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Weihnachtsgeschichten am Kamin 24

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Weihnachtenfür Elisabeth

Eva-Maria Arndt

EAls an diesem warmen Septembertag die Mutter mit Elisa-beth nach Hause kam, wusste sie, dass Elisabeths Tage gezähltwaren. Die Therapie der letzten Monate hatte keinen Erfolggebracht. Der Arzt meinte, es blieben ihr vielleicht nochzwei, drei Monate. Man solle Elisabeth die letzten Wochenso schön wie möglich machen und alle Wünsche erfüllen.Elisabeth fühlte schon lange, dass ihre Kräfte schwanden.Kinder haben einen sehr feinen Sinn dafür. Die häufigenAufenthalte im Krankenhaus hatten ihr gezeigt, welche Fol-gen diese Krankheit hat.

Nun hatte Elisabeth eigentlich nur noch einen Wunsch, siewollte so gern noch einmal das Weihnachtsfest erleben, mitdem großen Tannenbaum auf dem Dorfplatz, den sie vonihrem Bett aus sehen konnte. Mit dem Läuten der Glockenam Nachmittag für den Weihnachtsgottesdienst und mit denBesuchen der Nachbarn, die vorbeikamen, um ein kleinesGeschenk zu bringen oder nur um ein paar liebe Worte zurAufmunterung zu sagen. Die kleine Elisabeth war schonlange krank, und das ganze Dorf nahm Anteil daran. Alle

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mochten das zarte kleine Mädchen mit den blonden Lockenund den großen blauen Augen besonders gern. Aber wiesollte nun dieser letzte Wunsch von Elisabeth erfüllt werden,denn bis Weihnachten waren es noch gut vier Monate.

Als die Mutter am folgenden Tag zum Bäcker kam, fragteer sofort, wie es Elisabeth ginge und wie die Diagnose wäre.Traurig und verzweifelt erzählte die Mutter das Ergebnis derUntersuchung und schilderte dann Elisabeths letzten großenWunsch, den sie ihr so gern erfüllt hätte, aber gar keineMöglichkeit dafür sah.

Der Bäckermeister, der das kleine Mädchen schon langekannte und in sein Herz geschlossen hatte, überlegte einenAugenblick und meinte dann, vielleicht könne man dochetwas machen. Er selbst wollte seine Lichterketten schon einenMonat früher aufhängen und die Schaufenster entsprechenddekorieren, vielleicht ließe sich auch noch manch anderesarrangieren. Abends im Dorfkrug am Stammtisch erzählte ervon diesem letzten Wunsch der kleinen Elisabeth und vonseiner Überlegung, in irgendeiner Form diesen Wunsch zuerfüllen. Es gab eine lange Diskussion, aber dann erklärtensich auch die anderen Dorfbewohner bereit, hier zu helfen.Der Förster meinte, er könne die obligate Weihnachtstanneauch schon Ende Oktober schlagen und auf dem Dorfplatzaufstellen lassen. Die anderen Geschäftsleute waren mit einerzeitigen Dekoration ihrer Schaufenster und dem frühenMontieren der Lichterketten für Weihnachten ebenfalls ein-verstanden. In den Familien sprach sich der letzte Wunschdes kleinen Mädchens ebenfalls herum, und bald planten alleDorfbewohner für das vorgezogene Weihnachtsfest. So liefdie Aktion «Weihnachten für Elisabeth» an.

Lediglich der Herr Pastor sperrte sich anfangs ein wenig.

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So meinte er, man könne doch in der «stillen Zeit», also imNovember, nicht die Weihnachtsglocken läuten. Aber dieEinwände ließ man nicht gelten, und so erklärte auch er sichausnahmsweise einverstanden.

Inzwischen war es spät im Oktober geworden. Die kleineElisabeth musste viel liegen. Wenn es sehr schön war, fuhrdie Mutter sie nachmittags mit dem Rollstuhl ein wenigspazieren, vorbei an den weihnachtlich geschmücktenSchaufenstern, den Lichterketten und dem inzwischen auf-gestellten Weihnachtsbaum. Ein leises Lächeln erhellte danndas Gesicht der kleinen Elisabeth, spürte sie einen Hauchvon Weihnachten. Aber ihre Kräfte nahmen immer mehrab. So setzte man im Dorf Elisabeths Weihnachtsfest auf den15. November fest.

Alles wurde so, wie sie es sich gewünscht hatte und wiesie es in all den Jahren vorher erlebt hatte. Die Lichter andem großen Weihnachtsbaum auf dem Dorfplatz leuchteten.Die Mutter hatte wieder ein kleines Bäumchen für Elisabethgeschmückt, und durch das Haus zog der Duft frischgeba-ckener Plätzchen. Die Kerzen brannten, und die Glockenläuteten für den Weihnachtsgottesdienst. Am späten Nach-mittag kamen die Nachbarn, um ihre kleinen Geschenkezu bringen, und der Kinderchor, dem Elisabeth so langeangehört hatte, sang vor der Tür all die schönen alten Weih-nachtslieder. Es war Weihnachten für Elisabeth. Zart und fastdurchsichtig lag sie in ihrem Bett, aber die Augen leuch-teten. War doch ihr letzter Wunsch in Erfüllung gegangen,sie erlebte noch einmal Weihnachten.

Am 1. Dezember schloss Elisabeth für immer die Augen.Das folgende Weihnachtsfest war in diesem Jahr für alle Dorf-bewohner ganz anders als sonst, sehr still, und die Gedanken

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vieler Menschen wanderten zu dem kleinen Mädchen, demsie gemeinsam noch einmal einen großen Wunsch erfüllthatten.

Glaube an den Weihnachtsmann

Anneliese Böckenhauer

EEs war in der Weihnachtszeit. Eine Kollegin erzählte, siehätte ihrem 5-jährigen Jungen den Weihnachtsmann aus-geredet. Dieses Gespräch beschäftigte mich lange Zeit. Wares richtig, einem Kind den Glauben an den Weihnachtsmannzu nehmen?

In diesem Zusammenhang denke ich noch oft an ein Erleb-nis, das ich zu einer Zeit hatte, als ich ebenfalls 5 Jahre altwar.

Der Heilige Abend war gekommen. Gespannt wartete ichauf den Weihnachtsmann. Wie mochte er wohl ins Hauskommen? Kam er vielleicht durch den Schornstein oderdurchs Fenster?

Plötzlich klingelte es. «Vielleicht ist das schon der Weih-nachtsmann», rief ich, während ich aufgeregt zur Tür lief,

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um diese zu öffnen. Doch was war das? Vor der Tür standein kleiner Schokoladenweihnachtsmann inmitten einerUnmenge von Süßigkeiten. «Oh, der Weihnachtsmann warda!», rief ich, wobei ich völlig aus dem Häuschen geriet.

«Oh, der Weihnachtsmann war da», rief meine Mutterscheinbar ebenso erstaunt wie ich.

Viele Jahre sind seitdem vergangen. Inzwischen bin ich71 Jahre alt. Selbstverständlich glaube ich nun nicht mehr anden Weihnachtsmann. Ich weiß, dass es die Nachbarin war,die auf Bitten meiner Mutter den Schokoladenweihnachts-mann mit den anderen Süßigkeiten vor die Tür gestellt hatte.Doch hätte ich das damals gewusst, wäre das Weihnachtsfestdann wirklich ebenso schön gewesen? War es nicht geradeder Weihnachtsmann, der das Weihnachtsfest zu einemunvergesslichen werden ließ? Der Weihnachtsmann, derunbemerkt ins Haus kam und an der Tür klingelte, um dannauf geheimnisvolle Weise wieder zu verschwinden, wie dieseben nur dem Weihnachtsmann möglich ist.

Das Leben zeigt sich oft von seiner nüchternen und zuweilenauch von seiner harten Seite. Ist es darum nicht wichtig, dasswir den Kindern, solange es irgend geht, eine Welt erhalten,in der es einen Weihnachtsmann gibt, der mit seinem großenHimmelsschlitten zur Erde fährt mit zwei silbernen Glöck-chen dran, vollgepackt mit vielen Geschenken, die die Engelim Himmel mit Liebe und Sorgfalt angefertigt haben?

In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine gute Weih-nacht.

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Wertvollstes Weihnachtsgeschenkin meinem Leben

Jürgen Wenske

EKalt war es am Abend des 20. Dezember 2007 in Görlitzauf der Altstadtbrücke geworden. Es ist jene Brücke, überdie ich als 9-Jähriger im Februar 1945 vom östlich der Neißegelegenen Stadtteil von Görlitz gegangen war, um denwestlich gelegenen Teil dieser Stadt zu erreichen. DurchInformationen der Berliner Illustrierten hatte ich über meinenVater erfahren, dass die Alliierten in Jalta im Februar 1945

beschlossen hatten, dass das Gebiet östlich der Neiße nachder Beendigung des Krieges, nach der Kapitulation Deutsch-lands, unter polnische Verwaltung käme. Augenscheinlichwar für den mündigen Bürger das Kriegsende nur noch eineFrage der Zeit. Diese Brücke, eine der insgesamt sieben Brü-cken, die einstmals in Görlitz über die Neiße führten, wurdeunmittelbar vor dem 8. Mai 1945 gesprengt und wurde voreinigen Jahren wieder aufgebaut.

Die Neiße war an diesem Abend leicht vereist, erschienan diesem Abend schemenhaft. Enten suchten noch begierignach Futter in dem Fluss. Behäbig quälte sich dieser Grenz-fluss durch die Dunkelheit. Hin und wieder zeigte sich derAbendstern am bewölkten Himmel. In der Ferne warenweihnachtliche Weisen zu hören. Die nach der friedlichen

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Revolution nach 1990 sanierten Gebäude in Görlitz westlichder Neiße – gerade noch rechtzeitig vor dem Verfall geret-tet – wiesen in der Dunkelheit der nun hereinbrechendenNacht darauf hin, dass diese Stadt westlich der Neiße fürseine Einwohner und Besucher wieder sichtbar für alle zum«Schlesischen Himmelreich» heranwächst.

Weihnachten stand unmittelbar vor der Tür. Der deutscheOberbürgermeister von Görlitz und der polnische Bürger-meister von Zgorzelec, der ehemaligen Oststadt, trafen sichebenso wie polnische und deutsche Bürger beider Städtean diesem Abend auf dieser Brücke. Seit das SchengenerAbkommen für die Länder in Kraft trat, die Anfang des20. Jahrhunderts der Europäischen Union beitraten, könnennicht nur die Görlitzer Bürger, sondern auch die Bürger ausdem deutschen Gebiet Niederschlesien als Teil Sachsens vondiesem Gebiet aus ohne Personalausweiskontrolle in das pol-nische Gebiet Niederschlesiens östlich der Neiße gelangen.Gleiches ist seither auch für polnische Bürger aus Nieder-schlesien östlich der Neiße in umgekehrter Richtung mög-lich.

Dieser Aufenthalt an diesem Abend wurde plötzlich ein sehrdenkwürdiger und bewegender für mich. Meine Gedankengingen zurück in das Jahr 1945. Damals im Dezember 1945

hätte ich nicht im Entferntesten daran gedacht, dass ich ohneAusweis- oder Passkontrolle jemals in meinem Leben vonNiederschlesien in der Bundesrepublik Deutschland nachSchlesien östlich der Neiße gelangen kann. NachhaltigeKindheitserlebnisse und -erinnerungen wurden gegenwär-tig.

So aus dem Jahr 1944, als der Bodenfrost in Goldberg inSchlesien östlich der Neiße den nahenden fünften Kriegs-

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winter anzeigte. Internierte gefangene Franzosen und pol-nische Zwangsarbeiter gehörten zum Stadtbild dieser Stadt ander Katzbach. Ähnlich einem Kainszeichen hatten Letzterean der linken Seite ihrer Oberbekleidung ein großes P zutragen. Ansonsten drohte ihnen eine Strafe. Dieses P kenn-zeichnete, dass sie Polen waren und zu jenem Volksstammin Europa gehörten, deren Bürger faul und dreckig wären,weshalb «polnische Wirtschaft» herrschte. So die damaligeoffizielle Propaganda in Deutschland. Wir hatten die Belie-ferung von Kohle bei einem Kohlenhändler in dieser Stadtbestellt. Bei der Anlieferung trug einer dieser Fremdarbei-ter die schweren Kohlensäcke in unseren Keller. Plötzlichwaren Schimpfworte und laute Flüche zu hören, die diesemPolen galten. Entsetzt schauten wir nach, was geschehen war.Der Stadtpolizist, als fanatischer Nationalsozialist von denBürgern dieser Stadt gefürchtet, hatte den Polen beschimpft,verflucht und lediglich deshalb geschlagen, weil sich bei die-ser schweren Plackerei das P auf seiner Jacke gelöst hatte. MitTränen in den Augen stand er vor mir, als ich ihm heimlichdie 15 Reichsmark im Namen meines Vaters übergab, die alsStrafe zu zahlen waren. «Dziékujé», danke, sagte er auf Pol-nisch zu mir. Jener Polizist erschoss später einen polnischenZwangsarbeiter angeblich auf der Flucht, damit er danachnicht zu Fuß den Weg von dieser Ortschaft nach Goldbergzurückzulegen brauchte. Vorsorglich hatte er deshalb seinMotorrad in einer Scheune abgestellt. Sogleich erinnerte ichmich daran, als mein Vater während des Abendbrotes berich-tete, dass in einem Dorf in der Nähe von Goldberg, in demer seiner Arbeit als Schornsteinfeger nachging, an diesemTag ein polnischer Zwangsarbeiter durch Strang exekutiertwurde, weil er sich mit einer deutschen Einwohnerin, die

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ihm hin und wieder etwas zu essen zukommen ließ, ange-freundet hatte. Entsetzt berichtete mein Vater davon, dass erdem Ortsgruppenführer begegnet sei. Dieser zeigte meinemVater den Strick für die Exekution und betonte dabei, dasser einen besonders dünnen ausgewählt hätte, damit die Hin-richtung für diesen Polen besonders qualvoll sei.

Die Gedanken weilten danach im Monat August 1945.Damals führte unser Rückweg nach der Flucht aus Nieder-schlesien nach einem etwa 36 Kilometer langen Fußmarschdurch jenes Kampfgebiet, das von Günter Grass in seinemBuch «Beim Häuten der Zwiebel» beschrieben wird. Völ-lig erschöpft wurde, nachdem wir in Niederschlesien west-lich der Neiße Muskau erreicht hatten, in dieser kleinenStadt übernachtet. Dunkel war es bereits geworden. Muskauwar infolge erbitterter Kampfhandlungen unmittelbar vorKriegsende als Ruinenstadt eine Geisterstadt. Aus den Fens-tern der zerstörten Häuser starrte uns das Grauen der letz-ten Kriegstage an. Schlagbäume an der Neiße versperrtenuns den Weg, auf dem man von Niederschlesien westlichder Neiße nach Niederschlesien östlich der Neiße gelangte.Als Eiserner Vorhang teilte die Neiße nun augenscheinlichEuropa unüberwindlich für immer in zwei Teile. Entsetzlichfür uns dieser Gedanke. Er ließ uns in unserer notdürftigenUnterkunft in einer Bäckerei in Muskau nicht schlafen. Hoff-nungslosigkeit, Hunger und existenzielle Zukunftsängstebestimmten das tägliche Leben. Flüchtlinge, herumirrendeVertriebene, die aus der Gefangenschaft entlassenen oderentflohenen Soldaten, die ihre Angehörigen suchten, oderMenschen, die durch Bomben oder Granaten ihr Haus oderihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten, prägten den All-tag dieser Zeit. Am Tag darauf ging es erneut zu Fuß nach

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Görlitz. Eine Schranke mit dem polnischen Adler, bewachtvon einem Polen, musste am Stadtrand von Görlitz passiertwerden, um in die Innenstadt zu gelangen. Die Befürch-tungen, dass auch der westlich der Neiße gelegene Teil derStadt Görlitz unter polnischer Verwaltung stünde, bewahr-heiteten sich nicht. Die Behelfsbrücke aus Ponton, die überdie Neiße an der Stadthalle, dem Festspielhaus der bis 1945

deutschlandweit bekannten Schlesischen Musikfeste, führte,bewacht von russischen Soldaten oder polnischen Milizio-nären, war ein Hinweis dafür, dass der Fluss auch diese Stadtin einen polnischen und einen deutschen Teil zweiteilte.Zugleich erinnerte ich mich der endlosen Züge deutscherVertriebener aus Niederschlesien östlich der Neiße, größ-tenteils Frauen, Witwen mit Kindern und Alte, die überdiese Brücke ziellos durch Görlitz zogen. Sie trugen zumTeil noch eine weiße Binde um den Unterarm, damit denpolnischen Bürgern in Niederschlesien östlich der Neißegekennzeichnet wurde, dass es Deutsche waren. Mit Tränenin den Augen berichteten mir Menschen aus dem endlosenZug der Vertriebenen, von den damals Regierenden imOsten Deutschlands als Umsiedler bezeichnet, wie sie vonden polnischen Behörden aufgefordert wurden, binnen 10

Minuten Haus und Hof zu verlassen, oder von einem Teilder polnischen Bürger drangsaliert und misshandelt wur-den, und nicht zuletzt, dass noch an der Grenze ihr letz-tes bescheidenes Hab und Gut, das ihnen noch verblieben,konfisziert wurde. Von einem, der einen kurzen Zwischen-aufenthalt bei meinen Eltern machte, erfuhren wir, dass ein18-jähriger naher Verwandter unserer Familie auf dem Treckdurch Polen in Hirschberg ( Jelenia Gora) in Niederschle-sien östlich der Neiße von polnischen Beamten inhaftiert

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und misshandelt wurde und ein grausames Lebensende imGefängnis dieser Stadt fand.

Nun war im Dezember 2007 mehr als ein halbes Jahrhundertvergangen. Dieser Abend auf der Altstadtbrücke in Görlitzwiderlegte mir wider Erwarten meinen Irrglauben aus demJahr 1945. Wir, die Gruppe deutscher Bürger, die an Bildungs-einrichtungen in Görlitz oder Zgorzelec polnische Sprach-kenntnisse erworben hatten, unterhielten uns mit den pol-nischen Bürgern aus Zgorzelec oder Niederschlesien östlichder Neiße jeweils in der Muttersprache des anderen, ähnlichdem Pfingstereignis, wie es in der Schriftensammlung desNeuen Testaments beschrieben ist. Gemeinsam begrüßtenwir die Umsetzung des Schengener Abkommens als Ergeb-nis des historisch notwendigen europäischen Vereinigungs-prozesses, als historischen Auftrag des 21. Jahrhunderts, derKälte geschuldet mit einem Glas Glühwein (grzano wino).So wurde für mich dieser Vorweihnachtsabend eine Stern-stunde des Lebens, die mir einen wichtigen Lebenswunscherfüllte. Er führte mir vor Augen, dass es doch Wunder inder Weltgeschichte gibt, weil Menschen, der Weihnachtsbot-schaft folgend, guten Willens sind. So wurde dieses Erlebnisdas wertvollste Weihnachtsgeschenk in meinem Leben. Inder Mitternachtsmesse in der St. Jakobuskathedrale dankteich dafür, begleitet vom Chorgesang mit «Gloria in excelsisdeo et in terra pax hominibus bonae voluntatis», «Ehre seiGott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen, dieguten Willens sind».

Ergreifend für mich nach der leidvollen Vergangenheit, indiesem Gottesdienst zu erleben, wie polnische Gottesdienst-besucher den Friedensgruß «Pokój niech bédzie z tobá»,

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«Friede sei mit dir», in ihrer Muttersprache den deutschenBürgern übermittelten und die in deutscher Sprache denFriedensgruß erwiderten.

Geneviève

Stefanie Ickas

ENicht jeder Mensch kann behaupten, dass sich in seinemLeben alle Träume verwirklicht haben, doch er konnte es.

Er war Nathan Finley. Er hatte sich nach langer Zeit end-lich seinen lang ersehnten Jugendtraum erfüllt: Vor vielenJahren und nach einigen Umbauarbeiten hatte er sein eige-nes «petit bistro» im Londoner Künstlerviertel Soho eröffnet.Die britische Metropole bot schon immer eine Vielzahl ankulinarischen Versuchungen, doch an die französische Küchetraute sich damals, so wie heute, längst nicht jeder. DochNathan hatte, als heißblütiger Verehrer der Landeshaupt-stadt, den Mut zum «Anderssein». Seine Faszination für deneuropäischen Nachbarn entdeckte er als Jugendlicher, als erzusammen mit seinen Eltern nach Frankreich fuhr. Nathanverliebte sich auf der Stelle in Fréjus mit seinem historischenHafen, der in Ruhe darauf wartete, gemalt zu werden. Siewohnten in einem kleinen, etwas höher gelegenen Hotel.

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Von ihrem Balkon aus bot sich ein traumhafter Panorama-blick über das Spektakel der Abendlichter und die üppige,mediterrane Vegetation. Nathan verbrachte fast jede Nachtauf dieser Aussichtsplattform des tiefblauen Mittelmeers.Hier wollte er bleiben. Er fühlte eine tiefe Zuneignungund fast magnetische Anziehungskraft zu dem französischenStädtchen. Er glaubte bis dahin nicht an Schicksal oder Vor-bestimmung, doch er sollte seine Meinung bald ändern.

An einem schwülen Sommermorgen spazierte er mit sei-nen Eltern über den farbenprächtigen Marktplatz Fréjus’ undtraf auf sie. Seine Liebe. Die Frau, für die er sterben wollte.Geneviève war ihr Name. Mit holprigem Französisch, abereinem starken Willen sprach er diese hinreißende Gestalt an.Sie fühlte sich geschmeichelt, und er war erleichtert, denndiese Himmelsgestalt war auch seiner Sprache mächtig, sodass,als Nathan zwei Wochen später wieder abreisen sollte, ihmder Abschied denkbar schwerfiel. Sie hatten zwar gewusst,dass man nur eine begrenzte Zeit füreinander da sein konnte,doch nun war die Trennung schneller gekommen als erwartet.Jede Geste, jedes Wort wäre zu viel gewesen, und so saßendie beiden an ihrem letzten gemeinsamen Abend schweig-sam am Strand und schauten auf das offene Meer.

Viele Briefe wurden verschickt, Tränen verließen ihrDepot und flossen in die Freiheit. Viele Tage gingen ins Land,bevor es wieder Sommer wurde und die beiden erneut auf-einandertrafen. Bei der Wiedervereinigung war es, als wärenicht ein Tag vergangen seit dem letzten Mal. Auf diese Artvergingen die Jahre. Nie war auch nur ein Gedanke an eineandere in Nathans Kopf. Nie.

Als er im siebten gemeinsamen Sommer in Fréjus war,fasste er den Entschluss, das Mädchen zu ehelichen, denn für

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ihn war sie nicht einfach irgendein Mädchen. Für ihn war sieein Engel. Eine Engelsgestalt, die auf die Erde gekommenwar. Doch anders als Engel hatte sie keine langen, blondenLocken, sondern einen rubinroten Haarschopf und großeKulleraugen. Die streng katholischen Eltern waren begeistertvon dem vornehmen, wenn auch etwas blassen und magerenBriten und seinen ehrbaren Ansichten.

Die beiden heirateten in der kleinen Dorfkirche von Fré-jus. Ganz allein. Ohne Eltern, Freunde oder Angehörige. Esschien so, als hätte ihnen – wie damals – die Sonne gratuliert,denn sie strahlte mit all ihrer Kraft. Die frisch Verheiratetenverbrachten ihre Flitterwochen im nahe gelegenen Cannesan der Côte d’Azur. Dann war es für Geneviéve an der Zeit,ihre Zelte im sonnigen südöstlichen Frankreich abzubrechenund ihrem Mann in das manchmal sehr verregnete, nebligeEngland zu folgen.

Die beiden hausten in einem kleinen Apartment. Nathanarbeitete in den folgenden Jahren als Restauranthilfe, Room-boy, Kurierfahrer und einmal als Pizzabote, während siezuerst Kellnerin war, um dann nach zwei Jahren eine Stellebei einem internationalen Unternehmen zu bekommen.Hier arbeitete sie hauptsächlich an Übersetzungen und derVerfassung von Schriftstücken. Finanziell gesehen wollten siesich, so gut es ging, einschränken, sodass sie eines Tages tat-sächlich ihr eigenes Café besitzen könnten. Von der Idee warsie genauso begeistert wie ihr Mann, und als es dann nachweiteren fünf Jahren so weit war, konnten sie es gar nichtfassen. Die meisten Renovierungsarbeiten führten sie selbstdurch. Nach ungefähr einem Monat hatte Nathans Frau oftKreislaufprobleme und kämpfte mit Übelkeit. Ein Check-

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up beim Frauenarzt prophezeite baldigen Zuwachs für dasMultikultipärchen.

Als sie im sechsten Monat schwanger war, machte ihr einpermanenter Husten Probleme, doch sie wollte keine Medi-kamente nehmen, da es schlecht sein könnte für das Unge-borene. Immerhin hatte sie sich nur einen fürchterlichenHusten eingefangen, hervorgerufen durch eine verschleppteGrippe, so glaubte man. Doch nach einem weiteren Monat,einer erheblichen Verschlechterung ihres Zustands und untergroßen Schmerzen suchte Nathans Angebetete ohne seinWissen das Londoner City Hospital auf. Die Diagnose warunerwartet schnell gestellt – Geneviève hatte Lungenkrebsim fortgeschrittenen Stadium. Bei einer Behandlung würdeihr Kind gesundheitliche Schäden davontragen, wenn nichtsogar sterben.

Unverrichteter Dinge ging sie wieder nach Hause. Siehatte gewusst, dass ihre Zeit begrenzt war, doch nun war derAbschied schneller da, als sie gedacht hatte.

Sie lebte die letzten beiden Monate, die ihr nun noch ver-bleiben sollten, nicht mehr für sich, sondern für ihren Mannund ihr Kind.

Eine Woche nach Marie Kathleens Geburt starb sie – imAlter von 28 Jahren. Es war der 23. Dezember.

Erst jetzt wurde Nathan über den langen Leidenswegseiner Frau aufgeklärt. Sie hatte ihn nicht belasten wollen.Gefasst, mutig und stark entschied sie sich für das Leben ihresKindes, das rundherum gesund war, und für den Frohsinnihres Mannes.

Jedes Weihnachtsfest setzten sich Nathan und Marie zusam-men, um sich alte Fotos von Geneviève anzuschauen. Sie war

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