WDR 3 Kulturfeature · Aus dem Skizzenbuch eines Gestrandeten Begegnungen mit dem Kinozauberer...

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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. WDR 3 Kulturfeature Aus dem Skizzenbuch eines Gestrandeten Begegnungen mit dem Kinozauberer Peter Lilienthal Musik Guy Klucevsek: Altered Landscapes: Part one (CD: accordian tribe) Atmo Alt Solln, Vögelzwitschern vor den Fenstern, Sommerklänge Erzähler München Alt Solln. Weite Rasen, hohe Hecken, Erkerfenster und Turmzinnen, Altbauten, viel Grün, viel Geld. Schmiedeeisernes und Videolinsen über Klingelschildern, moosbewachsene Sandsteinstufen. Hierhin hat sich Peter Lilienthal zurückgezogen. Peter Lilienthal Für mich war der Klang, dieser Name Uruguay, das war für mich eine Briefmarke. Eine Briefmarke mit einem schönen Vogel drauf... Erzähler Das Foyer hat eine Raumhöhe von acht Metern mindestens. Bühnenreif der Aufgang zur Balustrade. Gute, alte Eiche, ein massiver Handlauf getragen von geschnitzten dunklen Säulen. Messingleisten halten den Sisalbezug, der schwarze Stufen schonen soll. Peter Lilienthal Als ich hörte, Uruguay liegt am Meer. Und nicht nur am Meer sondern hat einen breiten Fluss und das Meer, da war ich natürlich Feuer und Flamme und das war für mich also der Beginn einer wunderbaren, glücklichen Geschichte, der Auswanderung, die für andere problematisch und schwierig war, aber für mich war es nur schön.

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Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben

(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

WDR 3 Kulturfeature

Aus dem Skizzenbuch eines Gestrandeten

Begegnungen mit dem Kinozauberer Peter Lilienthal

Musik Guy Klucevsek: Altered Landscapes: Part one (CD: accordian

tribe)

Atmo Alt Solln, Vögelzwitschern vor den Fenstern, Sommerklänge

Erzähler München – Alt Solln.

Weite Rasen, hohe Hecken, Erkerfenster und Turmzinnen,

Altbauten, viel Grün, viel Geld. Schmiedeeisernes und

Videolinsen über Klingelschildern, moosbewachsene

Sandsteinstufen. Hierhin hat sich Peter Lilienthal zurückgezogen.

Peter Lilienthal Für mich war der Klang, dieser Name Uruguay, das war für mich

eine Briefmarke. Eine Briefmarke mit einem schönen Vogel

drauf...

Erzähler Das Foyer hat eine Raumhöhe von acht Metern – mindestens.

Bühnenreif der Aufgang zur Balustrade. Gute, alte Eiche, ein

massiver Handlauf getragen von geschnitzten dunklen Säulen.

Messingleisten halten den Sisalbezug, der schwarze Stufen

schonen soll.

Peter Lilienthal Als ich hörte, Uruguay liegt am Meer. Und nicht nur am Meer

sondern hat einen breiten Fluss und das Meer, da war ich

natürlich Feuer und Flamme und das war für mich also der

Beginn einer wunderbaren, glücklichen Geschichte, der

Auswanderung, die für andere problematisch und schwierig war,

aber für mich war es nur schön.

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Erzähler Peter Lilienthal, Jahrgang 1929, ist ein Gentleman, ein

Grandseigneur, schlank, mit flinken, jungen Augen.

Hochgewachsen, hager, Altersflecken auf den großen Händen,

mit sanfter Stimme, eloquent.

Musik aus dem Film „David“

Ansage Aus dem Skizzenbuch eines Gestrandeten:

Begegnungen mit dem Kinozauberer Peter Lilienthal

Ein Feature von Jochanan Shelliem

Film „David“

David David, David komm zurück.

Rabbiner Singer Und jetzt bitte, fangt an.

David liest vor

Rabbiner Singer Gut. Und jetzt übersetzten.

David Rette dich auf das Gebirge, dass du nicht umkommst.

Rabbiner Singer Gut.

Peter Lilienthal Freue ich mich so sehr, dass Sie gekommen sind. Es ist eine

Seltenheit dass man mit diesen Berufsjournalisten ein, ich sag

mal, intimes Gespräch führen kann. Ganz selten, weil ich meine,

das ist sicherlich u. a. auch eine jüdische Angewohnheit, dass

man viel von der Seele spricht. Und mit Deutschen von der Seele

zu sprechen ist etwas, was nicht funktioniert. Ein Vorurteil von mir

sicherlich, aber die Begriffe sind anders. Sie weichen schon

diesem Wort aus.

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Erzähler Wir haben viele Gespräche geführt. Für Peter Lilienthal bin ich ein

Periskop in die jüdische Gegenwart, er ist für mich ein Stethoskop

zu den Herzschlägen seiner Vergangenheit. Zwei Jahre nach

unserer ersten Begegnung beginnen wir an einem Hörspiel zu

arbeiten. Unsere Protagonisten wechseln, das Thema nicht.

Peter Lilienthal Ach, da ist ne Figur die insofern eigentlich nicht rein darf, weil sie

mit mir zu tun hat, nämlich meinen russischen Cellolehrer.

Musik Guy Klucevsek: Perusal (CD: Flying vegetables of the

apocalypse)

Alter Ego „Szenen aus dem Leben des Cellisten Gregor Piatigorskiy“

bearbeitet für den Hörfunk von Peter Lilienthal

Grischa Ich saß mit meinem Cello im Orchestergraben und sah den Film

noch vor der Premiere. Der einzige Cellist in der Stadt fürchtete

sich vor der Dunkelheit wenn er nüchtern war und deshalb bekam

ich seine Stelle. Ich kletterte aus dem Orchester Graben, der

Kinobesitzer setzte seine Brille auf:

Stolpikov ( Kinobesitzer ) (Eine Reihe russischer Schimpfwörter.)

Was sehe ich da? Ein Kind! – Sag wie alt Du bist:

Grischa Acht Jahre

Stolpikov Hast Du schon irgendwo gespielt?

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Grischa Zuhause. Quartett mit meinem Vater und meinem Bruder

Stolpikov Quartett. Zu Dritt.

Grischa Ich singe den Bratschenpart dazu. Wollen sie „Marussja hat sich

vergiftet“ oder „Schwarze Augen“ hören?

Grischa ( Singt )

Otschi tschornyje, Otschi schgutschije

otschi strastnyje i prekrasnyje…

Peter Lilienthal Jetzt kann ich schwer eine Figur erfinden, die nicht ich bin, die bei

ihm Unterricht hat oder hatte. Aber er gehört zu den Nebbichs.

Aber durch seine hysterische Art völlig unbrauchbar für eine

harmonische Arbeit in einem Orchester. Dass ich das überlebt

habe mit ihm und dazu noch irgendwie das Theatralische als

etwas Interessantes empfand. Er ist der einzige Mensch, der

einen Hund dazu gebracht hat, Selbstmord zu begehen.

Alter Ego Mein Cello Lehrer in Montevideo-Uruguay, wohin ich als jüdisches

Flüchtlingskind auswanderte, war Leon Donskoi, ein 60jähriger

Weißrusse, angeblich verwandt mit einem berühmten Banditen.

Peter Lilienthal Die Treppe und dann die Tür zu ihm, das Klingeln war ein Akt, der

fast dem Selbstmord gleichkam... diese Klingel stand unter Strom.

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Alter Ego Ihm hatte ich zu verdanken, dass jeder, der mir zuhörte, mir eine

erfolgreiche Cellistenkarriere leider nicht prophezeien wollte.

Peter Lilienthal Was dann passierte, dann wurde das Cello ausgepackt, da gab

es so einen Vorraum. Dann kam er mit seinem Cello. Dann sagte

ich, ich habe heute die erste Cellosuite von Bach vorbereitet. Ach,

hör auf, lass mich erst mal spielen. Dann fing er an zu spielen und

wollte mir vorzeigen, wie man spielt, das machte er immer, und

ich kam gar nicht mehr ran.

Alter Ego Ich wechselte darauf zum Film, wo ich mein eigener Lehrer

wurde.

Film „David“

Wissen Sie, wenn ich mich hier so umschaue, denke ich die

Wirklichkeit ist so wie ein Film. Geht es Ihnen auch so. Früher hat

mich meine Frau öfters gezwungen ins Kino mitzugehen.

Meistens habe ich gar nicht auf die Leinwand gesehen. Ich habe

sie reden lassen, schießen, singen, was auch immer ihnen Spaß

machte, ohne mich!

Erzähler Leon Donskoi, der Cellolehrer mit seinen Räuberpistolen, Grischa

Piatigorskiy, das russische Wunderkind, der orthodoxe

Tellerwäscher, von dem Lilienthal später erzählen wird, der

abgehalfterte Boxer in seinem Film „Das Autogramm“ und der

russische Koch aus der Hotel Pension seiner Mama in Uruguay –

vom Schicksal Ausgestoßene, verblüfft gestrandete Gestalten

eines Pandämoniums, die Peter Lilienthal nie verlassen haben

und deren Geschichte er in seinen Filmen ausgeleuchtet hat.

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Film „David“

David Ich lass mich jetzt in einem technischen Beruf ausbilden, Herr

Cohn.

Cohn Sagen Sie Kon zu mir, das Namensschild habe ich schon

geändert. Ich will nicht, dass jeder Fremde, der hier ins Haus

kommt, weiß, dass hinter der Tür ein Jude wohnt.

David Vater sagt, dass wir jetzt erst recht stolz sein müssen, dass wir

Juden sind.

Peter Lilienthal Ich muss nicht auftauchen. Ich bin denen verpflichtet, die nicht

dieses günstiges Schicksal hatten, das ich hatte, von denen ich

nicht weiß, was wollen sie von uns, die Frage bleibt

unbeantwortet.

Musik Guy Klucevsek: Perusal (CD: Flying vegetables of the

apocalypse)

Erzähler Grischa, das russische Wunderkind aus dem parallel zu diesem

Feature entstehendem Hörspiel, ist eine historische Figur.

Grischa ( Singt )

Otschi tschornyje, Otschi schgutschije

otschi strastnyje i prekrasnyje…

Stolpikov Sind wir hier in einem Kindergarten oder einem Bordell. Du

schadest dem Geschäft!

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Grischa ( AN DIE ZUHÖRER )

Da mich im Graben niemand sehen konnte bekam ich die Stelle

Zuhause rief ich: Ich darf die Musik für den Film aussuchen!!

Mutter, Du musst mitkommen. Ich kriege eine Uhr, Papier und

Bleistift, um den Zeitablauf festzuhalten... Wenn der Zug kommt,

spielen wir Tarararam-Tararam-Tarataram

Atmo Dampflock schnauft heran

Musik Comedian Harmonists: Mein kleiner grüner Kaktus

Peter Lilienthal Es gab ja zwei Familien, die von der Mutter meines Vaters, die

Lilienthals und die andere, das waren die Israels, das waren die

von meiner Mutter.

Die Israels waren reich und die Lilienthals waren arm. Beide in

Berlin.

Und das Bewusstsein, war nicht, dass ich eine jüdische

Großmutter hatte, sondern eine arme Großmutter und einen

reichen Großvater, der ziemlich präpotent war und seine

Bediensteten grob... also das war von Anfang an für mich, später

würde man sagen, ein Klassenbewusstsein.

Musik Guy Klucevsek: Perusal (CD: Flying vegetables of the

apocalypse)

Grischas Mutter: Als Grischa klein war, hörte er Dinge, die keinen Laut von sich

gaben, sagte, er höre den Himmel, er höre den Staub, der über

dem Boden weht. Er höre die Federn im Kissen wenn sie nachts

unter seinem Kopf flüsterten – aber was sie flüsterten, wollte er

nicht verraten.

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Peter Lilienthal Erwachsene waren mir suspekt, weil ich das Gefühl hatte von

einer großen Künstlichkeit. Das lag auch an meiner Mama, die

noch sehr jung war, als sie mich bekam. Die so eine Art hatte mit

ihren Freundinnen zu telefonieren, die mir irgendwie komisch

erschien. Mit elf oder zwölf wollte sie mich zum Kinderpsychiater

bringen, denn was immer sie tat oder erzählte, ich bekam einen

Lachkrampf.

Film „David“

Walter Traub (Singer) Beten hat man überhaupt nicht dürfen, das war strengstens

verboten. Während dieser stundenlangen Appelle, da haben sie

gesagt, man darf an nichts denken, nicht. Was hab ich gemacht.

Ich hab gebetet. Ich hab gebetet. - Nein, wir sind nicht verhungert.

Peter Lilienthal ...und in der Eisdiele hing zum ersten Mal ein Plakat HUNDE

UND JUDEN UNERWÜNSCHT. Dann sagte die Mama: Ab jetzt

machen Juden zuhause ihr Eis. Na ja, gut, das war meine

Vorstellung von Jüdischsein. Dass man zuhause sein Eis macht.

Film „Seraphine oder die wundersame Geschichte der Tante Flora“:

Dampflokomotivenpfiff – Lokomotive

Erzähler Ein Verwundeter im Zugabteil. Holzklasse. Zahnschmerzen und

Kopfverband, ein Bild wie von van Gogh. Daneben ein

verdruckstes Paar – der Mann niest, weint. Die Frau zischt auf

ihn ein. Die Bahn fährt aus dem Bild.

Film Seraphine oder die wundersame Geschichte der Tante Flora:

Also, was kostet das Zimmer, Frau Tiensmann?

Was haben Sie denn in der Kiste?

Ein riesengroßes Salzwasserungeheuer.

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Erzähler In diesem Fernsehfilm wird der deutschen Nachkriegsrepublik ein

Ungeheuer präsentiert. Das Monster in dem Leichenkarrenkasten

ist verfressen. Tante Flora ebenfalls. Sie hat in der Hotel Pension

Zur Nachtigall das Sagen.

Peter Lilienthal Ja, das war die Geschichte eines Seeungeheuers, das von einem

Zoowärter zuhause gehalten wird, in der Badewanne, aber dann

seine Frau wirklich zusammenbricht vor Ärger über dieses

Seeungeheuer in der Badewanne und den Mann überzeugt, dass

das Ungeheuer ins Meer gesetzt werden muss., Was sie dann

auch getan haben unter sehr verrückten Umständen.

Film „Seraphine oder die wundersame Geschichte der Tante Flora“:

Jazzgesang

Erzähler Am 16. März 1965 ist das Fernsehspiel Seraphine oder die

wundersame Geschichte der Tante Flora im Deutschen

Fernsehen unter der Regie von Peter Lilienthal zu sehen.

Film „Seraphine oder die wundersame Geschichte der Tante Flora“:

Dieses Geschöpf schickt uns der Himmel...

Aber es gehört uns doch gar nicht.

Noch nicht.

Michael Ballhaus Also beim Südwestfunk wurde gerade das Fernsehen erfunden.

Erzähler Michael Ballhaus

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Michael Ballhaus Ja, und ich habe mich dann beworben, und ich glaube mein Vater

kannte irgendjemand da am Südwestfunk. Und das hat ein

bisschen geholfen, und ich durfte also diese großen, dicken

Apparate schwenken und diese riesigen elektronischen Kameras.

Peter Lilienthal Er war Kameramann und ich war engagiert als Assistent erst mal.

Und das erste, als ich dann mal zuschaute im Studio, was mir

auffiel, waren diese monumentalen Kameras. Im Grunde

genommen sind Studiokameras immer noch sehr groß und sehr

schwer. Und lauter sympathische Typen, drei oder vier. Die

hingen dann an dieser Kamera wie kleine Äffchen. Aber im

Grunde genommen, war die Kamera diejenige, die sich

durchsetzte nicht der Kameramann.

Michael Ballhaus Und das war natürlich für mich ein Einstieg in diesen Beruf, der

natürlich sehr ungewöhnlich ist, weil normalerweise ist ein

Kameramann erst mal Assistent für zehn Jahre und lernt Schärfe

zu ziehen. Und ich habe nicht Schärfe ziehen gelernt sondern ich

habe mit dem Regisseur Projekte entwickelt, und das war

natürlich für mich ganz toll.

Musik Moondog: Symphonique #1 (CD: Moondog / Moondog 2)

Peter Lilienthal Baden Baden war vom ersten Moment an eine sehr gute

Erfahrung. Wir waren sozusagen die Avantgarde. Also, auch mit

Ballhaus zusammen, wir stellten alles auf den Kopf. Wir haben

gesagt, diese elektronischen Kameras wir stellen die auch ins

Freie. Das war total tabu, das Ganze, was wir da machten, aber

die Mehrzahl der technischen Angestellten kamen von den

Propagandakompanien, also der Nazis, die haben da mitgemacht

als Fotografen, als Kameraleute, als Tontechniker und so weiter

und die wollten vermeiden, dass wir sie nun als alte Nazis

beschimpfen, deswegen konnte wir alles durchsetzen. Die

Bedrohung lag sozusagen in der Luft.

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Michael Ballhaus Dann haben wir sehr viele Filme zusammen gesehen. Die ganze

Nouvelle Vague haben wir angeguckt und das oft mehrfach. Das

war eigentlich meine Filmschule und dann eben Peter als mein

Freund, mit dem ich dann anfing auch zu drehen.

Film „Das Martyrium des Peter O’Hey“ von Slawomir Mrozek

Schön haben Sie es hier. Ist Ihnen in Ihrem Badezimmer nichts

aufgefallen? Ein dumpfes Knurren. Haarbüschel in der Wanne?

– Nein, nur einmal schien mir…

Ja?

– Als ob das Wasser nicht so recht laufen wolle, als ob die

Leitung verstopft sei.

Was war weiter?

– Nun. Nichts.

Ich bin beauftragt Ihnen zu eröffnen, dass sich in Ihrem

Badezimmer ein schrecklicher, menschenfressender Tiger

eingenistet hat.

Michael Ballhaus Der Tiger… das war etwas Wunderbares. Also, alle haben

gesagt, da ist ein Tiger und wir sind auch immer vorsichtig

natürlich in das Zimmer reingegangen und natürlich gab es

keinen Tiger in der Badewanne. Aber er war sozusagen immer

präsent. Bis heute nenne ich ja den Peter Tiger. Wenn ich ihn

anrufe, sage ich „Hallo Tiger“, und dann weiß er, wer am anderen

Ende ist.

Film „Das Martyrium des Peter O’Hey“

Standuhr schlägt

Tigersteuer. Tiger sitzt in Ihrem Badezimmer. Und wenn Sie

Angst vor ihm haben, sind Sie gewissermaßen sein Nutznießer,

da er in Ihnen Gefühle erweckt, die sie sonst nicht hätten.

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Michael Ballhaus Was Peter wollte und was ich natürlich sehr, sehr unterstützt

habe und auch wollte, dass wir emotionale Geschichten erzählen,

die auch einen politischen Inhalt haben. Denn Peter ging es

immer ganz, ganz besonders um Politik. Dinge aufzuzeigen, die

falsch sind. Ja, um immer wieder darauf hinzuweisen, was nicht

funktioniert. Und manchmal haben die Leute das auch noch nicht

verstanden. Er war seiner Zeit voraus. Und manchmal haben sie

sich etwas gewundert über die Geschichten, die er erzählt hat.

Aber sie waren richtungweisend.

Musik Nino Rota: La poupée automate (CD: Il Casanova di Federico

Fellini)

Erzähler Das Martyrium des Peter O’Hey des jungen Slawomir Mrozek ist

eine bitterböse Parabel über das Obrigkeitsdenken, die Peter

Lilienthal 1964 genüsslich in Baden Baden inszeniert:

Das Bild vom Raubtier in der Badewanne, während die Familie

gerade ihre Suppe löffelt: eine prägnante Analyse der tiefbraunen

Adenauerrepublik mit einem ehemaligen SS Admiral im

Bundesnachrichtendienst und NS-Juristen im Bundeskanzleramt.

Michael Ballhaus Das ist wohl wahr und das hat er natürlich bekämpft, weil das

waren ja die Menschen zum Teil eben die Nazis, die seine

Familie ermordet haben und da hat er natürlich ziemlich drauf

gehauen, wenn das möglich war und mit seinen Geschichte hat er

das ja auch erzählt.

Musik Iwan der Schreckliche - Filmmusik op.116, Dance of the Oprichniki

Alter Ego „Szenen aus dem Leben des Cellisten Gregor Piatigorskiy“

bearbeitet für den Hörfunk von Peter Lilienthal

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Sprecher Die Zeit des erwachenden Zorns.

Die Revolution war ausgebrochen. Ein mächtiger Sturmwind

breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Es begann eine Jagd auf

Weiße und auf Rote – ein Jagd auf Gespenster und auf Lebende.

Fürsten wurden in Palästen verbrannt. Großmütter, Söhne,

Töchter und Enkelkinder krochen unter den Louis-Quatorze

Betten hervor wie vergiftetes Ungeziefer. Klaviere wurden aus

dem Fenster geworfen und Diamanten gegen Brot eingetauscht.

Die Generäle ließen eine Fabrik voller Arbeiter bombardieren.

Man sah lauter Blut – Russland zitterte.

Atmo Dampfertuten, Meeresbrandung, Möwen

Peter Lilienthal Ich habe nicht das Gefühl gehabt, dass ich was verlasse, sondern

ich hab das Gefühl gehabt, das ist das Abenteuer meines Lebens.

Ein großes Schiff.

Erzähler Juden müssen erster Klasse reisen, wenn sie das Reich

verlassen wollen, verlangt das Deutschlandreferat der NSDAP.

Mit zehn Dollar in der Tasche gehen Peter Lilienthal und seine

Mama 1939 an Bord der Cap Arcona.

Peter Lilienthal Auf jeden Fall, wir waren auf dem Schiff. Ich hatte eine eigene

Kabine natürlich, erster Klasse. Ich bin also ganz früh

aufgestanden. Und auf dem Weg zum Schwimmbecken ging ich

vorbei an einem Herrn, der im Liegestuhl saß und der von

mindestens zwei oder drei Kellnern bedient wurde. Neben ihm

links und rechts feine Platten, also das war das Frühstück, und

schauten uns an und das war mein erster Regisseur und zwar

Gustav Gründgens, der von Hamburg nach Buenos Aires fuhr,

ohne jetzt von Deck zu gehen und wieder zurück. Das waren

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seine Ferien.

Wir waren dann noch nicht sehr weit entfernt vom Äquator. Es

gab eine Äquatortaufe, irgendwie hat er das geahnt, dass ich

jüdisch bin. Er sagte: „Na gut, was hältst Du davon, wenn wir

uns zusammen taufen lassen?“ Also, die Äquatortaufe, das

wusste ich, Juden haben keine Taufe, und dann sind wir wirklich

in einem Spezialbecken beide da reingegangen und man hat uns

ein Formular übergegeben, also den Taufschein. Und seitdem

war natürlich meine Vorstellung, dass ich Regisseur werden will,

weil die wunderbare Schiffsfahrten machen können und das

tollste Frühstück der Welt bekommen. Das war meine Vorstellung

von Regisseur.

Erzähler Später wird Peter Lilienthal am Ende eines langen Tages voller

Gespräche sagen

Peter Lilienthal Weißt Du, ich bin überrascht, dass wir auf diese Art und Weise im

Gesprächs auf etwas Essentielles kommen, was mit dem Wort

Mitleid zu tun hat, denn, was ist unsere ganze Kultur als eine

ständige Fortsetzung von Mitleid haben. Wir wissen von der

Geschichte her, dass das jüdische Volk, was es alles gelitten hat.

In seiner ganzen Bedeutung gefällt mir das, wenn ich sage, das

ist ein wichtiges Motiv für mich.

Erzähler Aber ich greife vor...

Peter Lilienthal Wenn etwas entsteht, dann entsteht es immer aus einem Gefühl

des Mitleids.

Musik Victor Jara: En el Rio Mapocho (CD: Victor Jara: Complete)

Erzähler Die Bar im Souterrain des Hotels Carrera gegenüber der Moneda

ist verwaist. Die meisten Korrespondenten sind nach der Wahl

von Präsident Allende abgereist. Es scheint ein schöner

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Frühlingstag zu werden, an diesem lauen Dienstag, dem 11.

September 1973 in Santiago de Chile.

Peter Lilienthal Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es ja auch um

Antonio Skármeta, ein sehr, sehr guter Freund, den Du irgendwo

entdeckt hast.

Atmo Putsch

Antonio Skármeta Ich war Professor an der Universität de Chile und das ist genau,

wo ich war an dem Tag des Putsches. Am 11. September 73 war

ich in Santiago Chile. – Was passierte?

O – Ton Letzte Rede von Salvador Allende

Antonio Skármeta An dem Tag gegen sieben Uhr dreißig, ich habe Radio gehört und

alles war schon los. Die Militärs haben die Radios schon

genommen und es gab noch ein paar Radio, demokratische

Sender, die noch am Leben waren und Salvador Allende war an

einem von diesen Radios und hat eine Rede gehalten und dann,

nach dieser Rede, dieses Radio wurde bombardiert und das

waren die letzten Worte von Salvador Allende, die ich gehört

habe.

Salvador Allende Mitbürger, dies wird höchstwahrscheinlich die letzte Gelegenheit

sein, dass ich mich an Sie wenden kann. Die Luftwaffe hat die

Sendetürme von Radio Portales und Radio Coorporation

bombardiert. Meine Worte enthalten keine Bitterkeit, jedoch

Enttäuschung. Sie werden die moralische Strafe sein für

diejenigen, die ihren Schwur verraten haben.

Erzähler Peter Lilienthal tut etwas für ihn Selbstverständliches.

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Peter Lilienthal ... und ich hatte ja mit Antonio telefonisch Kontakt, ich wusste, er

lebt, er ist nicht aus dem Haus gegangen, er konnte telefonieren.

Antonio Skármeta Das war ein typisch faschistischer Coup.

Peter Lilienthal Wie viele Schriftsteller, sollte er verhaftet werden, aber sie haben

ihn wohl nicht gefunden oder es war ein Missverständnis. Also, er

ist nicht sofort in diese ganz schreckliche Schlächterei

gekommen, die da stattfand, wo viele, besonders Sänger, Poeten

usw. ins Nationalstadion gebracht wurden und verhaftet und so

weiter.

Erzähler Antonio Skármeta ist zur Zeit des Putsches 32 Jahre alt. Nach der

Rückkehr der Demokratie in Chile wird er der Botschafter seines

Landes werden. Beim ‚Stammtisch der Latinos’, dem

wöchentlichen Lagerfeuer Lilienthals in München, erfahre ich vier

Jahrzehnte später, was damals geschah. Nein, nicht von

Lilienthal, der Regisseur der leisen Töne spricht davon nie.

Musik Burnt Friedman + Robert Nacken: scene 06 (CD: Nonplace

Soundtracks scenes 01 – 25)

René Bendit Der 11. September 73 hat mich in einem Versteck erwischt.

Meine Frau war nach Deutschland mit ihrem Stipendium drei

Monate vorher gekommen.

Erzähler René Bendit, der Sozialpsychologe aus Buenos Aires,

kommt wie stets zu spät. Mir zu Ehren trifft sich der

‚Stammtisch der Latinos’ nicht in einem Steakhouse in der

Innenstadt sondern in Peter Lilienthals Stammrestaurant.

Ein Kreis ergrauter Exilanten, die längst in Bayern

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verheiratet, verschwistert und vielleicht verwurzelt sind, im

Herzen aber wissen, wie sich ein Flüchtling fühlt.

René Bendit An diesem Tag habe ich gesagt, ich werde nicht bei meinen

Eltern übernachten sondern ich werde bei Nachbarn, von denen

meine Eltern keine Ahnung hatten, dass ich bei ihnen war, dort

sein und da hat mich der Putsch erwischt.

Antonio Skármeta Es war sehr tragisch eigentlich. Ich hatte mich entschieden,

trotzdem in Chile zu bleiben und zu riskieren, als ich von

Deutschland ein Flugticket bekommen habe. Von einem

deutscher Regisseur, Peter Lilienthal, mit dem ich in Chile einen

Film gemacht habe. Er hat Regie geführt und ich habe das

Drehbuch zu diesem Film geschrieben. Der Film heißt „La

Victoria“.

Alter Ego „La Victoria“ erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die aus der

Provinz in die Hauptstadt Santiago kommt und Freunde findet, die

politisch engagiert sind. Marcela wird Sekretärin und Assistentin

einer Abgeordneten, die ihre Wahlkampagne macht, Carmen

Luzo. Dabei lernt sie ihr Land kennen, und das was auch der

Prozess, den ich durchgemacht habe. Jeden Tag habe ich etwas

dazu gelernt.

Antonio Skármeta Dieser Film wurde im Deutschen Fernsehen, ZDF, glaube ich am

gleichen Woche des Putsches in Chile ausgestrahlt. Dieser

Regisseur hat mir und andere Filmemacher Flugkarten und er hat

uns gebeten, das Land zu verlassen, da er als ein Deutscher aus

jüdischer Stamm, wusste, was ist los in solchen Situationen und

dann seine Empfehlung war, Chile alsbald als möglich zu

verlassen.

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René Bendit Unsere Treffpunkte waren meistens Kinos, wir haben uns früh um

Elf in irgendeinem Kino getroffen, haben uns hingesetzt und

während des Vorspanns oder des Films haben wir miteinander

ausgetauscht, wer wo was macht. Da ging es um Leute, die

gesucht wurden, zu verstecken. Da ging es um Leute, die verletzt

waren, weil, es gab ja auch Kämpfe um Santiago herum, zu

irgendeinem Arzt zu bringen. Es gab dort sozusagen illegale

Kliniken, die aufgebaut wurden. Ja und das Hauptproblem, das

wir hatten, war natürlich, dass, nachdem die Moneda

eingenommen wurde, unsere Freunde und Kollegen mit gefangen

genommen wurden.

Musik Burnt Friedman + Robert Nacken: scene 06 (CD: Nonplace

Soundtracks scenes 01 – 25)

Antonio Skármeta Und dann diese Filmregisseur und ich haben es versucht, legal

raus zu kommen. Wir haben es geschafft, wir sind mit unserer

Familie fünf Kilometer bis zum Flughafen zusammen gefahren.

Da mussten wir aussteigen und dann in einem Bus, einem

Militärbus zum Flughafen. Das war wirklich ein gefährliches Spiel.

René Bendit Ein oder zwei Kilometer vor dem Flughafen war eine Kontrolle, du

musstest aussteigen und musstest dich da verabschieden. Und

dann warst du am Flughafengebäude und dann erinnere ich mich,

dass ich da war, und sah zwei sehr nervöse Leute. Das war ein

Freund von ihm, Skármeta, der damals schon ein bekannter

Mensch war und der sicher weg musste, und der andere war

Ruiz.

Antonio Skármeta Wenn du im Flughafen bist, du weißt nicht, ob du dein Flugzeug

nehmen kannst, du bist hilflos, die Militär können mit dir machen,

was sie wollen.

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Erzähler Ich blicke in das ungläubige Staunen eines Freundes von Peter

Lilienthal, der wie die Protagonisten seiner Filme – nur eben im

realen Leben – mit offenem Mund zwischen die Walzen der

Weltgeschichte geraten ist.

René Bendit Und dann wurden wir aufgerufen, sind ins Flugzeug gegangen.

Und wir saßen alle drei zusammen, obwohl ich Skármeta kaum

kannte. Aber Ruiz kannte ich mehr. Dann geht das Flugzeug hoch

und wenn du die Anden überquerst, gibt es immer solche

Luftlöcher, das Flugzeug kann von viel Höhe plötzlich runter

kommen, das passierte da auch. Dann haben wir uns angeguckt

und uns gesagt, auch diese Scheiße jetzt noch. Als das vorbei

war, kam einer auf die Idee, ich meine es war Ruiz, eine Flasche

Whisky zu verlangen und dann haben wir von Mendoza bis

Buenos Aires diese Flasche ausgetrunken und sind relaxed

irgendwie runtergekommen.

Antonio Skármeta Es ist alles, alles geklappt und mit diesem Filmregisseur

zusammen sind wir mit einer Lufthansamaschine Chile verlassen.

Und das war der Anfang meines Exils.

Peter Lilienthal So kam dann Antonio raus und wir setzten unsere

Zusammenarbeit fort und versuchten dann noch was zusammen

zu machen und so weiter. Das ist eine ganz lange Geschichte, die

immer, bis heute natürlich eine Freundschaft geblieben ist,

manchmal unterbrochen von längeren Zeiten, wo wir uns nicht

schreiben. Ich wurde genannt el pajaro piloto. Ja, damit war

gemeint, ich habe der Familie immer die Richtung angegeben,

wie sie sich retten können, was ein bisschen pathetisch ist und

nicht stimmt. Aber auf jeden Fall in seinem Fall konnte ich mit

anderen Freunden dafür sorgen, dass er rauskommt.

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Musik Dino Saluzzi Group: Dele..., Don !! (CD: Responsorium)

Erzähler Auf der Cap Arcona strahlt ein Neunjähriger, pitschnass. Bei der

Äquatortaufe mit dem vergnügten Gustav Gründgens sieht sich

Peter Lilienthal als Kind im Glück. Berlin versinkt derweil im Hass

und Leni Riefenstahl lädt Adolf Hitler im Gartenhaus der

Wertheims zum Tee.

Film „David“

HALT! AUSWEISE.. MARSCH...

Peter Lilienthal Uruguay war nun überhaupt das Paradies für mich, erst mal weil

es am Meer liegt, und ich wollte immer am Meer leben oder sein.

Ich hatte es vorher kennengelernt durch zwei Reisen mit meinem

Großpapa in Deutschland. Ich konnte etwas oder schon sehr gut

Spanisch durch die Großmama.

Alter Ego Die „Hotel-Pension Brazil“ in Montevideo stand an der Avenida de

Brasil, drei Ecken vom Meer entfernt. Die Straßenbahn fuhr mit

unendlichem Krach vorbei.

Peter Lilienthal Die Strasse hieß Rio Branco und war eine Nebenstrasse von der

Hauptstrasse, 18 de Julio, also ne Pension.

Alter Ego Es war ein altes Haus, gebaut um 1890, ungefähr 25 bis 30

Zimmer, eine herrschaftliche Villa, wie man sie aus Nordspanien

kennt, mit starkem französischem Einfluss: hohe Fenster, große

Eingangshalle mit einer geschwungenen Treppe, die in die erste

Etage führte. In meiner Erinnerung ist das Haus besetzt mit

großen Liebesdramen und Abenteuern.

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Peter Lilienthal Ich war ein Tourist innerhalb des Hotels. Ich wohnte immer in

dem Zimmer, das gerade frei ist, das ist klar.

Erzähler Lilienthal zögert, als er von dieser Zeit erzählt. Doch seine Augen

strahlen.

Peter Lilienthal Mit dieser Geschichte sind sehr viele erotische Abenteuer auch

verbunden...

Erzähler Er riecht das Meer, hört die Barkassen aus Concordia auf dem

Weg zum Hafen und die Straßenbahn in der Calle Brasil.

Peter Lilienthal Ja, ich kann alles erzählen. Da gab es einen Tellerwäscher, der

so ein merkwürdiges Parfüm hatte und den habe ich eines Tages

in seinem Zimmer überfallen, was ihm sehr peinlich war, denn

der Sohn von der Besitzerin kommt und will unbedingt mit mir

schlafen oder so was. Und der ist dann, das erzähle ich

deswegen, weil das wirklich eine moralische Angelegenheit war,

der ich mir gar nicht bewusst wurde, denn natürlich für ihn war

das ganz peinlich, der ist am nächsten Tag verschwunden.

Und mir wurde klar, dass die Entfesselung meiner Abenteuer oder

Gelüste oder was weiß ich, dass das anderen schaden kann.

Alter Ego „Szenen aus dem Leben des Cellisten Gregor Piatigorskiy“

bearbeitet für den Hörfunk von Peter Lilienthal

Musik Guy Klucevsek: Perusal (CD: Flying vegetables of the

apocalypse)

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Grischa Ich war 14 Jahre alt und hätte mich gern am Jubel beteiligt doch

ich hielt mich zurück und horchte nur auf die Kanonenschüsse

und auf die Trompeten, die verkündeten, dass die Götter und die

gesamte Jahrhunderte alte Herrschaft der Romanovs gefallen sei.

Der große Aufstand der Massen war erschreckend und doch

gingen viele Menschen ihrem täglichen Leben nach.

Erzähler Grischa Piatigorsky ist ein untypischer Held im Skizzenbuch von

Peter Lilienthal, einer, der mit dem Viehwaggon vom Regen in die

Traufe gerät, aus den Armen der Bolschewikij in das turbulente

Ende der Weimarer Republik. Berliner Parkbänke und das

Russische Café bieten ihm zeitweise eine Bleibe für die Nacht. Im

Russischen Café aber verkehrt auch Wilhelm Furtwängler.

Piatigorsky kommt zu den Berliner Philharmonikern, als ihr erster

Cellist. Das Wunderkind aus Jekaterinoslaw bleibt bis 1929 in

Berlin.

Peter Lilienthal Was mich am meisten erschüttert hat, das Tagebuch von David

Rubinowitsch. Alle kennen wir das berühmte Tagebuch von dem

holländischen Mädchen.

Erzähler Immer neue Protagonisten ziehen durch unser Hörspielkonzept.

Das Hörspiel verwandelt sich in das Panoptikum der Hotel

Pension von Lilienthals Mama.

Peter Lilienthal Das Besondere an diesem Tagebuch ist, wie er beschreibt, das

alltägliche Leben eben aus der Sicht von einem Junge, der, ich

glaube, zwölf ist. Wie das immer komplizierter wird. Die Nazis

sind noch nicht so präsent, physisch präsent. Das Tagebuch hat

kein Ende, es bricht abrupt ab.

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Film „David“

Frau Singer Wie kann G’tt das nur alles zulassen. Wo bleibt seine

Gerechtigkeit. Dazu sind wir also auserwählt? Verflucht sind wir.

Wozu sind diese Kinder überhaupt auf die Welt gekommen? Für

dieses Hundeleben?

Peter Lilienthal Er schreibt: Zum Unglück fuhren die Deutschen von Rudik nach

Butschentin, um Kartoffeln zu holen. Und sind ihnen begegnet.

Als die beiden Frauen die Deutschen erblickten, da begannen sie

zu fliehen, wurden aber eingeholt und festgenommen. Sie wollten

sie gleich im Dorf erschießen. Aber der Dorfschulze ließ es nicht

zu. Da sind sie an den Waldrand gegangen und haben sie dort

erschossen. Die jüdische Polizei fuhr gleich hin, um sie auf dem

Friedhof zu begraben. Als das Fuhrwerk zurückkam, war es voll

Blut. Jetzt kommt noch ein Wort: Wer? Nichts weiter. „Wer?“ –

bleibt offen. Steht in Klammern: Hier brechen Davids

Tagebuchaufzeichnungen ab.

Erzähler Das Tagebuch des David Rubinowitsch wird Lilienthal zu „David“

führen, dem letzten Spielfilm, den er auf deutschem Boden

drehen wird. Und für den er 1979 den Goldenen Bären verliehen

bekommt.

Musik Juan José Mosalini: Milonga de la tierra (CD: WDR

Eigenproduktion)

Alter Ego In Montevideo habe ich den ersten Menschen kennengelernt, der

aus dem Konzentrationslager kam. Ein zwölf- oder

dreizehnjähriger Junge, der nicht sprach, mich nur anstierte, alles

anguckte, als ob er es nicht begreifen konnte, der mit beiden

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Händen aß und immer so hungrig war, dass ich es mir nicht

erklären konnte.

Peter Lilienthal Er tauchte eines Tages auf, hatte hinter sich die Odyssee einer

sehr langen Reise. Wo der Ausgangspunkt war, hab ich nie

erfahren. Auf jeden Fall war er ein Häftling in Bergen Belsen, der

über einen Hafen in Chile und über Argentinien nach Uruguay

kam.

Alter Ego Sein Onkel brachte ihn, er kam für zwei oder drei Wochen ins

Hotel. Er war so eingeschüchtert und verletzbar, dass er wirklich

nicht von dieser Welt war – heute würde man sagen: verstört.

Peter Lilienthal Er ist der Archetyp für den heutigen Flüchtling, der aus dem KZ

kommt und irgendeine eine Art von Unterkunft oder Möglichkeit,

sich das Leben zu verdienen, diese Reise macht und dabei nichts

gegessen hat. Brot und Wasser konnte er essen, also praktisch

das Leben eines Häftlings führte er weiter – in der Beziehung.

Und was er gesehen und erlebt hat in Bergen Belsen…

Alter Ego Dieser Junge hat dann einen Lotterieverkäufer überfallen, ist

verfolgt worden, hat ein Taxi genommen und ist am Meer

erschossen worden. Das war der erste Schock.

Musik Astor Piazzolla: Milonga del Angel (CD: Adios Nonino)

Peter Lilienthal Das waren die Auseinandersetzungen mit den Emigranten, mit

meiner Mama und gleichzeitig auch die Entdeckung von traurigen

Sachen wie z. B. ein junger Anwalt, der kam und der wollte nicht,

dass man das entdeckt, dass er sehr früh morgens für ein

Geschäft Milch vertrieb, also Milch auslieferte. Und das war ein

besonderer Liebling von mir unter den Kunden, so dass ich diese

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Geschichten der Emigranten nicht als Kind in Berlin kennenlernte,

sondern als Kind in Uruguay.

Musik Claire Waldoff: Lieber Leierkastenmann (CD: Verklungenes Berlin

- Lieder von der Spree der 20er und 30er Jahre)

Erzähler Dass der junge Emigrant Mitte der 1950er Jahre als Kunststudent

zurückkehrt in das zertrümmerte Nachkriegs-Berlin, ist vielen

Irrungen und Wirrungen zu verdanken. Dass er tatsächlich beim

Film landet, daran ist Locken-Erwin schuld, ein Leierkastenmann,

der durch die Hinterhöfe zog.

Film Im Handumdrehen – Der Locken-Erwin und sein Leierkasten

Musik

Erzähler Über 150 Jahre Doornkaat – Die Kamera folgt dem Werbebanner

auf der Straßenbahn hinter dem Bagger in Berlin. Ein D-Zug mit

einer Lokomotive wie aus dem Bilderbuch zieht Güterwaggons

und Personenwagen über die S-Bahn Brücke in den Bahnhof

Zoo. Die Rautenfassade des mondänen Kaufhauses an der

Joachimsthaler Straße und die schäbige Stube am Zoo unter der

Brücke sind zu sehen – zwei Jahre vor dem Bau der Berliner

Mauer.

Film Im Handumdrehen – Der Locken-Erwin und sein Leierkasten

Sprecher Ein Leierkasten am Kurfürstendamm. Das ist in unseren Tagen

schon eine kleine Sehenswürdigkeit. Mehr als vierhundert

Drehorgelspieler hatte Berlin vor zwei Jahrzehnten, ganze

zwanzig sind es heute – Locken-Erwin ist einer von ihnen.

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Erzähler Ein Journalist vom „Tagesspiegel“ hatte ihn entdeckt, wollte ein

Portrait machen von diesem ungewöhnlichen Menschen, der

gleichzeitig Filmvorführer war. In einem Vorstadtkino, im Wedding

oder in Kreuzberg, auf jeden Fall in einem kleinen Kino mit einer

sehr armseligen Projektionskabine.

Alter Ego Seine Wohnung war direkt im Kino. Locken-Erwin war ein Idealist.

Er hatte ganz, ganz wenig Geld – es reichte gerade zum Essen.

und der SFB suchte einen Regisseur. Da ich immer sehr

schamlos war, sagte ich mir: Was kann schon passieren.

Peter Lilienthal Also lernte ich den kennen, habe einen Leierkastenfilm gemacht,

den wiederum außerdem der Südwestfunk sah und das war dann

der auslösende Moment, wo ich von Berlin nach Baden Baden

ging.

Alter Ego Als ich zum Südwestfunk kam verstand man unter Fernsehspiel

eine Art bebildertes Hörspiel. Das Fernsehen bestand ja aus

Hörspielleuten. Die Dominanz der Texte, des Dialogs. Wir

adaptierten Theaterstücke. Gustav Rudolf Sellner hat „Die

Nashörner“ von Ionesco gemacht, Heinz Hilpert den

„Kirschgarten“ von Tschechow, ich war der Regieassistent. Hilpert

sagte immer: Lass uns was knipsen. Es war für ihn ein bisschen

so wie Fotografie. Man knipst jetzt. Er konnte das Medium nicht

ganz ernst nehmen.

Musik Miles Davis: All Blues (CD: Kind of blue)

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Erzähler Hubert von Bechtolsheim, der Leiter der Abteilung Fernsehspiel

des Südwestfunks war neuen Konzepten gegenüber offen. Er

unterstützte den jungen Regisseur Lilienthal. Einschaltquoten

zählten nicht so sehr, Kritiken im überregionalen Feuilleton dafür

umso mehr. Peter Lilienthals Experimente mit den Stücken des

Absurden Theaters von Fernando Arrabal, Slawomir Mrozek und

Eugene Ionesco ragten aus dem Gros der konventionellen

Fernsehproduktionen heraus.

Peter Lilienthal Für mich erschien das alles auch gar nicht besonders

revolutionär. Es waren einfach diese Möglichkeiten da, die

anderen davon zu überzeugen. Das ging so weit, dass man

beispielsweise für „Picknick im Felde“ und „Guernica“ ein

abgebranntes Haus in Baden Baden, das heißt die verkohlten

Teile, Elemente ins Studio schleppte. In dieses wunderbar fast

neu gebaute Studio, da tauchten plötzlich die Trümmer auf, nicht

irgendeine Kulisse, sondern echte Trümmer, die wir da aufbauten,

das war für die gesunden Geister ein Attentat.

Als ich wegging wurde gerade das Zweite Fernsehen zum ersten

Mal gesendet und ein Teil der Mannschaft vom Ersten, also der

Mannschaft vom Südwestfunk ging nach Mainz.

Autor: 1964

Und damit verschwanden wir dann auch von Baden Baden und

mit Ballhaus zum Beispiel kamen wir in Berlin an mit neuen

Plänen.

Film Inextinguishable Fire – Nicht löschbares Feuer. About napalm

Harun Farocki Wenn wir Ihnen ein Bild von Napalmverletzungen zeigen, werden

Sie die Augen verschließen.

Erzähler 1966 werden die beiden an die frisch gegründete Film- und

Fernsehakademie Berlin berufen, wo sie auf junge Rebellen

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treffen, auf Studenten wie Harun Farocki und Holger Meins, Helke

Sander, Hartmut Bitomsky und Wolfgang Petersen.

Peter Lilienthal Farocki war ein Dichter der Revolution. Der machte aus Papier

eine Taube, warf das in die Luft und sagte das ist mein Film. Na

ja, gut, dazu musst du nicht unbedingt in die Filmakademie

kommen, aber wenn das für Dich Dein Film ist. Ok.

Film Inextinguishable Fire – Nicht löschbares Feuer

Harun Farocki Eine Aussage vor einem Vietnam-Tribunal in Stockholm

Erzähler Inextinguishable Fire – Nicht löschbares Feier - About Napalm

Harun Farocki 1969:

Film Inextinguishable Fire – Nicht löschbares Feuer. About napalm

Harun Farocki Zuerst werden Sie die Augen vor den Bildern verschließen, dann

werden Sie die Augen vor der Erinnerung daran verschließen,

dann werden Sie die Augen vor den Tatsachen verschließen,

dann werden Sie die Augen vor den Zusammenhängen

verschließen.

Michael Ballhaus Die wollten überhaupt nichts bei mir lernen. Die haben eigentlich

sozusagen ihre Konzepte im Kopf gehabt und das war alles

politisch. Das musste alles politisch sein. Und wenn ich denen

erklärt habe, dass man vielleicht ein Close up von einer Frau oder

von einem Mann, den man mag, mit einer langen Brennweite

aufnimmt, dann haben sie gesagt, ja und was ist mit dem

Verbrecher, also was ist mit dem Kapitalisten, den muss man

dann doch mit einer kurzen Brennweite aufnehmen, damit er

richtig hässlich aussieht. Dann habe ich gesagt, ja, das kann man

unbedingt tun, man kann mit den Bildern natürlich auch Figuren

zeichnen.

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Peter Lilienthal Holger Meins hatte einen ganz armen Mann portraitiert und mit

dem sprach ich über die Notwendigkeit eines Regisseurs, gesund

zu bleiben. Weil er wirklich ein Skelett war, so dünn, er hatte

irgendwelche Probleme mit der Familie, das weiß ich nicht. Aber

besessen irgendwie. Da konnte man schon ein bisschen Angst

bekommen vor diesem inneren Fieber. Aber was ich nicht ahnte

natürlich, dass das dann mit Gewalt enden würde. Wobei ich

ihnen ausdrücklich gesagt habe, ich mach überall mit, denke mit,

was weiß ich, rede, aber wo Gewalt im Spiel ist, da hört ’s bei mir

auf. Das wussten sie ziemlich am Anfang. Und deswegen war ich

natürlich ein Bourgeois.

Michael Ballhaus Ich mochte einfach Experimente auch, und hab das auch mit

denen gemacht. Wir haben uns sehr viele Filme angesehen. Ich

habe viel mehr gelernt in der DFFB als die Studenten, weil, ich

hab so viele Filme ansehen können, die ich nicht kannte – in

Baden Baden gab es so was nicht.

Peter Lilienthal Der deutschrevolutionäre Geist, so wie er sich unter diesen

Kindern zeigte, es waren Kinder, das war für mich weder ein

Drama noch irgendwas, wo ich viel Zeit damit verlor, weil ich

sagte, na ja gut, das ist so eine Bande von Idealisten.

Musik Victor Jara: „Es hombre es un Creador“ (CD: La Población)

Erzähler Dass der Berliner Emigrant zurückkehren würde auf den

Kontinent, der ihn gerettet hat, war zu erwarten. La Victoria, Es

herrscht Ruhe im Lande, Der Aufstand – Die Spielfilme, die Peter

Lilienthal in den 1970er Jahren in Chile und Nicaragua gedreht

hat, sind heute Klassiker. Damals waren sie brandheiß –

poetische Fanale gegen die Diktatur und leise Introspektionen in

die Innenwelt der Revolution der armen Leute, wobei das Volk

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den Film als happening begriff, scharf schoss bei manchen

Szenen.

Peter Lilienthal Und so zog ich dann also mit einer Empfehlung der einen Familie

zur anderen. Sie sagten, der Lilienthal kommt und will mit euch

über die Situation sprechen, die sich da ergab und dann … gut.

Das habe ich also gemacht und hatte mit Antonio einen Plan, der

gewissermaßen dramaturgischen Effekt erzeugen konnte oder

wollte und der völlig atypisch war, und zwar wollten wir die

Geschichte schreiben eines Nica Soldaten, der der Armee von

Somoza diente und eines Vaters, der Rebell war, der

aufständisch war. Was natürlich überhaupt nicht stimmte mit der

Wirklichkeit, denn die war genau umgekehrt. Die Väter waren die

Konservativen, die also sozusagen Somoza unterstützten und die

Söhne waren die Rebellen.

Alter Ego ... überall waren die Türen offen. Nach ein, zwei Monaten in León

war ich ein Teil der Stadt – die Leute haben mit mir bei den

Dreharbeiten den Aufstand rekonstruiert, eigentlich nur

wiederholt, was sie wenige Monate tatsächlich erlebt haben. Über

die Atmosphäre während der Arbeit könnte ich ganze Romane

schreiben.

Michael Ballhaus Das Ganze war ein großes Abenteuer. Ich kam aus Mexiko City,

wo ich ein Seminar an der Universität hatte mit Studenten. Und

ich wusste von dem Projekt von Peter und er hat gesagt, du

musst, sobald du fertig bist mit deinem Seminar, musst du nach

Nicaragua kommen, nach León.

Erzähler Im Kugelhagel hielt Michael Ballhaus die Handkamera im Schein

brennender Reifen – sechs Wochen nach dem Sieg der

Revolution in Nicaragua.

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Peter Lilienthal Nun war es so, dass Aspekte der Wirklichkeit mit einbezogen

wurden, in eine Geschichte, die erst mal sozusagen aus einer

anderen Grundlage entstand. Gar nicht wie Dokumentaristen, die

wollen eine Wirklichkeit beschreiben und sind investigative

Journalisten, die ganz andere Interessen haben, während wir an

der Poesie, den Möglichkeiten der Poesie, der Fiktionalisierung

einer realen Geschichte interessiert waren und daher kam diese

Situation zu Stande eines Soldaten, der auf der Seite von

Somoza war, der aber durch die Familie dann überzeugt wird zu

desertieren, was ja dann wie du weißt später in anderen Filmen

von mir eine Rolle spielt, also die Figur des Deserteurs, der

Zivilcourage aufbringt, um überhaupt sich zu lösen von der

Armee.

Erzähler Für die Dreharbeiten – sechs Wochen nach dem Sieg – wurden

nun in León durch zwanzig Häuser Löcher in die Hauswände für

einen Schlauch geschlagen und alle machten mit. Auf diese

Weise entstanden versteckte Zugangswege – ein

Hinterhofsystem für die Rebellen von León – nun für den Film.

Film La Surreccion / Der Aufstand (Atmo)

Michael Ballhaus Dann gab es eine größere Nachtszene in dem Film und es war

natürlich unmöglich unter den Bedingungen Nacht einzuleuchten,

und dann haben wir gefragt, ja wie machen wir denn das jetzt und

dann haben die gesagt, das ist ganz einfach, das machen wir

immer so - wir tun ein paar Reifen aufräumen und dann gießen

wir da Benzin drüber und zünden das an und dann gibt es helles

Licht und alles. Dann haben wir also ein paar Reifen angezündet

an den Plätzen, wo wir sie brauchten, und dann hatten wir genug

Licht, um zu drehen. Das waren also die Bedingungen. Natürlich

war das nicht sehr umweltfreundlich und stank auch furchtbar,

aber es war die einzige Möglichkeit.

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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

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(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Musik Guy Klucevsek: Altered Landscapes: Part one (CD: accordian

tribe)

Erzähler Für diesen Film trifft die Beschreibung der Regieatmosphäre, wie

sie der spätere Präsident der Deutschen Film- und

Fernsehakademie Berlin Reinhard Hauff erzählt, der gern für

Freunde kleine Rollen übernahm, wohl weniger zu. Hauff hatte

Peter Lilienthal 1971 bei den Dreharbeiten zu Robert Walsers

Jakob von Gunten im spanischen Segovia erlebt.

Reinhard Hauff Das müssen Sie sich so vorstellen, dass Peter es schafft, am

Drehort eine Atmosphäre zu schaffen, die derart ist, das alle nur

noch flüstern. Es hat so etwas Sakrales, seine Art die Leute in

einen atmosphärischen Rausch zu. Er kann das inszenieren,

dass alle eben wirklich ganz leise flüstern und er, der Große,

dann nur noch Tupfer setzt. Ich war das nicht gewohnt, dass am

Drehort so eine fast heilige Stimmung ist.

Musik Juan José Mosalini: Milonga de la tierra (CD: WDR

Eigenproduktion)

Erzähler Dabei sind die Lilienthals Spielfilme stets poetisch, ob er in Dear

Mr. Wonderful von dem Traum des verkrachten Barbesitzers in

New Jersey City erzählt oder in seinem David, der 1979 den

Deutschen Filmpreis und den Goldenen Bären der Berlinale

erhielt den aufziehenden Judenmord aus der Sicht des jungen

Rabbinersohnes zeigt.

Film „David“

Eva Matthes (Toni) David, wir können nicht länger hierbleiben. Der bringt uns noch

um mit seiner Habgier.

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David Was ist wenn die Eltern sich melden oder Leo oder Rivka?

Toni Wir müssen aber irgendetwas tun.

Manchmal beneide ich die Vögel um ihre Nester.

Erzähler Wim Wenders über den Freund.

Wim Wenders Er ist einer der lebhaftesten Denker und liebenswertesten Denker,

die ich kenne.

Musik Guy Klucevsek: Altered Landscapes: Part one (CD: accordian

tribe)

Erzähler Peter Lilienthal filmt aus dem Blickwinkel des Emigranten, der in

die Welt geworfen, verblüfft feststellt, dass alle wahnsinnig

geworden sind. Und dabei bleibt dieser poetische Nomade wider

Willen ein Suchender, der gern im Schatten steht und seine

Einsamkeit in Kreativität umsetzt.

Alter Ego Ich hätte gern mein Leben lang als Kleindarsteller in

Gangsterrollen gearbeitet. Es wäre schön, anzukommen mit

einem kleinen Köfferchen, sich schnell umzuziehen und dann

gesagt zu bekommen: Du spielst einen Teppichverkäufer, einen

Polizisten, einen alten Rabbiner. Du hast fünf Sekunden im Film –

dann bist du vergessen.

Peter Lilienthal Ich muss nicht auftauchen. ich bin denen verpflichtet, die nicht

dieses günstige Schicksal hatten, die ich hatte, von denen ich

nicht weiß, das ist ja auch die letzte Frage an Dich, welchen

Auftrag sie uns eigentlich erteilt hätten oder haben. Vom Himmel

oder wo auch immer sie waren oder sind: Was wollen sie von

uns, die Frage bleibt unbeantwortet.

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Film „David“

Fackelmarsch, Sprechchöre JUDEN RAUS... Trommeln

Frau Singer Hörst Du wie die brüllen Juden raus.

Rabbiner Singer Du irrst Dich. .sie singen JUGEND RAUS.

Peter Lilienthal Und ich meine jetzt nicht Millionen, sondern der Junge hier von

dem Büchlein, der in dem Dorf aufgewachsen ist und der sich um

seine Mitmenschen kümmert und der nur davon spricht, von

seinem Vater vor allen Dingen, der in die Stadt gegangen ist und

nicht wieder kommt und er sitzt und wartet auf den Vater und

seine Gedanken sind die von einem Erwachsenen, von einem

liebenden Erwachsenen, der nur an seinen Vater denkt und

besorgt ist, na ja und um ihn herum passiert das, was ja alle

wissen, inzwischen. Deswegen, dieses Leben von dem

Abenteuer Lilienthal, das hat ja mit diesen Personen überhaupt

nichts zu tun. Die haben gelitten, die sind getötet worden,

verschwunden. Und ich weiß noch nicht einmal, welche Erbschaft

sie uns hinterlassen haben, was wollen sie?

Film David

Eva Hier, steck dir das ins Portemonnaie. Aber verlier ’s nicht... die

geheimen Reserven.

Peter Lilienthal Ich kann irgendwas behaupten, dass ich Filme wie zum Beispiel

„David“ für sie gemacht habe. Aber das ist immer nur so eine

Konstruktion. Woher weiß ich das? Muss jeder sich selbst eine

Antwort geben.

Aber jetzt habe ich wirklich genug geredet.

Musik Guy Klucevsek: Altered Landscapes: Part one (CD:

accordian tribe)

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Absage

Aus dem Skizzenbuch eines Gestrandeten

Begegnungen mit dem Kinozauberer Peter Lilienthal

Ein Feature von Jochanan Shelliem

Es sprachen:

Ulrich Noethen und Rainer Homann

In weiteren Rollen:

Judith Jakob, Mark Zak, Svetlana Fourer und Dmitri Alexandrov

Technische Realisation: Jürgen Glosemeyer und Steffen Jahn

Regieassistenz: Pia Frede

Regie: Thomas Wolfertz

Redaktion: Annette Blaschke

Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2017