ken damit gewünschtes Verhalten.Beachtung der Kontingenzverhältnisse: Vagegesundheitliche Beeinträchtigungen in fernerZukunft wirken weniger verhaltenswirksam alsdirekt erlebte Gefühle beim Essen. Beratungmuss sich also im Bereich von „heute“ bewe-gen, z. B. mit konkreten Belohnungen für Trai-ningsfortschritte.Flexible statt rigider Kontrolle: Rigide Kontroll-maßnahmen („ich esse nie mehr …“) destabili-sieren bei geringster Überschreitung dasVerhalten. Flexible Vorgaben („ich versuche, inder nächsten Woche nur eine Tafel Schokoladezu essen“) können leichter eingehalten werdenund stärken das Selbstvertrauen.Realistische Zielsetzungen: Patienten haben oftunrealistische Abnehmvorstellungen. Aufgabedes Beraters ist es, kleine Schritte zu planenund auf realistische Zielsetzungen zu achten.

Ernährungs Umschau 54 (2007) S. 308–313