Wechselseitige Auswirkungen der Entwicklung von Individualund Sozialversicherung

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Wechselseitige Auswirkungen der Entwicklung von Individual- und Sozialversicherung Von Peter Koch, Aachen Vorbemerkung Sozialversicherung und Individualversicherung werden in ihrer ge- schichtlichen Entwicklung meistens isoliert betrachtet. Dies beruht auf der Tatsache, daB die Fachvertreter und ihre Darstellungen sich in der Regel lauf einen der beiden Bereiche beschrãnken. Infolgedessen wer- den the Wechselwirkungen im Spannungsfeld zwischen Individual- und Sozialversicherung aus historischer 'Sicht viel zu wenig beachtet'. Eine Ausnahme bildet die kleine Schrift aus der Feder Harald von Waldheims caber „Das Versicherungswesen in seiner Entwicklung mit besonderer Beriicksichtigung der Sozialversicherung" aus dem Ende der zwanziger Jahre 2 . Diese Veriiffentlichung ist offensichtlich von Al- fred Manes angeregt worden 3. linter dem Dach des Deutschen Vereins filr Versicherungswissen- schaft e. V., dessen langjdhriger Generalsekretdr und Vorstand Alfred Manes war, vereinigen such die wissenschaftliche Behandlung und Er- forschung beider Bereiche des Versicherungswesens. Zu der Einord- nung der Sozialversicherung in des Gesamtgeftige der Versicherung hat such der im vergangenen Jahr verstorbene stellvertretende Vereins- vorsitzende Hans Miller durch namhafte Arbeiten beigetragen4, insbe- sondere seinen Aufsatz filr the Festschrift des Wiener Hochschullehrers Hans Schmitz5 . 1 Vgl. Adler, Das Spannungsverhãltnis persiinlicher Entscheidungsfreiheit und sozialer Bindung im sozialen Rechtsstaat, Aktuelle Fragen der Indi- vidual- und der Sozialversicherung, Festgabe fiir Erich Roehrbein, 1962, S. 9. 2 von Waldheim, Das Versicherungswesen in seiner Entwicklung mit be- sonderer Bertic.ksichtigung der Sozialversicherung, Heft 12 der Fortbildungs- schriften fur Angestellte in der Sozialversicherung, o. J. 3 Manes, Versicherungswesen, 3. Bd., 5. Aufl. 1932, S. 176. 4 Z. B. Gemeinsame Grundbegriffe der Sozial- und Privatversicherung, Aktuelle Fragen der Individual- und Sozialversicherung, Festgabe filr Erich Roehrbein, 1962, 5.135; Einheit und Vielfalt der Versicherung, VersRdsch 1963 S.1; Sozialversicherung und Privatversicherung, Sozialgerichtsbarkeit 1970 S.81. 5 Moller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgefilge des Versiche- rungswesens, Festschrift fiir Hans Schmitz, 2. Bd., 1967, S. 391. 11"

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Wechselseitige Auswirkungen der Entwicklung von Individual-und Sozialversicherung

Von Peter Koch, Aachen

Vorbemerkung

Sozialversicherung und Individualversicherung werden in ihrer ge-schichtlichen Entwicklung meistens isoliert betrachtet. Dies beruht aufder Tatsache, daB die Fachvertreter und ihre Darstellungen sich in derRegel lauf einen der beiden Bereiche beschrãnken. Infolgedessen wer-den the Wechselwirkungen im Spannungsfeld zwischen Individual- undSozialversicherung aus historischer 'Sicht viel zu wenig beachtet'.

Eine Ausnahme bildet die kleine Schrift aus der Feder Harald vonWaldheims caber „Das Versicherungswesen in seiner Entwicklung mitbesonderer Beriicksichtigung der Sozialversicherung" aus dem Endeder zwanziger Jahre2. Diese Veriiffentlichung ist offensichtlich von Al-fred Manes angeregt worden3 .

linter dem Dach des Deutschen Vereins filr Versicherungswissen-schaft e. V., dessen langjdhriger Generalsekretdr und Vorstand AlfredManes war, vereinigen such die wissenschaftliche Behandlung und Er-forschung beider Bereiche des Versicherungswesens. Zu der Einord-nung der Sozialversicherung in des Gesamtgeftige der Versicherung hatsuch der im vergangenen Jahr verstorbene stellvertretende Vereins-vorsitzende Hans Miller durch namhafte Arbeiten beigetragen4, insbe-sondere seinen Aufsatz filr the Festschrift des Wiener HochschullehrersHans Schmitz5 .

1 Vgl. Adler, Das Spannungsverhãltnis persiinlicher Entscheidungsfreiheitund sozialer Bindung im sozialen Rechtsstaat, Aktuelle Fragen der Indi-vidual- und der Sozialversicherung, Festgabe fiir Erich Roehrbein, 1962, S. 9.

2 von Waldheim, Das Versicherungswesen in seiner Entwicklung mit be-sonderer Bertic.ksichtigung der Sozialversicherung, Heft 12 der Fortbildungs-schriften fur Angestellte in der Sozialversicherung, o. J.

3 Manes, Versicherungswesen, 3. Bd., 5. Aufl. 1932, S. 176.4 Z. B. Gemeinsame Grundbegriffe der Sozial- und Privatversicherung,

Aktuelle Fragen der Individual- und Sozialversicherung, Festgabe filr ErichRoehrbein, 1962, 5.135; Einheit und Vielfalt der Versicherung, VersRdsch1963 S.1; Sozialversicherung und Privatversicherung, Sozialgerichtsbarkeit1970 S.81.

5 Moller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgefilge des Versiche-rungswesens, Festschrift fiir Hans Schmitz, 2. Bd., 1967, S. 391.

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Ein Riickblick auf die historischen Wechselbeziehungen zwischen In-dividual- und Sozialversicherung client dem Verstandnis der heutigenSituation. Dabei wird keine Vollstandigkeit angestrebt. Vielmehr sollenverschiedene Aspekte hervorgehoben werden. Vberschneldungen sindin idiesem Zusammenhang gewollt. Herausgegriff en werden drei Tat-bestandsgruppen unter sachlich-institutionellen Gesichtspunkten, nichtin chronologischer Reihenfolge.

I. Gemeinsame Verwurzelung im Versicherungsgedanken

Sozialversicherung und Individualversicherung gehen versicherungs-historisch auf den gleichen Ursprung zuriick, namlich die Versiche-rung nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit auf der Grundlage genos-senschaftlicher Zusammenschhisse.

I. Vorldufer der Sozialversicherung

In ihrem gedanklichen Ursprung lassen sich die Einrichtungen derIndividualversicherung und der Sozialversicherung im Laufe der Ent-wicklung nicht voneinander trennen 6 .

Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der Krankenversiche-rung. Wesentliche Impulse hat die Ausgestaltung der Versicherung desKrankheitsrisikos durch das Wirken Paul Jakob Marpergers erfahren,von dem die ersten Plane fiir die Versicherung von Handlungsgehilfenstammen7. Seine Anregung hat besonders nachhaltig in Osterreich ge-wirkt. In Graz wurde 1798 ein Krankenversicherungsinstitut fiir Hand-lungsdiener errichtet, aus dem ein heute noch bestehendes privatesKrankenversicherungsunternehmen hervorgegangen ist 8. Auf den glei-chen Personenkreis erstreckt sich eine andere 1826 in Hamburg alsKranken-Verein der Commis des lablichen Kramer-Amts IgegriindeteKasse, die heute ebenfalls fortlebt, aber nicht als Unternehmen der pri-vaten Krankenversicherung, sondern als Ersatzkasse. Daraus geht her-vor, daB die Kassen der Friihzeit der Krankenversicherung teilweise indie private Krankenversicherung, teilweise in die Sozialversicherunggemiindet sind, ohne daB sich dafiir immer eine BegrUndung aus derEntstehungsgeschichte der einzelnen Institutionen ableiten laBti°.

6 Beispiele bei FrOhlich, Die Soziale Sicherung bei Ziinften und Gesellen-verbanden, Heft 38 der Sozialpolitischen Schrif ten, 1976, und SchOpfer,Sozialer Schutz im 16. - 18. Jahrhundert, Band 33 der Grazer Rechts- undStaatswissenschaftliche Studien, 1976.

7 Koch, Pioniere des Versicherungsgedankens, 1968, S. 125.8 Die Soziale Revolution, 175 Jahre Merkur Versicherung, 1973.9 Schwabe, 150 Jahre Krankenkasse der Handlungs-Commis, Betrachtun-

gen zum 150jahrigen Bestehen der Hanseatischen von 1826 und Merkur Er-satzkasse, 1976.

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Auch die Unfallversicherung war schon vor Einfiihrung der gesetz-lichen Unfallversicherung vorhanden. Sie ist in Deutschland zuriickzu-fiihren auf die Deckung der sich aus dem Betrieb der Eisenbahnen er-gebenden Gefahren. Mit der wachsenden Technisierung der Betriebekam die Unfallversicherung der Arbeitnehmer auf privater Basis hin-zull.

In entsprechender Weise kniipft die gesetzliche Invaliditats- undHinterbliebenenversicherung an die in Deutschland seit dem Anfangdes 19. Jahrhunderts betriebene Lebens- und Rentenversicherung an.Schon urn 1880 hatte die Volksversicherung 12, vor allemIdurch das Wir-ken von Franz Gerkrath, weite Verbreitung gefunden. Die von ihmentwickelte private Arbeiter- und Altersversicherung bereitete der So-zialversicherung den Weg und fand durch sie ihr Enders.

Der Arbeitslosenversicherung gehen ebenfalls Ansatze auf privaterBasis voraus. 1896 war die StadtkOlnische Versicherungskasse gegenArbeitslosigkeit im Winter entstanden14. Ihre Mittel wurden durch Bei-trage der Arbeiter, der Arbeitgeber, der Stadt und freiwillige Spendenaufgebracht. Die Kasse wurde 1911 in einen Versicherungsverein aufGegenseitigkeit umgewandelt, tiberlebte aber den Ersten Weltkriegnicht. Besondere Bedeutung in dieser Hinsicht erlangte das sogenannteGenter System. Darunter versteht man nach dem Vorbild der flandri-schen Stadt Gent das System des stadtischen Zuschusses zu den vonden Gewerkschaften betriebenen Arbeitslosen-Versicherungseinrichtun-gen, wie sie seit 1907 auch in Berlin und stiddeutschen Gemeinden be-standen15 .

2. Abgrenzung

Erst mit der Einfiihrung der Sozialversicherung durch die Schaffungder gesetzlichen Krankenversicherung im Jahre 1883 wurde eine Tren-nung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung moglich.Man konnte jetzt zwischen der aufgrund gesetzlichen Zwanges einge-fiihrten Krankenversicherung auf der einen Seite und dem ,eigenver-antwortlichen Risikoausgleich nach dem Aquivalenz-Prinzip auf deranderen Seite unterscheiden. So entstand nach der verwickelten Vorge-schichte durch diese Gesetzgebung erstmals Klarheit, ein Sachverhalt,

10 Koch, Von der Zunftlade zum rationellen GroBbetrieb, Kleine Geschichteder privaten Krankenversicherung in Deutschland, 1971, S. 23.

11 Carus, Unfallversicherung, 1931.12 Milzer, Die Volkslebensversicherung in Grof3britannien, in den Ver-

einigten Staaten von Amerika und in Deutschland, 1953.is Gerkrath, Zur Frage der Arbeiterversicherung, 1880; Koch, Bilder zur

Versicherungsgeschichte, 1978, S. 198.14 Henning, Die Stadterweiterung unter dem EinfluB der Industrialisierung

(1871 bis 1914), Zwei Jahrtausende Ktilner Wirtschaft, 2. Bd., 1975, S. 267 (349).15 Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 3. Aufl. 1978, S. 100.

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auf den der Versicherungsmecliziner Hans GObbels bereits im Jahre1940 hingewiesen hat". Die Vorlaufer kann man oft weder der einennoch der anderen Seite zuordnen.

3. Ubernahme versicherungstechnischer Prinzipien

Von Anfang an bediente sich die Sozialversicherung des Instrumen-tariums der privaten Versicherungswirtschaft 17. Selbst das als typischsozialversicherungsrechtlich angesehene System der Verwendung vonBilchern mit Einklebemarken geht auf die Praxis der privaten Voiks-versicherung mit ihren Wochen- oder Monatsbeitragen zuriick".

a) Berufsgenossenschaften

Nach den Motiven zum Unfallversichertmgsgesetz" entspricht dietbertragung der sozialen Unfallversicherung auf korporative Berufs-genossenschaften der historischen Entwicklung des Genossenschafts-wesens auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet. Nachdem urspriing-lich eine Reichsversicherungsanstalt geplant war, stellt die Schaffungder Berufsgenossenschaften die „ureigenste Schopfung des Fiirsten Bis-marck" dar, wie Tonio BOdiker ausdrticklich dargelegt hat". Natiirlichhaben dabei auch politische Uberlegungen eine Rolle gespielt. Entschei-dend war jedoch der Riickgriff auf das versicherungstechnische Prinzipdes genossenschaftlichen Zusammenschlusses.

Dieser Gedanke hatte w5hrend der ersten Hdlfte der siebziger Jahredes vorigen Jahrhunderts auch bei der Begriindung der modernen Un-fall- und Haftpflichtversicherung Pate gestanden. So verfiigte die All-gemeine Unfallversicherungsbank in Leipzig fiber 16 Gefahrenklassenund 132 Untergruppen, der Allgemeine Deutsche Versicherungsvereinin Stuttgart fiber 13 Sektionen2t. Sie bilden das Vorbild fiir den heu-tigen Haftptlichttarif. Die Verbindung zur Sozialversicherung hatteCarl Gottlob Molt, der Leiter des Allgemeinen Deutschen Versiche-rungsvereins, durch die Tatsache hergestellt, daB er die Reichsregie-

16 GObbels, Arzt und private Krankenversicherung, Wesen, Geschichte undBedeutung der deutschen privaten Krankenversicherung, inbesondere unterdem Gesichtspunkt ihrer Beziehungen zum Arzt, 1940, S. 66.

17 Manes, Versicherungswesen, 3. Bd., 5. Aufl. 1932, S. 176.18 Beispiele bei Koch, Bilder zur Versicherungsgeschichte, 1978, S.227/28.18 Motive zum 3. Entwurf des Unfallversicherungssetzes vom 6. Marz 1884

(Reichstags-Drucksache Nr. 4, Bd. 77, S. 68).20 Blidiker, HandwOrterbuch der Staatswissenschaften, 2. Bd., 2. Aufl.

1899, S. 628; Hunke/, Fiirst Bismarck und die Arbeiterversicherung, 1909,S. 50; Rothfels, Theodor Lohmann und die Kampfjahre der staatlichen So-zialpolitik, 1927, S. 51; Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, 1951; Schmitt-Lermann, Bismarcks Stellung zum Versicherungswesen, ZVersWiss 1965S. 51.

21 Manes, Die Haftpflichtversicherung, 1902, S. 12 - 16.

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rung bei der Einfiihrung der gesetzlichen Unfallversicherung beriet. ErbegriiBte diese Form der Vorsorge fiir die Arbeitnehmer allein schonim Interesse der Vermeidung der ProzeBsucht und hatte wesentlichenAnteil an der Ausgestaltung der sozialen Unfallvensicherung in Anleh-nung an die fiir die private Haftpflichtversicherung entwickelten Tech-niken22 .

b) Schadenverhiitung

Der fiir die Sozialversicherung typische Gedanke der Verbindungzwischen Versicherung und Schadenverhiitung stammt ebenfalls vonBismarck. In einem Brief an den Osterreichischen Handelsminister Al-bert Schaffle vom 16. Oktober 1881 spricht er ausdriicklich in diesemZusammenhang von einer Kontrolle der Einrichtungen, aus welchenUnfalle entstehen28 .

Die Idee dieser Verkniipfung von Versicherung und Schadenverhii-tung ist allerdin.gs wesentlich alter. Schon die schleswig-holsteinischenBrandgilden des 16. Jahrhunderts enthalten in ihren Satzungen Vor-schrif ten fiber die Verhiitung und das LOschen von Branden 24. Auch beianderen Gegenseitigkeitsvereinen findet man entsprechende Bestim-mungen. So ist im Rahmen der Einbruchdiebstahl-Versicherung dieRede von der Verfolgung des Diebes and bei den Totengilden von derBestattung Verstorbener in Pest- und Seuchenzeiten 25 .

Spater hat das Prinzip der Schadenverhiitung, welches im Bereich derSozialversicherung zu besonderer Bliite gekommen ist, auch wiederumbefruchtend auf die Individualversicherung gewirkt. Man denke in die-sem Zusammenhang nur an das Wort von Paul BraeJJ, daB die produk-tive Leistung der Schadenverhiltung fiir die Volkswirtschaft grOBer seials die Entschadigungsleistung der Versicherungswirtschaft28. AnlaBlichdes Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes hat der Gesetzgeber diegroBen Erfoige der Berufsgenossen.schaften auf dem Gebiet der Unfall-versicherung ausdriicklich hervorgehoben27. In den privaten HUK-Spar-ten sired entsprechende Ergebnisse der Verbandstatigkeit nachweisbar 28 .

22 Molt, Zum Entwurf des Allgemeinen obligatorischen Reichs-Unfallver-sicherungs-Gesetzes, 1881; Arps, Auf sicheren Pfeilern, Deutsche Versiche-rungswirtschaft vor 1914, 1965, S.78, sowie Deutsche Versicherungsunter-nehmer, 1968, S. 99 - 114.

23 Schaffle, Aus meinem Leben, 2. Bd., 1905, 5.152; Schmitt-Lermann,Bismarcks Stellung zum Versicherungswesen, ZVersWiss 1965 S.51 (66).

24 Helmer, Die Geschichte der privaten Feuerversicherung in den Herzog-tiimern Schleswig und Holstein, 1. Bd., 1925, 5.559.

25 Beenken, Schadenverhiitung, Die Versicherung, 4. Bd., 1962/64, Stdpl.E IX, S. 8.

26 BraeJl, Schadenverhiitung und Bedarfsvorbeugung in der Sachversiche-rung, 1936, S. 9.

27 Deutscher Bundestag, Drucksache 111/758, S.46; M011er/Heubeck, ZumFinanzierungssystem der gesetzlichen Unfallversicherung, 1967, S. 10.

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c) Mathematisch-statistische Grundlagen

Fur ihre mathematische Fundierung hat die Sozialversicherung friih-zeitig auf Unterlagen privater Versicherungstmternehmen zuriickgegrif-fen. So lieferte der Mathematiker und Leiter der Versicherungsgesell-schaft Gegenseitigkeit in Leipzig, Professor Karl Heym29, die Grund-lagen zur Beitragsberechnung in der sozialen Unfallversicherung" undlegte dem Reichstag 1889 ein Gutachten fiber die Invalidenversiche-rung vor, weil er sich als erster mit der Invaliditatswahrscheinlichkeitbeschdftigt hatte.

II. Beriihrungen im Haftpflichtrecht

Im Bereich des Haftpflichtrechts treffen Sozial- und Individualver-sicherung aufeinander. Es handelt sich einerseits urn die Ausschaltungvon Ersatzanspnichen, andererseits urn die Begriindung von RegreB-forderungen". t)ber das Delitksrecht erfolgt somit eine Verknilpfungvon Individual- und Sozialversichertmg zur Losung sozialer Beziehun-gen im Sinne der Terminologie von Reimer Schmidt32 .

1. Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz

Am Anfang dieser Entwicklung steht das Reichshaftpflichtgesetz vom7. Juni 1871 mit seiner Gefdlirdungshaftung der Unternehmer im Falleder Verletzung von Arbeitern. Zur Abdeckung theses Risikos war dieHaftpflichtversicherung in Deutschland entstanden. Es gab, wie ins-besondere Karl Sieg nachgewiesen hat, schun friiher Varlaufer thesesVersicherungszweiges und auch den Betrieb der UnfaRversicherung fiirdie Arbeitnehmer33. Eine Mare und saubere begriffliche Trennung zwi-schen Unf an- und Haftpflichtversicherurtg ist jedoch erst durch dasWirken des bereits erwahnten Carl Gottlob Molt herbeigefiihrt wor-den".

28 Hofmann, Schadenverhiitung des HUK-Verbandes, VW 1952 S. 352;Meyer/Jacobi 1Stiefel, Typische Unfallursachen im deutschen StraBenverkehr,1961; Cuntz, Schadenverhiitung in den HUK-Branchen, Die Versicherung, 4.Bd., 1962/64, Stdpl. E IX, S. 45 - 54; MOI/er, Soziale und private Unfallver-sicherung, VW 1964 S. 605; Benken, Die Schadenverhiltungsarbeit des HUK-Verbandes, VW 1967 5.1415; Brumm, Schadenverhiitung als eine Aufgabedes HUK-Verbandes, VW 1970, S. 366.

29 Koch, Artikel Heym, Neue Deutsche Biographie, 9. Bd., 1972, S. 87.so Verhandlungen des Reichstags, 64. Bd., 1881, S. 245.31 Reimer Schmidt, Der RegreB des Versicherers (§ 67 VVG und § 1542

RVO), VersR 1953, S. 457.32 Soergel-Siebert-Reimer Schmidt, BGB, 1. Bd., 10. Aufl. 1967, Einl. 92.38 Sieg, Ausstrahlungen der Haftpflichversicherung, Geschichtliche, ma-

teriellrechtliche und prozessuale Studien zur Stellung des Drittgeschadigten,1952, S. 45 - 51.

34 Koch, Pioniere des Versicherungsgedankens, 1968, S. 316.

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a) Unfallversicherung

Das Unfallversicherungsgesetz von 1884 nahm den Unternehmerndie Haftung gegentiber ihren Arbeitern ab, die ,aufgrund der Versor-gung durch die gesetzliche Unfallversicherung ihre Ersatzanspriicheverloren. Diese Regelung .diente sowohi der Vorsorge fiir die Arbeit-nehmer als auch der Befriedung der Beziehungen zwischen den Par-teien, von denen aus der Sicht der Individualversicherung die Bede war.Neu ist in diesem Zusammenhang der in der Begriindung zum Gesetz-entwurf von 1881 ausdriicklich hervorgehobene Gedanke, daB die Haft-pflicht ,durch eine Offentlich-rechtlicheUnfallversicherung ersetzt wird".Er wiederholt sich ausdrficklich im zweiten Entwurf".

b) Allgemeine Geltung

Die im Sozialversicherungsrecht aufgekommene Idee der Haftungs-ersetzung durch Versicherungsschutz hat inzwischen allgemeine Gel-tung erlangt und auch Eingang in das private Versicherungswesen ge-funden. Schon 1934 pragte Hans Miller die Formulierung von der über-windung der Haftpflichtversicherung", und nach dem Zweiten Welt-krieg formulierte Karl Sieg erstmals den Gedanken der Haftungser-setzung durch Versicherungsschutz in allgemeiner Hinsicht 38. Verwirk-licht wurde er beispielsweise ,durch the Speditionsversicherung, indemder Spediteur von der Haftung frei wird, weil er seinem Kunden einenunmittelbaren Anspruch gegen den Versicherer verschafft hat".

Auf sozialen tTherlegungen im Interesse des Verkehrsopfers beruhtdie Ltickenlosigkeit des Versicherungsschutzes in der Kraftfahrt-Haft-pflichtversicherung, und zwar auch bei einem kranken Versicherungs-verhaltnis, wenn der Versicherungsnehmer Obliegenheiten verletzt, imFalle der Fahrerflucht sowie bei Zahlungsunfahigkeit des Versicherersmit Ansprilchen gegen den seit 1968 bestehenden Verein Solidarhilfee. V.40 .

Eine Fortsetzung dieser Linie findet sich in den t•berlegungen zumThema „No fault" in Anlehnung an die Formulierung von Albert Eh-

35 Begriindung zumn Entwurf eines Gesetzes betreffend die Unfallversiche-rung der Arbeiter vom 8. Marz 1881, Reichstags-Drucksache Nr. 41, Bd. 64,S. 231.

Begriindung zum 2. Entwurf vom 8. Mai 1882, Reichstags-DrucksacheNr. 19, Bd. 72, S. 190.

37 Miller, ilberwindung der Haftpflichtversicherung, JW 1934 S. 1076.38 Sieg, Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz, ZHR 113 S. 95.36 Miller, Die ADSp und die dazugehtirigen verschiedenen Versicherungs-

regelungen, BB 1962 5.394; Steinfeld, Formen der Speditionsversicherung,1965, Helm, Haftung fiir Schdden an Frachtgiltern, 1966, S. 29, sowie in Grof3-komm. HGB § 415, Anh. I (§ 37 ADSp.).

40 KOtZ, Deliktsrecht, 2. Aufl. 1979, S. 179.

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renzweig jun.41 . Es handelt sich ,dabei um Reformplane, die ffir den Be-reich der Schadensabwicklung bei Verkehrsunfdllen die Haftung desKraftfahrzeug-Halters ganz oder teilweise beseitigen und durch einSystem der Unfallversicherung ersetzen wollen 42. Im Ausland sind der-artige Einrichtungen zum Teil verwirklicht; inzwischen gibt es ein um-fangreiches Schriftturn zu diesem Fragenkreis, der gedanklich an dieEinfiihrung der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland an-kniipft".

2. RegreJ3

Haftpflichtanspriiche des Sozialversicherten gegen den schkligendenDritten gehen auf den Sozialversicherungstrager in der Unfall-, Ren-ten- und Krankenversicherung fiber, soweit these Leistungen zu erbrin-gen haben. Aufgrund dieser Regelung, die sich in § 1542 RVO findet,kommt es haufig zu Beriihrungen zwischen der Sozial- und der Indivi-dualversicherung, da dem Sozialversicherungstrager regelmaBig nichtder Drittschuldner, sondern dessen Haftpflichtversicherer gegeniiber-steht44.

a) Teilungsabkommen

Der Verkehr zwischen Sozialversicherungstrâgern und Haftpflicht-versicherern zur Abwicklung der Regraa.nspriiche wird durch sage-nannte Teihmgsabkommen erleichtert. Ste dienen der pauschalen Re-gulierung auftretender Regrel3falle in der Weise, da13 ohne Priifungder Sach- und Rechtslage ein bestimmter Prozentsatz der Versiche-

41 Ehrenzweig, „Full Aid" Insurance for the Traffic Victim, A VolontaryCompensation Plan, Berkeley-Los Angeles 1954, sowie Ersatzrecht-Versiche-rung, EM Beitrag zur iTherwindung der Haftpflichtversicherung im Kraft-fahrtrecht, Internationales Versicherungsrecht, Festschrift Eh Albert Ehren-zweig, 1955, S.9.

42 Reimer Schmidt, Stichwort No fault, Versicherungsalphabet, 5. Aufl.1976, S. 193.

43 Bosonnet, Haftpflicht- oder Unfallversicherung?, Ersatz der Haftpflichtdes Motorfahrzeughalters durch eine gesetzliche Unfallversicherung der Ver-kehrsopfer, Zurich 1965; Tune, La Securite Routiere, Paris 1966; Ktimmer,Bestrebungen der Ersetzung der gesetzlichen Kraftfahrzeug-Haftpflichtver-sicherung durch eine gesetzliche Unfallversicherung im anglo-amerikanischenRechtskreis, ZVersWiss 1967 5.169; von Hippel, Schadensausgleich bei Ver-kehrsunfdllen, Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz, 1968; Criale-mann, Ausgleich von Verkehrsunfallschaden im Licht internationaler Re-formprojekte, Untersuchungen zur Einfiihrung einer obligatorischen Unfall-und Sachversicherung, 1969; Weyers, Unfallschaden, Praxis und Ziele vonHaftpflicht- und Vorsorgesystemen, 1971; Deutsch, Haftungsrecht, 1. Bd.1976, S. 415; Kiitz, Deliktsrecht, 2. Aufl. 1979, S. 188; kritisch Sievers, Nocheinige Bemerkungen zum No-fault-System, VW 1972 5.1433.

44 Claussen, Rechtliche Wechselbeziehungen, insonderheit Fragen des Re-gresses, zwischen gesetzlicher Unfallversicherung und privater Unfall- undHaftpflichtversicherung, ZVersWiss 1970 S. 303.

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rungsleistung des Sozialversicherungstragers erbracht •rd". Auf die-ser Basis wickelt sich heute ein erheblicher Teil der Haftpflichtschadenab.

b) Schutzder FamilienangehOrigen

Trotz ihrer sozialen Aufgabenstellung enthalten die Vorschrif ten dergesetzlichen Versicherung keinen AusschluB des Forderungsilbergangesfiir den Fall, daB sich die Ersatzansprilche gegen Familienangehiirigerichten. Im Rahmen der privaten Schadenversicherung steht § 67 Abs. 2VVG ausdriicklich einen derartigen Schutz der FamilienangehOrigenvor. Vom Bundesgerichtshof wird die Bestimmung seit 1964 ouch aufdie RegreBanspriiche der Sozialversicherungstrager angewandt". DieserAusschluB gilt nach einer Entscheidung aus dem Jahre 1978 selbst dann,wenn der in Betracht kommende FamilienangehOrige durch eine pri-vate Haftpflichtversicherung gedeckt ist47. Dem Haftpflichtversicherer,der ausschlieBlich der Haftung des Versicherungsnehmers zu folgenhat, kommt somit dieses soziale Privileg der Sache nach zugute.

III. Zusammentreffen am Markt

Das Zusammenwirken von Sozial- und Individualversicherung wah-rend der vergangenen 100 Jahre ist im wesentlichen gekennzeichnetdurch the Ausdehnungsbestrebungen der Sozialversicherung , und dieAnpassungsbemilhungen der privaten Versicherungswirtschaft.

1. Ausdehnung der Sozialversicherung

Im Vordergrund der Entwicklung steht eindeutig die Ausdehnungdes unter die Versicherungspflicht in der Sozialversicherung fallendenPersonenkreises zu Lasten der Individualversicherung48. Am Anfangstand die Beschränkung der Sozialversicherung aussehlieBlich auf dieArbeiterversorgung. 1911 wurden die Angestellten in die Alters- undHinterbliebenenversicherung — allerdings unter Schaffung eines be-sonderen Versicherungstragers auf Reichsebene — einbezogen. Mit der

45 Clasen, Teilungs- und Regrellverzichtsabkommen mit Haftpflichtver-sicherern, 1958; Wussow, Teilungsabkommen zwischen Sozialversicherernund Haftpflichtversicherern, 4. Au& 1975.

46 BGHZ Bd. 41, S. 79 --= VersR 1964 S. 391 = LM Nr. 46 zu § 1542 RVOmit Anm. HauJ3; Bruck-Moller-Sieg, Anm. 112 zu § 67 VVG.

47 BGH NJW 1979 S. 983.48 Balmer, Feststellungen der deutschen Personenversicherer zu den so-

zialpolitischen Einengungen ihres Tatigkeitsbereiches zugunsten der Sozial-versicherung, VW 1972 S. 1476; Jantz, Die neueren Ausweitungen des Per-sonenkreises und des Leistungsrechts der Sozialversicherung in ihrer Be-deutung fiir das Verhaltnis der Sozialversicherung zur Privatversicherung,ZVersWiss 1973 5.213.

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Aufnahme der Handwerker wurde 1938 die Sozialversicherung erst-mals filr Selbstandige ngetiffnet; 1957 kam die Altersversorgung ftirLandwirte hinzu. Die Unfallversicherung bezog 1971 Kinder, Schillerund Studenten ein, die gesetzliche Krankenversicherung 1972 die Land-wirte und 1975 die Studenten".

Damit hat sich die Sozialversicherung im Laufe der letzten 100 Jahreauf einen wesentlichen Personenkreis ausgedehnt, der nicht in einemArbeits- oder Beschaftigungsverhdltnis steht.

Hinter dieser Ausweitung ist weder eine kiare Konzeption noch eindeutliches System erkennbar. Sie beruht vielmehr 'auf Einzelentschei-dungen des Gesetzgebers. Dabei ist diese Entwicklung noch nicht zumAbschluB gekommen. Man denke nur an die Bestrebungen zur Einbe-ziehung der Ktinstler" und Hausfrauen51 in die gesetzliche Versiche-rung.

Piir die private Versicherungswirtschaft kommt markteinengend derstandige Anstieg der dynamisierten Versicherungspflichtgrenze im Rah-men der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung hinzu.

2. Komplementares Zusammenwirken

Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich vier verschiedeneTatbestandedes Zusammenwirkens52 zwischen Sozial- und Individualversicherungunterscheiden.

a) Surrogatfunktion der Individualversicherung

Soweit der Gesetzgeber eine Befreiungsmdglichkeit von der Versi-cherungspflicht in der gesetzlichen Renten- and Krankenversicherungeinraumt, sieht er Sozial- und Individ•alversicherung als gleichwertigund deshalb ersetzbar an53. Er hat dies erstmals 1938 im Rahmen derEinftihrung einer Altersversorgung filr die Handwerker getan.

49 Zu dieser Entwicklung: Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung,3. Aufl. 1978.

so Entwurf eines Gesetzes fiber die Sozialversicherung der selbstandigenKiinstler und Publizisten (Ktinstlersozialversicherungsgesetz — KSVG), BT-Drucksache 8/4006 vom 13. Mai 1980; dazu Rechenschaftsberichte des Ver-bandes der privaten Krankenversicherung e. V., 1976, S. 84, 1977, S. 72, 1978,S. 82, 1979, S. 91.

51 Kotz, Deliktsrecht, 2. Aufl. 1979, 5.269.92 Leisner, Zur Abgrenzung von gesetzlicher und privater Krankenver-

sicherung, Eine verfassungsrechtliche Untersuchung, PKV-Dokumentation 3,1974, S. 53.

53 Schmatz, Wechsel-, Befreiungs- und Wahlmiiglichkeiten zwischen So-zialversicherung und Individualversicherung, ZVersWiss 1970 S.269.

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Einen Sonderfall stellt der tbertritt von der gesetzlichen in die pri-vate Krankenversicherung bei Ulberschreitung der Versicherungspflicht-grenze dar54. Zur Vermeidung von Harten und mit Riicksicht auf dieGleichbehandlung beider Versicherungsformen hat das Reichsaufsichts-amt fur Frivatversicherung bereits 1935 den Verzicht auf Einhaltungvon Wartezeiten gestattet55 .

b) Aufstockung des Versicherungsschutzes

Unter dem Druck der standigen Ausweitung des unter die gesetz-liche Krankenversicherung fallenden Fersonenkreises entwickelte dieprivate Krankenversicherung seit den zwanziger Jahren. sogenannteZusatzversicherungen mit dem Zweck, die durch die gesetzliche Kran-kenversicherung gebotene Grundversorgung bei steigendem Lebens-standard aufzustodcen, beispielsweise durch Tarife fiir eine bessere Un-terbringung im Falle stationarer Krankenhaus-Behandlung56 .

c) Erganzung der Leistung

Urn den Bediirfnissen welter BevOlkerungsschichten zu entsprechen,bietet die Individualversicherung erganzende Leistungen zur Sozial-versicherung. Dies gilt sowohl fiir die Abdeckung zusatzlicher Risikenals auch fiir unterschieclliche Leistungsangebote von ihrer Art her.

So wird der Versicherungsschutz durch die gesetzliche Unfallvers•che-rung insofern durch Leistungen der privaten Unfallversicherung er-ganzt, • als diese sich auBerhalb des Bereiches der Arbeits- und Wege-unfdlle auch auf die Abdeckung des sogenannten Freizeit- und Sport-risikos erstrecken. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an in densechziger Jahren entwickelte Gruppenversicherungen fiir Gewerk-schaftsmitglieder sowie die von einigen Gesellschaften neuerdings spe-ziell fiir das Freizeitrisiko gebotenen Unfall-Tarife 57 .

Von der Art der Leistung her gesehen wird • the gesetzliche Renten-und Unfallversicherung, bei der die Rentenzahlung an den Versicher-ten oder Hinterbliebene im Vordergrund steht, erganzt durch die Ka-pitalleistungen der privaten Unfall- und Lebensversicherer zur Dek-kung des durch den Eintritt des Versicherungsfalles auftretenden Ver-md,gensbedarfs, der mit den gesetzlichen Renten nicht abgedeckt wird".

54 Ullmann, Probleme der Koexistenz zwischen privaten und gesetzlicherKrankenversicherung, ZVersWiss 1970 S. 279.

55 R 21/1935; Trepte/Otto, Die private Krankenversicherung, 50 Jahrematerielle Versicherungsaufsicht, 2. Bd., 1952, S. 129 (147).

56 KOppen, Private Krankenversicherung, Versicherungsenzyklopadie, 4.Bd., 1976, Stdpl. F II, S. 61.

57 Kotz, Deliktsrecht, 2. Aufl. 1979, S. 108.58 Moller, Soziale und private Unfallversicherung, VW 1964, S. 605 (611).

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Diese erganzenden Kapitalleistungen der Individualversicherung bietendarilber hinaus den Vorteil, daB ein etwaiger Ersatzanspruch gegen denSchadiger nicht wie Ian Falle der Sozialversicherung nach der Vor-schrift des § 1542 RVO auf den Versicherer ilbergeht, da es sich urnrein Summenleistungen handelt, auf die § 67 VVG keine Anwendungfindet59 .

d) Soziale Aspekte der Individualversicherung

Ein wesentlicher Gesichtspunkt fiir das Zusammentreffen von Sozial-und am Versicherungsmarkt ist die Tatsache,daB auch die Zweige der privaten Versicherungswirtschaft, wie KarlSieg liberzeugend nachgewiesen hat", entscheidend durch soziale Ein-schlage gepragt sind. Dieser Aspekt ist in den letzten 100 Jahren erheb-lich verstdrkt warden, sei es, daB die Versicherungswirtschaft selbst dieInitiative ergriff en oder der Gesetzgeber eingewirkt hat.

In diesem Zusammenhang 1st zunachst auf die Lebensversicherunghinzuweisen, deren Beitrage seit der preuBischen Einkommensteuer-reform von 1891 der steuerlichen Begtinstigung unterliegen; damit soil-ten die ,lurch die Lebensversicherung versorgten Beviilkertmgskreiseden Beamten und Mitgliedern der gesetzlichen Versicherung wirtschaft-lich angepaBt werden". Der in der Theorie zwar nicht unbestritteneoriginare Erwerb der Versicherun,gssumme durch den Bezugsberechtig-ten verhindert im Interesse ties Schutzes der Hinterbliebenen den Zu-griff der Glaubiger 62. Unter dem Eindruck der beiiden Geldentwertun-gen 1923 und 1948 wurde angesichts der vollstandigen Erhaltung derSozialversicherungsleistungen ohne Abwertung wie im Falle tier Le-bensversicherung der Wertbestandigkeit dieses Versicherungszweigesbesonderes Augenmerk zugewandt. Gewisse Hdrten glich das Gesetzzur Verbesserung der Rechtsstellung der Lebensversicherten aus 63. DieGeselischaften entwickelten enter diesem Gesichtspunkt neben der ver-starkten Gewinnbeteiligtmg vor allem die fondsgebundene Lebensver-sicherung" im Jahre 1970, urn die Versicherten am Sachwert der Aktien

59 Moller, Stellung der Sozialversicherung im Gesamtgeftige des Versiche-rungswesens, Festschrift fiir Hans Schmitz, 2. Bd., 1967, S. 391 (403).

69 Sieg, Soziale Einschlage in der Individualversicherung, Bell. 3 zu BB11/1972, S. 3.

61 Meister, Sonderausgaben und Lebensversicherung, VW 1963 S. 666.62 Mtiller/Winter, Die Rechte Dritter gegen den Versicherer, ZVersWiss

1970 S. 17 (45).63 Vgl. Bronisch-Sasse-Starke, Recht der privaten Versicherungen, 1962,

Anhang: Ergdnzungsgesetze zur Wahrungsreform in der Individualversiche-rung.

64 Koch, Investment und Versicherung, Investment-Handbuch, herausge-geben von Schuster, 1971, 5.185.

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teilhaben zu lassen, sowie sogenarmte dynamische Tarife" mit der MOg-lichkeit einer laufenden Aufstockung der Versicherungssumme ohne zu-satzliche arztliche Untersuchung, nicht zuletzt wohl angeregt durch denEindruck der von der Sozialreform des Jahres 1957 gebrachten Dyna-misierung der gesetzlichen Renten".

In diesem Zusammenhang ist such noch einmal auf die Liickenlosig-keit des Systems der Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung zum Schutzedes Verkehrsopfers hinzuweisen.

3. FOrderung der Individualversicherung

Die Einfiihrung und standige Ausdehnung der Sozialversicherung hatentscheidend zur Popularisierung des Versicherungsgedankens in alienBevOlkerungsschichten beigetragen und damit der Individualversiche-rung wahrend des letzten Jahrhunderts neue Markte eriiffnet. DieseEntwicklung hat Carl Gottlob Molt bereits in den achtziger Jahren desvorigen Jahrhunderts vorausgesehen". Durch die staatliche zwangs-weise Arbeiterversicherung werde der Versicherungsgedanke so yolks-tiimlich und einsichtig, daB die Privatversieherung ein ungeheures Ar-beitsfeld vor sich habe. Dabei konnte er allerdings die erheblichen Be-schrankungen fiir den Tatigkeitsbereich der Individualversicherung inwichtigen Sparten nicht vorausahnen.

a) Haftpflichtversicherung

Besonders zutreffend laBt sich diese Uberlegung .am Beispiel derHaftpflichtversicherung belegen". Mit der Einfiihrung der gesetzlichenUnfallversicherung im Jahre 1884 war denjenigen Haftpflichtversiche-rem, die sich auf die Decicung der Unternehmerhaftpflicht gegenilberden Arbeitnehmem beschrankt hatten, die Arbeitsmaglichkeit entzogen.Viele Gesellschaften liquidierten deshalb.

Als einer der wenigen erkannte jedoch der bereits mehrfach er-wahnte Molt, daB der privaten Versicherungswirtschaft zunachst schoneinmal die Versicherung der sogenannten Haftpflichtreste blieb. Darun-

65 Kithlmann, Dynamische Lebensversicherung, DE 1973 5.268.66 Greb, Das Verhaltnis von Gesetzlicher Rentenversicherung zu Privater

Lebensversicherung seit 1957, 1968.67 W. Molt, Schwabische Lebensbilder, 4. Bd., 1948, S. 134 (139).68 von Heinz, Entsprechungen und Abwandlungen des privaten Unfall-

und Haftpflichtversicherungsrechts in der gesetzlichen Unfallversicherungnach der RVO, 1973, S. 143; de Longueville, Entwicklung der Haftpflichtver-sicherung in Deutschland, EM Beispiel fiir Produktinnovation im Versiche-rungsbereich, Entwicklung und Aufgaben von Versicherungen and Bankenin der Industrialisierung, Bd. 105 der Schriften des Vereins fur Socialpolitik,herausgegeben von Henning, 1980, S.29 (46).

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ter verstand er die Gewahrung von Haftpflicht-Versicherungsschutz ge-gen Regresse der Berufsgenossenschaften sowie die Inanspruchnahmedurch betriebsfremde ,dritte Personen. Seiner Gesellschaft traten des-ha1b nach im Jahre der Einfiihrung der gesetzlichen Unfallversicherungaufgrund der intensiven Aufklarungsarbeit fiber 1 500 Unternehmerwieder bei.

Unter dem Eindruck der Haftpflichtgefahr, der weite Kreise ausge-setzt waren, auf die sie aber erst .durch das Beispiel der Unternehmer-haftung aufinerksam gemacht worden waren, nahm die Haftpflichtver-sicherung in der Folgezeit einen unerwarteten Aufschwung. Sie er-streckte sich schon 1886 auf Kleingewerbetreibende sowie Haus- undGrundbesitzer, 1887 auf Arzte und Apotheker, 1888 auf Hotelbesitzerund Gastwirte sowie schlieBlich 1895 auf Rechtsanwälte, Notare undPrivatpersonen.

b) Krankenversicherung

Mit der Einftihrung der gesetzlichen Krankenversicherung fiir Arbei-ter im Jahre 1883 belebte sich die Nachfrage nach Krankenversiche-rungsschutz seitens derjenigen Personen, die nicht der Versicherungs-pflicht unterlagen, in unerwarteter Weise".

Dies gait insbesondere ftir Beamte und Selbstandige. Ab 1905 ent-standen deshalb die ersten privaten Versicherungseinrichtungen fiir of-fentliche Bedienstete. Der Deutsche Handwerks- und Gewerbekammer-tag unternahm als Standesorganisation den Versuch, den von ihm ver-tretenen Personenkreis der 'Sozialversicherung zu unterstellen 70. Erscheiterte jedoch am Widerstand der Reichsregierung. 1904 erklarte derfur die Sozialversicherung zustAndige Staatssekretar des Innern GrafPosadowsky-Wehner im Reichstag: „Die Ausdehnung der Sozialgesetz-gebung auf den selbstdndigen Handwerkerstand ist ein überschreitendes Rubikons in der Sozialpolitik." Aus diesem Grunde faBte die Or-ganisation 1907 in Ntirnberg den BeschluB, selbstdndige Versicherungs-einrichtungen fiir ihre Mitglieder auf privater Basis zu schaffen, ausdenen angesehene und bedeutende Unternehmen der privaten Kran-kenversicherung hervorgegangen sind.

In ihrer Ausgestaltung paBte sich die private Krankenversicherungstark anidas Leistungsangebot der.gesetzlichen Versicherungstrager an.Dies gilt beispielsweise fiir the Gewahrung von Geburtsbeihilf en und

69 Koch, Von der Zunftlade zum rationellen Grol3betrieb, Kleine Geschichteder privaten Krankenversicherung in Deutschland, 1971, S. 42 - 48.

70 Zum folgenden: Baumgart, Die berufsstandische Organisation des selb-stãndigen Handwerks und Gewerbes auf dem Gebiete der Kranken-, Lebens-und Rentenversicherung, 1925; Heim, 50 Jahre Nova, EM Beitrag zur Ge-schichte der privaten Krankenversicherung, 1956, S. 4.

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die Zahlung von Sterbegeldern, die man vorher nur in einem ver-gleichsweise geringen Umfang kannte.

c) Lebensversicherung

Die Einfiihrung der Arbeiter- und Angestellten-Rentenversicherungin den Jahren 1889 und 1911 weckte beim breiten Publikum einen zu-satzlichen Versicherungsbedarf, der seinen Niederschlag in einer star-ken Nachfrage nach den verschiedensten Formen der Lebensversiche-rung, zunachst instesondere in der Art der sogenannten Volksversiche-rung, fand71. Diese Behauptung der privaten Lebensversicherung hatbis in die Gegenwart angehalten, wo sie im Rahmen der sogenanntenDrei-Saulen-Theorie als wichtiger Pfeiler der Altersversorgung aus-driicklich anerkannt ist72 .

Zusammenfassung

100 Jahre Wechselbeziehungen in der Entwicklung von Individual-und Sozialversicherung zeigen also, daB die Individualversicherung beider Schaffung der Sozialversicherung Geburtshilfe Igeleistet, die stan-digen Ausdehnungsbestrebungen der Sozialversicherung iiberlebt sowielurch die fortlaufende Verbesserung und Anpassung ihrer Leistungenihre Existenzberechtigung gegeniiber der Sozialversicherung bewiesenhat.

71 Braun, Geschichte der Lebensversicherung und der Lebensversiche-rungstechnik, 2. Aufl. 1963, S. 281; Jantz, Probleme der Sozialversicherunginnerhalb der Versicherungswissenschaft, ZVersWiss 1962 S. 77 (79).

72 Arendt, Der Standort der deutschen Lebensversicherung im Gesamt-gefilge des Systems der sozialen Sicherung, VW 1973 S. 682.

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