Norbert Otto Eke Heiner Müller Reclam · Vorbemerkung Nach wie vor steht das Werk Heiner Müllers...

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Norbert Otto Eke Heiner Müller Reclam

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Norbert Otto EkeHeiner Müller

Reclam

Eke · Heiner Müller

Norbert Otto Eke

Heiner Müller

Reclam

Mit 10 Abbildungen

Alle Rechte vorbehalten© 1999 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Made in Germany 2015reclam, universal-bibliothek und

reclams universal-bibliothek sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

isbn 978-3-15-950489-6isbn der Buchausgabe 978-3-15-017615-3

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Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1 Schattenriß einer schwierigen Biographie . . . . . . 9Annäherung von außen . . . . . . . . . . . . . . 9Stationen eines Lebens . . . . . . . . . . . . . . . 13

2 Das Theater als Wunschmaschine. Ästhetik undGeschichte im Werk Heiner Müllers . . . . . . . . 36

Das Drama der Geschichte . . . . . . . . . . . . 36»Kunst hat mit dem Unmöglichen zu tun«.Unterwegs zu einer »neuen Sprache desTheaters« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

3 Das dramatische Werk . . . . . . . . . . . . . . . . 56Stücke aus der Produktion . . . . . . . . . . . . 56

Prolog: Zehn Tage die die Welt erschütterten –Klettwitzer Bericht 1958. Eine Hörfolge . . . 60Der Lohndrücker . . . . . . . . . . . . . . . . 67Die Korrektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Die Umsiedlerin oder Das Leben auf demLande (Die Bauern) . . . . . . . . . . . . . . . 81Der Bau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Zement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Stücke nach der Antike – Lehrstücke . . . . . . 105Philoktet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106Von Philoktet zu Der Horatier:Herakles 5, Ödipus Tyrann, Prometheus . . . 115Der Horatier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Mauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127Die Hamletmaschine . . . . . . . . . . . . . . 135

»Ein Fetzen Shakespeare« . . . . . . . . . . . . . 144Macbeth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shake-spearekommentar . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Deutsche Alpträume . . . . . . . . . . . . . . . . 159Die Schlacht. Szenen aus Deutschland /Traktor. Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . 162Germania Tod in Berlin . . . . . . . . . . . . . 171Leben Gundlings Friedrich von Preußen Les-sings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen 185

Arrangements der Abwesenheit. Stücke derspäten siebziger und der achtziger Jahre . . . . . 198

Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution 199Quartett. Nach Laclos . . . . . . . . . . . . . . 209Verkommenes Ufer Medeamaterial Land-schaft mit Argonauten . . . . . . . . . . . . . . 217Bildbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 226Wolokolamsker Chaussee I–V . . . . . . . . . 230

Epilog: Germania 3 Gespenster am Toten Mann 248

4 Lyrik und Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

5 Wirkungen und Wertungen . . . . . . . . . . . . . 285

Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . 317Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Inhalt6

Vorbemerkung

Nach wie vor steht das Werk Heiner Müllers innerhalb derTheaterlandschaft der Bundesrepublik für »fremde« undverstörende Erfahrungen. – Ein Werk zwischen allen Fron-ten: der Ästhetik, der Kulturen, der Moden; Stücke, die ausihren Brüchen leben; komplexe Textlandschaften, die sichimmer weiter aus den dramaturgischen Konventionen ent-fernt haben; dramatische Entwürfe aber auch, die dasDrama als offene Spielvorlage und Material zur Erkundungund Erweiterung des kulturellen Möglichkeitsspielraumsdefinieren. »Theater als Prozeß« (T 4,121) ist das von Mül-ler selbst geprägte Stichwort zur Beschreibung des von ihmüber die Jahre in immer neuen Anläufen verfolgten Projektseines demokratischen und kommunikativen Theaters, dassich der poetischen Überbietung der Wirklichkeit verwei-gert, um die »Gesellschaft an ihre Grenze zu bringen« (GI59). Mit zunehmender Konsequenz hat Müller in den mehrals vier Jahrzehnten seiner Arbeit für (oft gegen) das Thea-ter seine Texte als »Bewegung, in einen Raum mit Fragen«(GI 57) konzipiert, als Stimulanz dialektischen Denkens.Die Kompromißlosigkeit, mit der Müller diese Zielvorstel-lung in seinen Dramen und Szenarien, in Prosa und Lyriksowie in seinen ästhetisch-theoretischen Selbstverständi-gungsschriften und Gesprächen verfolgt hat im schwierigenSpagat zwischen Ost und West, läßt sein Werk – nach einerFormulierung Stephan Hermlins – zum »Findling« werden»in der Landschaft der deutschen Literatur, ähnlich denWerken früherer Epochen, die den Ablauf und die Folge ge-scheiterter Revolutionen markieren.« (Kalkfell 5)

Die folgende Darstellung ist der Versuch, sich auf be-schränktem Raum und unter der Vorgabe eines einführen-den Überblicks diesem Werk anzunähern, das in der Spanne

der Jahre den Schritt von einem Denken in den Kategoriender marxistischen Dialektik zu einem nomadischen Denk-gestus jenseits exakter terminologischer Definitionen, vor-eingestellter Sinnraster und Totalitätskonzeptionen voll-zogen hat. Die in der Konzeption der Reihe begründeteUmfangsbeschränkung gestattet dabei keine ausführlichereAuseinandersetzung mit der umfangreichen Forschungslite-ratur. Wichtigeres (für diese Arbeit Wichtiges) wird in derBibliographie genannt, punktuell auch im Text erwähnt, ge-legentlich zitiert. Über die unvermeidlichen Abkürzungeninformiert ein der Bibliographie vorangestelltes Siglenver-zeichnis.

Mit den Eltern in Waren-Müritz

Vorbemerkung8

1

Schattenriß einer schwierigen Biographie

Annäherung von außen

»Hin und wieder nickte mir Bronski freundlich zu, alswolle er mir Mut machen, zu schweigen oder zu reden,ganz wie es mir beliebe. Es waren nicht seine Augen, diebesonders auffielen, nicht der schmale Mund oder die starkeNasenpartie, es war die Geometrie seines Schädels, der wieein auf der Spitze stehendes Dreieck sich seinen eigenenRaum schuf und, von Gedanken und den Sinnen unablässigumkreist, die Menschenzeit anders zu vermessen schien alsich. � [. . .] � Dann schnalzte er mit der langen spitzen Zun-ge und begann leis, die ersten Worte zu formen. Europa seidie große Oper, in der en suite die blamierten Utopien ge-spielt werden würden. Amerika hingegen vergnüge sich mitseiner banalisierten und verwirklichten Utopie in Disney-land. Und die Werte seien einer wilden Pragmatik unter-worfen, und jeder Versuch, mit klassischen Mitteln der Wü-ste beizukommen, müsse scheitern.«1

1 Stefan Schütz, Katt. Volksbuch, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 20 f.

Das ironisch-liebevolle Porträt Heiner Müllers als einesabgeklärten Herolds negativer Dialektik, das Stefan Schützhier in seinem 1988 erschienenen »Volksbuch« Katt skiz-ziert, steht quer zu dem einige Jahre zuvor von Paul Grat-zik in seinem Roman Transportpaule oder wie man überden Hund kommt entworfenen Bild des mundtot gemach-ten Autors, der mit dem Rücken zur Wand unbeirrt seinemTraum vom Theater folgt. Im zweiten Kapitel dieses 1977

veröffentlichten Romans versucht eine Gruppe von Studen-ten unter der Führung der jungen Arbeiterin Hedwig denParteisekretär Willy für das Projekt eines Jugendclubs zugewinnen, der auf den Trümmern einer mittelalterlichenTurmruine errichtet werden soll. Die sechste Etage diesesTurmbaus ist einem neuen, nicht-affirmativen Theater ge-widmet, als dessen Leitfigur der Dichter M., eine aufKenntlichkeit hin angelegte Figuration des Autors HeinerMüller, erscheint. »Wir wollen«, so faßt die Arbeiterin Hed-wig die theaterästhetischen Vorstellungen der jungen Gene-ration zusammen, »ein Theater, in dem unsere Dichter nichtbeleidigt werden und arm in den Ecken rumgammeln undihre ledernen Jacken an den Zementwänden abscheuern.Darum soll auch der Dichter M. in diesen Turm, wenn nötigals Pförtner, damit er sein regelmäßiges Geld hat und sichnicht verkriechen muß, will er uns sehen oder reden.«2

2 Paul Gratzik, Transportpaule oder wie man über den Hund kommt. Mono-log, Berlin 1977, S. 40.

Die schwarze Sibylle »Monsignore Müller« (Schütz) unddie geschundene Stimme eines neuen Theaters, der Dich-terpatriarch und der randständige Verfasser un- oder kaumgespielter Dramen: Nur elf Jahre liegen zwischen diesenTexten mit ihren so unterschiedlichen Modellierungen desAutor-Bildes und seiner historisch-gesellschaftlichen Wirk-lichkeit; elf kurze Jahre, in denen Müller den langen Weggegangen ist vom Außenseiter im Kulturbetrieb der DDRzum gesamtdeutschen Medienstar. Fällt von Schütz’ Romanaus ein Schlaglicht auf den zur Ausnahmeerscheinung imeuropäischen Theater avancierten Autor der achtziger Jahre,erinnert Gratziks Porträt nachhaltig an die Vorgeschichtedes Erfolgsdramatikers, der ungeachtet seines ihm seit densiebziger Jahren stetig zugewachsenen Renommees aus je-weils unterschiedlichen Gründen sowohl in der früherenDDR als auch in der Bundesrepublik immer ein umstritte-ner Autor geblieben ist: unterdrückt, verboten, behindert

Schattenriß einer schwierigen Biographie10

Der Vater (links) während des Krieges in Frankreich

und zuletzt zögerlich umarmt (Ost), eine Zeitlang enthu-siastisch gefeiert und mit den bedeutendsten Theaterprei-sen (Büchner-Preis, Kleist-Preis, Europäischer Theaterpreis)ausgezeichnet, aber auch der Radikalität, Intellektualitätund Kompromißlosigkeit seiner szenischen Entwürfe we-gen gefürchtet, angefeindet nicht zuletzt auch seines Behar-rens auf der utopischen Substanz des Sozialismus wegen(West). Die gedankliche Strenge der Texte freilich markiertnur die eine Fluchtlinie einer grundlegenden Irritation, diesich an der komplizierten, von Verwerfungen und Brüchengekennzeichneten Rezeptionsgeschichte von Müllers Werkablesen läßt: in der früheren DDR als Selbstkritik des Mar-xismus, in der BRD als Ausdruck marxistischen Denkens,gesamtdeutsch mit seinem schonungslosen Blick auf die(nicht zuletzt die desaströse deutsche) Geschichte; eine an-dere, zweite schreibt sich her von den formalen Konsequen-zen einer die Grenzen der konventionellen Formensprachedes Dramas subversiv unterminierenden Schriftpraxis, diein vielfacher Weise den Brückenschlag sucht zwischen Lite-ratur, Philosophie, Choreographie, Musik und darstellen-den Künsten und entsprechend häufig auch von Künstlernaus den verschiedensten Bereichen als Anregung aufgenom-men wurde.

Schattenriß einer schwierigen Biographie12

Stationen eines Lebens

Von Eppendorf nach Berlin (1929–1951)

Ungeachtet seiner vor allem in den achtziger und neunzigerJahren beständigen Medienpräsenz hat Müller es immerverstanden, sein scheinbar vor den Augen der Öffentlich-keit gelebtes Leben dieser Öffentlichkeit zu entziehen. Niehat Müller allzuviel von seiner Person preisgegeben; daswenige Bekannte ist verstreut und muß mühsam zusam-mengesucht werden. Auch die 1992 unter dem Titel Kriegohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen erschienenen Le-benserinnerungen Müllers erlauben keine auch nur einiger-maßen lückenlose Rekonstruktion seiner Biographie; sievermitteln allenfalls punktuelle Einsichten in die Entwick-lung des Autors im Spannungsfeld von Autonomiean-spruch und (kultur-)politischer Reglementierung, beleuch-ten einzelne, Müller selbst wesentliche Stationen seines Le-bens, stellen im ganzen aber mehr Sichtblenden auf, als daßsie einen Lebensweg erhellten, dessen Widersprüche undIrrtümer symptomatisch sind für ein deutsches Schicksal –und das doch in einer unverwechselbaren Einzigartigkeitdasteht.

Die Bereitschaft Müllers, über seine Person nur dort zusprechen, wo dies im Zusammenhang mit seinen ästheti-schen und politischen Ansichten, Intentionen und Zielset-zungen steht, entspricht dem lebenslangen Primat des Wer-kes, den er in Krieg ohne Schlacht wiederholt reklamiertund durch zahlreiche Selbststilisierungen unterstrichen hat:als Außenseiter und Anarch in einem zum ›Material‹ erklär-ten Kulturzusammenhang; als gegenüber Ideologien undWeltanschauungen relativ widerständiger Autor, der einsamseine Kreise gezogen hat, behindert zwar, in seinem Kernaber unberührt von den Zumutungen einer restriktivenKulturpolitik; als Produzent eines Werks vor allem auch,

das allein in sich ruht und eben nicht im politischen Kontext›DDR‹ zu verorten und allein aus diesem heraus zu begrei-fen sei. Die dabei zu beobachtende Verleugnung eigener po-litischer Enttäuschungen ist Ausdruck einer Abwehrstrate-gie, die dem eigenen Werk über den Zusammenbruch desStaatssozialismus sowjetkommunistischer Prägung und denFall der Mauer hinweg jenseits der gerasterten Vorstel-lungsbilder und Wahrnehmungsmuster ein ›Überleben‹ imFreiraum der Kunst hatte sichern sollen. Sie ist gerichtet ge-gen die nach dem historischen Umbruch von 1989 gelegent-lich zu beobachtenden Versuche, seine Stücke als bloßeHinterlassenschaft der DDR und ›sozialistischen‹ Kitschabzuwickeln, der seine Verfallszeit mit der politischen Ent-zauberung des Sozialismus als konkreter Utopie überschrit-ten habe.

Heiner Müller wurde am 9. Januar 1929 in Eppendorf, ei-ner Kleinstadt in Sachsen, geboren. Müller selbst beschreibtdas soziale Milieu, in dem er aufgewachsen ist, als in Teilen»Arbeiteraristokratie, von der Mentalität her sehr nationali-stisch« (KoS 13): der Großvater väterlicherseits arbeitete alsStrumpfwirkermeister in einer Textilfabrik, die Großmutterwar vor ihrer Heirat Magd auf einem Gut in Bräunsdorf ge-wesen. Müllers Mutter Ella stammte aus eher ärmlichenVerhältnissen, nachdem Müllers Großmutter als Tochter ei-nes reichen Bauern den von der Familie nicht akzeptiertenSohn einer verwitweten Näherin geheiratet hatte, »unterstesoziale Schicht« (KoS 14), wie Müller in seiner »Autobio-graphie« vermerkt, Sozialdemokrat obendrein. Müllers Va-ter Kurt war als Angestelltem ein bescheidener sozialerAufstieg gelungen; als Funktionär der Sozialistischen Ar-beiterpartei aber gehörte er 1933 zu den ersten Opfernder von den Nationalsozialisten nach der Machtübernah-me Hitlers eingeleiteten Monopolisierung der politischenMacht durch die gewaltsame Ausschaltung der Linkspar-teien. Am 9. März (nicht, wie Müller in seiner ErzählungDer Vater schreibt, am 31. Januar) 1933 wurde er verhaftet

Schattenriß einer schwierigen Biographie14

und zunächst in das Lager Plaue-Bernsdorf, nach dessenAuflösung in das Arbeitsdienstlager Sachsenburg ver-schleppt, wo er bis zum Herbst 1933 inhaftiert blieb.3

3 Vgl. dazu Kurt Müllers »Erlebnisbericht aus der Zeit des ›nationalen Um-bruchs‹« vom 16. Januar 1948, in: »Sklaven. Migranten, Briganten, Kombat-tanten« (1996) Nr. 26/27, S. 36–37.

Mate-rielle Not und soziale Stigmatisierung, der Widerspruchzwischen ›privatem‹ und ›öffentlichem‹ Gespräch, das Ver-bergen politischer Ansichten und das Tragen von Maskenim Alltag gehören von nun an zu den prägenden Erfahrun-gen des Heranwachsenden. Da Kurt Müller nach seinerEntlassung keine Arbeit mehr findet, sorgt die Mutter Ellafür den Lebensunterhalt der Familie, zunächst noch in Ep-pendorf, dann in Bräunsdorf, wohin die Müllers ihrenWohnsitz verlegen mußten; nach Eppendorf hatte der Vaternach seiner Entlassung nicht mehr zurückkehren dürfen.Erst 1938 erhält Kurt Müller wieder eine feste Anstellungbei einer Landkrankenkasse in der mecklenburgischenKleinstadt Waren. Dort besucht Müller die Grund- undMittelschule, zuletzt, aufgrund guter Leistungen von denobligatorischen Schulgeldzahlungen befreit, das Gymna-sium. Im Herbst 1944 wird er zum Reichsarbeitsdienst ein-gezogen, 1945 zum Volkssturm, dem letzten Aufgebot desuntergehenden Deutschen Reichs, verpflichtet.

Das Kriegsende erfährt der Sechzehnjährige als »absolu-ten Freiraum« (KoS 38). Er kehrt zu seiner Familie nachWaren zurück, wird dort zunächst zur Mitarbeit bei derEntnazifizierung der Bibliotheken des Landkreises heran-gezogen; in Frankenberg, wohin die Familie 1947 nach derBerufung des Vaters in das Amt des Bürgermeisters ihrenWohnsitz verlegt, holt er das Abitur nach (1948) und arbei-tet dort bis 1951 als Hilfsbibliothekar. Erste Schreibversu-che datieren aus dieser Zeit. Die Teilnahme an einem Hör-spielwettbewerb macht 1948 auf das Talent Müllers auf-merksam; er erhält eine lobende Erwähnung (KoS 57) undkann 1949, mittlerweile ist er Mitglied der SED, erstmals an

Stationen eines Lebens 15

Schriftstellerlehrgang in Radebeul, 1949(Müller in der zweiten Reihe von oben, Mitte)

(Foto: Archiv Martin Pohl)

einem von der FDJ veranstalteten Schriftstellerlehrgang inRadebeul bei Dresden teilnehmen. Als Kurt Müller 1951,gefolgt einige Monate später von der Mutter Ella und demjüngeren Bruder Wolfgang, aus politischen Gründen in denWesten flieht, entscheidet sich Heiner Müller dafür, in derDDR zu bleiben; in Berlin versucht er als Schriftsteller Fußzu fassen.4

4 Kurt Müller läßt sich nach seiner Flucht in Reutlingen nieder; er stirbt 1980.Ella Müller (gest. 1995) kehrt 1983 in die DDR zurück.

Müller hat diese Entscheidung für die DDR mit der mo-ralischen Legitimation des sozialistischen Staates aus demAntifaschismus heraus begründet. Aufgewachsen in einerDiktatur, habe er den Sozialismus zunächst als das Anderedes Faschismus, wenn auch in Gestalt einer »Gegendik-

Schattenriß einer schwierigen Biographie16

tatur« (G 3,97) erfahren. So hat er in späteren Jahren dieFrage, warum er in der DDR geblieben sei (und nachwie vor bleibe), stets mit einem Bekenntnis zur DDR alsdem Ort eines Erfahrungsbruchs begründet: »Was ich alsGrunderfahrung habe ist, daß eine Welt zu Ende gegangenist, eine Welt, die sicher auch Annehmlichkeiten hat. Woman auch bei vielem bedauert, daß es zu Ende ist. Aber dieist zu Ende. Und das Neue ist zunächst mal sehr diffus undauch sehr erschreckend vielleicht. Aber die Haupterfahrungist das Ende, eine Welt ist zu Ende und die neue hat ihreSchrecken, ihre Dummheiten, ihre Borniertheiten und ihrekomischen Seiten und was alles, aber es ist eine neue Welt.Es ist im Grunde das, was Brecht formuliert im Galilei. /Ich könnte morgens nicht aus meinem Bett aufstehen, wennich nicht wüßte, daß das eine neue Zeit ist und wenn sieauch aussieht wie eine alte blutverschmierte Vettel, das istdas Grunderlebnis« (Neger 23 f.). Hinzu kommt ein zwei-tes: als Ort eines Erfahrungsbruchs ist die DDR für Müllerzugleich auch Ort eines produktiven Erfahrungsdrucks,Material für den Dramatiker – weniger aufgrund ihrer em-pirischen Realität (die in Müllers Texten seit den siebzigerJahren im Grunde genommen darum auch keine Rolle mehrspielt) als vielmehr aufgrund ihrer utopischen Potentialität:»Die DDR ist mir wichtig, weil alle Trennlinien der Weltdurch dieses Land gehen. Das ist der wirkliche Zustand derWelt, und der wird ganz konkret in der Berliner Mauer. Inder DDR herrscht ein viel größerer Erfahrungsdruck alshier [in der BRD], und das interessiert mich ganz berufsmä-ßig: Erfahrungsdruck als Voraussetzung zum Schreiben.«(GI 135)

Stationen eines Lebens 17

Berlin: Schwierige Anfänge, erste Erfolge (1951–1961)

Von 1951 an erscheint Heiner Müller regelmäßig, zunächstmit kurzen Prosastücken, ab 1953 vor allem auch als Kriti-ker, auf den Seiten der liberalen Kulturzeitschrift »Sonn-tag«. Damit war ein Anfang gemacht, erkauft allerdings mitKompromissen und Irrtümern, die den politisch unerfahre-nen Jungautor aus der Provinz in der Hauptstadt sehrschnell zwischen die Fronten rivalisierender Fraktionen ge-raten ließen. Bereits 1951 wurde Müller, schenkt man seinenErinnerungen Glauben, im Zentralrat der FDJ der Deka-denz und des Formalismus beschuldigt (vgl. KoS 79); 1957geriet er erstmals ins Visier der Staatssicherheit (zumindestdatiert aus dieser Zeit der erste erhaltene Ermittlungsbe-richt über ihn; Braun, B 4: 1995, 34).

Müller, verheiratet inzwischen und Vater geworden, littin diesen Jahren unter beständiger Geldnot. Die Rezensio-nen brachten nur wenig ein, blockierten zudem Arbeitszeitfür Eigenes; eine Beschäftigung in der für Dramatik zu-ständigen Abteilung des Schriftstellerverbands blieb befri-stet (1954/55), mit Korrektur- und Auftragsarbeiten wieder Übersetzung von Stalinhymnen verdiente er nichtmehr als das Allernotwendigste zum Überleben. Seine dra-matischen Versuche selbst stießen auf nur wenig Gegen-liebe, seine Bewerbung als Meisterschüler am Berliner En-semble führte zu keinem Erfolg, ein von ihm an BrechtsBühne eingereichtes Stück über den Ringer Werner Seelen-binder wurde abgelehnt mit der von Müller später genüß-lich kolportierten Begründung, »daß am Berliner Ensemblenatürlich nur die Besten Platz hätten, wozu ich leider nichtgehörte« (KoS 84). Müller hat diese ersten Jahre in Berlin,die von der Erfahrung geprägt wurden, »daß alles, was ichernst meinte oder für gut hielt, abgelehnt wurde« (KoS111), in seinen Erinnerungen als »eine Zeit der Vorberei-tung und des Wartens« (KoS 110), aber auch als »dieHauptzeit der Stoffsammlung« (KoS 90) bezeichnet, sich

Schattenriß einer schwierigen Biographie18

selbst als asozialen Nomaden der Großstadt beschrieben(vgl. KoS 159), als poete maudit am Rande der Gesellschaft,ohne festen Wohnsitz, ohne festes Einkommen, ohne festeBindungen.

Dieses unstete Leben endete erst, als Müller in der Ar-beitsgemeinschaft junger Autoren im Schriftstellerverbandseine spätere zweite Frau, die Kinderbuchautorin und Lyri-kerin Inge Müller (geb. Meyer), kennenlernte und 1954nach dem Scheitern seiner ersten Ehe heiratete. Die Bezie-hung war schwierig, belastet durch die beständige Konkur-renz zweier (auch miteinander) um Anerkennung ringenderAutoren, aber auch durch die anhaltend prekären wirt-schaftlichen Bedingungen, unter denen das Paar zunächst inLehnitz, ab 1959 in Pankow lebte. Wolf Biermann hat inseinem Nachruf auf Müller von den schwierigen Lebensum-ständen der Müllers in der zweiten Hälfte der fünfzigerJahre erzählt. Zwar sei Heiner Müller nicht wie andere kri-tische Intellektuelle (Harich, Janka) juristisch verfolgt wor-den, als Walter Ulbricht die nach dem XX. Parteitag derKPdSU auch in der DDR keimenden Hoffnungen auf eineEntstalinisierung und Liberalisierung durch seine Politikwieder zunichte machte, aber auch er habe in dieser Zeit ineiner Art »Isolationszelle« gelebt: »Die Gitterstäbe warenaus Armut und Einsamkeit gemacht. So hockten wir in sei-ner ungeheizten Wohnung: An den Wänden Hunderte Zet-telchen mit Zitaten, Skizzen, Wortfetzen, Versen, Entwür-fen. Im Zimmer stand kalt die Luft. Billiger Schnaps- undätzender Tabakgestank vermischt mit demütigstem Dichter-hochmut. Im Munde dünner Tee und im Kopf große Rosi-nen. Zwischen Manuskripten lagen angetrocknete Stullen,belegt mit dem ranzigen Traum von der permanenten Revo-lution: Isaac Deutschers große Trotzki-Biographie. Das ein-geschmuggelte Trotzki-Buch aus dem Westen: ›Die perma-nente Revolution‹. Die nikotingelben Finger, die radikaleSicht, die scharfen Formulierungen, die mich erschreckten

Stationen eines Lebens 19

und anstachelten. Die politischen Witze, die haarsträuben-den Anekdoten.«5

5 Wolf Biermann, »Die Müller-Maschine«, in: »Der Spiegel« (1996) Nr. 2,S. 154–161; hier: S. 160.

Allmählich aber auch stellen sich erste Erfolge mitStücken ein, die zeigen, wie ernst Müller in den fünfzigerJahren die kulturpolitisch geforderte Bedeutung der Litera-tur als Produktivkraft im Gesellschaftsprozeß zu nehmengewillt war: 1957 wurde an der Volksbühne in Berlin Mül-lers erstes Stück aufgeführt, die gemeinsam mit Hagen Stahlund unter Mitarbeit Inge Müllers verfaßte Revolutionsre-vue Zehn Tage die die Welt erschütterten nach John ReedsBericht über die Oktoberrevolution; im selben Jahr wurdeMüller im Rahmen eines vom Ministerium für Kultur aus-geschriebenen Preisausschreibens »Zur Förderung des Ge-genwartsschaffens in der deutschen Literatur« ausgezeich-net. 1958 folgten Uraufführungen der Stücke Der Lohn-drücker am Städtischen Theater in Leipzig, Die Korrekturam Maxim-Gorki-Theater in Berlin (entstanden jeweils un-ter Mitarbeit Inge Müllers) und der Hörfolge KlettwitzerBericht in Senftenberg.

Müllers erster, bald wieder gestoppter Durchbruch fällt indie Zeit einer kulturpolitisch vorübergehend akzeptiertenRückbesinnung auf die Ausdrucksformen der proletari-schen Kunst der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, diein der DDR mit der Orientierung der sozialistisch-realisti-schen Ästhetik am Vorbild der Klassik und des bürgerlichenRealismus weitgehend an den Rand gedrängt worden war.In der Absicht dieser zeitweiligen Öffnung der Ästhetik lages, den sich in diesen Jahren von verschiedenen Seitenandeutenden Bruch mit der gültigen Linie einer traditiona-listischen Erbepflege zu vermeiden, die bereits zu Beginnder fünfziger Jahre durch den Antiklassizismus Brechts(Urfaust-Inszenierung, 1952) und Eislers (Johann Faustus,1952) erstmals nachhaltig herausgefordert worden war. Al-

Schattenriß einer schwierigen Biographie20

lerdings hat die Parteiführung die Diskussionsangebote der-jenigen Autoren, die wie Müller an die ›linken‹ Traditionendes Theaters (Proletkult, Agitprop etc.) anknüpften, nurzeitweise akzeptiert und das von hier aus begründete soge-nannte »didaktische« bzw. »dialektische« Theater (dem ne-ben u. a. Peter Hacks, Heinar Kipphardt, Hans Klauseidam,Hedda Zinner und Manfred Richter eben auch Heiner Mül-ler zugerechnet wurde) bald wieder mit dem Vorwurf desSektierertums ausgeschaltet. Bereits auf dem 4. Plenum desZK warnte Walter Ulbricht im Januar 1959 vor einer Ten-denz zur Verengung der »sozialistischen Kunst« zur »Agit-propkunst« und der Verabsolutierung des »›didaktische[n]‹,Lehrtheater[s]« zu der sozialistischen Kunstform »unterMißachtung der großen realistischen Traditionen unsererDichtung und unter Verzicht auf echte künstlerische Gestal-tung«. Derartige »sektiererischen Tendenzen, die der Aus-druck des Unverständnisses für unsere wahrhaft nationaleKunstpolitik sind«, seien, so Ulbricht, »ein Hemmnis fürdie Entwicklung einer großen Literatur und Kunst des Frie-dens und des Sozialismus, die wirklich zu Millionen Men-schen zu sprechen versteht.« (Dokumente I,543)

Zwar richtete sich Ulbrichts Verdikt in erster Linie gegenden Neuerungs- und Ausschließlichkeitsanspruch, mit demeine durchaus nicht homogene Gruppe von Theaterprakti-kern und Dramatikern den Theaterapparat im Rückgriff aufdie sozialistische Ästhetik der zwanziger Jahre (kultur)re-volutionär zu verändern forderte, weniger dagegen gegeneinzelne Stücke – immerhin hatte Ulbricht noch im Jahr zu-vor auf dem V. Parteitag der SED unter anderem Müller lo-bend erwähnt (Dokumente I,534). Den verschieden gelager-ten Versuchen zu einer theaterpraktischen Umsetzung derliterarisch entfalteten Angebote aber war mit Ulbrichts In-tervention der Boden entzogen. Müllers Lohndrücker, derzwischen dem März 1958 und dem Oktober 1959 immerhinsieben Inszenierungen erlebt hatte, verschwand bis 1978 fürnahezu zwei Jahrzehnte aus den Spielplänen der DDR, Die

Stationen eines Lebens 21

Korrektur nach Aufführungen in Berlin, in Potsdam undSenftenberg sowie an der Studentenbühne der Hochschulefür Ökonomie in Berlin-Karlshorst wohl zur Gänze. InHermann Kählers 1966 erschienenem Überblick »Gegen-wart auf der Bühne« firmiert das »didaktische« Theater (beiihm vor allem Hacks, Müller, Baierl) folgerichtig nur nochals »Umweg« auf dem »Weg zur Realität«6

6 Hermann Kähler, »Gegenwart auf der Bühne. Die sozialistische Wirklich-keit in den Bühnenstücken der DDR von 1956–1963/64«, hrsg. vom Institutfür Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1966, S. 18.

, »Ausdruck ei-ner Übergangsentwicklung nach neuen ästhetischen Posi-tionen suchender Künstler«7

7 Ebd., S. 19.

.Müller selbst befand sich zu dieser Zeit in einer schwie-

rigen Phase seiner persönlichen und künstlerischen Ent-wicklung, nachdem der Skandal um die Komödie DieUmsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande seine so viel-versprechende und 1958 mit einem – wenn auch lediglichbefristeten – Engagement als Dramaturg am Maxim-Gorki-Theater gekrönte Karriere 1961 fürs erste abrupt beendethatte und auch der Versuch, nach einer längeren Karenzzeitmit einer Bearbeitung von Erik Neutschs Roman Die Spurder Steine wieder auf dem Theater Fuß zu fassen, 1965 ge-scheitert war.

Der Skandal um »Die Umsiedlerin« –Leben am Rand des Kulturbetriebs (1961–1972)

Die Umsiedlerin, ein Stück über die Schwierigkeiten undHärten des Aufbaus auf dem Land zwischen Bodenreformund Kollektivierung, war in weiten Teilen entstanden als›work in progress‹ während der sich nahezu über eineinhalbJahre hinziehenden Probenarbeiten an der Studiobühne derHochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst; erste Ent-würfe stammen bereits aus dem Jahr 1956. Sofort nach

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der offiziell lediglich als Versuchsaufführung deklariertenPremiere am 30. September 1961 wurde Müllers Komödieangeblich konterrevolutionärer und antikommunistischerTendenzen wegen verboten (die Uraufführung erfolgte erst1976 unter dem neuen Titel Die Bauern). Die Textbücherwurden beschlagnahmt, die Darsteller zur Kritik ihrer Mit-arbeit gezwungen; der Regisseur der Aufführung B. K. Tra-gelehn aus der SED ausgeschlossen, fristlos aus seinem En-gagement am Theater der Bergarbeiter in Senftenberg ent-lassen und »zur Bewährung« in den Braunkohletagebaugeschickt; Müller selbst nach einer verspäteten und als un-genügend empfundenen (KoS 179) Selbstkritik, die er mitHilfe Helene Weigels verfaßt hatte, am 28. November 1961aus dem Schriftstellerverband und zugleich damit für zweiJahre aus dem kulturellen Leben der DDR verbannt (seineMitgliedschaft in der SED hatte sich bereits Jahre zuvor auf-grund nicht entrichteter Mitgliedsbeiträge von selbst erle-digt). Als Begründung diente neben dem inkriminiertenStück unmoralisches bzw. asoziales Verhalten des Autors,der weder seinen Beitragsverpflichtungen nachkomme nocham Verbandsleben teilnehme, überdies »schon seit Jahrenauf Kosten von Organisationen und Kollegen«8

8 Insbesondere die letzteren Vorwürfe sind lediglich dem Beschlußprotokollzum Ausschluß Müllers aus dem deutschen Schriftstellerverband vom29. November 1961 sowie einem Spitzelbericht vom selben Tag zu entneh-men (beide Dokumente in Braun, B 4: 1995, S. 158 und 159; das Zitat ausdem Bericht des – zu dieser Zeit noch so genannten – ›Geheimen Informa-tors‹ Hannes ebd., S. 159). Offiziell wurde der Ausschluß Müllers lediglichallgemein mit dem »Verstoß gegen die Ziele des Verbandes und Nichtein-haltung und Verletzung des Statuts« begründet (Faksimile des entsprechen-den Briefs an Müller in KoS 406).

lebe.Das mittlerweile ausführlich dokumentierte (vgl. KoS;

Streisand, B 4: 1991b; Braun, B 4: 1995) Vorgehen der SEDwar in vielerlei Hinsicht für alle Beteiligten überraschend:Die Aufführung war vorgesehen als Beitrag zu den BerlinerFesttagen als Teil der II. Studententheaterwoche der DDR,die unter der Verantwortung des Zentralrats der FDJ stand.

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Als Schirmherr der Veranstaltung diente Wolfgang Lang-hoff, der Intendant des Deutschen Theaters, das MüllersStück in Auftrag gegeben hatte und auch im Besitz der Ur-aufführungsrechte war. Seit dem Sommer 1957 wurde Mül-ler für diese Arbeit finanziell durch das Ministerium fürKultur unterstützt, die Inszenierung selbst mit Mitteln desKulturfonds von Groß-Berlin gefördert; Dekoration undAusstattung besorgten Mitarbeiter der Defa und des Berli-ner Ensembles. Überdies hatte das Kulturministerium dieGeneralprobe abgenommen, wenn die amtlichen Kontrol-leure auch nur Teile der Gesamtinszenierung gesehen hat-ten. Zum nicht unwesentlichen Teil mag die harte Reaktionder Partei auf die angespannte innenpolitische Situationnach dem Bau der Mauer (13. August 1961) zurückzuführensein. Partei- und Staatsführung markierten damit unmiß-verständlich eine Grenze zu denjenigen Intellektuellen, dieder Illusion einer im Zuge der Abschottung nach außen nunmöglichen (und bevorstehenden) Öffnung nach innen an-hingen.

Der Ausschluß Müllers aus dem Schriftstellerverbandkam einem vorübergehenden Berufsverbot gleich. Nahezuzwei Jahre war Müller gezwungen, sich abseits des offiziel-len Kulturbetriebs mit pseudonymen oder anonymen Ar-beiten für den Rundfunk und das Fernsehen durchzuschla-gen (KoS 194 f.), gestützt nur durch kleinere Zuwendungender Deutschen Schillerstiftung, die ihm auf VeranlassungHans Mayers gewährt wurden – ein Zeichen immerhin auchdafür, daß die Partei zwar gewillt war, an Müller ein Exem-pel zu statuieren, den gerade noch ausgezeichneten Autoraber auch noch nicht ganz hatte fallenlassen wollen. Nachzwei Jahren der politischen Kaltstellung meldete sich Hei-ner Müller 1963 in der Zeitschrift »Forum« mit einem Ge-dicht zurück, das in pathetischen Versen den erfolgreichenKampf feiert, den die vereinte Arbeitermacht kurz zuvorgegen die drohende Vereisung der Turbinen des KraftwerksElbe errungen hatte: Winterschlacht 1963. Weniger ästheti-

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sche Stringenz als taktisches Kalkül bestimmen dieses Ge-dicht, das in den Versen über das »unverlierbar[e]« »End-bild« des Kommunismus (G 165) und der Voraussetzungseiner Einlösung in der Unterwerfung unter die Parteidiszi-plin gipfelt.

Die Veröffentlichung von Winterschlacht 1963 steht amAnfang eines vorsichtigen Versuchs der Wiedereingliede-rung Müllers in den Kulturbetrieb der DDR, der nur zweiJahre darauf mit dem berüchtigten 11. Plenum des ZK derSED im Dezember 1965 erneut ein Ende fand. Kaum daß erwieder hoffen konnte, als Autor beim Wort genommen zuwerden, indem man ihn zu Wort kommen ließe (immerhinhatte er 1964 im Kollektiv die Erich-Weinert-Medaille derNationalen Volksarmee erhalten), wurde Müller mit seinemneuen, im Auftrag des Deutschen Theaters geschriebenenStück Der Bau zum Gegenstand der parteioffiziellen Kritikgegenüber jenen Werken der Literatur, die, so Erich Ho-necker in seiner Plenums-Rede, die »Wirklichkeit [. . .] nurals schweres, opferreiches Durchgangsstadium zu einer illu-sionären schönen Zukunft – als ›die Fähre zwischen Eiszeitund Kommunismus‹ (Heiner Müller: ›Der Bau‹)« darstell-ten (Dokumente I,1077).

Wieder war Müller mit der Absage der Parteiversamm-lung an alle modernistischen Tendenzen und der Abmah-nung kritischer Autoren wie Wolf Biermann, Werner Bräu-nig und Stefan Heym Opfer einer richtungweisenden poli-tischen Kursänderung geworden. Bereits 1963 hatte dieSED auf ihrem VI. Parteitag mit dem Beschluß zur Einfüh-rung des sog. »Neuen Ökonomischen Systems der Planungund Leitung« (NÖSPL bzw. NÖS) eine gesellschaftspoli-tische Weichenstellung vorgenommen, der ein gewandeltesVerständnis vom Sozialismus als nun »relativ eigenstän-dige[r] sozioökonomische[r] Formation in der historischenEpoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunis-mus im Weltmaßstab« (zit. nach Emmerich, B 4: 1989, 170)zugrunde lag – für Müller »die Heiligsprechung der Misere,

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die Geburt der Karikatur ›real existierender Sozialismus‹«(KoS 201). Daß Müllers Stück nicht die relative Ei-genständigkeit der Epoche, sondern das Moment des Über-gangs, der notwendigen Transformation betonte, paßte nichtins Bild des ideologisch abgebremsten Geschichtsprozesses.Eine Aufführung des immerhin bereits Anfang 1965 in derZeitschrift »Sinn und Form« veröffentlichten Stückes warnach der Kritik des 11. Plenums nicht mehr möglich, auchwenn Müller bis in das Frühjahr 1966 hinein an einer fürdas Theater akzeptablen, d. h. auch: in der Konfliktgestal-tung entschärften, Spielfassung weiterarbeitete.

Im Unterschied zu der Umsiedlerin-Affäre waren dieKonsequenzen dieses mißlungenen Versuchs einer Rück-kehr ans Theater für Müller allerdings weniger einschnei-dend, während die depressive Inge Müller den erneutenEinbruch ihres Mannes nicht mehr verkraftete und am1. Juni 1966 ihrem Leben ein Ende setzte. Auch wenn DerBau bis 1980 für die Bühnen der DDR gesperrt blieb,konnte Müller weiter für die Bühne arbeiten, kleinere oderGelegenheitsarbeiten realisieren, übersetzen. Eher unauffäl-lig als spektakulär hat er in den sechziger Jahren so als Bear-beiter und Übersetzer teilgehabt an Benno Bessons Kon-zeption eines »Volkstheaters«, das die hierarchischen Kom-munikationsformen auf dem Theater abzulösen, neue Wegedes Austauschs zwischen Bühne und Publikum zu erprobenund den Gestus des belehrenden Theaters mit seiner Vor-zeigedramaturgie durch ein demokratisches, den Zuschauerals Subjekt ernst nehmendes Theatermodell zu ersetzensuchte. Müller selbst hat gesprächsweise die Ziele dieserTheaterkonzeption bestimmt: Neubestimmung der Funk-tion von Theater, Dramaturgie und Öffentlichkeit, Theaterals Kommunikationsverhältnis, Aufhebung der Trennungvon Zuschauerraum und Bühne (»Verschüttung der Orche-stra«, wie Walter Benjamin es nannte). Das Theater sollte(wieder) zur Produktivkraft innerhalb des gesellschaftlichenGesamtprozesses werden, den es bislang »als Ganzes immer

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noch mehr abspiegelt als mitbetreibt, in seiner Arbeits- undWirkungsweise unter dem Niveau der Gesellschaft«9

9 »Miteinander statt oben und unten. Irene Böhme sprach mit Heiner Müllerüber die Bearbeitung von ›Horizonte‹«, in: »Sonntag«, Nr. 41, 12. Oktober1969, S. 11.

, nichtLehranstalt und Institution der Reproduktion vorbildlicherMuster, sondern »Instrument sozialer Fantasie« (T 4,117).

Seine eigene Arbeit konzentrierte Müller in den sechzigerJahren vorübergehend auf die Adaptierung mythologischerStoffe. Neben einer Bearbeitung von Sophokles’ ÖdipusTyrann, die er 1966 für Benno Besson auf der Grundlagevon Hölderlins Übersetzung herstellte, und der bereits 1964abgeschlossenen Sophokles-Adaption Philoktet entstandenHerakles 5, Prometheus und Der Horatier – Stücke über diesozialistische Geschichte »im Patt«, die um die Tragik derstalinistischen Deformation der Utopie, die Dialektik vonIdeal und Wirklichkeit, das Verhältnis von Wissen undMacht, den Umgang mit der Gewalt in der (sozialistischen)Geschichte und die Frage der Legitimation der Opfer revo-lutionärer Prozesse kreisen (und in der DDR mit Aus-nahme der erfolgreichen Ödipus-Bearbeitung zunächstnicht aufgeführt werden konnten).

Rehabilitierung im Osten – Durchbruch im Westen(1972–1989)

Mit der Shakespeare-Bearbeitung Macbeth erlebte erstmals1972 wieder – wenn auch noch in der Provinz – nach mehrals zehnjähriger Pause eines der ›großen‹ Stücke Müllersseine Uraufführung in der DDR, Auftakt zugleich der letz-ten großen Auseinandersetzung um Heiner Müller, dieWolfgang Harich 1973 in der Zeitschrift »Sinn und Form«mit einer Polemik gegen den Geschichtspessimismus inMüllers Stück eröffnete. Mehr als ein Nachhutgefecht aller-dings war dies nicht mehr. Ebenfalls 1973 erzwang Ruth

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Berghaus als Intendantin des Berliner Ensembles mit ihrerRücktrittsdrohung die Uraufführung von Müllers Revolu-tionsstück Zement an der renommierten Bühne Brechts.Damit war ein Zeichen gesetzt zur vorsichtigen, zöger-lichen, letztlich aber nicht mehr aufzuhaltenden Rehabilitie-rung Müllers. Sie wurde ermöglicht durch die vorüberge-hende kulturpolitische Liberalisierung nach dem VIII. Par-teitag der SED 1971 bzw. dem nur wenige Monate späteranschließenden 4. Plenum des ZK. Im Schatten des Wech-sels in der Partei- und Staatsführung von Walter Ulbrichtzu Erich Honecker hatte der VIII. Parteitag wirtschafts-politisch eine Wende eingeleitet vom Produktions- zumKonsumsozialismus, ideologisch eine Abkehr vom harmo-nisierenden Leittheorem der ›sozialistischen Menschenge-meinschaft‹ aus der Spätphase der Ulbricht-Ära und derAnerkennung des realexistierenden Sozialismus als einer›nichtantagonistischen Klassengesellschaft‹. Mit dem baldgeflügelten Wort Erich Honeckers, daß es »auf dem Gebietvon Kunst und Literatur keine Tabus geben« dürfe, wennman nur »von der festen Position des Sozialismus ausgeht«(Dokumente II,287), schien die Partei auf dem 4. Plenumdes ZK allem Anschein nach nun erstmals auch wirklichePluralität und Meinungsvielfalt zulassen und damit einekritische Literatur lizenzieren zu wollen, die den realexi-stierenden Widersprüchen der sozialistischen Gesellschaftin der Dialektik von Individuum und Gesellschaft, von Altund Neu, Geschichte und Utopie, Ideal und Praxis Aus-druck verleiht. Daß der »ideologische Funktionscharakterder Kunst« (Riewoldt) in den kulturpolitischen Verlautba-rungen der folgenden Jahre zunächst nur eine untergeord-nete Rolle spielte, ist ebenso Ausdruck einer nach außennun demonstrativ zur Schau gestellten kulturpolitischenGelassenheit wie die neue Offenheit in Fragen des kulturel-len Erbes. So öffnete Kurt Hager, verantwortlich für Kulturim Politbüro der SED, im Juli 1972 auf dem 6. Plenum desZK mit einer vorsichtigen Absage an die sog. Vollstrecker-

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