WELTSICHTEN ALS ZEITREISEN

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WELTSICHTEN ALS ZEITREISEN Abb. 74.1: La Porte de Non-retour (Tor ohne Wiederkehr): Nur mehr dieses Denkmal weist an der Goldküste im westafrikanischen Benin heute darauf hin, dass hier Jahrhunderte lang Sklav/inn/en nach Amerika verschifft wurden Corbis/Massimo Borchi 4 Vom Dreieckshandel zur Triade: 500 Jahre Fernhandels geschichte In der Zeit zwischen 1500 und 1800 kam es zu einer Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses. Noch im Spätmittelalter waren China und das Osmanische Reich die beherrschenden Großmächte. In der frühen Neuzeit vergrößerte sich der Einfluss Europas entscheidend, und zwar in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Damit verbunden waren drei Neuentwicklungen, die dem Welthandel wichtige Impulse gaben und die alle von Europa ausgingen: • Die Einrichtung regelmäßig befahrener Schiffsrouten von Europa nach Indien und China: Diesen Verbindungen und den Stützpunkten verdan- ken es die Europäer/innen, dass sie nun auf die Transporte über Land (z. B. über die Seidenstraße) und auf den muslimischen Zwischenhandel verzichten konnten. • Die spanischen Eroberungen in Amerika: Vor allem die Ausbeutung der Gold- und Silberlagerstätten in den Anden und in Mexiko führten dazu, dass das Edelmetall in die europäische Wirtschaft floss, den Kaufleuten mehr Kapital zur Verfügung stand und im wirtschaftlich schwierigen 17. Jahrhundert ein totaler Zusammenbruch der europäischen Wirtschaft verhindert werden konnte. • Die Vergrößerung des Wirtschaftsraumes: Die Expansion der euro- päischen Eroberung vor allem auf dem nördlichen Teil des amerikani- schen Doppelkontinent ging einher mit einer großflächigen agrarischen Kolonisation: Landwirtschaftliche Monokulturen und die Ausbeutung der Rohstoffe dienten im Sinn des Merkantilismus vor allem dem Nutzen der heimischen (also europäischen) Märkte. Gold, Sklaven, Waffen: der transatlantische Dreieckshandel Ab 1505 wurden die ersten Sklaven aus Afrika in die spanischen Kolonien ver- schifft. Zum Hauptzentrum entwickelte sich die „Goldküste“ in Westafrika. Im Lauf von drei Jahrhunderten gelangten mehr als 10 Mio. Afrikaner/innen auf dem Seeweg nach Amerika: in den Süden der USA, auf die Inseln der Ka- ribik und nach Brasilien. Dort wurden sie meist auf Zuckerrohr-, Tabak- und Baumwollplantagen eingesetzt. Un- zählige Menschen verloren dabei ihr Leben. Erst im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts fand der transatlantische Dreieckshandel sein Ende, als nach und nach in den verschiedenen Staaten die Sklaverei abgeschafft wurde (1772 im Vereinigten Königreich, erst 1865 in den USA). Der Gegenwert, den ein Sklavenhändler an der Guineaküste für einen gesunden schwarzafrikanischen Mann bezahlte, war beispielsweise: • 310 Gramm Gold • 27 Gewehre • 160 Taler • 240 Meter dänischer Kattun (bedruck- tes Baumwollgewebe) • 700 Liter Branntwein • 800 Liter Rum i „Ob Kaffee und Zucker für das Glück Europas entscheidend wichtig sind, weiß ich nicht; was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass diese beiden Erzeugnisse das Unglück zweier großer Weltregio- nen begründet haben: Amerika wurde entvölkert, weil man Land haben wollte für ihren Anbau, und Afrika wurde entvölkert, weil man Menschen haben wollte, die sie anbauten.“ J. H. Bernardin de Saint Pierre 1773 Ab dem 19. Jahrhundert wurde der Welthandel von den Industrieländern Europas und Nordamerikas beherrscht. Es bestand reger Warenaustausch untereinander, aber auch mit den Kolonien und traditionellen Gesell- schaften in Lateinamerika, Asien und Afrika. Mit dem Produktionsan- stieg im Zuge der Industriellen Revolution ging auch ein zunehmendes Exportgeschäft einher. Dieser Zuwachs ging im Wesentlichen mit der systematischen Ausbeutung der nichtindustriellen Gesellschaften und ihrer Rohstoffe einher – ein „ungleicher Tausch“, der in seinen Auswirkungen das Ungleichgewicht zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern bis heute bestimmt.

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Abb. 74.1: La Porte de Non-retour (Tor ohne Wiederkehr): Nur mehr dieses Denkmal weist an der Goldküste im westafrikanischen Benin heute darauf hin, dass hier Jahrhunderte lang Sklav/inn/en nach Amerika verschifft wurden

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4 4 4 Vom Dreieckshandel zur Triade: 500 Jahre Fernhandels geschichte geschichte

In der Zeit zwischen 1500 und 1800 kam es zu einer Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses. Noch im Spätmittelalter waren China und das Osmanische Reich die beherrschenden Großmächte. In der frühen Neuzeit vergrößerte sich der Einfluss Europas entscheidend, und zwar in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Damit verbunden waren drei Neuentwicklungen, die dem Welthandel wichtige Impulse gaben und die alle von Europa ausgingen:• Die Einrichtung regelmäßig befahrener Schiffsrouten von Europa nach

Indien und China: Diesen Verbindungen und den Stützpunkten verdan-ken es die Europäer/innen, dass sie nun auf die Transporte über Land (z.B. über die Seidenstraße) und auf den muslimischen Zwischenhandel verzichten konnten.

• Die spanischen Eroberungen in Amerika: Vor allem die Ausbeutung der Gold- und Silberlagerstätten in den Anden und in Mexiko führten dazu, dass das Edelmetall in die europäische Wirtschaft floss, den Kaufleuten mehr Kapital zur Verfügung stand und im wirtschaftlich schwierigen 17. Jahrhundert ein totaler Zusammenbruch der europäischen Wirtschaft verhindert werden konnte.

• Die Vergrößerung des Wirtschaftsraumes: Die Expansion der euro-päischen Eroberung vor allem auf dem nördlichen Teil des amerikani-schen Doppelkontinent ging einher mit einer großflächigen agrarischen Kolonisation: Landwirtschaftliche Monokulturen und die Ausbeutung der Rohstoffe dienten im Sinn des Merkantilismus vor allem dem Nutzen der heimischen (also europäischen) Märkte.

Gold, Sklaven, Waffen: der transatlantische Dreieckshandel

Ab 1505 wurden die ersten Sklaven aus Afrika in die spanischen Kolonien ver-schifft. Zum Hauptzentrum entwickelte sich die „Goldküste“ in Westafrika. Im Lauf von drei Jahrhunderten gelangten mehr als 10 Mio. Afrikaner/innen auf dem Seeweg nach Amerika: in den Süden der USA, auf die Inseln der Ka-ribik und nach Brasilien. Dort wurden sie meist auf Zuckerrohr-, Tabak- und Baumwollplantagen eingesetzt. Un-zählige Menschen verloren dabei ihr Leben. Erst im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts fand der transatlantische Dreieckshandel sein Ende, als nach und nach in den verschiedenen Staaten die Sklaverei abgeschafft wurde (1772 im Vereinigten Königreich, erst 1865 in den USA).

Der Gegenwert, den ein Sklavenhändler an der Guineaküste für einen gesunden schwarzafrikanischen Mann bezahlte, war beispielsweise:• 310 Gramm Gold• 27 Gewehre• 160 Taler• 240 Meter dänischer Kattun (bedruck-

tes Baumwollgewebe)• 700 Liter Branntwein• 800 Liter Rum

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„Ob Kaffee und Zucker für das Glück Europas entscheidend wichtig sind, weiß ich nicht; was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass diese beiden Erzeugnisse das Unglück zweier großer Weltregio-nen begründet haben: Amerika wurde entvölkert, weil man Land haben wollte für ihren Anbau, und Afrika wurde entvölkert, weil man Menschen haben wollte, die sie anbauten.“

J. H. Bernardin de Saint Pierre 1773

Ab dem 19. Jahrhundert wurde der Welthandel von den Industrieländern Europas und Nordamerikas beherrscht. Es bestand reger Warenaustausch untereinander, aber auch mit den Kolonien und traditionellen Gesell-schaften in Lateinamerika, Asien und Afrika. Mit dem Produktionsan-stieg im Zuge der Industriellen Revolution ging auch ein zunehmendes Exportgeschäft einher. Dieser Zuwachs ging im Wesentlichen mit der systematischen Ausbeutung der nichtindustriellen Gesellschaften und ihrer Rohstoffe einher – ein „ungleicher Tausch“, der in seinen Auswirkungen das Ungleichgewicht zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern bis heute bestimmt.

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Kapitel 3

Abb. 75.1: Der Dreieckshandel

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WaffenWaffenWaffenWaffenWaffenWaffenWaffenWaffenWaffenWaffenZucker, Baumwolle

Tabak, Gold, Silber

Der Suezkanal – strategisch sensible Handelsroute im Nahen Osten

Der 195 km lange Suezkanal, der die Hafenstadt Port Said am Mittelmeer mit dem Golf von Suez am Roten Meer verbindet, ist in seinem Verlauf gleich-sam von der Natur vorgezeichnet. Bereits im 13. Jh. v. Chr. wurde ein erster Kanal auf Anordnung des ägyptischen Herrschers Ramses II. gegraben. Dieser wurde allerdings so vernachlässigt, dass er mehrmals versandete und immer wieder in Stand gesetzt werden musste. Doch alle Bemühungen, den Kanal dauerhaft in einem guten Zustand zu erhalten, waren vergebens und wurden schließlich im 8. Jh. n. Chr. aufgegeben.

Erst 1854 gelang es dem französischen Diplomaten und Ingenieur Ferdinand de Lesseps, das Inter-esse des ägyptischen Vizekönigs für das Projekt zu gewinnen. Die Suezkanal-Gesellschaft wurde gegründet und erhielt die Befugnis einen Kanal zu errichten sowie die Konzession für 99 Jahre. 1859

begann der Bau unter schwierigsten Bedingungen, wobei alles Material – Maschinen, Werkzeuge, Kohle, Eisen und jedes Stück Holz – aus Europa herangeschafft wurde. Insgesamt 1,5 Mio. Arbeiter waren am Bau beteiligt, 125 000 starben während der Bauarbeiten, hauptsächlich an Cholera. 1864 wurde der Kanal eröffnet. Davon profitierten vor allem die Seehandelsmächte der Mittelmeerländer, allen voran die Österreichisch-Ungarische Monarchie.

Anfangs war der Betrieb des Kanals äußerst unrentabel. Erst die Übernahme eines großen Aktienanteils durch die britische Regierung im Jahr 1855 rettete Ägypten vor dem Bankrott. 1885 wurde der Suezkanal zu einer neutralen Zone erklärt und in einem völkerrechtlichen Vertrag die freie Durchfahrt für alle Schiffe in Friedens- und Kriegszeiten garantiert. Dennoch behielt Großbritannien bis 1956 die Vorherrschaft über den Kanal.

Mehrmals wurde das Kanalgebiet zum Kriegsschauplatz. Als der ägyptische Präsident Nasser 1956 den Kanal verstaatlichte, brach die Suezkrise aus: Israelische, britische und französische Truppen griffen Ägypten an. Durch die Vermittlung der UNO wurden die Auseinandersetzungen aber rasch beendet. Im Sechstagekrieg 1967 rückte Israel bis zum Kanal vor und besetzte sein Ostufer. Bis 1975 war der Kanal daher geschlossen. Der Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten sicherte wieder die uneingeschränkte Nutzung des Kanals.

Heute fahren etwa 150 000 Schiffe jährlich durch den Suezkanal, das sind etwas 14 % der weltweit transportierten Schiffs-fracht. Wegen ihres Tiefgangs können viele Öltanker den Kanal nicht befahren. Weitere Ausbaupläne sind vorhanden, damit die wichtigste Schiffsroute der Welt auch von Supertankern befahren werden kann.

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Abb. 75.2: Die USS Bainbridge im Suezkanal

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Zu 4:

A 1: Erinnern Sie sich: Welche Voraus-setzungen führten zu den Entdeckungs-fahrten des 15. und 16. Jahrhunderts? Welche Folgen hatten sie für Europa und die Zielgebiete?

A 2: Durch welche große Katastrophe wurde Europa im 17. Jahrhundert er-schüttert? Beschreiben Sie Ursachen und Folgen für die Wirtschaft.

Die Infrastruktur des globalen Handels wurde in erster Line von den Kolonialmächten geschaffen und finanziert. Dazu zählten beispielsweise Eisenbahnlinien, um die Rohstoffe und Agrarprodukte aus den Kolonien an die Küsten zu transportieren. Kolonien dienten für diese Form des Fernhandels als Rohstofflieferanten und als Absatzmärkte für die Produkte aus den Heimatländern.

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Abb. 92.1: Die „Venus von Willendorf“ ist Zeugnis einer steinzeitlichen matriarchalischen Kultur.

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8. Frauenleben – Frauenrechte: Partnerschaft und Gleichberechtigung

Die Geschichte der Frauenrechtsbewegung ist vorwiegend europäisch geprägt, was unserem allgemeinen Geschichtsbild entspricht. Dabei haben Frauen in allen patriarchalischen Kulturen für sich und ihre Rechte gekämpft. Hier liegt noch ein weites Feld für – bislang männerdominierte – Forschung in allen Kulturen. Wie leben heute Frauen, wie steht es mit dem vielzitierten Schlagwort von Gleichbehandlung oder gleichem Lohn für gleiche Arbeit?

Zwei gleichwertige Geschlechter?

In der Frühzeit der menschlichen Gesellschaft lassen Funde darauf schlie-ßen, dass es häufig matriarchalische Strukturen gab (➲ WS 3, S. 12). Dies bedeutet nicht, dass Frauen so herrschten, wie Männer es im Patriarchat für sich in Anspruch nehmen, sondern dass Frauen einen hohen Rang in der Gesellschaft einnahmen. Ihre Fähigkeit, Leben zu schenken, brachte ihnen Verehrung ein, sie hatten eigene verantwortungsvolle Wirkungsbereiche in der Gesellschaft, in denen sie die volle Kompetenz hatten und waren Männern nicht zur Rechenschaft verpflichtet.

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Juchitán – Mexikos Stadt der Frauen:Juchitán liegt in der pazifischen Küstenebene des mexikanischen Bundeslandes Oaxaca, auf dem Isthmus von Tehuantepec. Die Frauen von Juchitán haben allen Grund, stolz auf ihre Stadt zu sein. Ja, es ist ihre Stadt, ihnen gehören die zahllosen kleinen Häuser, die das bäuerlich anmutende Juchitán erst zur Stadt machen. Häuser, die sie jeweils an die Tochter vererben. Mit oder ohne Ehemann baut die Frau ihr eigenes Haus. Das Haus wird in Juchitán mit der Frau identifiziert. Auf die Frage „Wo wohnst du?“, hört man dort häufig: „Ich bin die Tochter/der Sohn von Frau Soundso“, und sofort wird jeder die Adresse kennen. Der Markt im Zentrum ist der zentrale Treffpunkt. Schon beim ersten Besuch fällt auf, dass es nur Frauen sind, die dort kaufen und verkaufen. Handel zu treiben ist in Juchitán ihre Aufgabe. Als Herrinnen des Marktes sind die Bewoh-nerinnen von Juchitán routinierte Händlerinnen. Regionale Erzeugnisse stehen in ihrer Beliebtheitsskala weit oben, denn das eigene, kulturell Überlieferte genießt absolute Wertschätzung. Die Juchitecas räumen den alltäglichen Dingen höchste Priorität ein: qualitativ gute und ausreichende Nahrung, ein dichtes Netz sozialer Beziehungen und genügend Zeit, diese zu pflegen.Die Preise variieren je nach dem Verhältnis, das Verkäuferin und Käuferin zu-einander haben. Eine Nachbarin zahlt stets weniger als andere – schließlich ist sie behilflich, wenn sie gebraucht wird. Verwandte brauchen sogar manchmal gar nichts zahlen. Statt dessen wird ihnen vorgeschlagen, die Patenschaft für die riesige Geburtstagstorte, das Rüschenkleid oder die Musikkapelle beim Fest zum fünfzehnten Geburtstag der ältesten Tochter zu übernehmen.In Juchitán gibt es keine Hausfrauen, die ausschließlich für die eigene Familie da sind. Entsetzlich trist und unrühmlich erschiene es ihnen, die tägliche Mahl-zeit für Mann und Kinder selbst zu kochen. Die bringen sie vom Markt mit, und zwar von einer der Händlerinnen, die fertiges Essen anbieten. So gestaltet sich das Wirtschaftsleben wie ein großer, zwischen vielen Frauen arbeitsteilig organisierter Haushalt, dem die Männer zuarbeiten.„Es ist der Frau ziemlich egal, ob ein Mann Arbeit hat oder nicht. Es macht deswegen nichts, weil wir Frauen hier alle arbeiten.“ Das sagt Maria, eine etwa 60-jährige Juchiteca mit langen weißen Haaren, die sechs Kinder zur Welt gebracht hat! Sicher das Leben ist leichter, wenn ein tüchtiger Mann hilft, aber gleich wie: Die Frauen arbeiten.Nach: Veronika Bennholdt-Thomsen: Frauen Wirtschaft. Juchitan, Mexikos Stadt der Frauen. 2000.

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Kapitel 3

Rosa Luxemburg zum Dilemma der Bewertung von Frauenarbeit:„... die Frauen des Proletariats [sind] wirtschaftlich selbständig, sie sind für die Gesell-schaft produktiv tätig so gut wie die Männer. Nicht in dem Sinne, dass sie dem Manne durch häusliche Arbeit helfen, mit dem kargen Lohn das tägliche Dasein der Familie zu fristen und Kinder zu erziehen. Diese Arbeit ist nicht produktiv im Sinne der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung ... und gerade deshalb bloße Luft für die heutige Gesellschaft. Als produktiv gilt – solange Kapitalherrschaft und Lohnsystem dauern werden – nur diejenige Arbeit, die Mehrwert schafft, die kapitalistischen Profit erzeugt. Von diesem Standpunkt ist die Tänzerin im Tingeltangel, die ihrem Unternehmer mit ihren Beinen Profit in die Tasche fegt, eine produktive Arbeiterin, während die ganze Mühsal der Frauen und Mütter des Proletariats in den vier Wänden ihres Heimes als unproduktive Tätigkeit betrachtet wird. Das klingt roh und wahnwitzig, entspricht aber genau der Rohheit und dem Wahnwitz der heutigen kapitalistischen Wirtschafts-ordnung... Rosa Luxemburg, Frauenwahlrecht und Klassenkampf. 1912 (auf www.mlwerke.de/lu/lua.htm.)

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Abb. 93.1: Rosa Luxemburg (1871–1919),

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Das Matriarchat gilt heute allgemein als eine Gesellschaftsform ohne Herrschaft, in der Entscheidungen durch Überein-stimmung getroffen und Konflikte ohne Richter gelöst werden. Solche Sozial-formen waren noch in der Jungsteinzeit häufig.Das fast vollständige Verschwinden des Matriarchats ist bis heute nicht geklärt, Änderungen in der Wirtschaftsstruktur (verstärkte Arbeitsteilung ) und/oder Naturkatastrophen könnten hier eine wichtige Rolle gespielt haben. Schon die antike griechische Gesellschaft war eine klare Männergesellschaft, in der Frauen von Bildung ausgeschlossen waren. Mit der Stellung der Frau beschäftigte sich niemand.Auch die antike römische Gesellschaft hatte sehr klare Strukturen. Im rö-mischen Recht war die Stellung der Frauen genau definiert. Das „Reich“ der Frau war der Herd, „ehrbare“ Frauen aus gehobenen gesellschaftli-chen Schichten verließen das Haus nur selten. Bei Frauen mit höherem Bildungsniveau wird immer wieder betont, dass sie trotzdem ehrenwert waren, vielleicht auch deshalb, da uns von römischen Schriftstellern immer wieder Frauen mit höherer Bildung dargestellt werden, die über Ehemänner oder Liebhaber auf politische Entscheidungen Einfluss nahmen.Das Familienrecht war kompromisslos hierarchisch und patriarchalisch aufgebaut. Der „Pater familias“ (Familienvater) war absoluter Entschei-dungsträger, der gegen Frauen und Kinder und natürlich auch Sklav/inn/en sogar das Recht zur Verhängung von Todesurteilen hatte, wenn diese sich eines entsprechenden Vergehens schuldig gemacht hatten. Nach dem Tod des Vaters übernahm der älteste Sohn dessen Position, stand also auch über seiner Mutter und seinen Geschwistern, solange bis diese eigene Familien gründeten und den Haushalt verließen.Für viele Römerinnen war daher die freiere Stellung der germanischen Frauen ein Vorbild. Vielleicht wird uns aber auch durch die Historiker der römischen Spätzeit ein Wunschdenken vorgegaukelt, durch das man der eigenen dekadenten Gesellschaft einen Spiegel vorhalten wollte. Jedenfalls war die europäische Frauengeschichte bis zur Französischen Revolution, eigentlich aber bis ins 19. Jahrhundert von gesellschaftlicher Rechtlosigkeit gekennzeichnet. Im Mittelalter konnten Frauen zwar erben und Betriebe als Witwen weiterführen, politische Partizipationsmöglichkeiten hatten aber auch sie nicht.

Zu 1:

A 1: Das Matriarchat beschreibt eigentlich eine moderne Form des Zusammenlebens der Geschlechter. Führen Sie ein Rollenspiel zu Entschei-dungen des Alltagsleben (z. B. Wahl des Urlaubsziels, Kauf eines Autos, Erziehungsmaßnahmen wegen schlech-ten Schulnoten, ...) und stellen Sie in getrennten Gruppen „männlich/patriar-chalische“ und „weiblich/matriarchali-sche“ Konfliktbearbeitung dar.

Römische Hochzeiten – ein erstes EherechtIm Römischen Recht wurde das Zusammenleben von Mann und Frau aus juristischer Sicht genau geregelt. Dabei war eine klassische Eheschließung mit einem Zeremoniell („confarreatio“) selten und wurde fast ausschließlich von Patriziern praktiziert.. Üblich war die „coemptio“, der symbolische oder tatsächliche „Kauf“ eines Mädchens in der Gegenwart von fünf Zeugen, durch den die Frau erworben und als „Besitz“ in das Eigentum des Mannes überging. Wohlhabende und freiheitsstrebende Frauen gingen bewusst Scheinehen ein, um der Vormundschaft des Pater Familias zu entgehen. Häufigste Eheform war die formlose Lebensgemeinschaft („per usum“ = „durch Gebrauch“). Sie wurde erst rechtswirksam, wenn eine Frau und ein Mann mindestens ein Jahr zusammenblieben. Scheidungen waren häufig. In diesem Fall nahm die Frau ihre Mitgift wieder mit und geriet wieder unter die Herrschaft ihres Vaters oder Bruders.

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