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HEINRICH HEINE. GEOFFROY RUDEL UND MELISANDE VON TRIPOLI(Romancero – Letze Gedichte – 1851)In dem Schlosse Blahe erblickt man
die Tapete an den Wänden,
so die Gräfin Tripolis
einst gestickt mit klugen Händen.
5 Ihre ganze Seele stickte
sie hinein, und Liebesthräne
hat geseit das seidne Bildwerk,
welches dastellt jene Scene:
wie die Gräfin den Rudel
10 sterbend sah am Strande liegen,
und das Urbild ihrer Sehnsucht
gleich erkannt in seinen Zügen.
Auch Rudel hat hier zum ersten-
und zum letzenmal erblicket
15 in der Wirklichkeit die Dame,
die ihn oft im Traum entzücket.
Über ihn beugt sich die Gräfin,
hält ihn liebevoll umschlungen,
küsst den todesbleichen Mund,
20 der so schön ihr Lob gesungen!
Ach! der Kuss des Willkomms wurde
auch zugleich der Kuss des Scheidens,
und so leerten sie den Kelch
höchter Lust und tiesstens Leidens. -
25 In dem Schlosse Blahe allnächtlich
giebt’s ein Rauschen, Knistern, Beben:
die Figuren der Tapete
dangen plötzlich an zu leben.
Troubadour und Dame schütteln
30 die verschlafnen Schattenglieder,
treten aus der Wand und wandeln
durch die Sale auf und nieder.
Trautes Flüstern, sanftes Tändeln,
wehmutsüsse Heimlichkeiten,
35 und posthume Galantrie
aus des Minnesanges Zeiten:
“Geoffroh! Mein totes Herz
wird erwämt von deiner Stimme,
in den längst erloschnen Kohlen
40 fühl’ ich wieder ein Geglimme!”
“Melisande! Glück und Blume!
Wenn ich dir ins Auge sehe,
leb’ ich auf – gestorben ist
nur mein Erdenleid und -Wehe.”
45 “Geoffroh! Wir liebten uns
einst im Traume, und jetzunder
lieben wir uns gar im Tode -
Gott Amor that dieses Wunder!”
“Melisande! Was ist Traum?
50 Was ist Tod? Nur eitel Töne.
In der Liebe nur ist Wahreit,
und dich lieb’ ich, ewig Schöne”
“Geoffroh! Wie traulich ist es
hier in stillen Mondscheinsaale
55 möchte nicht mehr draussen wandeln
in des Tages Sonnerstrahle.”
“Melisande! teure Närrin,
du bist selber Licht und Sonne,
wo du wandelst, blüht der Frühling,
60 sprossen Lieb’ und Maienwonne!”
Also kosen, also wandeln
jene zärtlichen Gespenster
auf und ab, derweil das Mondlicht
lauschet durch die Bogenfenster.
65 Doch den holden Spuk vertreibend
kommt am End’ die Morgenröte -
jene huschen scheu zurück
in die Wand, in die Tapete.