Weidmann, Heiner - Geistesgegenwart. Das Spiel in Walter Benjamins Passagenarbeit

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    Geistesgegenwart: Das Spiel in Walter Benjamins PassagenarbeitAuthor(s): Heiner WeidmannSource: MLN, Vol. 107, No. 3, German Issue (Apr., 1992), pp. 521-547Published by: The Johns Hopkins University PressStable URL: http://www.jstor.org/stable/2904945 .

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    Geistesgegenwart:as Spiel nWalter enjaminsassagenarbeitHeinerWeidmann

    Das Motiv des HasardspielsnimmtnWalterBenjaminsPassagen-arbeit einegenaue Stelle ein. Unterder "Passagenarbeit"wirdhierjenes groBe, 1927 begonnene und bis zum Tod 1940 verfolgteUnterfangen iner Lektire und Erinnerungdes 19.Jahrhundertsverstanden,welches im selben Zug, als diese Lektire und Erin-nerung, epochemachend in die Gegenwartder DreiBigerjahredes20. Jahrhunderts ingreifen ollte. Dieser Arbeithat man nach-zugehen durch alle Texte Benjaminsdieser Zeit; in den als "Pas-sagenwerk"publiziertenNotizenerschopft ie sich nochbei weitemnicht.So drangensichzumThema "Spiel" neben dem KonvolutOdes "Passagenwerks" (V 612-642) noch weitere zusammenhan-gende Darstellungen uf: das Kapitel IX von "Uber einigeMotivebei Baudelaire" (I 632-637), "Notizenzu einer Theorie des Spiels"(VI 188-190),"Der Weg zum Erfolg ndreizehnThesen" (IV 349-352) und "Das Spiel" (IV 426f.),sowie "Die glucklicheHand. EineUnterhaltungfiber das Spiel" (IV 771-777).1 Diese Texte uber-schneiden sich zwar in vielenMomenten,doch ergeben sie keinekoharente,widerspruchsfreieTheorie des Spiels". Und es ist hiernicht die Absicht, ine solche zu konstruieren.Aufgewiesenwer-

    1Zitiertwirdnach: WalterBenjamin,Gesammeltechriften,ande I-VI, hg. vonRolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser,Frankfurt . M.: Suhrkamp,1972-1985 (RomischeZiffer:Band, arabische Ziffer: eite).MLN, 107, (1992): 521-547 ? 1992 byThe JohnsHopkins University ress

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    522 HEINERWEIDMANNden soil lediglichdie entscheidende Funktion des Spiels in derPassagenarbeit, wodurch einerseits deren Anlage im ganzendurchsichtigerund andererseits der Zusammenhang der ver-schiedenenMomente,-diem Spiel bei Benjamin nteressieren,in-sichtigerwerdenkann.2Das Hasardspiel wird in der Passagenarbeit als ein typischesPhanomen des 19. Jahrhunderts aufgenommen. Zwar ist esunbestreitbar, aB es diese Erscheinung-mitderBenjamindurch-aus auch biographisch eineErfahrungenmacht-im 20.Jahrhun-dert immernoch gibt,wie es sie im 18. Jahrhundert uch schongegeben hat: "Neu im Vergleich zum ancien regime ist,daB imXIX Jahrhundertder Burger spielt" (V 613); "im achtzehntenspieltenur der Adel" (I 634). Das Spiel verliert lso im 19. Jahr-hundertseine Exklusivitat:Und nichtnur hat es Konjunkturalsallgemeinzugangliches burgerlichesVergnugen,auch die Arbeitin der neuen Form des sogenannten Geschafts', on der man sichdabei zu erholen gedenkt, wird auf dieselbe Weise betrieben;Borsenund Casinoswerdengleichzeitig nd indenselben architek-tonischenFormen erstellt.Diese Koinzidenz hat man rasch be-merkt: "Rouge et noire au Trente-un, hausse et baisse a laBourse,/Sont de perte et de gain egalement la source" (V 627),oder: "Le trente tquarante e joue a rouge et noire, comme a laBourse on joue a la hausse ou a la baisse" (V 628); und nur nochernsthaft ritisch, arnichtmehrfrivol, rscheint ie 1906 bei PaulLafargue: "Es istunm6glich,zu erwarten, s werde einem Bour-geois emals gelingen,die Phanomene der Verteilungder Reich-tumerzu begreifen";die Geschaftsanteile erAktiengesellschaftenwiirden"von den einenverloren, on den anderengewonnen,undzwar n einerWeise,die so sehr dem Spiele ihnelt, aB die Borsen-geschifte tatsachlichSpiel genanntwerden. Die ganze moderneokonomischeEntwicklung at die Tendenz, die kapitalistische e-sellschaftmehrund mehrin ein riesiges nternationales pielhausumzuwandeln, wo die Bourgeois Kapitalien gewinnen und ver-lieren infolge von Ereignissen, die ihnen unbekannt bleiben"(V 621).Auf derselbenLinie liegtanscheinend die folgendeNotiz Ben-

    2Eine aufwendige Darstellungdieser Anlage, in der die Skizze des Spiels nureinen Bestandteil bildet: Heiner Weidmann, Flanerie,Sammlung, piel. Die Erin-nerung es 19.JahrhundertseiWalter enjamin,Munchen: Fink,1992.

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    jamins:"Die Wette st inMittel, enEreignissenhockcharakterzu geben,sie aus Erfahrungszusammenhangenerauszulosen.Nicht onungefahr ettetman ufdenAusgang onWahlen,ufden Kriegsausbruchsw. Fur die Bourgeoisiensbesondere eh-mendiepolitischenreignisseeicht ieFormvonVorgingen-amSpieltischn. Furden Proletarierstdas nichtmgleichenMaBeder Fall. Er ist besserdisponiert, onstantenmpolitischen e-schehen u erkennen"V 640).Aberweiter lsdie beiden etztenSatze ffihrtineunerwartete endungn derPassagenarbeit:aBsichnamlich iespezifischerfahrunges Fabrikarbeitersit erdesbirgerlichenpielers nentscheidendenunkten anz genaudeckt.Das vomSpiel handelndeKapitel X des Exposes"ObereinigeMotive ei Baudelaire"beginnt: DemChockerlebnis,asderPassantnderMengehat, ntsprichtas >Erlebnis? esArbei-ters n derMaschinerie. as erlaubt ochnichtnzunehmen,aBPoe von dem ndustriellenrbeitsvorganginenBegriffesessenhat. Aufalle Falle ist Baudelairevon einem olchenBegriff eitentferntewesen. r st bervoneinemVorgang efesselt orden,indemder reflektorischeechanismus,en die Maschinem Ar-beitern Bewegung etzt,m MiBiggangerwie n einemSpiegelsich naher studierenaBt.DiesenVorgang tellt as Hasardspieldar. Die BehauptungmuBparadoxerscheinen"I 632). Paradox,insofernmanArbeitund Spiel als strikte egensatze uffassenmuB;das abergeltenur furdie handwerklichepragte, ochdif-ferenzierterbeit, nd nicht urdie desungelerntenabrikarbei-ters.Diesergehezwargrundlicher Abenteuerreizb,nicht ber"die Vergeblichkeit, ie Leere, das Nicht-vollenden-durfen"(I 633) des Spiels.DaB sichder Arbeiterm Grundegenauso wie derSpieler mSpieltischerhalt,as macht un, bwohl r dochgeradedieHoff-nungslosigkeititdiesem eilt,eineLagenicht ollighoffnungs-los.Auf das SpielwirdnamlichnderPassagenarbeitesetzt;mHandlungsschemaes Spielers oilnachBenjamin errevolutio-nareAktdenkbar ein. Und aufRevolution,uf den plotzlichenvolligenUmschlag inzuarbeitenleibt ls eine etzteMoglichkeitnoch ubrig dort, wo in total gewordener Bedrohung dieFortschrittshoffnungndlich usgedienthat und nur noch dasVerhangnis einenLauf zu nehmen cheint.Angesichtses Fa-schismusstdie Passagenarbeiteshalb elbst ls ein verzweifeltesHasardspiel ngelegt.

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    524 HEINERWEIDMANN1Die politischenVorgange im Schemades Hasardspielswahrzuneh-men, wie es im 19. Jahrhundertpraktiziertworden sei, das er-scheintnun allerdings n der Notlage der DreiBigerjahre ls eineverzweifelteMaBnahme.Denn kannes etwas nderesbedeuten,alsjene EntscheidungfiberGewinnoder Verlust m weltgeschichtli-chen MaBstab,auf die alles ankommensoll,ohnmachtignur demZufall uiberlassen u missen? Aber so siehtder Spieler das nicht.Nichtin volligerGleichgiltigkeit hmgegenuber rolltab, was imSpiel passiert;zu seinenErfahrungengehortauch die einerM6g-lichkeitdes Kontaktszu den Spielvorgangen,die er gern aber-glaubischdurch bestimmteRituale,Talismane und Maskottchenoder wenigstensdurch seine' bestimmte ahl zu beschw6renver-sucht.3 SchlieBlichgibtes das Phanomen der 'gliicklichenHand':daB einem Spieler einmal alles, was er anpackt,auf fast wunder-bare Weise gelingt, o wie umgekehrt ie sogenanntePechstrahneauch durchden unwahrscheinlichsten ufallnichtmehrerklarbarerscheint.Und tatsachlich ntwickelt enjamin durch ein theore-tischesSpiel-Modell eine ArtTechnik der glucklichenHand. DaBdie Passagenarbeitals Spiel angelegtist,hat also keinen ganz fa-talistischen inn; vielmehrgilt s so weitwiemoglichhinzuarbeitenauf den Erfolg,und das heiBt vor allen Dingen auch einmal zuzeigen, nwiefern ichuiberhaupt ie WahrscheinlichkeitureinenglucklichenAusgang des Spiels steigern aBt."Wennes uiberhaupt o etwas wie einenglucklichen pieler,alsoeinen telepathischenMechanismusbeim Spielenden gibt,so sitztder im UnbewuBten.Das unbewuBte Wissen ist es, das, wenn ererfolgreich pielt,sich in Bewegungen umsetzt" IV 775). DiesesunbewuBteWissen,das dem Spieler das in seiner Situationganzgenau Richtigezu tun gestattenwiirde,muiBte in Wissen umsKommende sein. Nun giltes freilich eit ingererZeitals schlicht-weg ausgeschlossen,daB man von der Zukunft m strengenSinnetwaswissen kann.4 Aber eine solche Moglichkeitwirdbei Ben-jamin auffrappanteArtgeltendgemacht,und das istn6tig,weil nder Passagenarbeit,die eine Geschichtsschreibung erdensoll, inder sichhistorische rkenntnismitpolitischerAktion dentisch r-

    3Vgl. V 621, IV 772.4Vgl. ReinhartKoselleck,Vergangeneukunft. ur Semantikeschichtlichereiten,Frankfurt . M.: Suhrkamp,31984, S. 17-66.

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    weist,der neue, nichthistorisierendeHistoriker ehergabe offen-bar braucht.Der Historiker agtdie Zukunftvoraus, ndem er von nichts lsvon Vergangenem spricht. Der Historiker st ein riickwarts e-kehrterProphet": Diesen beruhmtenSatz aus FriedrichSchlegels80. Athenaum-FragmentiestBenjaminneu:DasJetzt erErkennbarkeitDasWort, erHistorikerei ein riickwirtsekehrterrophet ann ufzweierleiWeiseverstanden erden.Die iiberkommene eint,neineentlegene egangenheitich uriickversetzend,rophezeie er Histo-riker,wasfurene nochals Zukunftu geltenhatte,nzwischenberebenfalls ur Vergangenheiteworden st.Diese Anschauung nt-sprichtufsgenaueste ergeschichtlicheninfiihlungstheorie,ie Fus-tel de CoulongesndenRatgekleidet at:Si vous voulezrevivre neepoque,oubliez ue vous avez equis'est asse pres lle.-Man kanndasWort berauchganzandersdeutenundes so verstehen: erHi-storiker endet ereignenZeitdenRiicken, ndseinSeherblicknt-ziindet ich an den immer iefernsVergangenehinschwindendenGipfeln er friiheren enschengeschlechter.ieser eherblickben stes,demdieeigene eitweit eutlicheregenwirtigst ls denZeitgenos-sen,die ?mit hrSchritt alten,.Nichtumsonst efinierturgotdenBegriffinerGegenwart,ie den ntentionalenegenstandinerPro-phetiedarstellt,ls einen wesentlichnd vonGrund ufpolitischen.?Bevor wir uns fiber inen gegebnenStand der Dinge haben in-formieren6nnen,agtTurgot, at rsich chonmehrmals erandert.So erfahren ir mmer u spatvondem,was sich ugetragenat.Unddaherkannman von der Politikagen, ie seigleichsamarauf nge-wiesen, ieGegenwartorherzusehen.,enaudieserBegriffonGe-genwartstes,derder AktualititerechtenGeschichtsschreibungu-grunde iegt. (I 1237)

    Die naheliegendeund fur den Historismus ezeichnendeLektiredes Satzes-wonach sich der Historiker n eine Vergangenheit ogrindlich zurickversetzt, aB er sie nicht twamithilfe es seitherGeschehenenwahrnimmt,onderndieses umgekehrt, ls wenn esnoch Zukunftware, prophetisch ntizipiert-wird abgewehrtzu-gunstender unerwartetenMoglichkeit, aB der Historiker atsach-lichund imstrengen inn die Zukunft rfahrenkann.Nurhandeltes sich dabei nichtumirgendeinebeliebigwahlbareund mehroderwenigerferneZukunft, ondern einzig und allein um die aller-nachste,umjene Zukunft, ie man Gegenwart'nennt.Von diesem

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    526 HEINER WEIDMANNund fiber ieses Eintreffende amlich aBt ich nichts nErfahrungbringen,ohne daB es auch schon eingetroffenst und also derVergangenheitangeh6rt; oder wenn es sich irgendwieerfahrenlaBt,gehortschon Sehergabe dazu. "Diese Gegenwart st,so selt-sam das klingenmag, der Gegenstand einer Prophetie.Dieselbeverkiindet lso nichtsKiinftiges. ie gibtnur an, was die Glockegeschlagenhat. Und der PolitikerweiB am besten,wie sehrman,umdas zu sagen,Prophetsein muB. Diesen Begriff erGegenwartfindetman bei Turgot prazis gefaBt" I 1250).Wie aber isteine solcheWahrnehmungdes aktuelljeweilsgeradeKommendendenkbar,und wie ist es denkbar,daB sichder Histo-riker ls Politiker elbererweist?Hat man sich doch die beiden alsganz verschiedeneTypen vorzustellengew6hnt:diesen handelndund sich schlagendin der Not unmittelbarndrangender Gegen-wart,enen ruhigbetrachtend, ennerhat schlieBlichuch Zeit,daihmdoch alles schon vergangen,entgangen st. Der eine, so stelltman sich vor, erkennevermoge ener Distanz, die dem anderenabgehenmusse,damiter zu handelnbefahigt ei. HeiBt es doch imTurgot-Zitat: So erfahrenwir immerzu spat von dem, was sichzugetragenhat,"und das Motiv,daB das Lesen notwendigerweisezu spatkommenmuB, stdem Benjamin-Leser llerdingsganzver-traut: Denn es bildet doch den unerschopflichenGrund dergrundlosen Traurigkeitdes Melancholikers,daB vor seinem le-senden Blick unabsehbar das Tote, der Vergangenheit Uber-lieferte ichhauft,welches er nun freilich eliebig esenkann,weiles genau imVerlust,durchseineUberlieferungn die Vergangen-heit, auch erst lesbar geworden ist. Das ist die Leser-Figur,dieBenjamin in zwei Engel-Bildern dargestelltsieht: Uber Dirers"Melencolia I" schiebtsich Klees "Angelus Novus", in welchemBenjamin der "Engel der Geschichte"vorschwebt; in Sturm vomParadies her "treibt hn unaufhaltsam n die Zukunft,der er denRicken kehrt,wahrend der Trummerhaufenvor ihm zum Him-mel wachst" I 697f.),-und auch da erscheint r also, melancholi-scherweise,der riickwarts ekehrteProphet.Doch es wirdin der Passagenarbeitein aktuelles Lesen geltendgemacht,welches nichtnotwendig n Versaumnisgebundenbleibtund sich dem bewahrtenMusterder Opposition von Lesen undHandeln so wenigeinpaBt,daB es oftgenugauch bei Benjaminalsdas pure Gegenteil von Lesen erscheinen kann. Dazu ist nichtwenigererfordert, ls daB sich zwariubersehene,ber leistungsfi-hige und praktikableArten nicht-kontemplativerektire auf-weisen assen. "In der PassagenarbeitmuBder Kontemplationder

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    M L N 527ProzeBgemachtwerden" V 1036),5und das Problem,wie sich dieDominanz der Optik im Akt des Lesens bestreiten ait, rickt insZentrum des Unterfangens. Die L6sung lautet: "Geistesgegen-wart"."Die Geistesgegenwart ls politische Kategorie kommtaufgroBartigeWeise in diesen Worten Turgots zu ihrem Recht:>Avantque nous ayonsappris que les choses sont dans une situa-tion determinee,elles ont deja change plusieursfois. Ainsi nousapercevons toujours les evenementstrop tard, et la politique atoujoursbesoin de prevoir,pour ainsidire,le present

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    528 HEINERWEIDMANNaber ist unvereinbar.Feigheitund Tragheitraten das eine, Niichtern-heitund Freiheitdas andere. Denn ehe solcheProphezeiungoder War-nung ein Mittelbares,Wort oder Bild, ward, st hre besteKraft chonabgestorben,die Kraft,mit der sie uns im Zentrumtrifft nd zwingt,kaum wissenwires, wie,nach ihrzu handeln. Versaumenwir's,dann,und nurdann, entziffertie sich.Wir lesen sie. Aber nun istes zu spit.Daher, wenn unversehens Feuer ausbrichtoder aus heiterm Himmeleine Todesnachrichtkommt,mersten tummen chrecken in Schuld-geffihl,der gestaltloseVorwurf: Hast du im Grunde nicht darumgewuBt?Klang nicht, ls du zum letztenMale von dem Toten sprachst,sein Name in deinem Munde schon anders? Winkt dir nichtaus denFlammenGestern-Abend, essen Sprache du jetzt erst verstehst?Undging ein Gegenstand, der dir lieb war, verloren, war dann nichtStunden,Tage vorher chonein Hof,Spottoder Trauer, umihn,der esverriet?Wie ultraviolette trahlen eigtErinnerungm Buch des Lebensjedem eine Schrift, ie unsichtbar, ls Prophetie,den Text glossierte.Aber nichtungestraft ertauschtman die Intentionen, iefertdas un-gelebteLeben an Karten,Spirits, terneaus, die es in einem Nu verle-ben und vernutzen,um es geschindet uns zuriickzustellen;betriigtnichtungestraft en Leib um seineMacht,mitden Geschicken ich aufseinemeigenenGrund zu messenund zu siegen.Der Augenblick stdaskaudinische och,unterdem sich das Schicksalhmbeugt.Die Zukunfts-drohungins erffillteetzt u wandeln,dies einzigwfinschenswerteele-pathischeWunder st Werk eibhafter eistesgegenwart.rzeiten, a einsolches Verhalten n den alltaglichenHaushalt des Menschengeh6rte,gabenimnacktenLeibe ihmdas verlaBlichstenstrument er Divination.Noch die Antike kannte die wahre Praxis,und Scipio, der KarthagosBoden strauchelnd etritt, uft,weit m Sturzedie Arme breitend,dieSiegeslosung:Teneo te, Terra Africana! Was Schreckenszeichen, n-gliicksbild atwerdenwollen, indet r eibhaft n die Sekundeundmachtsichselberzum Faktotum eines Leibes. Eben darin haben von eher diealten sketischen bungendes Fastens, erKeuschheit, esWachens hrehochstenTriumphe gefeiert. er Tag liegtjeden Morgenwie ein frischesHemd auf unsermBett;dies unvergleichlicheine,unvergleichlichichteGewebe reinlicherWeissagungsitztuns wie angegossen.Das Glick dernichstenvierundzwanzig tundenhangtdaran,daB wir es imErwachenaufzugreifen issen. (IV 141f.)66 Ausgehend vom Aufsatz "Schicksal und Charakter", n dem es auch um dieM6glichkeit iner"Voraussagedes Schicksals" II 171) geht, eigtTimothyBahti indiesem Stuck der "Einbahnstrasse"die Aporien von Benjamins Lekture-Theorieauf: Timothy Bahty,TheoriesfKnowledge: ate and Forgettingn the arlyWorks fWalterBenjamin, n: Benjamin'sGround.New ReadingsofWalterBenjamin, d. byRainerNigele, Detroit:WayneStateUniversity ress, 1988,pp. 61-82.-"The dif-ficult utreal distinction s not between an unmediatedseeing-but-not-yet-reading

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    Ob das, was der Klientvon einer Madame Ariane erfahrenkann,nun auch zutreffend ei oder nicht,das stehthier gar nichtzurDiskussion.Hatte sie ihmfiber eine Zukunft uch ganz Richtigesmitgeteilt,s nitzte ihmdoch etzt uberhauptnichtsmehr. Dabeikann es doch ernstlichnicht nur darum gegangen sein, ein un-abanderlichesSchicksaldumpfstaunendzur Kenntnis u nehmen;wiinschbarware es schlieBlich, ie Zukunftzu wissen,um ihrerDrohung zuvorzukommen, sie zu bannen und zu wenden zuseinem Glick, wie es der Spieler versucht.Aber jedes bewuBteWissen zeigtnur an, daB es jetzt endgiltig zu spat dazu ist. Undschondurch die Einstellung uf bloBeKenntnisnahme,welche alsodeshalb auch gar nicht so harmlos st,wird die Chance nutzbrin-gender Zukunftserfahrungertan.Denn es handelt sich hier imModell um einSystem, as auf zweisichgegenseitig usschlieBendeArtenfunktioniert. ie einschlagigeFormel heiBt:"Nur diejenigeZukunftwird vom Spieler pariert,die nicht als solche in seinBewuBtseindrang" (V 639).Benjamin hat, wie man weiB, Freuds Erinnerungsmodell usdem IV. Abschnitt on "Jenseits es Lustprinzips"nseine Theorieder Erfahrung aufgenommen und auf bezeichnende Art ver-scharft. reud nimmt inen ganz einfachenreizbarenOrganismusin bedrohlicherAuBenweltan: "Dieses Stickchen lebender Sub-stanzschwebt nmitten iner mitden starksten nergiengeladenenAuBenweltund wirde von den Reizwirkungen erselben erschla-gen werden,wenn es nicht mit einemReizschutzersehen ware."7Diesem Reizschutz, einer so weit wie n6tig abgestorbenenundgewissermaBenanorganisch gewordenen, aber noch empfindli-chen Rindenschicht, ommt war auch noch die Aufgabe zu, "derAuBenweltkleineProben zu entnehmen"und einigeReize in ge-ringerDosis passieren zu lassen,aber viel entscheidender st hreFahigkeit, ie ganze Masse der Reize abzufangenund unschadlichverpuffen u lassen. "Fur den lebenden Organismus st der Reiz-schutz ine beinahewichtigere ufgabealsdie Reizaufnahme."DieReize aber verpuffennicht anders als so, daB sie bewuBtwerden.Die Rinde stelltnamlichvereinfachtm Modell das BewuBtsein ar,welchesals Rezeptionsorgan lso nurin dem Sinn fungiert, a3 esand then a knowledge of how to read, but rather between reading and then,nachtraglich,nowinghow to read" (p. 68).7 Sigmund Freud,Jenseits esLustprinzips,n: ders., Psychologiees Unbewussten,StudienausgabeBd. III, Frankfurt . M.: Fischer, 1975, S. 237.

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    530 HEINER WEIDMANNdie AuBenweltreize bfangtund den Organismusdamit verschont.Zwarbleibtmitdem unwahrscheinlichen all einerungeschiitzten,tiefgehendenRezeption noch zu rechnen: Wenn der Reizschutznamlichausfallt,hinterlaBt er Reiz, in den Organismuseinschla-gend, dort eine dauerhafteSpur, und darum kann gelten,"daBBewuBtwerdenund Hinterlassung inerGedachtnisspurfurdas-selbe Systemmiteinanderunvertraglichind."8Dem BewuBtseinkommt somit keinerleiproduktiveFunktionmehrzu. Es schiitztnach Freud nur vor allemden "Organismus"vor Reizen, es entziehtnur vor allem-nun nach Benjamin-dem"Leib" die Reize, mitdenen dieser leicht etwas Besseres hatte an-fangenk6nnen. Freuds Erinnerungsmodell rfahrt ei Benjamineine bezeichnendeUmwertung,weiles iberlagertwirddurch dasKonzeptvon Proust,welchessehrgenau daraufzu passen scheint:">Jenseits es Lustprinzips< stwahrscheinlich erbesteKommen-tar, den es zu Prousts Werken gibt" (V 679). Denn es gibtbeiProust wohl eine dem BewuBtsein zur Verfugung stehende,willkirlicheErinnerung,durch welche aber das Erinnertenur re-gistriert, rledigtund abgetan wird,so daB es nun nie mehr alsechte,tiefgehendeErinnerung ich nden Erinnernden insenkenkann. Diese gesuchte"memoire nvolontaire", ie das Vergangeneihm nicht entzieht,sondern weiterhin,wenn auch unverfigbarzuginglich erhalt,wird durch einen BewuBtseinsakt urblockiertund gel6scht. Der authentischeErinnerungsvorganggeht ganzanders,namlichphysisch orsich;eine unkontrollierte este,eineganz bestimmteHandwegung-der "Handgriff' bei Benjamin-zum Beispiel, ostdie in den GliedmaBendeponiertenGedachtnis-bildermoglicherweise chonaus. Nach Proust kannunwillkiirlicheErinnerungnur dadurch gliicken,daB sie die Gedachtnisleistungdes BewuBtseinsunterlauftund umgeht; und entsprechendge-ringgeachtetwird deshalb bei Benjamin auch die Schutzfunktion,die das BewuBtsein n der FreudschenSkizze noch hat. Nurmehrals Reizverhinderung ritt s auf."Vorzeichen,Ahnungen, Signalegehenja Tag und NachtdurchunsernOrganismuswieWellenstoBe":Freuds "AuBenwelt",nderdie Reize gewitterartig inschlagen,wird bei Benjamin ganz immetaphorischenTrend seiner Zeit zu einem von unsichtbarenStrahlen, Wellen und Stromen vielfaltigdurchkreuzten und

    8A.a.O., S. 235. In BenjaminsDarstellung: 612f.

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    M L N 531durchschossenenWahrnehmungsraum.9 n Signalenalso mangeltes nicht, welche aufgefangen werden konnen auf zwei ver-schiedene, sich strengausschlieBendeArten: Entweder treten ieinsBewuBtsein in und setzen sichverpuffendnWissenum,odersie werden sofortund ohne Zeitverlust omLeib abgefangenundreflexhaftpariert.Dadurch wird das eigenartigePhanomen er-klart,daB man manchmal,wenn man von etwas unwiderruflichEingetretenemKenntniserhalt, ich daran wider besseresWissennichtganz schuldlosfuhltund den Eindrucknicht os wird,manhattees damals,als es nochZeit dazu war,doch schon wissen kon-nen und wissen mussen. Das stimmt war so nicht;denn jedes,auch das allerersteWissen ist mit dem Index versehen, s kommezu spat, und ein rechtzeitigesWissen kann es nichtgeben, weilgenau in jenem Moment, da etwas ins BewuBtseineintritt, ichauch die Chance, darauf zu reagieren,bevor es eingetretenundfur mmerunabanderlichgeworden st,als endgultigverspielt r-weist. Nur drangt sich immer wieder im nachhineinder fataleSchluBauf,es ware ein Zeichen nochzu nutzengewesen,hattemanes nur rechtzeitig u deuten verstanden.

    Die gegenseitigeAusschlieBungvon Deuten' und 'Nutzen' wirdim Text "Die glucklicheHand" in einer Geschichtevorgefihrt:Zwei Freunde haben Pech im Spiel. Dem einen bleiben noch einpaar Jetons.Er setztmehrmalsund verliert; abei hat der andereaber edes einzelne Mal die Gewinnzahlganz richtig orhergesagt.Ihm vertraut r nun sein letztesVermogenan: und derverspielt sprompt."Merkwiirdig!"agteFritjof.Man solltemeinen, ieJetonsn derHand zu halten, attehnplotzlichmseineSehergabe ebracht.""Sie konnen bensogut agen", rklarteerDane,"seineSehergabehat hnum denGewinn ebracht.""Das ist inwindiges aradox",warfchein."Keineswegs", ar die Antwort.Wenn s uiberhaupto etwaswieeinengliicklichenpieler, lso einen elepathischenechanismuseimSpielenden ibt,ositzt er m UnbewuBten.as unbewuBte issen stes,das,wenn rerfolgreichpielt,ich nBewegungenmsetzt.etzt ssichdagegen n das BewuBtseinm,so gehtes fur die Innervationverloren. nserMann wird wardas Richtigedenken', ber erwird

    9Vgl. ChristophAsendorf,Strimeund Strahlen. as langsameVerschwindenerMaterie m1900, Giessen: Anabas, 1989.

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    532 HEINERWEIDMANNfalschhandeln'. r wirddastehenwie so vieleVerlierer,ie sichdieHaare raufen ndrufen: Ich hab'sgewuBt!,"

    (IV 775)Es gewuBtzu haben, falltdem Verlierer zu. Die konzentriertestebewuBteEinstellung uf die Spielvorgangeverhindertnur um sogrundlicherden sensiblen Kontakt damit. "Der AberglaubischewirdaufWinkeachten,der Spielerwird uf siereagierennocheheer sie beachten konnte. Einen Gewinncoup vorhergesehen, bernichtgenutzt u haben,wird der Unkundigedahin auffassen,daBer >gut nFormdas Kommende? als solchesdeutlich in das BewuBtseinein" (V 639). Die aufreizende Erfah-rung, ein Ereignis zwar richtig prophezeit, aber dummerweisekeinenNutzen daraus gezogen zu haben, verlocktwohl zum Ein-satz: "Wer das Spiel kennt,weiBdagegen,daB ein einzigersolcherVorfallgenugen muB, hnzu bewegen, schleunigst bzubrechen";aber ruhig beim Spiel soil der bleiben, der schon tatsachlichgewinnt. Feststehtweiter,daB niemandsovielChancen hat,rich-tig zu setzen,wie der, der soeben einen nennenswertenGewinngehabthat. Das besagt: die richtigeReihe beruhtkeineswegs ufeinem Vorherwissen es Kommenden,sondernauf einerrichtigenmotorischen Disposition, die durch jede Bestatigung, wie einGewinn iedarstellt,n ihrerUnmittelbarkeit,icherheit, emmungs-losigkeit esteigertwird" VI 189f.).Darin liegtdas GeheimnisderglucklichenHand.GeistesgegenwartheiBt also Gegenwartdes Leibes, mithindasGegenteilvon dem,was das Wortdoch zu sagen scheint.Aber im"Weg zum Erfolgin dreizehnThesen" wirdder Widerspruch nder letztenThese nichtganz zwanglosso aufgelost:"DaB das Ge-heimnisdes Erfolgesnicht m Geistwohnt,verratdie Sprache mitdemWort>Geistesgegenwart?. lso nichtdas DaB und Wie-alleindas Wo desGeistesntscheidet.DaB er imAugenblickeund im Raumzugegen sei, das schafft r nur, indem er in den Stimmfall, asLacheln,das Verstummen, en Blick,die Gesteeingeht.Denn Ge-genwartdes Leibes schafft llein der Leib" (IV 352).

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    M L N 5333">Ein gliicklicherpieler operiert lso IhrerMeinungnach instink-tiv?Wie ein Mensch imAugenblickder Gefahr?"So fuhrt n "DiegliicklicheHand" einer der Anwesenden die Unterhaltungfort.">Das Spiel?, bestatigteder Dane, ?ist wirklich eine kunstlicherzeugteGefahr. Und Spielen eine gewissermaBen lasphemischeProbe auf unsere Geistesgegenwart. enn in der Gefahr verstan-digtder Korper sich mit den Dingen in der Tat fiberden Kopfhinweg.Wenn wirgerettet ufatmenerstlegen wir uns zurecht,was wireigentlichgemachthaben. Handelnd sindwirunserm Wis-senvorausgewesen.Und das Spiel isteine verrufene ache,weiles,was unser OrganismusFeinstes und Prazisestes eistet, uf gewis-senlose Artprovoziert?" IV 776). Im Hasardspiel gehtes nur imkleinen Rahmen des privaten Interesses um zufallig zu gewin-nendesGeld. Und insofernwird es kritisiert,ls es lediglichmiiBigund kunstlichein gliickbringendreflexhaftesVerhalten insze-niere,welchesfurBenjamin in allerdingsnun objektivgegebenergeschichtlicherNotlage noch eine letzteHoffnungdarstellt. DieAchtungdes Spiels diirfte hrentiefstenGrund darinhaben, daBeine naturlicheGabe des Menschen, die, den hochstenGegen-standen zugewandt, ihn fibersich selbsthinaushebt,einem derniedrigstenGegenstande,dem Gelde zugewandt,den Menschenselbstniederzieht.Die Gabe, um die es sich handelt st:Geistesge-genwart" V 639).Indem Benjamin angesichtsder Dringlichkeit iner gliicklichenWendung der Dinge zu erweisen versucht,daB es eine gewisseTechnik des Gewinnensgibt,daB sich das Glick im Spiel wennauch nichtzwingend herbeifiihren, o doch gezielt provozierenlaBt,setzt er sich ab gegen Proust,nach welchem es dem Zufalliiberlassenbleiben muB,ob die unwillkiirliche rinnerung iber-haupt einmal in einemMenschenlebenzustandekommt.Wenn so-viel Zeit nichtzur Verfiigungsteht, stdie Unwahrscheinlichkeitdes Gelingensvon zwei Seiten her zu verringern:Geschieht diesauf der subjektiven eitedurcheine Dispositionfurnicht-bewuBteWahrnehmung,so auf der objektivendurch die Drohung einernochnie gekannten, kutgefahrlichen ituation.Das hatauch derSpieler verstanden, wenn er sich willent-lich iner kunstlicherzeugten Gefahr aussetzt,damit er in die Enge getriebennurnoch instinktivperierenkann.

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    534 HEINERWEIDMANN"Die besondereGefahr,mitder der Spieleres zu tunhat, iegt nder schicksalhaftenKategorie des >Zu SpatVerpaBt? be-schlossen"; und sogar sein typisches Zogern ist auf "dieblitzschnelle nnervationin der Gefahr" (VI 190) angelegt: Der'Rausch' des Spielers beruhe "auf der Eigentumlichkeit desHasardspiels, die Geistesgegenwart adurch zu provozieren,daBes in rascher Folge Konstellationen um Vorscheinbringt,die-eine von der andern ganz unabhangig-an einejeweilen durchausneue, originale Reaktion des Spielenden appellieren. DieserSachverhalt chlagt ich nder Gewohnheitder Spielernieder,den

    Einsatz,wenn moglich,erst m letztenMomentzu machen. Es istdas zugleichder Augenblick, n dem nur nochfurein rein reflek-torischesVerhaltenRaum bleibt.Dieses reflektorische erhaltendes Spielers schlieBtdie >Deutung? des Zufalls aus. Der Spielerreagiertvielmehr uf den Zufallso wie das Knie auf den Hammerim Patellarreflex"V 639). Auf den "letztenMoment" muB Ben-jamin in der Passagenarbeit llerdings o wenigwarten,wieer sichum die Herstellungder Gefahrenkonstellationu sorgenbraucht.Aber es bleibt ihm die Chance aufzuzeigen,die darin liegt,daBman ihr nicht usweichen,sondernsich mittenn sie hineinstellenwill.Es sei eine, "die sowohl em Uberliefertenwiedem Empfangerder Uberlieferungdroht. Dieser GefahrenkonstellationrittdieGeschichtsschreibungntgegen; an ihrhat sie ihre Geistesgegen-wart zu bewahren" (I 1242).Geistesgegenwart annnurungeschutzt ewiesen werden nderBedrangniseinerbedrohlichenSituation, ie nunohnejede Uber-sichtdurchschaut, hnejede Souveranitat eherrschtwerden muBund blitzartigmprovisierend um eigenenVorteil verandertwer-den kann. Schlagend illustriert as die Scipio-Anekdote.Genausoreflexhaft, ie der Strauchelndeseine Arme ausbreitet, reitet rseine Arme zugleich auch schonbesitzergreifend nd triumphie-rend aus und hat damit m Ansatz das bose Omen pariertund insGegenteil umgewendet. Der "gefahrliche,hurtige Handgriff"(IV 141), mitdem er die Lage erfaBt, st schlieBlich uch ein ge-lungenerWitz.Und einen Witzzu machen, st eine alltaglicheArt,wie emand geistesgegenwartigein und in einer schwierigen i-tuation sich glucklichbehaupten kann; nichtumsonst wird im"Surrealismus"-Aufsatz dem Kunster,der seine "Kunstlerlauf-bahn" zugunstender Politikaufgibt, n Aussichtgestellt:"Destobesserwerdendie Witze,die er erzahlt" II 309).Aber in einer Gefahrenkonstellationon solchem AusmaB wie

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    der, die fur die Passagenarbeitgegeben ist,kann kein individuellauch noch so richtigesVerhaltenmehr den Ausschlag geben. DieHoffnungauf das Handlungsrezeptdes GlucksspielersmuB nochbesser darin begrundet sein, daB ihm kollektiveund alltaglichePraxisbereitsentspricht.Nach BenjaminsTheorie der Erfahrungkommtbekanntlich m 19.Jahrhundert ine spezifischmoderne,neu strukturierteWahrnehmung uf; ihrPrinzipsei der "Chock".Und als Figurdes so Wahrnehmenden erscheintPoes "Mann derMenge", der sich von uberall her bedroht und unbekannten,nurnoch reflexhaft u parierenden Anschlagenaus der nachstenNaheausgesetzt, durch den aufkommenden Verkehr der GroBstadtschlagt."Durch ihn sich zu bewegen, bedingt furden einzelneneine Folge von Chocks und Kollisionen. An den gefahrlichenKreuzungspunktendurchzucken hn,gleichStoBeneinerBatterie,Innervationen n rascherFolge" (I 630), heiBt s imExpose "Ubereinige Motive bei Baudelaire". Und eine Erscheinungdieses Pas-santen ist vermutlich auch Chaplin am FlieBband in "ModernTimes", sicheraber der Kinobesucher: "Es kam derTag, da einemneuen und dringlichenReizbedurfnis er Filmentsprach. m Filmkommtdie chockformigeWahrnehmungals formalesPrinzipzurGeltung. Was am FlieBband den Rhythmusder Produktionbe-stimmt,iegtbeim Film dem der Rezeptionzugrunde" (I 630f.).Diese diskontinierlicherfahrung, urdie so wenigzu sprechenscheint,hat also im 19. Jahrhundertder Hasardspieler geradezuaufgesucht.Der ihn lockendeVorgangweistdieselbe Struktur ufwie der, welcher die Plage des Fabrikarbeiters usmacht: "Auchdessen vom automatischenArbeitsgang ausgeloste Gebarde er-scheint im Spiel, das nicht ohne den geschwinden Handgriffzustande kommt,welcherden Einsatzmachtoder die Karte auf-nimmt.Was der Ruck in der Bewegung der Maschinerie, st imHasardspiel der sogenanntecoup. Der Handgriff es Arbeiters nder Maschine istgerade dadurch mit dem vorhergehendenohneZusammenhang,daB er dessen strikteWiederholungdarstellt. n-dem jeder Handgriffan der Maschine gegen den ihmvoraufge-gangenen ebenso abgedichtet st,wie ein coup der Hasardpartiegegendenjeweils letzten, tellt ie Fron des Lohnarbeiters uf ihreWeise ein Pendant zu der Fron des Spielers.Beider Arbeit st vonInhalt gleichsehr befreit" I 633).Benjamin hat in einer uberraschendenbegriffsgeschichtlichenWendung das "Erlebnis" n entschiedenerAbwertungder "Erfah-rung"entgegengesetzt.Wojemand ein isoliertes, ewuBtes Erleb-

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    536 HEINER WEIDMANNnis" hat, da machter, ganz im Widerspruchzu dem, was er sicheinbilden mag, eine wirkliche, eindringliche und gehaltvollbleibende "Erfahrung"gerade nicht;das "Erlebnis" stdie Markie-rungder memoireinvolontaire, ie das zu Erinnernde seines In-haltsberaubtund bloB als erledigt bbucht. "Erlebnis" bezeichnetalso die diskontinuierliche, chockformigeWahrnehmung; unddas macht auch die Wendung verstandlich: Dem Chockerlebnis,das der Passant in der Menge hat, entspricht as >Erlebnis?desArbeiters n der Maschinerie" I 632).Obwohl nun die "Erfahrung"vor dem "Erlebnis"so klarbevor-zugt erscheintwie die memoire nvolontaire or der memoire vo-lontaire,welche Oppositionen sich sehr genau decken,kommt esunerwartet u einer merkwurdigenUmbesetzung: Der "Chock",der nachBenjamindas Prinzipderneueren,defizientenWahrneh-mungund damitauch des "Erlebnisses"darstellt, eschreibt enaudie mogliche Funktionsweise der memoire involontaire-unddamit auch der "Erfahrung". Freuds Erinnerungsmodell in"Jenseitsdes Lustprinzips" steht namlich im Dienst einer Er-klarungder traumatischenNeurose,des "Chocks": Wenn derReiz-schutzdes BewuBtseinausnahmsweisedurchschlagenwird,fahrtder nicht neutralisierteReiz als Chock verletztend n den Orga-nismusein. Was hierals ein seltenerUnfallerscheint, as stellt ichmithilfe on Proust bei Benjamin dar als der Glucksfall iner ein-mal gelungenen Rezeption. Und diese Rezeption,die bei Proustnoch ein unwahrscheinlicher ufall sein muB,konntenach Ben-jamin sogar der Normalfall der diskontinuierlichenmodernenWahrnehmung sein: Deren Prinzip sei namlich der Chock. Sotauchtdie verlorengeglaubte "Erfahrung"genau an der Stelledes"Erlebnisses" uf-im Spiel.10Wenn immodernenWahrnehmungs-raum die unablassigen, immer wieder neu zu gewartigendenChocks von ener konzentriertenWahrnehmung, ie lange Zeit alsdie echte und einzige gegoltenhat,nichtmehrbewaltigtwerdenkonnen,dann istdamit die Chance einer andern gekommen,dienichts mehr von passiverAuf-und Entgegennahmean sich hat,sondern sichganzwie Aktion bspieltund durchden Leib geht.Sie

    10 Dabei liegtdie begriffsgeschichtlicheointedarin,daB bei Benjamingenau ander Stelle des "Erlebnisses" die "Erfahrung"aufgetaucht st.Denn eben fureinezunehmend unwahrscheinliche,chte und voile Erfahrung,wie sie Benjamin po-lemischwieder als "Erfahrung"geltendmacht,hat sich im 19. Jahrhundertderneue Begriffdes "Erlebnisses"durchgesetzt.

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    M L N 537kannnur dem passieren,der inmoglichst otalerBedrohungfiberkeine Distanzmehrverfugt, m etwas kommenzu sehen,und demkeine Zeit mehrbleibt,um sich darauf gefaBt u machen.Distanz und Ruhe warenichtwunschbarfurdieseRezeption,diewirklich ine leistungsfahigeWahrnehmung igenerArtund nichtbloB die Schwundstufeeiner solchen darstellt. m Aufsatz "DasKunstwerk m Zeitalter seiner technischenReproduzierbarkeit"wird die Leinwand, auf der das Gemalde den Betrachter u di-stanzierter,ndachtigerKontemplation inladt,mitder Leinwandim Kino verglichen.Diese sei kaum mehrerfolgreichnsAuge zufassen;nichtzu fixierende,weil sofortwieder unterbrochene ndsprunghaft eranderteBilder ruckendem Zuschaueraufden Leib."Darauf beruhtdie Chockwirkung es Films,die wie ede Chock-wirkung urchgesteigerteGeistesgegenwartufgefangen einwill.Der Film istdie der betontenebensgefahr,n der dieHeutigen eben,entsprechendeunstform. r entspricht tiefgreifenden Veran-derungendes Apperzeptionsapparats-Veranderungenwie sie imMaBstabder Privatexistenzjeder assant mGroBstadtverkehr,iesie im weltgeschichtlichenMaBstab jeder Kampfer gegen dieheutigeGesellschaftsordnungrlebt" I 464).4Der Zustand,in dem Geistesgegenwart ewiesen werdenkann, stdas Gegenteilvon erhohterKonzentration.DaB man ene immerwieder unvorhersehbare geistesgegenwartigeReaktion, welcheabrupt n die eweils ausweglosgegebenebesondere Situationpas-sen muB, auch einmal lernen konnte, um fur kunftige Fallegewappnetzu sein,das bleibtdeshalbwohlein vergeblicherWun-sch. Denn man darf doch gar nichtgefaBt ein auf das, was manreflexhaftbfangenwill.Und doch,so paradox es zuerst rscheint,kann man nach Benjamin furGeistesgegenwartllmahlichdurchUbung geschickterwerden."DieRezeptionnderZerstreuung,ie ichmitwachsendemachdruckufallenGebieten erKunstbemerkbarachtunddas SymptomontiefgreifendeneranderungenerApperzeptionst,hat am Film ihr eigentliches bungsinstrument.n seiner Chock-wirkung kommt der Film dieser Rezeptionsform entgegen"(I 505), steht am Ende des "Kunstwerk"-Aufsatzes. abei wirddoch im Expose "Uber einige Motive bei Baudelaire" gerade im

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    Zusammenhangmit dem Spiel klargemacht, aB die Ubung eineKategorieder "Erfahrung" ei und der memoire nvolontaireuge-hore: "Der ungelernte Arbeiterist der durch die Dressur derMaschine am tiefsteri ntwurdigte. eine Arbeit stgegen Erfah-rung abgedichtet. An ihr hat die Ubung ihr Recht verloren"(I 632).11Der Schock wirdbei Freud definiert ls Schrecken,der durchdas "Fehlen der Angstbereitschaft"12 ntsteht; Einubung inSchockrezeptionkann also unmoglichbedeuten,daB man es end-lich einmal dahin bringt,daB man nicht mehrunvorbereitet ndschutzlosden Reizen ausgesetzt st. Durch Ubung wirddas abweh-rende BewuBtseinnichtgescharft,ondern mGegenteilnach undnach auBer Kraftgesetzt, o daB es zuletztdem Leib allein uber-lassenbleibt,wie er sich vielleicht lucklicher us der Affare ieht.

    UbungDaBder Schuler en Inhalt esBuchsunterm opfkissenmMorgenauswendig eiB, er Herr s den Seinen mSchlafe ibt nddie Pauseschopferischst-dem Spielraumu geben stdas A undO allerMei-sterschaftnd ihrKennzeichen. ieserLohn eben stes,vor dendieGotter enSchweiB esetzt aben.DennKinderspielstArbeit, elchemaBigenrfolg erspricht,it erverglichen,iedas Glickherbeiruft.So riefRastellisusgestreckterleiner inger enBallherbei, er wieeinVogelauf hnheraufhupfte.ie UbungvonJahrzehnten,ie demvoranging,at nWahrheit ederden Korpernochden Ball ?unterseineGewalt,, ondern ieszustande ebracht:aBbeidehinter einemRiicken ichverstandigten.en Meister urchFleiBund MiihebiszurGrenzederErschopfungu ermiden, o daB endlich erKorper ndeinjedes einerGlieder ach hrer igenenVernunftandeln 6nnen-das nenntmanfiben. erErfolgst, aB derWille,mBinnenraum esKorpers,infur lleMalzugunstenerOrgane bdankt-zumBeispielder Hand. So kommt s vor,daB einernach langemSuchen dasVermiBteich us demKopfschlagt, ann einesTages etwas nderessuchtund so das erste hm ndie Hand fallt. ie Hand hatsichderSache angenommen nd im Handumdrehnst sie einigmit hrge-worden.

    (IV 406f.)1 Vgl. I 644: "Wenn man die Vorstellungen, ie, in der m6moire nvolontairebeheimatet,sich um einen Gegenstandder Anschauung zu gruppierenstreben,dessenAura nennt, o entspricht ie Aura am GegenstandeinerAnschauungebender Erfahrung,die sichan einem Gegenstanddes Gebrauchsals tbung absetzt."12SigmundFreud,PsychologieesUnbewuflten,. 241.

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    M L N 539Die Ausschaltungdes Bewusstseins st der Moment,wo der Leibzum Einsatz kommenund seinespezifischen,ffektvolleren ahr-nehmungsfahigkeitennter Beweis stellen kann: So wirddas be-kanntePhanomenleicht rklart, aB emand angestrengt nd hart-nackigetwas vergeblichsucht-und es plotzlichzwanglos findet,sobald er einmal seine Suche eingestellthat. Wenn nun Ubungzum Erfolgfuhrenkann, so laBt sich dieser gerade nichtmitei-sernemWillenubenderweise rzwingen.Ubend wirdderWille nurmit FleiB und Muhe ausgeschaltet,damit er im entscheidendenMoment den Erfolgnichtverhindert;Willkiirlichesnd BewuBteswirdin den Leib eingesenkt,damitdieser mit seinen Automatis-men die zukunftigeSituation vielleicht meistert. Und deshalbwarntdas "Denkbild" "Der Weg zum Erfolg n dreizehn Thesen"vor der Haltung, sich immer nur fur das GroBteund AuBersteeinsetzenzu wollen; verlangt ei "die groBe Fahigkeit, urAugen-blickedas Ziel aus den Augen zu lassen den Seinigen gibtder Herres im Schlafe)" (IV 350).Der Filmzuschauerwirddaran gewohnt, erstreut u sein. In der"Zerstreuung"aber wie in der "Gewohnheit"hat ene Wahrneh-mung im Modus der Unaufmerksamkeittatt,n der an die Stellevon BewuBtseinsvorgangenmotorische Reflexmechanismenge-treten ind. Das aber heiBt,daB wenn schonnicht us dem heftig-sten Widerstand, so vielleichtaus der uneingeschranktenundschon wie Resignationaussehenden Anpassung an die gegebeneSituationder Widerstandgegensie erwachsenkann; indieserAm-bivalenz iegt ine prekare Hoffnungfurdie Passagenarbeit.Wennaber zum plotzlichen geistesgegenwartigen eflex,der die Lageschlagartigverandernkann, keiner besser befahigterscheintalsder,welcher eit angemgedankenlosund gewohnheitsmaBignsieversenkt nd versunken st,dann schlieBt lso die 'neue', verstorteund plotzliche Wahrnehmung die ihr entgegengesetzte 'alte',gefaBteund kontinuierliche eineswegs us. GeistesgegenwartstGeistesabwesenheit.Weder durchAufgewecktheit och gar durchAktivitateichnet sichder im entscheidendenMomentmoglicher-weise Geistesgegenwartige us, sondern durch jenes abwesendeBruten und die gedankenloseDumpfheit, ie man vom Melancho-likerher langstkennt. "Daher die Stumpfheit, ie so oft bei dengroBen Wirtschaftsmagnaten ie hochste Geistesgegenwartbe-siegelt" IV 352), so endet "Der Weg zum Erfolg n dreizehnThe-sen". Und die Formulierungn"Madame Ariane": "Ihn leitetmehrdie Tragheit als die Neugier und nichts iehtwenigerdem erge-

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    benen Stumpfsinnahnlich, mit dem er der Enthullung seinesSchicksalsbeiwohnt,als der gefahrliche,hurtigeHandgriff,mitdem der Mutige die Zukunftstellt" IV 141), ist darum hinter-haltig,weil eben aus der stumpfen ragheit,welcher ie am wenig-sten ahnlich sieht, ene plotzlicheRe-aktionkommenkann,weilgerade der traumerischUntatigesich als der ohne Zogern Han-delnde, der Historiker ls der Politikerherausstellenkann.So diene auch Prousts Arbeitsweise, in einziges langes undgewohnheitsmaBiges ettbewohnen,nur der ErmoglichungenerSchocks, ls welcheblitzhaft ie Erinnerungsbilderintreffen.?Ala Recherchedu Temps perdu? istder unausgesetzteVersuch,einganzes Leben mit der hochsten Geistesgegenwart zu laden"(II 320). Von der "Langeweile"beimLesen vonProust stdie Rede.Denn Proust ist nach Benjamin ein Erzahler-einer jener letztenErzahler,die auch noch dann und erst dann auftreten,wenn die"Information" ie "Erzahlung"schonverdrangt; nd der letzterengehore die Langeweile wesentlich u. "Wenn der Schlafder H6-hepunktder korperlichenEntspannung st, o die Langeweiledergeistigen.Die Langeweile istder Traumvogel,der das Ei der Er-fahrungausbrutet.Das Rascheln im Blatterwaldevertreibthn.Seine Nester-die Tatigkeiten, die sich innig der Langenweileverbinden, indinden Stadtenschonausgestorben, erfallen uchaufdem Lande" (II 446). Mit der "Erfahrung" ei im 19.Jahrhun-dert auch die Langeweile imSchwindenbegriffen, nd doch wirdsie darin kultiviertwie noch niemals zuvor. Sie ist eben die odeHoffnungslosigkeitn der burgerlichen erstreuung,welchedieseder Fabrikarbeit hnlich macht: "Die Fabrikarbeit ls okonomi-scher Unterbau der ideologischen Langeweile der Oberklassen"(V 162). Eine immensekollektive angeweile hat sich uber diesesJahrhundertgesenkt:"Ornamentund Langeweile" (V 162) oder"Wetterund Langeweile" (V 1017) ist notiert, Langeweile undStaub" (V 1006), "Langeweile und Museum. Langeweile undSchlachtenbilder" (V 1029), "Langeweile der Eisenbahnfahrt"(V 1031), und das Konvolut D heiBt "die Langeweile, ewigeWiederkehr".Aber wie aus der hoffnungslos iefsten nd dumpf-sten Gewohnheitdie alles veranderndeAktionentspringenkann,so laBtdie Langeweile des 19.Jahrhundertsuch dessen abruptesEnde erhoffen. Sie erscheintals Zustand der unkonzentriertenund schlafrigen ereitschaft urdas Ende dieses Zustandsund despassiven,aber sensiblenWartensdarauf: "Langeweile haben wir,wenn wirnichtwissen,woraufwir warten.DaB wir es wissenoder

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    zu wissenglauben,das ist fast mmer nichts ls der Ausdruckun-serer Seichtheit oder Zerfahrenheit. Die Langeweile ist dieSchwellezu groBenTaten" (V 161).Nur unbewuBtesPotential kann hier schlummern, emaB demModell. "Langeweile ist immer die AuBenseite des unbewuBtenGeschehens. Deshalb ist sie den groBen Dandys vornehm er-schienen" V 162),13 der ahnlich, nFrageform: Langeweile-alsIndex fur die Teilnahme am Schlafdes Kollektivs. st sie darumvornehm,so daB der Dandy sie zur Schau trigt?" (V 164) DerDandy,der im KonvolutD eine wichtigeRolle spielt,wird n "DasParis des Second Empire bei Baudelaire" so portratiert: DerDandy isteine PragungderEnglander,die im Welthandelfuhrendwaren.In den Handen der londonerBorsenleute ag das Handels-netz, das fiberden Erdball lauft; seine Maschen verspurtendiemannigfachsten,haufigsten,unvermutbarstenZuckungen. DerKaufmann hatte auf diese zu reagieren,nicht aber seine Reak-tionenzur Schau zu tragen.Den dadurch in ihm erzeugtenWi-derstreit bernahmendie Dandys in eigeneRegie. Sie bildetendassinnreicheTrainingaus, welches zu seinerBewaltigungnotigwar.Sie verbanden die blitzschnelle Reaktion mit entspanntem, aschlaffemGebaren und Mienenspiel.Der Tick, der eine Zeitlangfur vornehmgalt, stgewissermaBen ie unbeholfene, ubalterneDarstellungdes Problems" I 600). Beschworenwirdauch hier derimpulsgesattigteWahrnehmungsraum,und was der Dandy aufeitle Weise physiognomischnszeniert,stjene gelangweilte, assigeTragheit, aus der manchmal,zwanghaftwie ein Reflex,das als'Tick' gepflegtekonvulsivische ucken kommtund sich uberra-schend abhebt davon.

    Der Dandy war eine der Rollen, die Baudelaire annahm; eineandere warder Flaneur.Wenn man-so heiBt s vorher m"Parisdes Second Empire"mit inemBaudelaire-Zitat-der Arbeitsweisedes Dichters"in den Riesenstadtenmit dem Geflecht hrer zahl-losen einander durchkreuzenden Beziehungen" nachgeht, "sozeigt s sich,daB BaudelairesFlaneurnichtndem Grade einSelbst-portratdes Dichtersist,wie man es meinen konnte. Ein bedeu-tenderZug des wirklichen audelaire-namlich des seinem Werkverschriebenen-ist ndiesesBildnis nicht ingegangen.Das istdieGeistesabwesenheit.-Im Flaneur feiertdie-Schaulust ihren Tri-umph. Sie kann sich in der Beobachtungkonzentrieren-das er-13 Fast gleichlautend:V 1054, 1006.

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    gibtden Amateurdetektiv;iekann mGaffer tagnieren-dann istaus dem Flaneur ein badaud geworden. Die aufschluBreichenDarstellungender GroBstadt tammenwedervon dem einennochvon dem andern. Sie stammenvon denen, die die Stadtgleichsamabwesend, an ihre Gedanken oder Sorgen verloren,durchquerthaben" (I 572). Die Pointe dieser Passage, in der man auch einSelbstportrat enjamins findenkann, ist nunmehr klar: Im Bilddes Flaneursfehltnoch die Geistesabwesenheit,nd aus ihrgeradeentspringt ine Produktion n der Form eines Parierens von un-vermuteten hocks.BenjaminsBild des DichtersBaudelaire istdasvon diesem im Aufsatz uber ConstantinGuy selbst entworfeneeines Fechters,der blitzschnell usfalligwird,'4 und seine Inter-pretationvon Baudelaire-Texten zieltganz und gar daraufab, sieals ZeugnisseeinerderartigenProduktionverstandlichu machen."Die Chocks,mitdenen seine Sorgen ihm zusetztenund die hun-dert Einfalle, mit denen er sie parierte, bildet der dichtendeBaudelaire in den Finten seiner Prosodie nach. Die Arbeit,dieBaudelaire seinenGedichtenzuwandte,untermBild des Gefechtserkennen,heiBt, ie als eine ununterbrochene olge kleinsterm-provisationen egreifen ernen" I 573). DamitgleichtBaudelairesProduktion dem Spiel-und jener aufgenommenen Lekture-Arbeit,die darinbestehensoil,trageGeistesabwesenheit mschla-gen zu lassen in geistesgegenwartige e-aktion.5"Werk leibhafterGeistesgegenwart"IV 142) kann auch Lektureund Erinnerung sein. Wenn dem durchaus optisch rezipiertenFilm eine "physischeSchockwirkung"I 464, 503) zuzuschreibenist,dann laBtsichder einfacheGegensatzvon Lesen und Handelnnicht aufrechterhalten.Benjamin differenziert nd kompliziertdiese Oppositionim"Kunstwerk"-Aufsatz,ndemer die Rezeptiondes Films mitder Wahrnehmungvon Architektur ergleicht:

    Bautenwerden ufdoppelteArt ezipiert:urchGebrauch nd durchWahrnehmung.der bessergesagt:taktil nd optisch. s gibtvonsolcherRezeption einenBegriff, ennmansiesichnachArtderge-sammeltenorstellt,iesiez.B. Reisenden orberuhmten autenge-14 Vgl. CharlesBaudelaire,Le Peintre e la viemoderne,n: ders.,Oeuvres ompletes,Vol. II, Paris: Gallimard, 1976, p. 693.

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    laufigst.Es besteht amlich ufdertaktileneitekeinerlei egenstiickzudem,was ufderoptischenieKontemplationst.Die taktile ezep-tionerfolgt icht owohl uf demWegederAufmerksamkeitls aufdemderGewohnheit.er Architekturegeniber estimmtiese etz-tereweitgehendogardie optischeRezeption.Auch sie findet r-spriinglichielwenigerneinemgespannten ufmerkenls ineinembeilaufigenemerkentatt. iese, n der Architekturebildete, ezep-tionhat berunter ewissen mstanden anonischen ert. enn: DieAufgaben, elche n geschichtlichenendezeitenemmenschlichenWahrnehmungsapparatestellt erden,ind ufdemWegederbloBenOptik, lso derKontemplation,arnicht u losen.Sie werden llmah-lich,nachAnleitung er taktilen ezeptiondurchGewohnung e-waltigt. (I 465f., f.504f.)

    Die vonAloisRiegl bernommeneOppositionvon"optischer" nd"taktiler"Wahrnehmung15uberkreuzthier Benjamin mit einerweiteren:Wahrnehmung m Modus der Aufmerksamkeit nd imModus der Unaufmerksamkeit. araus ergeben sich theoretischvierMoglichkeiten. ie privilegiertend bislangeinziganerkannteist die optisch-aufmerksame: ie Kontemplation.Das Gegenstickzu ihr,namlich die taktil-aufmerksame,xistierenicht.Das Inter-esse aber gilt den beiden verbleibenden Varianten: der taktil-unaufmerksamenWahrnehmung,wie sie-als "Gewohnheit"-exemplarischseit langem an der Architektur, nd der optisch-unaufmerksamen, wie sie-als "Zerstreuung"-neuerdingsgegeniiber dem Film sich bewahrt.-Architekturwird in ganzwortlichu nehmenderGewohnheit ewohnt, ie wird garnicht nersterLinie >gesehen?" (III 368), eher iibersehenvon ihren Be-nutzern,die sie physischpassieren, physisch ich in ihraufhaltenund sie auf diese keineswegsoberflachlicheWeise griindlicher e-zipieren,als es den Touristen durch angestrengteste ammlungund konzentrierteste ndacht emals gelingt.Wo sichdiese abge-setztenBetrachterdurch Kontemplation inen Zugang erhoffen,sind die Bewohner und Beniitzer n distanzloserund handlungs-formigerWahrnehmung angstein-und ausgegangen.Im Bereich des Taktilen,an der Architektur,stdie Wahrneh-

    15Vgl. zu dieserRezeption: WolfgangKemp,Fernbilder.enjamin nddie Kunst-wissenschaft,n: WalterBenjamin mKontext, g. von BurkhardtLindner, Konig-stein/Ts.:Athenaum,21985,S. 224-257; UlrichRuffer, aktilitatndNahe, n:AntikeundModerne. u Walter enjamins Passagen," g. vonNorbertW. Bolz und RichardFaber,Wurzburg: Konigshausenund Neumann, 1986, S. 181-190.

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    mung im Modus der Unaufmerksamkeit edeutend leichter uf-zuweisen deshalb, weil sie hier nichtdirektkonkurrenziertwirddurch ein aufmerksamesBemerken; aber mit dem Medium Filmhalt sie nun Einzug auch in den Bereich des Optischen.Die vomFilm erforderteneue Apperzeptionistalso seit langem vertraut:"Ursprunglicher st sie in der Architektur uhause. Aber nichtsverratdeutlicherdie gewaltigen pannungen unserer Zeit als daBdiese taktileDominante in der Optik selber sich geltendmacht.Und das eben geschieht m Film durch die Chockwirkung einerBilderfolge" I 466). Im Bereich der Optik ist der Vorrang deraufmerksamenWahrnehmungnoch so unbestritten,aB sie als dieeinzig moglicheund jede unkonzentrierte ezeption nur als ihredefiziente Form erscheinen kann. SchlieBlichgedeiht bis heuteeine Medienkritik, ie sichin Klagen uber die oberflachliche er-streuungdes Publikumsergeht:Reaktionar stsie spatestens eitBenjamins Rehabilitierungder Unaufmerksamkeit, ie ihrerseitsan den surrealistischen ult der Zerstreuung nschlieBt.Der schlichteGegensatzvon Lesen und Handeln wird also auf-gebrochen dadurch, daB es eine optische Rezeption in solcherForm gibt,wie sie die taktileauszeichnet. Ist nun dem passiv-aufmerksamen, ntfernten nd ruhigenSchauen ein aktives, usnachster Nahe bedrangtes,sofortigesReagieren entgegengesetzt,dann kann auch dieses ein Lesen sein. Es entsprichtwar so wenigder gangigen Vorstellung,daB auch Benjamin etwa in der Be-merkung 6gert,der Spieler gewinne"im kritischenMomente derGefahr (des Verpassens)" die Fahigkeit, "auf dem Brett sichzurechtzufinden, as Brettumsichtig u lesen-wenn dies nichtwiederein Ausdruckaus dem Bereiche der Optikware" (VI 189).Auf keineMitteilungware das SubjektdiesesLesens gefaBt,weil esrezipierendunmittelbar ur reagiert.Von der Gabe der "Geistes-gegenwart" heiBt es im Zusammenhang mit dem Hasardspiel:"Ihre hochsteManifestation st das Lesen, das in edem Falle di-vinatorisch st" V 639).Geistesgegenwartig, ie Gefahrlichkeit er Lage vorausgesetzt,kann und muB auch Lekture sein: "Das gelesene Bild, willsagendas Bild imJetztder Erkennbarkeit ragt m hochstenGrade denStempel des kritischen, efahrlichenMoments,welcher allem Le-sen zugrunde liegt" (V 578). Immer wieder ist von Bildern dieRede, die es motorischwie mit einem reflexhaften,n der NotgelingendenHandgriff-"Geistesgegenwart ls das Rettende;Gei-stesgegenwartmErfassenderfluchtigen ilder;Geistesgegenwart

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    MLN 545und Stillstellung"I 1244)-aktuell und momentan u packen gilt.Es sindBilder der Erinnerung,welche nun nichtsmehr zu tun hatmitmuBig-angestrengtemich-Einlassen auf die Vergangenheit.Vielmehr bestehtder Erinnerungsaktm Reflex,durch den diegerade eintreffende ukunftwahrgenommen,bernicht taunendals Faktum zur Kenntnis genommen, sondern im ersten undbuchstablich etzten Moment abwendend als Gegenwartrealisiertwerden kann. Der Historiker,der sich als Politikerbewahrt,be-grunde einen neuen Begriffder Gegenwart: "Diese Gegenwartschlagt sich in Bildern nieder, welche man dialektische nennenkann. Sie stellen einen >rettendenEinfall< der Menschheit dar"(I 1248).16Da sich solche Erinnerung eibhaft, im Binnenraumdes Kor-pers" (IV 406), nach der Art eines geistesgegenwartigen infallsvollzieht,wird eine Passage im Aufsatz "Der Surrealismus"ver-standlicher:"Den Pessimismusorganisieren"heiBe namlich,"imRaum des politischen Handelns den hundertprozentigenBildraum entdecken.Dieser Bildraum aber istkontemplativ ber-hauptnichtmehrauszumessen";und er sei "konkreter: eibraum"(II 309). MitradikalemPessimismushat man es allerdingshierzutun;wennes hier Grundzu optimistischen offnungengibt,dannnur noch in ihm. Denn hochstensjenerWahrnehmendekann viel-leichtder gefahrlichen ituationnochgewachsen ein,der sie nichtschonerkenntund aufgrundseiner Einsicht teuert, ondern sichganz in sie hineinstellt nd sie mitmacht, m in restloserAnpas-sungdas Steuer doch nochherumzureiBen, nd sie so erst rkennt.Wenn man sich die Erinnerungsbilder es neuen, revolutionarenHistorikerswie die diskontinuierlichenBilder eines Films vor-stellenmuB,dann hat man immer uch an enen sprichwortlichen'Film' zu denken, als der vor den Augen dessen,der in Todesge-fahr st, einganzes Leben ablauft.So heiBt s in der "kleinenRedefiberProust, n meinem40. Geburtstag ehalten",welcherTag alsSelbstmordterminorgesehengewesensein konnte:17 Und jenes

    16 Inwiefern nder geistesgegenwartigenrinnerungunmittelbaruch schon dieRettungbestehenkann,das wird n dieser Skizzenichtweiter usgefiihrt.Voraus-setzungdaftir stdie Moglichkeit iner aktuellenund aktualen,durchaus hand-lungsf6rmigen rinnerung.Als solchevollzieht ich furBenjaminbeispielsweise ieArchitekturmoderne;die Passage ist ein Beispiel fur ein nicht-mentalesErin-nerungsbild.17Vgl. Bernd Witte,Walter enjamin,Reinbekb. Hamburg: Rowohlt,1985, S.99f.; Momme Brodersen,Spinne meigenen etz. Walter enjamin. ebenundWerk,Darmstadt:Wissenschaftlicheuchgesellschaft, 990, S. 211f.

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    >ganze Leben< das,wie wirofthoren,an Sterbendenoder an Men-schen,die in der Gefahrzu sterben chweben,voruberzieht, etztsichgenau aus diesen kleinen Bildchenzusammen" (II 1064).Dieses Erinnerungsmoment eht dem Hasardspiel freilich b.Und darin besteht in weitereskritisches rgumentgegen es, daBes zu kurzgreift nd nicht ndie "Ferne"gehenddas ganze Lebenmiteinbezieht.Einen echten"Wunsch" habe der Spieler nicht:[.. .]? Ichbehaupte, s macht inengroBenUnterschied,b icheinenWunsch ur ine ferneZukunft derfurdenAugenblick ege. Wasman ich n derJugendwiinscht,atman mAltern Fulle'heiBt s beiGoethe. efruhermLebenman inenWunschut, estogroBere us-sicht ater,erfulltu werden . . Aber chbinabgekommen.??Vermutlichollten ie sagen?,meinte ritjof,daBeiner,der imSpielsetzt,ucheinenWunsch ut.??Ja, bereinen, en dernachste ugenblickhm rfullenmuB.Unddas istdas Verworfnearan.??Einsonderbarerusammenhang?,agtederWirt, in den Sie dasSpielhineinstellen.nddasGegenstiicku derElfenbeinkugel,ie inihr Fach rollt,ware die Sternschnuppe,ie in die Fernestiirzt nddarum inenWunsch reigibt.Ja-den rechtenWunsch, er n dieFernegerichtetst?, agtederDane.

    (IV 774)"Uber einige Motive bei Baudelaire" gibt eine ganz ahnlicheDarstellungder Zusammenhange: "Der Spieler geht auf Gewinnaus, das isteinsichtig. och wird man seinBestreben, u gewinnenund Geld zu machen,nichteinen Wunsch im eigentlichen innedes Wortesnennenwollen. Vielleicht rfiillthn im Inneren Gier,vielleicht ine finstereEntschlossenheit. edenfalls st er in einerVerfassung, n der er nicht viel Aufhebens von der Erfahrungmachen kann. Der Wunsch seinerseitsgehort dagegen den Ord-nungender Erfahrung n. >Was man sich nderJugendwunscht,hatman im Alter nFulle?,heiBt s bei Goethe.JefriihermLebenman einen Wunsch tut,desto gr6BereAussicht hat er, erfullt uwerden.Jeweiter in Wunsch ndie Ferneder Zeitausgreift, estomehr a1Btich fur seine Erfullunghoffen.Was aber in die Ferneder Zeit zurickgeleitet, stdie Erfahrung,die sie erfullt nd glie-dert.Darum ist der erfullteWunsch die Krone,welche der Erfah-rung beschieden ist." (I 634f.) Der "Wunsch,"das wirdhier fastuberdeutlichgemacht, st eine Kategorieder kontinuierlichenEr-fahrung"; mSpiel dagegen richtet ich die Wahrnehmung ufdas

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