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Mia Holz Musikschulen und Jugendmusikbewegung Die Institutionalisierung des öffentlichen Musikschulwesens von den 1920ern bis in die 1960er-Jahre

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    Musikschulen und Jugendmusikbewegung

    Die Institutionalisierung des öffentlichen Musikschulwesens von den 1920ern bis in die 1960er-Jahre

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    Mia Holz

    Musikschulen und Jugendmusikbewegung

    Die Institutionalisierung des öffentlichen Musikschulwesens

    von den 1920ern bis in die 1960er-Jahre

    Waxmann 2019Münster • New York

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    Die Schrift wurde unter dem Titel „Die Institutionalisierung des öffentlichen Musikschulwesens von den 1920er- bis in die 1960er-Jahre. Grundgedanken der Jugendmusikbewegung und ihr Ein-fluss auf die Musikschulentwicklung“ vom Fachbereich II der Universität Hildesheim am 31. Januar 2018 als Dissertation angenommen.

    Erstgutachter: Prof. Dr. Matthias Kruse Zweitgutachter: Prof. Dr. Franz Riemer Datum der Disputation: 14. Juni 2018

    Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    Internationale Hochschulschriften, Band 663 Die Reihe für Habilitationen und sehr gute und ausgezeichnete Dissertationen

    Print-ISBN 978-3-8309–3961–0 E-Book-ISBN 978-3-8309-8961–5

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    Danksagung*1

    Diese Arbeit ist im Jahr 2018 an der Universität Hildesheim zur Dissertation ange-nommen worden. Mein besonderer Dank gilt den Personen, die den Entstehungspro-zess der Arbeit von Beginn an begleitet haben. An erster Stelle ist dies mein Doktor-vater, Herr Prof. Dr. Matthias Kruse, dem ich für die fachliche Unterstützung und die viele Zeit, die er sich für die Lektüre meiner Entwürfe genommen hat, danke. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr. Franz Riemer für die Begutachtung meiner Arbeit sowie manch wertvollen ergänzenden Hinweis. Schließlich geht ein herzliches Dankeschön an meinen Mann – für sein Mit- und Korrekturlesen.

    * Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit wird im Text oft nur die männliche Form ge-nannt. Jedoch ist die weibliche Form stets gleichermaßen mitgemeint.

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    Inhalt

    Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    1. Musikerziehung im 19. Jahrhundert und zur Zeit der Jahrhundertwende . . . . . . . . 161.1 Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161.2 Privatmusikerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211.3 Institutionelle außerschulische Musikerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311.4 Reformbestrebungen des Musikpädagogischen Verbandes

    sowie Hermann Kretzschmars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401.5 Reformpädagogik und Musikerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

    2. Jugendmusikbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532.1 Jugendbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542.2 Jugendmusikbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

    3. Der Beitrag von Leo Kestenberg und Fritz Jöde zur Institutionalisierung öffentlicher Musikschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053.1 Leo Kestenbergs Impuls zur öffentlichen Musikschularbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 1053.2 Der Einfluss von Fritz Jöde auf die konzeptionelle Entwicklung

    der Jugend- und Volksmusikschule in den 1920er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

    4. Jugend- und Volksmusikschulen in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1454.1 Jugendmusikschule der staatlichen Akademie

    für Kirchen- und Schulmusik in Berlin Charlottenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1454.2 Volksmusikschule der Musikantengilde in Berlin Charlottenburg e. V. . . . . . . 1614.3 Volks- und Jugendmusikschule Neukölln (Berlin-Süd) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1774.4 Weitere Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1944.5 Das Verhältnis zwischen Musikschullehrern und Privatlehrern . . . . . . . . . . . . . 196

    5. Musikschulen für Jugend und Volk im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2015.1 Jugendmusikbewegung und Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2015.2 Auftrag und Schulungsformen der Musikerziehung im NS-Staat . . . . . . . . . . . . 2175.3 Maßnahmen zur Etablierung und zum Ausbau des Musikschulwesens . . . . . . 2215.4 Musikschulen für Jugend und Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2295.5 Lehrkräfte an den Musikschulen für Jugend und Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2415.6 Musikschule für Jugend und Volk der Stadt Hamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

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    6. Die Neuorganisation des Musikschulwesens nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2616.1 Ansätze zu einer Neuorientierung der Musikpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2616.2 Wilhelm Twittenhoff – „Neue Musikschulen, eine Forderung unserer Zeit“ . . . . 2826.3 Verband deutscher Musikschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2976.4 Positionspapiere und Konzepte zur Einrichtung von Musikschulen . . . . . . . . . 3056.5 Maßnahmen zum Ausbau des Musikschulwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3096.6 Die Arbeit der Jugendmusikschule Stuttgart (1951–1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3136.7 Volksmusikschule Stuttgart (1953–1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

    7. Aus heutiger Sicht: Der Beitrag der Jugendmusikbewegung zur Institutionalisierung des Musikschulwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3297.1 Die Jugendmusikbewegung – ein rein historisches Phänomen? . . . . . . . . . . . . . 3297.2 Der Bildungsauftrag der Musikschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3327.3 Musikschulstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3387.4 Musikschulunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3437.5 Berufsbild der Musikschullehrkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3567.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

    Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

    Zeitschriften und Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

    Archivmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

    Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

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    Einleitung

    Die rund 930 öffentlichen Musikschulen im VdM (= Verband deutscher Musikschulen) verstehen sich heute per defintionem als gemeinnützige öffentliche Bildungseinrich-tungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. „Sie sind kommunal verantwortete Einrichtungen mit bildungs-, kultur-, jugend- und sozialpolitischen Aufgaben.“1 Mu-sikschulen unterbreiten nicht nur ein spezifisches Angebot, sondern sie kooperieren auch eng mit Kindertagesstätten, Schulen, Vereinen des Laienmusizierens, Volkshoch-schulen und weiteren Einrichtungen.2 Ihre Gründungsgeschichte geht auf das Konzept der Jugend- und Volksmusikschule in den 1920er-Jahren zurück, welches wiederum in engem Bezug zur Jugendmusikbewegung zu sehen ist. In einem lexikalischen Beitrag zum MGG (= Musik in Geschichte und Gegenwart) heißt es:

    „Die entscheidenden Impulse für die Entwicklung von Musikschulen für Jugend und Volk kamen aus der von den Theorien der Reformpädagogik getragenen Musikali-schen Jugendbewegung (Jugendmusikbewegung). Die Gedanken einer stätigen Anteil-nahme an der Musik in allen Schichten unseres Volkes (Fr. Jöde) und dies im Interesse einer Reform des gesamten Musiklebens und einer allgemeinen Menschenbildung durch Musik lösten das Bedürfnis aus, Musikschulen zu schaffen, in denen ‚Jugend und Volk‘ in geeigneter Weise der Zugang zur Musik erschlossen werden könnte.“3

    Hintergründe und nähere Begleitumstände der Musikschulentwicklung von den 1920er- bis in die 1960er-Jahre sind bis heute kaum erforscht. Auch dürfte die Jugend-musikbewegung als historisches Phänomen aus dem Bewusstsein selbst der meisten Musiker verschwunden sein.

    „Die Jugendmusikbewegung ging nach 1918 aus den Gruppen der wandernden Ju-gend hervor, die sich um 1900 zusammenfanden (u.a. ‚Wandervogel. Ausschuss für Schülerfahrten‘ 1901) und sich von der bürgerlichen Gesellschaft distanzierten, was als konkreter Vollzug der sog. Kulturkritik anzusehen ist. […] Obwohl sich die Führer der Jugendmusikbewegung nicht als Reformpädagogen, sondern als Verfechter einer neuen Musikbewegung sahen, gewann die Jugendmusikbewegung in den 1920er Jah-ren Einfluss auf die schulische Musikpädagogik. Insbesondere Jöde ist hier zu nennen. 1923 an die Akad. Für Kirchen- und Schulmusik (Berlin) berufen, war er in die sog. ‚Kestenberg-Reform‘ eingebunden.“4

    Jödes Konzept der Jugend- und Volksmusikschule wird erst aus der Abgrenzung der Jugendmusikbewegung gegenüber den musikpädagogischen Einrichtungen des 19. Jahrhunderts, „gegenüber einer als subjektivistisch und individualistisch gebrand-

    1 https://www.musikschulen.de/musikschulen/strukturplan2009/index.html [29.6.2017].2 https://www.musikschulen.de/musikschulen/index.html [29.3.2017].3 In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), 1997, Sachteil 6, S. 1611. 4 M. Kruse: Jugendmusikbewegung, in: S. Helms, R. Schneider, R. Weber (Hrsg.): Lexikon

    der Musikpädagogik, 2005, S. 123f.

    https://www.musikschulen.de/musikschulen/strukturplan2009/index.html

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    Einleitung 10

    markten spätbürgerlichen Musikkultur“,5 verständlich. Und wenn Wolfgang Stumme, der von den 1920er- bis in die 1970er-Jahre in unterschiedlichen Funktionen für die Entwicklung des Musikschulwesens in Deutschland mitverantwortlich war, noch im Jahr 1987 auf der aktuellen Relevanz des Jugend- und Volksmusikschulkonzeptes be-harrte …

    „Sie [Jugend- und Volksmusikschule] werden sowohl neben- und nacheinander als auch in der integrierten Form der ‚Musikschule für Jugend und Volk‘ bis in die Gegen-wart hinein die Identität wie auch den Wandel der Musikschulen durch 60 Jahre auf-zeigen. Sie werden zu Symbolen und Institutionen einer neuen Musikerziehung für das weitere Jahrhundert.“6

    … so drängt sich aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts die Frage auf, inwieweit As-pekte der Jugendmusikbewegung für eine heutige Musikschularbeit überhaupt noch relevant sein können, wenn doch die Jugendmusikbewegung als solche scheinbar in Vergessenheit geraten ist.

    Zur Geschichte der Musikschulen liegen lediglich einführende Darstellungen vor – z.B. von Michael Schmidt (1995);7 Wolfgang Stumme (1987);8 Oliver Scheytt (1989);9 Martin D. Loritz (1998)10 – sowie Dokumente zur Geschichte der Musikschule (1902–1976), herausgegeben von Dorothea Hemming im Auftrag des VdM. Allerdings geht Hemmings gänzlich unkommentierte Auswahl an Quellentexten schon auf das Jahr 1977 zurück und kann insofern nicht Bezüge zur aktuellen Situation des Mu-sikschulwesens widerspiegeln. Zwar existieren in der Nachfolge Theodor W. Adornos Untersuchungen, die sich kritisch mit den ideologischen und gesellschaftlichen Hin-tergründen der Jugendmusikbewegung auseinander setzen, so z.B. Johannes Hodek11

    5 P. Röbke: Eine kurze Geschichte der Musikschule und ihrer Lehrenden, in: B. Busch (Hrsg.): Grundwissen Instrumentalpädagogik. Ein Wegweiser für Studium und Beruf, 2016. S. 417f.

    6 W. Stumme: Die Musikschulen im 20. Jahrhundert – Bericht eines Zeitzeugen, in: K.-H. Reinfandt (Hrsg.): Die Jugendmusikbewegung. Impulse und Wirkungen, 1987, S. 252.

    7 M. Schmidt: Zwischen Gemeinschaftsideologie, Leistungsorientierung und Profilsuche: Kritische Anmerkungen zur Geschichte der Musikschulen in Deutschland, in: W. Loeckle und W. Schreiber (Hrsg.): Musikschulen auf dem Prüfstand, 1995, S. 7–33.

    8 W. Stumme: Die Musikschule im 20. Jahrhundert – Bericht eines Zeitzeugen, in: K.-H. Reinfandt (Hrsg.): Die Jugendmusikbewegung. Impulse und Wirkungen, 1987, S. 245–270.

    9 O. Scheytt: Die Musikschule. Ein Beitrag zum kommunalen Kulturverwaltungsrecht, 1989.

    10 M. D. Loritz: Berufsbild und Berufsbewusstsein der hauptamtlichen Musikschullehrer in Bayern. Studie zur Professionalisierung und zur aktuellen Situation des Berufs des Musikschullehrers, 1998.

    11 J. Hodek: Musikalisch-pädagogische Bewegung zwischen Demokratie und Faschismus, 1977.

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    Einleitung 11

    und Dorothea Kolland.12 Darstellungen der musikpädagogischen Wirkungen der Jugendmusikbewegung konzentrieren sich indes schwerpunktmäßig auf den schuli-schen, weniger auf den außerschulischen Bereich.13 Dies ist insofern erstaunlich, da es sich bei Musikschulen quasi um originäre Nachfolgeeinrichtungen der Jugendmu-sikbewegung handelt und die Vertreter der Jugendmusikbewegung, allen voran Fritz Jöde, ursprünglich ein eher zwiespältiges Verhältnis zur allgemeinbildenden Schule bzw. zum schulischen Unterricht pflegten.14

    Es mag Gründe dafür geben, dass die näheren Begleitumstände der Musikschul-entwicklung von den 1920er- bis in die 1960er-Jahre bis heute kaum erforscht sind. Offensichtlich hat sich die historische Musikpädagogik im universitären Bereich lange Zeit hauptsächlich für die Geschichte der Schulmusik interessiert. An Musikhoch-schulen stehen und standen dagegen Fragen der instrumentalen und vokalen Didaktik im Vordergrund des Interesses. Vermutlich dürfte es sich für eine historische Auf-arbeitung der Musikschulgeschichte außerdem als wenig hilfreich erwiesen haben, dass einzelne Protagonisten, die sich in den 1950er- und 60er-Jahren an der Neuorga-nisation des Musikschulwesens maßgeblich beteiligen sollten, zuvor nicht nur in den 1920er-Jahren der Jugendmusikbewegung nahestanden, sondern später im NS-Staat zu Mitarbeitern des Hauptreferats der Musik im Kulturamt der Reichsjugendführung wurden, zuständig für die Musikpflege in der Hitlerjugend und den Ausbau des Mu-sikschulwesens. Erst mit großer zeitlicher Verzögerung setzte nach 1945 eine kritische Reflexion darüber ein, welchen ideologischen Zielen Musik und Musikunterricht im Nationalsozialismus eigentlich gedient hatten, und es wurde auch das ganze Ausmaß persönlicher Verfehlungen offenbar. Aus der historischen Distanz scheint es heute mehr denn je geboten, sich mit dem Phänomen Jugendmusikbewegung, und somit auch mit der Geschichte des Musikschulwesens im Nationalsozialismus unvoreinge-nommen und kritisch auseinanderzusetzen.

    Die folgende Untersuchung thematisiert die Einflüsse der Jugendmusikbewe-gung auf die Institutionalisierung des Musikschulwesens von den 1920er- bis in die 1960er-Jahre. Zentrale Forschungsfragen sind:

    12 D. Kolland: Die Jugendmusikbewegung. „Gemeinschaftsmusik“, Theorie und Praxis, 1979.

    13 Vgl. K. H. Ehrenforth: Geschichte der musikalischen Bildung. Eine Kultur-, Sozial-und Ideengeschichte in 40 Stationen – Von den antiken Hochkulturen bis zur Gegenwart, Erstauflage 2005.

    W. Gruhn: Geschichte der Musikerziehung. Eine Kultur- und Sozialgeschichte vom Ge-sangsunterricht der Aufklärungspädagogik zu ästhetisch-kultureller Bildung, 2003.

    U. Günther: Jugendmusikbewegung und reformpädagogische Bewegung, in: Karl-Heinz Reinfandt (Hrsg.): Die Jugendmusikbewegung. Impulse und Wirkungen, 1987, S. 160–184.

    H. Hammel: Die Schulmusik in der Weimarer Republik: politische und gesellschaftliche Aspekte der Reformdiskussion in den 20er-Jahren, 1990.

    14 Vgl. F. Jöde: Musikschulen für Jugend und Volk, 1924, S. 40; Ders: Musik und Erziehung, 1919, S. 12; G. Trautner: Die Musikerziehung bei Fritz Jöde, 1968, S. 19.

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    Einleitung 12

    1. Wie beeinflussten die Ideen der Jugendmusikbewegung die Musikschulkonzep-tion und praktische Musikschularbeit in den 1920er-Jahren?

    2. Welchen Wandlungen unterlag der Einfluss der Jugendmusikbewegung auf die Musikschularbeit im Untersuchungszeitraum?

    3. Inwiefern sind Aspekte der Jugendmusikbewegung noch heute für das Musik-schulwesen relevant?

    Ziel ist es, Bezüge zwischen der Jugendmusikbewegung und der strukturellen Ent-wicklung der Musikschule herauszuarbeiten. Unter die Strukturmerkmale der Mu-sikschule fallen Bildungsauftrag, Musikschulorganisation, Fächerangebot, Unter-richtsformen und -inhalte, aber auch Fragen der Personalentwicklung. Impulse aus der Jugendmusikbewegung für die Entwicklung des Musikschulwesens sollen auf ihre unterschiedliche Rezeption hin zur Weimarer Zeit, während des Nationalsozialismus, sowie in der Nachkriegszeit untersucht werden. Es wird zu zeigen sein, dass an Musik-schulen bildungspolitische Ansätze und musikpädagogische Grundsätze der Jugend-musikbewegung bis in die Gegenwart nachwirken, insbesondere im Bereich der Brei-tenförderung. Mögliche Anknüpfungspunkte an das heutige Selbstverständnis von Musikschulen als Bildungseinrichtungen legen die Vermutung nahe, dass es sich bei der Institutionalisierung der Jugend- und Volksmusikschule in den 1920er-Jahren um eine der bedeutendsten Errungenschaften der Jugendmusikbewegung handeln könn-te, die freilich nicht losgelöst zu sehen wäre von den kultur- und bildungspolitischen Anstrengungen, welche in den 1920er-Jahren auf sozialdemokratische Initiative hin unternommen wurden.

    Die Recherche zur historischen Entwicklung einzelner Musikschulen erstreckt sich im Rahmen dieser Untersuchung auf das Archiv der Jugendmusikbewegung Burg Ludwigstein, ferner auf das Staatsarchiv Berlin-Lichterfelde, das Archiv der UdK (=Universität der Künste) Berlin, die Bestände der Musikschule Berlin-Neukölln, die Stadtarchive Hamm und Stuttgart, sowie das Schiller-Archiv Marbach. Ausgewertet wurden außerdem diverse Fachzeitschriften und Fachzeitungen, so z.B. die musikpä-dagogische Zeitschrift „Der Klavierlehrer“ als Organ des Verbandes deutscher Mu-siklehrer-Vereine. Aus den 1920er-Jahren entstammt die Zeitschrift „Der Führer“ des Verbandes der sozialistischen Arbeiterjugend Deutschlands. Berücksichtigung finden folgende periodische Publikationen aus dem Umfeld der Jugendmusikbewegung: „Die Laute“, „Die Musikantengilde“, „Der Kreis“, „Musik und Gesellschaft“. Durchgesehen wurden die Jahrgänge 1936 bis 1944 von „Jugend und Volk“, amtliche Zeitschrift der Reichsjugendführung und der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, zudem „Musik im Volk“, „Musik und Volk“, „Musikalische Volksbildung“. In die Zeit nach 1945 fällt die Veröffentlichung der Zeitschrift „Junge Musik“.

    Der Forschungsansatz der vorliegenden Arbeit versteht sich historisch-systema-tisch. Dazu merkt Rudolf-Dieter Kraemer an, dass musikpädagogische Theorie und Praxis dem Wandel unterworfen sei, „die Gegenwart unauflösbar mit den Vorstellun-gen früherer Generationen verbunden. […] Zu den Aufgaben historischer Arbeit zäh-len Bestandsaufnahme, Strukturierung und Systematisierung musikpädagogischen Gedankenguts.“ Dies habe mit Blick auf eine „angemessene Beurteilung der gegen-

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    Einleitung 13

    wärtigen Lage“ zu geschehen: Es sollen „modellhaft Einsichten vermittelt“ werden, „die für die Zukunftsbewältigung von Bedeutung sein können.“15 So wäre denn zu fragen, welche Aspekte einer „jugendbewegten“ Musikschule unter geänderten Vor-aussetzungen in der heutigen Musikschularbeit noch nachwirken, welche hingegen zu Recht in Vergessenheit geraten sind. Die Darstellung der Musikschulentwicklung der 1920er- bis 1960er-Jahre erfolgt chronologisch. Charakteristische Strukturmerkmale der Musikschularbeit werden in ihrer Wechselwirkung mit Leitideen der Jugendmu-sikbewegung vor dem Hintergrund sich wandelnder politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen herausgearbeitet. Dem entspricht die Eingrenzung des Untersu-chungszeitraums. Die Entwicklung der Jugendmusikbewegung sowie die Anfänge des Jugend- und Volksmusikschulwesens fallen in die 1920er-Jahre, wobei diesbezüglich auch der historische Hintergrund um die Zeit der Jahrhundertwende zu berücksichti-gen ist. Der Einfluss der Jugendmusikbewegung auf die Entwicklung des Musikschul-wesens erfährt schließlich in den 1960er-Jahren eine entscheidende Zäsur mit Ador-nos „Kritik des Musikanten“, die eine Abkehr vom Prinzip der Musischen Erziehung, noch in den 1950er-Jahren als Musische Bildung etikettiert, initiiert.

    Es empfiehlt sich eine Darstellung der Musikschulentwicklung am Beispiel aus-gewählter Musikschulen, wobei die Quellenlage eingeschränkt ist, insbesondere auf-grund der Zerstörung von Akten während der Kriegszeit. In Hinblick auf die Weimarer Zeit werden die Jugendmusikschule der staatlichen Akademie für Kirchen- und Schul-musik in Berlin Charlottenburg, die Volksmusikschule der Musikantengilde in Berlin Charlottenburg, die Volks- und Jugendmusikschule Berlin Neukölln (Berlin-Süd) aus-gewählt, nicht nur, weil sie sich insgesamt als prägend für die Musikschulentwick-lung der 1920er-Jahre erweisen sollten, sondern auch, weil sie die Einflusssphäre der Jugendmusikbewegung auf unterschiedliche Weise reflektieren. Die Musikschule für Jugend und Volk der Stadt Hamm dient als Beispiel für die Zeit des Nationalsozia-lismus. Ihre Geschichte ist für die Jahre 1939 bis 1945 im Bestand des Stadtarchivs Hamm vergleichsweise gut dokumentiert. Schließlich lässt sich anhand der Stuttgarter Jugendmusikschule sowie der Volksmusikschule Stuttgart, später fusioniert zur heuti-gen Stuttgarter Musikschule, die Bezugnahme auf vorherige Musikschulkonzeptionen in der Nachkriegszeit verdeutlichen.

    Der Aufbau der Untersuchung ist chronologisch geordnet.Kapitel 1 schildert die Voraussetzungen einer institutionellen Musikerziehung im

    außerschulischen Bereich zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von dem Zu-stand des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen sowie den Verhältnissen in der Privatmusikerziehung, aber auch unter Berücksichtigung bereits bestehender Musikschulkonzeptionen, soll verdeutlicht werden, inwiefern die musikpädagogi-schen Reformbestrebungen der Zeit die Entstehung eines neuen Typs von Musikschu-le begünstigten.

    Kapitel 2 stellt die Jugendmusikbewegung in ihrem zeitlichen Verlauf vor. Indem Musikanschauung, Musikpraxis und musikpädagogische Aspekte der Jugendmu-

    15 R.-D. Kraemer: Musikpädagogik – eine Einführung in das Studium (= Forum Musik-pädagogik, Bd. 55), 2007. S. 48.

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    Einleitung 14

    sikbewegung zur Darstellung kommen, werden potenzielle Einflussfaktoren auf die Neukonzeption der Volks- und Jugendmusikschule zur Zeit der Weimarer Republik lokalisiert.

    Kapitel 3 thematisiert Leo Kestenbergs und Fritz Jödes Beiträge zur Institutionali-sierung öffentlicher Musikschulen. Als hauptamtlicher Musikreferent im preußischen Kultusministerium maß Kestenberg der Einrichtung von öffentlichen Musikschulen hohen Stellenwert innerhalb seines eigenen musikpädagogischen Reformansatzes bei. Fritz Jöde, einer der Köpfe der Jugendmusikbewegung, wurde von ihm an die Staat-liche Akademie für Kirchen- und Schulmusik berufen und mit der konzeptionellen Entwicklung der Jugend- und Volksmusikschule betraut. Kestenbergs und Jödes Mu-sikschulkonzeptionen werden miteinander verglichen, Gemeinsamkeiten und Unter-schiede aufgezeigt, Bezüge zu Reformpädagogik und Jugendmusikbewegung darge-stellt.

    Kapitel 4 vergleicht ausgewählte Volks- und Jugendmusikschulen der Weimarer Zeit im Hinblick auf Entstehungs- bzw. Entwicklungsgeschichte, Bildungsauftrag, Or-ganisation und Unterrichtsangebot. Die Jugendmusikschule der staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik sowie die Volksmusikschule der Musikantengilde in Berlin Charlottenburg stehen modellhaft für Jödes Konzeption einer jugendmusik-bewegten Musikschule. Die Volks- und Jugendmusikschule Neukölln (Berlin-Süd) unterscheidet sich hingegen in der inhaltlichen Ausrichtung ihrer Musikschularbeit: stärkere Bezüge zu Reformpädagogik, Arbeiterbewegung und musikalischer Avant-garde treten zutage. Volks- und Jugendmusikschulen in anderen Städten ergänzen die Darstellung um weitere Facetten.

    Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten setzte eine Neuorganisation des Musiklebens ein. Kapitel 5 behandelt die Gleichschaltung der beiden Hauptzweige der Jugendmusikbewegung im „Reichsbund Volkstum und Heimat“. Wortführer der Ju-gendmusikbewegung beteiligten sich aktiv an der Musikpflege der Hitlerjugend, in deren Zuständigkeit nun die Musikschulen fielen. Es stellt sich die Frage, welche ideo-logischen Affinitäten bzw. Abgrenzungen zwischen der Jugendmusikbewegung und dem Nationalsozialismus bestanden. Wie positionierte sich die NS-Politik gegenüber der Volks- und Jugendmusikschule der Weimarer Zeit? Anhand der staatlichen Wer-beaktion „Lernt Musikinstrumente spielen“ kann veranschaulicht werden, wozu der massive Ausbau des Musikschulwesens eigentlich diente: einer ideologischen, natio-nalsozialistischen Erziehung der Jugend mit Hilfe der Musik. Die Musikschularbeit während der NS-Zeit wird am konkreten Beispiel der Musikschule für Jugend und Volk in Hamm beschrieben.

    Kapitel 6 thematisiert die Neuorganisation des Musikschulwesens nach 1945. Anhand von Theodor W. Adornos Positionen zur Musikpädagogik und Wilhelm Twittenhoffs Konzept zum Aufbau der Musikschule zeigt sich, wie kontrovers das musikpädagogische Erbe der Jugendmusikbewegung diskutiert wurde. Während die Jugendmusikschule Stuttgart sowie die Volksmusikschule Stuttgart zunächst an die Idee einer gemeinschaftsbildenden Musikschularbeit aus der Vorkriegszeit anzuknüp-fen versuchten, veränderte sich schrittweise das Profil der Musikschule als Bildungs-

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    Einleitung 15

    einrichtung. Mit der Umbenennung des „Verbandes der Jugend- und Volksmusikschu-len“ in „Verband deutscher Musikschulen“ wird dies auch nach außen hin sichtbar.

    Kapitel 7 fragt nach dem Beitrag der Jugendmusikbewegung zur Institutionalisie-rung des Musikschulwesens in seiner heutigen Form. Welche Aspekte der Jugendmu-sikbewegung sind in der Musikschularbeit lebendig geblieben, bezogen auf Bildungs-auftrag, Musikschulstruktur, Musikschulunterricht und Berufsbild der Lehrkräfte? Die Aufgabe, chancengerechte Zugänge zu musikalischer Bildung zu schaffen, stellt sich heute vor allem in den Kooperationen von Musikschulen mit allgemeinbilden-den Schulen und Kindertagesstätten. Mit „Jekits“ aus Nordrhein-Westfalen wird ein landesweites Kooperationsvorhaben beispielhaft vorgestellt, in dem der Ansatz eines Gemeinschaftsmusizierens unter dem Vorsatz einer „Musikschule für alle“ wieder auf-lebt. Zusammenfassend werden Einflussfaktoren der Jugendmusikbewegung auf das Musikschulwesen im Wandel der Zeit herausgearbeitet und Schlussfolgerungen für die Musikschularbeit abgeleitet.

    Eine historisch begründete Standortbestimmung der Institution Musikschule trägt zur Klärung ihres Selbstverständnisses in der Gegenwart bei und unterstützt bei der Lösung von Zukunftsfragen.16 Hierzu beizutragen, ist das Ziel der Untersuchung.

    16 Vgl. R.-D. Kramer: Musikpädagogik – eine Einführung in das Studium, 2007, S. 331.

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    1. Musikerziehung im 19. Jahrhundert und zur Zeit der Jahrhundertwende

    1.1 Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen

    1.1.1 Gegenstand des Musikunterrichts

    Trotz der bereits seit Beginn des 18. Jahrhunderts existierenden allgemeinen Schul-pflicht in Preußen (1717)1 besuchten im Jahr 1816 nur 53% der Schulpflichtigen eine Schule.2 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts sollte dann der Anteil drastisch auf bis ca. 91.5 – 93% steigen und konstant bleiben.3 Die höheren Schulen besuchten dagegen 1864 nur 3,6%, 1891 4,1% der Schulpflichtigen bis 14 Jahren.4 Somit konzentrierten sich die staatlichen Bildungs- und Erziehungsvorstellungen im Verlauf des 19. Jahrhun-derts weitgehend auf die Volksschul- bzw. Unterschichtenbildung. Die humanistische Gymnasialbildung betraf vorzugsweise Bürgerschichten, die als sozial privilegiert an-zusehen waren.

    Der Musikunterricht in der Schule des 19. Jahrhunderts bestand allein in Gesang-unterricht. Die Schüler wurden in Singklassen unterrichtet, die kirchlichen Zwecken zuarbeiteten. In dem „Regulativ für den Unterricht in den evangelischen Schulleh-rer-Seminaren der Monarchie vom 1. Oktober 1854“ heißt es: Der Musikunterricht dient „zur Förderung der kirchlichen und sittlichen Lebenszwecke … Das Gebiet dieses Unterrichts ist überall ein ernstes, sittlichen Zwecken dienendes, größtenteils ein heiliges. Die Kunst ist im Seminar nirgends Selbstzweck“.5 Wilhelm von Hum-boldt hatte die enge Anbindung des schulischen Gesangunterrichts an die Kirche aus pragmatischen Gründen angestrebt. Er argumentiert in seiner Schrift „Über geistliche Musik“ (1809) mit der „Wirksamkeit der Musik auf den öffentlichen Gottesdienst“ und der „National-Bildung“, wodurch auch die Musik selbst „mit der Zeit noch mehr veredelt werden könnte“.6 Die Zweckmäßigkeit einer staatlichen Einflussnahme auf die Musikpflege und Erziehung resultiert für Humboldt daraus, dass Musik „mehr als jede andere [Kunst] auf die Gemüther selbst der niedern Volksklassen einzuwirken fähig ist, weil sie einen wesentlichen Theil des öffentlichen Gottes-Dienstes ausmacht“.7 Der

    1 „Principia regulativa“ von König Friedrich Wilhelm I. vom 28. September 1717.2 E. Nolte: Sozialgeschichtliche Aspekte des Gesangunterrichts in der Preußischen Elementar-

    schule des 19. Jhd., in: H. Kaiser (Hrsg.): Sozialgeschichtliche Aspekte einer wissenschaft-lichen Disziplin, 1993, S. 11.

    3 Th. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, 1998 Bd. 1, S. 555. 4 Ebd.5 Zit. in. Volkmer 1917, 257f., in: W. Heise: Musikunterricht im 19. Jahrhundert – Ideen

    und Realitäten, in: H.-Ch. Schmidt (Hrsg.): Geschichte der Musikpädagogik, Bd. 1, 1986, S. 58.

    6 W. von Humboldt: Über geistliche Musik, 1809, in: A. Flitner/K. Giel (Hrsg.): Werke in 5 Bänden (Band 4: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen), 1982, S. 38.

    7 Ebd.

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    1.1 Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen 17

    zweckmäßige Musikunterricht sei für eine neuere Pädagogik unentbehrlich, „theils um der sonst so leicht einreissenden Rohheit entgegen zu arbeiten, noch mehr aber um das Gemüth an Wohlklang und Rhythmus zu gewöhnen“.8 Der Leipziger Professor Friedrich Wilhelm Lindner (1779–1864), der zu den bedeutenden Musikpädagogen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte, schreibt in seinem Aufsatz „Das Nothwendigste und Wissenswertheste aus dem Gesammtgebiet der Tonkunst“:

    „Der Gesang ist unsere eigne, die wahre, recht eigentliche Menschenmusik. Die Stim-me ist unser eignes, angebornes Instrument; ja sie ist viel mehr, sie ist das lebendige, sympathetische Organ unserer Seele. Was sich nur in unserem Innern regt, was wir fühlen und leben, das verlautbart sich sogleich in unserer Stimme und verkörpert sich dadurch. Der Gesang ist die Sprache der Empfindung, und es liegt ein tiefes Bedürfnis in der Menschennatur, diese Sprache zu sprechen. Kein Instrument kann uns den Ge-sang ersetzten, den die eigne Seele aus eigner Brust zieht […].“9

    Gustav Schilling (1805–1880) betont, dass Unterricht in der Schule nicht nur Wissen vermitteln, sondern Erziehung des „ganzen Menschen“ sein solle. Nach Schilling ist diesbezüglich kein Unterrichtsmittel so wirksam wie Gesangunterricht.

    „Wir lehren das Volk denken, lesen, schreiben, rechnen u. u., suchen seinen Geist, seinen Verstand zu bilden: lehren wir es auch recht empfinden, suchen wir auch sein Gefühl, seine Seele zu bilden, und wir werden, aber auch nur erst dann, ganze Men-schen erziehen. Dazu bietet kein – ich sage noch einmal: kein Unterricht so viele, so zweckmäßige, so höchst wirksame Mittel als der rechte Musikunterricht.“10

    Wilfried Gruhn kommentiert 2003 in seinem Buch Geschichte der Musikerziehung den Gesangunterricht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts:

    „Daß sich die schulische Musikerziehung in dem Moment, da sich die Schulformen im Gefolge der preußischen Schulreform zu konsolidieren begannen, ganz auf den Gesang beschränkte, hat seinen geschichtlichen Grund zum einen im Versuch der Rettung der Kirchenmusik aus dem Strudel der Säkularisation und zum andren in der Orientierung der Reformer an den Erziehungsidealen Pestalozzis, wodurch die schweizerische Tradition der Gesangbildung großen Einfluss bekam, stellt aber zu die-ser Zeit bereits einen Anachronismus dar. […] Die Säkularisierung der Religion zur Kunstreligion, deren Kirchen zu Tempeln der Kunst geweiht und deren Schulen zu Stätten sittlicher Erbauung emporgehoben werden sollten, bildeten den ideologischen Überbau, der die Präambeln der Zirkulare und Edikte in der ersten Hälfte des Jahr-hunderts schmückte; die Praxis des Schulalltags mühte sich dagegen in den Niederun-gen der Disziplinierung und Motivierung der Schüler zum Gesang, von dem sie sich nichts lieber als dispensieren ließen.“11

    8 Ebd., S. 40. 9 Fr. Lindner, 1805, AMZ, S. 147ff., in: F. W. E. Schütze: Praktischer Lehrgang für den Ge-

    sangunterricht in Volksschulen, 1843, S. 1.10 G. Schilling: Allgemeine Volksmusiklehre, 1852, S. VIII.11 Gruhn: Geschichte der Musikerziehung, 2003, S. 51f.

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    1 Musikerziehung im 19. Jahrhundert und zur Zeit der Jahrhundertwende18

    Da der Musikunterricht sich in der Schule allein auf Gesang beschränkte, erfasste der Begriff „Musikpädagogik“ eigentlich fast gar nicht den schulischen Unterricht. Von Musikpädagogik wurde im ganzen 19. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhun-derts nahezu ausschließlich in Zusammenhang mit außerschulischem, institutiona-lisiertem bzw. privatem Unterricht im Instrumental- oder Gesangsfach gesprochen, während im Falle des schulischen Musikunterrichts die Bezeichnung Gesangunter-richt Verwendung fand.12 Entsprechend wurde der Unterricht in den Schulen in den musikalischen und pädagogischen Lexika der Zeit unter den eigenständigen Stich-wörtern Gesangunterricht in der Volksschule,13 Schulgesang,14 Gesangunterricht15 ver-zeichnet. Martin Pfeffer meint, dass bis ca. 1903 gelegentlich von ‚Musikpädagogik‘ ge-sprochen wurde, wenn das gesamte außerschulische Musikunterrichtswesen gemeint war.16 Bis 1920 fand der Terminus Musikpädagogik jedoch überhaupt nur selten in diesem Sinne Verwendung.17

    1.1.2 Gesangunterricht im Wilhelminischen Kaiserreich

    Mit dem Aufkommen kommunistischer und sozialistischer Ideen am Ende des 19. Jahrhunderts sollte der Schulunterricht in Reaktion darauf politisch funktionalisiert werden. Dem Staat diente das Schulwesen, gegen die unerwünschten politischen Richtungen zu agitieren. „[…] politisch führten Funktionalisierung und Instrumen-talisierung des Musikunterrichts mehr und mehr zu [dessen] ‚allerhöchster‘ Wert-schätzung.“18 Ganz im Geiste dieser Zeit sollte der Schulgesang zur Stärkung der nationalen Gesinnung und zu einer besonders engen Verbindung der Bevölkerung zum Kaiserhaus beitragen. Der Kaiser schätzte die allgemeine Funktion der Schule ebenso wie „speziell die Funktion des Gesanges für die emotionale Verankerung seiner Herrschaft“19 hoch ein. Er besuchte oft Chorkonzerte von Schulkindern. 2000 Kinder wirkten in Berlin innerhalb eines Monats an 4 Massenkonzerten mit. Daraus ist zu

    12 M. Pfeffer: Hermann Kretzschmar und die Musikpädagogik zwischen 1890 und 1915, 1992, S. 113–117.

    13 „J. Helm: Gesangunterricht in der Volksschule, in: Encyklopädisches Handbuch der Päd-agogik. Hrsg. W. Rein, 1905, Bd. 3, S. 438–454“, in: M. Pfeffer: a.a.O., S. 113.

    14 „H. Rieman: Musik-Lexikon, Berlin und Leipzig 1906, S. 1199f.“, in: M. Pfeffer: a.a.O.15 „E. Peltzer: Gesangunterricht, in: Roloff, E. M. u.a. (Hrsg.): Lexikon der Pädagogik im

    Verein mit Fachmännern und unter besonderer Mitwirkung von Hofrat Prof. Otto Wil-mann (Hrsg.), Bd. 2, Leipzig 1913, Sp. 289–300“, in: M. Pfeffer: a.a.O.

    16 M. Pfeffer: a.a.O., S. 115. 17 Ebd.18 W. Heise: Musikunterricht im 19. Jahrhundert – Ideen und Realitäten, in: H.-Ch. Schmidt

    (Hrsg.): Handbuch der Musikpädagogik, Bd. 1, Geschichte der Musikpädagogik, 1986, S. 64.

    19 H. Lemmermann: Kriegserziehung im Kaiserreich, 1984, S. 171.

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    1.1 Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen 19

    schließen, dass sich mehrere Schulen im Gesangunterricht monatelang intensiv auf einen Besuch des Kaisers vorbereitet hatten.20

    Zu der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts vertraten Musikpädagogen die musikpädagogisch relevante These, „wonach Musik zwar nicht unmittelbar, wie die Gefühlsästhetiker dies annehmen, wohl aber mittelbar Gefühle erregen kann“.21 Auch diese These fand im Laufe der Zeit ihren Niederschlag im schulischen Musikunterricht nach Maßgabe staatspolitischer Bildungszwecke. Der Dresdner Lehrer Arthur Oswald Stiehler schrieb 1890: „Es muß also zuerst das Gefühl erzeugt werden, das heißt, die Vorstellungen müssen in Spannung gebracht werden, und dann kann das Lied als Aus-druck des Gefühles gesungen werden.“22 Wenn man diese Vorgangsweise oft wieder-holt, wird das Singen nach einiger Zeit „Reproduktionshilfe des Gefühles“.23 Die am besten geeignete Methode zum Gesangunterricht bestand demnach nicht darin, nach Noten zu singen, sondern im Vor- und Nachsingen: „durchs Gehör und nur Gehör“.24 „Wenn die Kinder tüchtig geübt werden, alle Melodien nur durchs Gehör aufzuneh-men, so werden sie das viel schneller und leichter lernen, als mit Hilfe der Noten.“25 Die entsprechende Auswahl der Lieder war folgerichtig viel wichtiger als die metho-dische Ausgestaltung des Unterrichts. „Es dürfen nur solche Lieder gesungen werden, die nur Vorstellungen enthalten, welche in der Seele des Kindes scho[ö]n sind und Ge-fühle ausdrücken, die die Kinder auf ihrer Entwicklungsstufe nachfühlen können.“26

    In der „kriegserzieherischen“ Musikerziehung wurden auch geistliche Lieder im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen interpretiert. Im Jahr 1890 erklärte Julius Langbehn: „Deutschland sollte zu Ende des Jahrhunderts den Grundsatz annehmen, die erfochtenen Siege durch Stärkung der künstlerischen Kraft des Volkes zu recht-fertigen.“27 Langbehn sah in den Deutschen „ein freisam rachgierig, in den Kriegen gleich ein unüberwindlich und sieghaft Volk“:28 der Deutsche „streitet und singt“.29 In Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ sah Langbehn einen Beleg für diese „Doppel-richtung deutschen Geistes“.30

    „Es ist das deutscheste aller Lieder, weil Krieg und Kunst sich in ihm aufs innigste durchdringen. In jedem deutschen Hause, das an Luther theilhat, ist diese Doppel-richtung seines wie des deutschen Geistes noch heute ganz wirklich und handgreiflich

    20 Ebd., S. 171f.21 E. Nolte: Die Musik im Verständnis der Musikpädagogik des 19. Jahrhunderts, 1982,

    S. 195. 22 A. O. Stiehler: Das Lied als Gefühlsausdruck zunächst im Volksgesang, Altenburg, 1890,

    S. 32.23 Ebd., S. 33.24 Ebd., S. 58.25 Ebd.26 Ebd., S. 11.27 J. Langbehn: Rembrandt als Erzieher, 1890, 9. Aufl., S. 196. 28 Ebd., S. 194. 29 Ebd., S. 200. 30 Ebd., S. 199.

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    1 Musikerziehung im 19. Jahrhundert und zur Zeit der Jahrhundertwende20

    anzutreffen: der Kampf mit der Welt und die Erhebung zu Gott, Bibel und Gesang-buch.“31

    Da über 90% der Kinder im Kaiserreich am Ende des 19. Jahrhunderts die Volksschule besuchten, konnte der Gesangunterricht dort zu dem Zweck eingesetzt werden, solche Gesinnung zu festigen. In den höheren Schulen, die weitaus weniger Schüler besuch-ten, nahm der Gesangsunterricht eine geringfügigere Rolle ein. So existierte der Ge-sangunterricht dort in den Lehrplänen von 1901 bereits nicht mehr als eigenständiges Fach.32 Nur den untersten Klassen kam er überhaupt noch zuteil und blieb in den höheren Schulen bezüglich seiner Position im Lehrplan sowie seinen Inhalten nach sehr beschränkt.33

    Gert Holtmeyer kommt 1975 zu dem Ergebnis, dass die Gesanglehre in den Gym-nasien ihr Selbstverständnis um die Jahrhundertwende nicht von der Kirche, nicht von der Reformpädagogik und auch nicht vom öffentlichen Musikleben her bezog, sondern von dem Gedanken der Nationalerziehung.34 Die Gesanglehrer an der Schu-le im wilhelminischen Deutschland erkannten die Möglichkeit, „mittels einer vater-ländischen Akzentuierung den Gesangunterricht zu funktionalisieren und ihn als ein Werkzeug der Nationalerziehung aufzufassen“.35 Allein die patriotische Erziehung galt als gesellschaftlich relevant. Holtmeyer konstatiert, dass die „Entfaltung der schöpferi-schen Kräfte des Kindes“ bzw. die „Erziehung vom Kinde aus“ als Unterrichtsprinzip in der Schule erst in den 1920er-Jahren zur vollen Auswirkung kommen sollte.36

    Über die richtigen Unterrichtsmethoden existierten unter den Pädagogen jahr-zehntelang heftige Diskussionen. Für das Notenlesen gab es verschiedene Systeme, die in den Schulen regional unterschiedlich praktiziert wurden. In England, wo am Beginn des 19. Jahrhunderts die Singschulbewegung breite Massen mobilisierte, ent-wickelte die Armenschullehrerin Sarah Ann Glover (1786–1876) aus alten Solmisa-tionsmethoden die „Tonic Sol-Fa“-Methode. Diese Methode gewann große Popu-larität. John Curwen ergänzte sie 1870, indem er ihr Handzeichen hinzufügte. Die private Musikerzieherin Agnes Hundoegger (1858–1927) aus Hannover leitete 1897 aus der „Tonic Sol-Fa“-Methode von Curwen das neue deutsche System „Leitfaden der Tonika-Do-Lehre“ ab. Das Tonika-Do-System benutzt die dem englischen „Tonic Sol-Fa“-System entlehnten Tonsilben „do-re-mi“, die wiederum von Guido d’Arezzo übernommen waren. Im Jahr 1900 erschien zudem das neue von dem Volksschul-lehrer Carl Eitz (1848–1924) entwickelte „Ton-Wort-System“: Eitz ordnete chromati-schen Halbtonschritten jeweils einen Konsonanten zu und diatonischen Tonschritten jeweils einen Vokal. Auf diese Weise konnte man durch verschiedene Kombinations-möglichkeiten der Laute die Intervalle unterscheiden. Über Jahrzehnte gab es Streit

    31 Ebd., S. 199f. 32 Vgl. W. Gruhn: a.a.O., S. 204. 33 Ebd.34 G. Holtmeyer: Schulmusik und Musiklehrer an der höheren Schule, Diss. 1975, S. 53f.35 Ebd., S. 54.36 Ebd.

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    1.2 Privatmusikerziehung 21

    zwischen den Vertretern der Eitzschen und denjenigen der Tonika-Do-Methode. In Bayern wurde das Eitzsche Tonwort-System für den Schulunterricht angeordnet. In Preußen wurde es hingegen verboten.37 Es folgte noch das so genannte „Jale-System“ von Richard Münnich (1877–1970) aus dem Jahr 1930, welches auf dem Eitzschen Tonwort-System aufbaute. Die erbitterten Diskussionen um die richtige Methode wur-den bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weitergeführt.

    Mitunter berücksichtigte die Methodik des Gesangunterrichtes auch unerwartete Aspekte. Um die Jahrhundertwende waren die verbreitetsten Todesursachen Tuberku-lose, Lungenentzündung und Darmkrankheiten – nicht zuletzt infolge der mangeln-den Hygiene. Die (Lungen-)Tuberkulose galt als eine Volksseuche; sie machte in den Jahren 1877–1913 ca. 11–14% der Todesfälle aus; bei den männlichen Erwachsenen in Preußen waren es noch 1913 18.3%. In der Industrie, bei den Arbeitern und den Ar-men lag der Anteil der Erkrankung lange Zeit wesentlich höher als im Durchschnitt.38 Der einflussreiche Gesangspädagoge Professor Georg Rolle (1855–1934) zögerte nicht, Methoden und Ziele des Gesangunterrichts folgendermaßen zu rechtfertigen:

    „Es ist bekannt, daß die meisten Lungenkrankheiten mit der Erkrankung der in der Peripherie der Lunge liegenden Teile beginnt, in den Lungenspitzen und Lungenrän-dern, die bei dem gewöhnlichen flachen Atmen selten in Tätigkeit treten. Infolge die-ses Umstandes verkümmern diese Teile, die feinen Luftröhrchen und Luftbläschen vertrocknen, das Gewebe ist nicht mehr lebenskräftig genug und deshalb Erkältun-gen und Ansteckungen gegenüber nicht widerstandfähig: Die Lungen erkranken, und das ist allzu häufig der Anfang der Lungentuberkulose, des furchtbarsten Feindes der Volksgesundheit. Die neuerdings in den höheren Schulen Preußens eingeführten, täglich vorzunehmenden Freiübungen sollen ganz besonders die Lungen der Schüler zum Tiefatmen, d.h. zum Atmen in ihrer ganzen Ausdehnung veranlassen; in ungleich höherem Maße aber geschieht dies beim richtigen Singen, wobei die Brust ordentlich vollgesaugt werden muß, wenn anders ein richtiger Ton entstehen soll. Somit ist eine neue wertvolle Begleiterscheinung des Gesangunterrichts die Stärkung der Volksge-sundheit. Bei Eröffnung des Schulkonzerts am 4. Dezember 1890, die im Beisein Sr. Majestät des Kaisers erfolgte, hat dieser gesagt: ‚Ich suche Soldaten; wir wollen eine kräftige Generation haben‘. Nun, eine kräftige Generation gibt’s nicht ohne kräftige Lungen, und dazu kann am besten mithelfen der richtige Schulgesangunterricht.“39

    1.2 Privatmusikerziehung

    1.2.1 Bürgerliches Musikleben

    In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte die industrielle Revolution in Deutschland flächendeckend ein. Aus der ständischen Gesellschaft hatte sich seit

    37 Vgl. W. Heise: a.a.O., 1986, S. 40. 38 T. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, 1998, S. 163. 39 G. Rolle: Didaktik und Methodik des Schulgesangunterrichts, 1913, S. 18f.

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    1 Musikerziehung im 19. Jahrhundert und zur Zeit der Jahrhundertwende22

    Beginn des Jahrhunderts vor allem in den Städten eine bürgerliche Gesellschaft ent-wickelt, die sich über Leistung und Bildung definierte. Zu den „gebildeten Ständen“ bzw. den „gebildeten Kreisen“ gehörten Beamte, Lehrer, Professoren, auch Geistliche im Kirchendienst, die Berufsgruppe der Naturwissenschaftler, Ärzte, Ingenieure und Architekten. Auch Wirtschaftsbürger wurden dazu gezählt; sowie adlige und nicht adlige Grundbesitzer.40 Das kulturelle Leben dieser Epoche zeichnete sich durch die hohe Wertschätzung der Musik und Literatur im Bürgertum aus, wie sie sich in den musikalischen Salons und Konzertsälen manifestierte. Zahlreiche bürgerliche Musik-vereine, Sing-Akademien und Konzertgesellschaften gründeten sich. Kinder in bür-gerlichen Familien mussten sich ästhetische Grundregeln aneignen, um „Geschmack“ für „höhere Kultur“ zu entwickeln. Regelmäßige Besuche von Theateraufführungen, Kunstausstellungen oder Konzerten gehörten zu den obligatorischen Pflichten in die-ser Bildungsschicht.41

    „So formte sich im 19. Jahrhundert ein Kanon des Bildungswissens heraus, der allen geläufig war, [...] Eine aktive Beschäftigung mit den schönen Künsten – Malen und Zeichnen, Gesang und die Beherrschung eines Musikinstruments – wurde hoch ge-schätzt, zumindest solange der- oder diejenige nicht danach strebte, aus diesen Fer-tigkeiten einen Beruf zu machen. Gerade die klassische Musik galt dem deutschen Bürgertum als höchste oder, wenn man so will ‚tiefste‘ der Künste. Bürger pflegten in den eigenen vier Wänden die Hausmusik und bei geselligen Anlässen gaben Mitglie-der der Gastgeberfamilie ihre Gesangs-, Klavier-, oder Geigenkünste zum Besten. Der Klavierunterricht wurde für Bürgertochter zur Pflicht, auch wenn nicht alle von ihnen musikalisch waren.“42

    Unabhängig von den bildungspolitischen Weichenstellungen in der musikalischen Erziehung zeugte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von bedeutenden Kunstereig-nissen. Es war eine Epoche der sinfonischen Dichtungen, Mahlers Symphonie der Tausend, des Musikdramas Richard Wagners. Virtuosen wie Franz Liszt oder Pagani-ni verehrte man wie Halbgötter. Das neue bürgerliche Musikleben brachte auch eine Wiederbelebung in Vergessenheit geratener Meisterwerke mit sich: Musik des Barock oder der Renaissance wurden neben zeitgenössischen Kompositionen aufgeführt. Das Bürgertum kam beim Besuch von Orchesterkonzerten und Oper zusammen. K. H. Ehrenforth kommentiert:

    „Die geistliche Erbauung veränderte sich zu einer ästhetischen. Große Orgelprospekte in neuen Konzertsälen, Knabenchöre in Matrosenanzügen, tempelartige Museen und eine der kunstreligiösen Idee entsprechende Bild- und Musikproduktion förderten die Sehnsucht vieler Menschen, in der Kunst das neue Evangelium zu erfahren.“43

    40 M. Schäfer: Geschichte des Bürgertums, 2009, S. 92. 41 Ebd., S. 121. 42 Ebd., S. 121f.43 K. H. Ehrenforth: Geschichte der musikalischen Bildung, 2010, S. 378.

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    1.2 Privatmusikerziehung 23

    Die musikalische Unterhaltung, das eigene Musizieren verbreitete sich in den bürger-lichen Schichten, selbst wenn es sich dabei teilweise auch nur um seichte Salonstücke oder triviale Lieder handelte. Es war die Zeit der aufkommenden Salonmusik, die auch zu bürgerlichen Abendgesellschaften Zugang fand. Dies erforderte notwendigerweise eine instrumentale und vokale Ausbildung, welche die allgemeinbildende Schule nicht leisten konnte. Der private musikalische Unterricht der „höheren Töchter“, vornehm-lich im Klavierspiel oder Gesang, prägte das Bild der Musikerziehung dieser Zeit. Der Bedarf an gut ausgebildeten Musiklehrern stieg enorm. Die heute „kaum noch vorstellbare Popularität und Verbreitung des Musikmachens auch in den unteren Ge-sellschaftsschichten“4445 führte dazu, dass es Ende des Jahrhunderts in Deutschland ca. 230 so genannte Konservatorien und Musikschulen gab.46 Der Musikhistoriker Oscar Bie (1864–1928) schreibt in seinem 1898 erschienenen Buch über den Lebensfaktor Klavier:

    „Das Klavier ist ein Lebensfaktor geworden. Diejenigen, welche nicht Klavier spielen, stehen heute ausserhalb einer grossen Gemeinschaft, die dies Hausmittel der Musik

    44 Theodor-Storm-Haus in Husum, 2015. [Foto: Mia Holz].45 Keldany-Mohr 1977, S. 50ff; Blum 1975, S. 259, zit. in: M. Roske: Umrisse einer Sozial-

    geschichte der Instrumentalpädagogik, in: Ch. Richter (Hrsg.): Handbuch der Musikpäd-agogik, Bd. 2, 1993, S. 172.

    46 Vgl. W. Gruhn: a.a.O., 2003. S. 143.

    Tafelklavier in einer bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts44

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    1 Musikerziehung im 19. Jahrhundert und zur Zeit der Jahrhundertwende24

    kultiviert. In klavierlosen Wohnungen scheint eine fremde Atmosphäre zu sein. Heute brauchen wir das Klavier nicht mehr, wie in den vergangenen Jahrhunderten, aus der Kirche oder dem Theater, aus dem Ballett oder Volkslied, aus dem Kunstgesang oder dem Violinspiel zu erklären; heute ist es im Gegenteil ein wirksames Zentrum ge-worden, das unserer ganzen musikalischen Bildung die Form – noch mehr, das sogar unserer Musik-Anschauung die Prägung gegeben hat, bei allen Laien und bei vielen Musikern.“47

    1.2.2 Neue Berufsbilder der Musiklehrer

    Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand ein neues Berufsbild des Musiklehrers. Das neue musikalische Ideal verlangte eine bessere instrumentale Ausbildung der Musiker, die auch den neuen, zeitgenössischen geistigen Anforderungen der Musik entsprach. Ehrenforth schreibt, dass es unumgänglich gewesen wäre, „der instrumentaltechni-schen Spezialisierung zugleich eine breitere Einsicht in historische und theoretisch-äs-thetische Aspekte der Musik zur Seite zu stellen, zumal die Schule auf diesem Gebiet nichts oder wenig bieten konnte“.48

    Der Instrumentalunterricht im 19. Jahrhunderts konzentrierte sich weitgehend auf die Erteilung von Klavierunterricht.49 Der Schweizer Musikpädagoge und Komponist Hans Georg Nägeli (1773–1836) äußerte die verbreitete Auffassung:

    „Wir wollen, daß das Kind Musik lerne. Wir müssen ihm auch die musikalische Bildung in ihrer natürlichen Vollständigkeit zu Theil werden lassen. Demnach soll dasselbe ebensowohl spielen, als singen lernen. Nun ist die erste Frage, was für ein Instrument soll es lernen? Darf man ihm etwa, wie man ihm später sogar häufig die Berufswahl überläßt, die Wahl des Instrumentes freystellen? – Diese Frage beantworte ich scheinbar einseitig: Es müssen Alle Klavier lernen.“50

    Adolf Bernhard Marx (1795–1866), Musikwissenschaftler und Pädagoge, konstatierte: „Der Beruf eines Musiklehrers ist bei dem mächtigen Einflusse der Tonkunst auf unser sinnliches, geistiges, sittliches Leben ein ungemein wichtiger.“51 In seinem 1855 ver-öffentlichten Buch „Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege“ notiert Marx:

    „Der Lehrer kann nicht beginnen und wirken als aus Besinnung und hellem Bewusst-sein; sein Werk knüpft vom Vorbedenken bis zur Vollendung an die Menschen sich um ihn her, denn es kann nur an ihnen, in Gemeinschaft, werden und sein. Hier ist

    47 O. Bie: Das Klavier und seine Meister, 1898, S. 271. 48 K. H. Ehrenforth: a.a.O., S. 379f. 49 M. Roske: a.a.O., 1993, S. 178. 50 H. G. Nägeli: Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten, 1826,

    Stuttgart-Tübingen 1826 (Nachdruck, Darmstadt 1983), S. 245.51 A. B. Marx: Allgemeine Musiklehre. Ein Hülfsbuch für Lehrer und Lernende. Sechster

    Abschnitt. Lehrer und Lehrmethode, 1839, S. 344.

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    1.2 Privatmusikerziehung 25

    Verständigung und Einigung ergründbar wie unentbehrlich, von hier werden sie sich über das ganze Kunstgebiet ausbreiten, und müssen’s.“52

    Marx weist darauf hin, dass die Bedeutung des Instrumentallehrers nicht in erster Li-nie von der Erwerbsorientierung, sondern von der Auffassung des Tätigkeitsfeldes als einer ‚Berufung‘ abhinge:

    „Sind wir auch der Mehrzahl nach auf Erwerb angewiesen, so soll der Erwerb nicht Lohn sondern ‚Ehrensold‘ sein. Dazu macht ihn nicht der herkömmliche Name Ho-norar, sondern der Beweis von unsrer Seite und die Ueberzeugung derer für die wir wirken, dass wir einem höhern Zweck als dem Erwerb uns widmen: dem ehrenhaften Dienst der Kunst und Kunstbildung, nicht dem Dienst der Personen mit ihren Ge-lüsten und Einfällen. Wir müssen das Bewusstsein – aber das aufrichtige, nicht den blossen Schein der nicht lang täuscht – in uns und um uns festhalten, dass wir Edlers und Höhers geben als uns ‚bezahlt‘ werden kann.“53

    Der Musikschriftsteller Gustav Schilling (1805–1881), Verfasser einer modernen Di-daktik des Musikunterrichts, betonte die Notwendigkeit einer wissenschaftlich fun-dierten „Theorie des musikalischen Unterrichts“. Schilling fordert: Jeder Musiklehren-de müsse „aus dem Vorrathe des eigenen Wissens und Könnens“ unterrichten und dies dem Schüler auf „angemessenste Art“ vermitteln können.

    „[…] eine gute Lehrmethode aber hängt nicht von dem Reichthume des bloßen Selbst-wissens und Selbstkönnens ab, sondern ihre Hauptbedingung ist die Fertigkeit, aus dem Vorrathe des eigenen Wissens und Könnens auch das jedesmal Zweckmäßigste und dieses wieder auf die dem Lehrling angemessenste Art vermitteln zu können, […] die daneben auf Hauptmomente aufmerksam macht, vor Fehlern warnt, Versuche, die zudem meist nur auf Unkosten des Schülers gemacht werden, erspart, und besonders dem ungeübten die ersten Versuche erleichtert. Alle Unterrichtskunst beruht dem-nach ebenfalls lediglich auf Unterrichtswissenschaft.“54

    Die sich im 19. Jahrhundert ausprägenden Merkmale des Berufsfeldes „Privater Mu-siklehrer“ charakterisiert Abel-Struth folgendermaßen: „die Form des Unterrichts als Einzellektion, das Elternhaus des Schülers als Unterrichtsort, als Honorar eine von Ort und Konkurrenzen, offensichtlich aber auch von dem Grad der Anerkennung des Lehrers als Künstler abhängige, fast nur auf Absprache beruhende Summe“.55

    Die Wertorientierung des Instrumentalunterrichts, der Versuch gegenüber den Ansprüchen der Eltern Fachkompetenz durchzusetzen und damit pädagogische Auto-nomie zu gewinnen, stellten einen weiteren Aspekt der Professionalisierung des In-

    52 A. B. Marx: Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege, 1855, S. 19. 53 Ebd., S. 478. 54 G. Schilling: Musikalische Didaktik oder die Kunst des Unterrichts in der Musik. Ein

    nothwendiges Hand- und Hülfsbuch für alle Lehrer und Lernende der Musik, Erzieher, Schulvorsteher, Organisten, Volksschullehrer, 1851, S. 28.

    55 S. Abel-Struth: Grundriß der Musikpädagogik, 1985, S. 421.

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    1 Musikerziehung im 19. Jahrhundert und zur Zeit der Jahrhundertwende26

    strumentallehrers dar. Nach Ansicht des Klavierpädagogen Aloys Hennes waren Pri-vatmusiklehrer nicht selten Eingriffen von Elternseite ausgesetzt, vor denen es sich zu schützen galt:

    „Wer nichts weiter zu spielen verlangt, als ein paar Modestücke, wie sie im Laufe der Zeit entstehen und vergehen, braucht allerdings keinen musikalisch gebildeten Lehrer hierzu, denn es gibt (wenigstens in grossen Städten) Leute genug, die sich anheischig machen, in wenigen Wochen derartige Melodien mit einem gewöhnlichen Brumm-basse spielen zu lehren. In demselben Range wie eine Drehorgel steht aber auch eine derartige Klavierdressur. Vom Standpunkte der Kunst wird man jene nicht als ein mu-sikalisches Instrument ansehen und diese nicht für Klavierunterricht halten. So lange es Leute gibt, die an den sechs Stücken einer Drehorgel Gefallen finden, wird es auch Leute geben, die durch sechs auf dem Wege der Dressur erlernte Klavierstücke ihre musikalischen Bedürfnisse befriedigen“56

    Der Beruf Klavierlehrer erschloss zudem Frauen neue berufliche Möglichkeiten. Es gab eine große Zahl an jungen Frauen, die privat Musikunterricht erhielten. Zahlreiche Frauen, die zur damaligen Zeit von einer Vielzahl an Berufen ausgeschlossen blieben, wählten den Beruf Klavierlehrerin. Ein Beispiel: In dem Adressbuch der Stadt Altona für das Jahr 1821 (Staatsarchiv Hamburg) wird die Gesamtzahl der Musiklehrer mit 18 angegeben, der Frauenanteil beträgt 16,7 Prozent. Im Jahr 1849 unterrichteten bereits 39 Musiklehrer in Altona; der Frauenanteil stieg auf 35,9 Prozent an.57 Michael Roske meint, dass „mit einigem Recht“ der Beruf der Privatmusiklehrerin „lange vor dem der Schullehrerin als der Frauenberuf des 19. Jahrhunderts schlechthin anzusehen“58 sei.

    1.2.3 Sozioökonomische und rechtliche Lage der Musiklehrer um die Jahrhundertwende

    Das außerschulische Musiklehrwesen unterlag der 1810 in Preußen eingeführten „Gewerbefreiheit“. Gesetzliche Regelungen zur Instrumentallehrerausbildung bzw. entsprechende Prüfungsordnungen sollten bis Ende des Jahrhunderts nicht existie-ren. Jeder konnte sich Klavier- oder Gesanglehrer nennen, ohne irgendeinen päda-gogisch-künstlerischen Prüfungsnachweis vorweisen zu müssen. Jeder konnte auch sein Institut „Konservatorium“ oder „Akademie“ nennen, da die Bezeichnung „Kon-servatorium“ weder staatlich definiert noch geschützt war.59 1908 wurden in Berlin ca.

    56 A. Hennes: Verkehrtheiten beim Klavierunterricht, in: Der Klavier-Lehrer 3, 1880, S. 283.57 M. Roske: a.a.O., 1993, S. 173. 58 Ebd. 59 Vgl. M. Pfeffer: Über soziale Verhältnisse im Musiklehrerstand und den Einfluss musik-

    pädagogischer Verbände auf Statusveränderungen und gesetzgeberische Maßnahmen zwi-schen 1880 und 1915, in: H. J. Kaiser (Hrsg.): Sozialgeschichtliche Aspekte einer wissen-schaftlichen Disziplin. Musikpädagogik, Forschung und Lehre (Beiheft 5), 1993, S. 41.

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    1.2 Privatmusikerziehung 27

    400 kleine „Konservatorien“ gezählt,60 an denen nicht selten nur ein oder zwei Lehrer beschäftigt waren.61 Der Name „Konservatorium“ oder „Akademie“ garantierte nicht die zu erwartende Qualität.62 In dem Zeitraum 1880–1915 existierten Institute jeder Provenienz – Konservatorien, Musikschulen, Musikseminare, Hochschulen, Akade-mien, Pädagogien, Höhere Musikschulen u. ä. m.63 Schüler bzw. Eltern, die sich für den Besuch eines dieser Institute interessierten, hatten die Qual der Wahl. Dauer und Qualität der Ausbildung an den jeweiligen Anstalten entsprachen keinen allgemein verbindlichen Standards; es fanden Preiskämpfe unter Konkurrenten um das Unter-richtsangebot statt.64 Auf „Missstände“ bzw. „Auswüchse im Musikunterrichtswesen“ wurde in Fachblättern immer wieder verwiesen, so z.B. auf unseriöse Reklame und unhaltbare Versprechungen.65 Pfeffer weist darauf hin, dass im außerschulischen Be-reich neben hauptberuflichen Instrumental- bzw. Gesangslehrern sowie ausübenden Musikern auch Laien und Schulgesanglehrer unterrichteten, bis hin zu Versorgungs-bedürftigen, die erst spät ihre „Berufung“ zu einer instrumentalpädagogischen Tätig-keit entdeckten.66

    Die pädagogische und gesellschaftliche Autonomie des Privatmusiklehrers blieb grundsätzlich sehr schwer zu erlangen. Lina Ramann (1833–1912) beklagte sich, dass Privatmusiklehrer den Rang „höherer Bediensteter“ innehätten.67 Nach H. F. Schaub (1880–1965)68 rangierte der Musiklehrer „häufig mit dem Kellner, Friseurgehilfen und der Waschfrau in einer Reihe“.69 Tatsächlich waren Privatmusiklehrer als „unständig Beschäftigte“ in den Ortskrankenkassen vergleichbar eingestuft.70 Der Lehrer musste zum Schüler nach Hause kommen,71 wobei der Weg von Schüler zu Schüler in vielerlei

    60 Ebd.61 L. Kestenberg: Musikerziehung und Musikpflege 1921, in: W. Gruhn (Hrsg.): Leo Kes-

    tenberg. Gesammelte Schriften Bd.1, 2009, S. 60–61.62 Ebd.63 M. Pfeffer: a.a.O. 1993, S. 41.64 Ebd.65 Ebd., S. 42. 66 Ebd., S. 40f. 67 L. Ramann: Erzieh- und Unterrichtslehre der Jugend, 1873, Abschnitt c, S. 131.68 Redakteur der „Deutsche Musikzeitung“.69 „H. F. Schaub: Die soziale Lage der deutschen Musiklehrenden, in: DMpK V = Fünfter

    Deutscher Musikpädagogischer Kongress. 9.–12. April 1911 in Berlin. Vorträge und Re-ferate. Hrsg. von dem Vorstande des Deutschen Musikpädagogischen Verbandes, Berlin, 1911, S. 18“, zitiert in: M. Pfeffer: a.a.O., 1993, S. 41.

    70 „MpBl = Musikpädagogische Blätter: Vereinigte Zeitschriften „Der Klavierlehrer. Ge-sangpädagogische Blätter“, Zentralblatt für das gesamte musikalische Unterrichtswesen. Organ der Musiklehrer- und Tonkünstler-Vereine zu Dresden, Essen, Hamburg, Leip-zig, Stuttgart und des Musikpädagogischen Verbandes (E.V.). Begründet 1878 von Emil Breslauer, Berlin, hrsg. von Anna Morsch, Jg. 34 (1911) bis Jg. 54 (1931), 1914, S. 50“, zitiert in: M. Pfeffer: a.a.O., 1993, S. 41.

    71 L. Ramann: Erzieh- und Unterrichtslehre der Jugend, 1873, Abschnitt c, S. 131.

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    1 Musikerziehung im 19. Jahrhundert und zur Zeit der Jahrhundertwende28

    Hinsicht, körperlich und zeitlich, erhebliche Umstände verursachte. Ramann sah in dem Hausunterricht ein „Kardinalübel der musikalischen Unterrichtszustände“:72

    „Die Unterrichtsstunden im Hause des Schülers zu geben und den Musiklehrer durch diese Form zu den höheren Bediensteten herunter zu stimmen – so kann es schliess-lich nicht wundern, wenn der Stand der Musiklehrer sich mehr wie ein notwendiges Uebel ausnimmt, als wie ein Ehrenplatz und Ehrenposten der Kunst.“73

    Als Lösung schlug Lina Ramann vor, Musikschulen zu errichten:

    „Die Form, sie zu überwinden, ist die Errichtung von Musikschulen. Die vorhin ge-nannte Selbsthülfe der Musiklehrerschaft sehe ich nach dem Gesagten ferner darin, dass Musiklehrer, welche sich in ihrer speciellen Künstler- und Lehrbegabung ergänzen, sich verbinden und Musikschulen errichten. Nur durch Musikschulen ist es möglich, einen musikalischen Lehrgang, welcher stetig entwickelnd und den Kunst- und Er-ziehungsanforderungen in gleichem Masse genügt, durchzuführen.“74

    Der Musikunterricht verlagerte sich gegen Ende des 19. Jahrhundert tendenziell zu-nehmend auf spezielle Musikinstitute. Die Gründe sind vielfältig. Die Institute hielten ein umfassenderes Unterrichtsangebot vor. Die musikalischen Fähigkeiten der Schü-ler konnten somit nach verschiedenen Richtungen entwickelt werden.75 Als weiteren Grund für den Erfolg der Musikinstitute nennt Pfeffer die pädagogische Aufwertung des Gemeinschaftsunterrichts gegenüber dem Einzelunterricht.76 Über den Gruppen-unterricht gelang es den Instituten auch preislich, unter den Gebühren des Einzelun-terrichts von privaten Lehrern zu bleiben. Pfeffer begründet, warum auch in Hinblick auf das gesellschaftliche Prestige, viele Musiklehrer den Status eines Institutsangestell-ten dem der freischaffenden Tätigkeit vorzogen.

    „Vielen Musiklehrern erscheint es zudem (sozial-)psychologisch vorteilhafter, wenn der Schüler zu ihnen in die Umgebung eines Instituts kommen muß. Sie scheuen die z. T. erniedrigenden Erfahrungen im direkten Umgang mit finanzkräftigeren Schichten. […] So verwundert nicht, daß der ‚unabhängige‘, seinen Unterricht über den Massen-betrieb der ‚Konservatorien‘ stellende Privatlehrer zunehmend verschwindet, um dem Angestellten in den verschiedenen ‚Institutsvarianten‘ Platz zu machen.“77

    1.2.4 Ausbildung der Instrumentallehrer

    Zu dieser Zeit stieg der Bedarf an gut ausgebildeten Instrumentallehrern enorm an, aber qualifizierte Lehrer fehlten. Ohne jegliche staatliche Kontrolle wuchs die Zahl der

    72 Ebd.73 Ebd.74 Ebd., S. 132.75 M. Pfeffer: a.a.O., 1993, S. 42. 76 Ebd. 77 Ebd.

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    1.2 Privatmusikerziehung 29

    privaten Instrumentallehrer und Musikinstitute rasant. Oscar Bie beklagte, nirgends in der Kunst werde so viel gesündigt wie bei der Wahl des Klavierlehrers, denn aus falscher Sparsamkeit sei die musikalische Bildung den Unfähigsten anvertraut, und Vermögen würden verschleudert, „um die Musik in einem Kinde zu ruinieren“.78 Eine spezielle Fachausbildung für außerschulische Instrumentallehrer an Konservatorien wurde von zahlreichen Musikern, Pädagogen oder Musikwissenschaftlern des 19. Jahrhundert angeregt. A. B. Marx forderte in seiner Denkschrift über die Organisation des Musikwesens im Preußischen Staat 1848, dass Privatmusiklehrer an einem Konser-vatorium ausgebildet werden müssten.79

    „Das Konservatorium hat unter seinen Pflichten die Lehrerbildung übernommen, de-ren auch die künftigen Schul- und Kirchenbeamten theilhaftig werden müssen […] Hierdurch wird auch dem Privatunterricht eine Reihe gediegner und geprüfter Lehrer dargeboten.“80

    Marx schlug vor, die vom Konservatorium – oder dessen Delegaten in den Provinzen – geprüften Lehrer als „Öffentlicher Lehrer für …“, bzw. „Öffentlicher Oberlehrer für …“ zu bezeichnen.81

    Die Realisierung einer professionellen Lehrerausbildung verlief jedoch zögerlich. 1879 eröffnete am Königlichen Dresdner Konservatorium ein Musiklehrerseminar. Dort wurden „Pädagogische Vorlesungen“ und „selbständige Lehrproben“ abgehal-ten.82 In Dresden wurde bereits in den 1880er-Jahren das Fachgebiet „Musikpädago-gik“ angeboten.83 An dem Stuttgarter Konservatorium, welches 1857 als Musikschule gegründet und 1865 in Konservatorium umbenannt worden war, konnte sich 1907 ein Ausbildungskurs für Klavierlehrer etablieren. Das Seminar konnte mit einem Diplom abgeschlossen werden.84

    Private Unternehmungen zur Lehrerausbildung sind in den 1870er-Jahren in Ber-lin entstanden. Die „Neue Akademie der Tonkunst“ wurde von dem Pianisten und Pädagogen Theodor Kullak (1818–1882) 1878 gegründet. In der Zeitschrift Der Kla-vier-Lehrer, Jahrgang 1878, findet sich die Ankündigung von Theodor Kullak für ein „Seminar zur speciellen Ausbildung von Klavier- und Gesang-Lehrern und Lehrerin-

    78 O. Bie: Das Klavier und seine Meister, 1898, S. 272.79 A.B. Marx: Denkschrift über die Organisation des Musikwesens im preussischen Staat, in:

    Neue Berliner Musikzeitung 2, 1848, Nr. 32 und Nr. 33, Abschnitt VIII „Privatunterricht und Privatinstitute“, S. 254.

    80 Ebd.81 Ebd.82 M. Roske: a.a.O., 1993, S. 182. 83 Ebd. 84 Vgl. D. Bäuerle-Uhlig: Warum Lehren lernen? Zwölf Stuttgarter Momentaufnahmen zur

    Professionalisierung in der Instrumentalpädagogik, in: Joachim Kremer/Dörte Schmidt (Hrsg.): Zwischen bürgerlicher Kultur und Akademie. Zur Professionalisierung der Mu-sikausbildung in Stuttgart seit 1857 (Forum Musikwissenschaft, Band 2), 2007, 282 ff.

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    1 Musikerziehung im 19. Jahrhundert und zur Zeit der Jahrhundertwende30

    nen“ an der Akademie.85 Der Chefredakteur von Der Klavier-Lehrer, Emil Breslauer (1836–1899), eröffnete 1879 das „Berliner Seminar zur Ausbildung von Klavier-Leh-rern und Lehrerinnen“, welches sich folgende Hauptaufgabe stellte:

    „Um in der Musik mit Erfolg zu unterrichten, bedarf es nicht nur eines tüchtigen Wis-sens und Könnens, nicht nur eines geläuterten Kunstgeschmacks und inniger Hin-gebung an den Beruf, – sondern es gehört vor allem dazu die Fähigkeit, den Lehr-gegenstand klar zu legen und ihn dem Verständnisse von Schülern verschiedener Individualität zu vermitteln. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, macht es sich das Seminar zu Aufgabe, Denjenigen, welche sich dem musikalischen Lehrfach widmen, Gelegenheit zu einer vielseitigen musikalischen, sowie zu einer tüchtigen methodischen und pädagogischen Bildung zu bieten und Lehrer heranzubilden, welche mit Erfolg, mit Lust und Liebe zu unterrichten, Freude an der Musik im Schüler zu wecken und zu fördern und den Musikunterricht zu einer herzbildenden Disciplin zu gestalten im Stande sein sollen.“86

    Interessant sind auch die Lehrangebote des Seminars: Solo- und Ensemble-Klavier-spiel, Theorie und Komposition, Methodik des Klavier- und Theorieunterrichts, Päd-agogik, Musikgeschichte, Englische Sprache (mit „besonderer Berücksichtigung aller auf den Musik-Unterricht bezüglichen Ausdrücke und Redewendungen“).87

    Lina Ramann entwickelte eine eigene Klaviermethodik und gründete 1858 eine Musikschule, die einen Schwerpunkt auf die berufliche Ausbildung von Klavierpäda-goginnen setzte:

    „Am 1. Mai wurde hier von Frl. Ramann, einer Schülerin der Frau Dr. Brendel in Leipzig, ein Musikinstitut für Damen eröffnet. Eine derartige Bildungsanstalt hat es bis dato in diesen Herzogthümern noch nicht gegeben und ist es daher erklärlich, daß das Unternehmen allseitig mit Beifall begrüßt wurde. Schülerinnen, welche an allen Unterrichtsgegenstanden (Klavierunterricht, Chorübungen, Harmonielehre und Geschichte der Musik) theilnehmen, zählt das junge Institut 9, Theilnehmerinnen an den Chorübungen 15. […] Wünschen wir dem Unternehmen, welches sich zur Auf-gabe gesetzt hat, einem besseren Verständnis der Musik in hiesigen Landen Bahn zu brechen und zugleich eine Bildungsanstalt für solche junge Damen zu werden, welche die Musik einst zu ihrem Lebensberuf machen wollen, allen Erfolg.“88

    Nach ihrer Übersiedlung nach Nürnberg gründete Ramann zusammen mit Ida Volck-mann ein weiteres Institut, das eine Vorbereitung auf den Lehrberuf vorsah.89 Ramann betont, dass nicht nur die Lehrerausbildung, sondern auch die praktische Tätigkeit Voraussetzung für die Ausübung des Berufes eines Instrumentallehrers sei. Der Lehrer

    85 In: Der Klavier-Lehrer, Jg. 1878, S. 80.86 In: Der Klavier-Lehrer, Jg. 1879, S. 240.87 Ebd.88 Neue Zeitschrift für Musik, 48, 1858/1, S. 281. 89 M. Roske: a.a.O., 1993, S. 181.