Wertheimer, M. (1924). Über Gestalttheorie

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    Max Wertheimer (1924)

    ber Gestalttheorie

    Vortrag vor der KANT-Gesellschaft, Berlin, am 17. Dezember 1924. Abgedruckt inPhilosophische Zeitschrift fr Forschung und Aussprache 1, 39-60 (1925) und als Sonderdruck:

    Erlangen: Verlag der philosophischen Akademie (1925). Reprint in: GESTALT THEORY, Vol. 7(1985), No. 2, 99-120, Opladen, Westdeutscher Verlag.

    Web-publishing erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Prof. Michael WERTHEIMER (Boulder,Colorado, USA).

    Was ist, was will Gestalttheorie?

    Gestalttheorie ist etwas mitten aus konkreter Arbeit Erwachsenes; erwachsenin dem Arbeiten an bestimmten Problemen der Psychologie, der

    Vlkerpsychologie, der Logik, der Erkenntnistheorie. Ganz konkrete Problemesind es, die den Boden gegeben haben; immer mehr konvergierte die Arbeit zueinem Grund- und Hauptproblem.

    Wie ist die Grundsituation? - Eine Situation, die vielen Forschern, vielenPhilosophen der Jetztzeit in ganz hnlicher Weise da war, vielen auch von denjungen Menschen, auch von den jngsten, immer wieder entsteht - dieGrundsituation: man kommt von lebendigem Geschehen zur Wissenschaft,sucht in ihr Klrung, Vertiefung, Hineindringen, Vorwrtsdringen in dasWesentliche dessen, was da vorgeht, und findet vielfach zwar Belehrungen,Kenntnisse, Zusammenhnge und fhlt sich nachher rmer als vorher. Wie ist

    es zum Beispiel in der Psychologie? Man kommt von irgendeinem starkenLebendigen, das in einem vor sich gegangen ist, schlgt etwa nach, was diePsychologie, was die Wissenschaft fr diese Dinge sich erarbeitet hat, liest undliest (oder beginnt selbst in der Art zu forschen, wie sie durch lange Zeit alleinblich war) und hat nachher das klare Gefhl: man hat vieles in der Hand undeigentlich doch nichts. Irgendwie ist das, was einem das Wichtigste,Wesentlichste, das Lebendige der Sache schien, bei diesen Vorgngen verlorengegangen. Ein ganz spezielles sei erwhnt. Wer hat nicht erlebt, was es heit:ein Schler begreift! Wer hat nicht selbst erlebt, wie solches Begreifen vor sichgeht, wenn einem zum ersten Male ein mathematischer Zusammenhang etwa

    aufgeht, ein physikalischer. Man schlage doch nach, was die Psychologie bis vorkurzem, was die Lehrbcher der Pdagogik, der pdagogischen Psychologie, zudiesem Kapitel sagen. Ich empfehle Ihnen, das wirklich einmal zu tun und zwar

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    unter diesem Gesichtspunkt. Man erschrickt vor der Armut, der Drre, derLebensferne, vor dem vllig Unwesentlichen alles dessen, was dazu gesagtwird. Da hrt man von der Begriffsbildung, von der Abstraktion, von derVerallgemeinerung, dem Klassenbegriff, von Urteilen, von Syllogismen, etwanoch von Assoziationen, dann kommt etwa noch ein so schnes Wort, wieschpferische Phantasie, wie Intuition, Begabung und dergleichen, worunter

    man sich, wenn man will, die allerschnsten Sachen denken kann, die aber,wenn man streng zugreift, wenn man das Schne des strengwissenschaftlichendabei haben will, sich meist als bloe Benennungen eines Problems ohneirgend eine sachliche Erfassung des Entscheidenden, ohne einTieferhineindringen entpuppen. Wir haben ja jetzt eine ganze Reihe vonsolchen Begriffen in der Wissenschaft, die dann auch in der gebildeten WeltMode geworden sind und wobei sich doch erfreulicherweise Schnstes denkenlt: wie Persnlichkeit, Wesen, Anschauung, Intuition und all solche schnenDinge. Will man aber nun tiefer hineindringen, dann versagt solches in derkonkreten Leistung meist vollkommen.

    Das ist eine Grundsituation, die sehr vielen da war, und immer noch vielengeschieht. Wie hat man sich damit abgefunden? Es ist ein charakteristisches,ein sehr wichtiges Merkmal unserer geistigen Entwicklung gewesen, da in denletzten Jahrzehnten allenthalben, an allen Ecken und Enden, in denverschiedensten Wissenschaften dasselbe Problem irgendwo aufgetaucht ist.Wie hat man sich damit abgefunden? In verschiedener Weise. Sie kennen alledie groen Versuche, mit dieser merkwrdigen und eigentlich trbseligenSituation fertig zu werden. Da ist zum Beispiel der Versuch radikaler Trennungvon Wissenschaft und Leben: die Wissenschaft hat eben nichts mit diesenschnen Dingen zu tun, sagt man, die Wissenschaft ist etwas strengNchternes, und du sollst nicht von der Wissenschaft Dinge verlangen, die sienicht leisten kann. Sie erinnern sich an die historische Zeit der Verzweiflung ander Wissenschaft, man hat gemeint, dem Rationalismus und demIntellektualismus der Wissenschaft sich dadurch zu entziehen, da manfeste Grenzen fr die Wissenschaft gesteckt hat: sie kann nicht weiter hinaus,mit all diesen anderen Dingen hat sie eben nichts zu tun. - Und solcheStellungnahme zeigte sich bei den strksten, besten Vertretern in einerwahrhaft grandiosen Resignation.

    Eine andere Art, sich mit diesem Problem abzufinden, liegt vor in dem Versuch

    der Trennung naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methoden.Man sagt: Ja, das, was du hier unter Wissenschaft verstehst, ist notwendig soin der Wissenschaft, aber nur in der sogenannten exakten, in derNaturwissenschaft, und es gibt ein anderes Gebiet der Wissenschaft, das ist dieGeisteswissenschaft, die mu sich ihre Methoden im Gegensatz zurNaturwissenschaft erringen, und wir wollen in der Geisteswissenschaft auf diean sich ja schnen Dinge der Entscheidbarkeit, des strengen Vorwrtsdringens,der exakten sachlichen Klrung verzichten, wir mssen es; es sind eben ganzandere Kategorien, die bei der Geisteswissenschaft in Frage kommen. - Dassind zwei Beispiele. Es gibt noch eine ganze Reihe von anderenStellungnahmen; diese Beispiele mgen gengen.

    Was ist die Wurzel des Sachverhalts? Ist es schon wirklich sicher so, daberall in der Wissenschaft notwendig dies herrscht? Ist die exakte

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    Wissenschaft, die Naturwissenschaft tatschlich notwendig so, ist sieberhaupt wirklich so, wie das vorhin kurz vorausgesetzt wurde? Mchte esnicht etwa so sein, da eine gewisse Anschauungsweise, gewisse Grundthesen,eine gewisse Arbeitsweise, eine gewisse Einstellung zu dem, wie gearbeitetwird, in der Wissenschaft allenthalben vorhanden und zu groer Bltegebracht, doch nicht notwendig fr diese Wissenschaft berhaupt ist ? Da sie

    vielleicht schon in sich Momente enthlt, ganz anders gerichtet, die nur immerwieder erwrgt werden durch eine scheinbar notwendig alles beherrschendeMethode ? Ist es nicht vielleicht so, da diese Methode gewissen Sachverhaltenadquat, bei anderen Sachverhalten versagt? Ist es nicht so, da etwas an derGrundeinstellung der frheren Wissenschaft ist, was sie vielfach, nicht immer,blind macht gegen gerade das Wesentliche, gerade das Lebendige, gerade dasEntscheidende dessen, was uns im Leben und beim lebendigen Anschauen derBegebenheiten entgegentritt?

    Die Gestalttheorie versucht nicht, das Problem zu verkleistern oder zuumgehen, versucht auch nicht, das Problem dadurch zu erledigen, da mansagt: so ist die Wissenschaft, das Leben ist anders, ist nicht so, da man sagt:Ja, bei den geistigen Dingen gibt es Anderes als bei den anderen Dingen, daman das Heil in Material-(Gebiets-)trennung sucht. Sie versucht an einementscheidenden Punkt in das Innere des Problems hineinzukommen und fragt:ist nicht an diesem bestimmten Punkte in dem Herangehen, in der Grundthese,in der Grundvoraussetzung und in der Methode des Hineindringens etwas, wasdogmatisch fr alle Wissenschaft schien und was es in Wirklichkeit gar nichtist? Lange Zeit schien es selbstverstndlich und ist fr die europischeErkenntnistheorie und Wissenschaft hchst charakteristisch gewesen, daWissenschaft berhaupt blo auf folgendem Wege gemacht werden knne:Habe ich irgend etwas, was ich wissenschaftlich zu durchforschen, zu begreifenvorhabe, dann mu ich es zunchst einmal als Komplex begreifen, als etwas,das ich zerlegen mu, in seine Stck-Elemente zerlegen mu, dieGesetzlichkeit zwischen solchen Elementen studieren mu, und dann kommeich zur Lsung meines Problems, indem ich durch die Zusammensetzung desso elementar Vorhandenen und durch die Ansetzung der Gesetzlichkeitenzwischen den einzelnen Stcken die Komplexion herstelle.

    Was ich da sage, ist nichts Neues, es ist etwas, was in den allermeisten Kpfender Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer wieder Problem wurde. Ich

    will es kurz dahin charakterisieren, da ich sage: Grundvoraussetzung schiendas Zurckgehen auf Elemente, auf Stcke, das Zurckgehen auf stckhafteeinzelne Beziehungen und gesetzliche Beziehungen zwischen solchenEinzelstcken, Elementen, die Analyse und die Synthese durch dieZusammensetzung von Stcken und Elementen zu greren Komplexen.

    Die Gestalttheorie glaubt nun, einen entscheidenden sachlichen Punkt fr dasProblem darin gefunden zu haben, da sie erkennt: es gibt Zusammenhnge,Gegebenheiten anderer - formal anderer - Art. Nicht nur in derGeisteswissenschaft. Man knnte das Grundproblem der Gestalttheorieetwa so zu formulieren suchen:

    Es gibt Zusammenhnge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht,sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stcke sind und sichzusammensetzen, sondern umgekehrt, wo - im prgnanten Fall - sich

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    das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von innerenStrukturgesetzen dieses seines Ganzen.

    Ich habe Ihnen hier eine Formel gesagt und knnte nun eigentlich enden. DennGestalttheorie ist dieses, nichts mehr und nichts weniger. Dabei geht es aberso: auch diese Formel wird heute von verschiedenen Seiten - in Wirklichkeit oft

    recht verschieden - als Lsung des Problems gelehrt, in sehr verschiedenemSinne, und ich knnte jetzt - und ich glaube wohl, da manche, die hierherkamen, das erwartet haben - mich damit befassen - wie es bei Philosophen jaso oft blich ist -,da ich auseinandersetze: was sind die bereinstimmendenPunkte, die, zum Teil, sehr schnen Konvergenzen, was sind dieTrennungspunkte zwischen verschiedenen Meinungen dieses oder solchenSatzes. Ich habe damit begonnen, da die Gestalttheorie aus der Arbeiterwachsen ist. Sie ist nicht blo aus der Arbeit erwachsen, sondern sie ist frdie Arbeitda. Es handelt sich hier nicht darum, da ein Problem an dieWissenschaften herangebracht wird, sondern darum, da in der konkretenwissenschaftlichen Arbeit dieses und solches gesehen wird - nicht dieses undsolches gesehen wird, sondern erst berhaupt herausgearbeitet wird, was ankonkreten solchen inneren Gesetzlichkeiten da ist, wie solche sind. DasProblem erledigt sich also nicht so, wie das bei manchen trbseligerweise derFall ist, da ich charakterisiere und sage: es gibt solche und solcheMglichkeiten, und nun wollen wir schn systematisieren und in Fchereinrumen und knnen die Welt berschauen - sondern es handelt sich darum,mit dem Geist nun auch der anderen Methode - ganz geleitet durch dassachliche der Dinge - da hineinzudringen, vorwrtszudringen zu dem, was nunwirklich vorliegt. Das ist keine These, in Allgemeinheiten zu errtern, sonderndas ist ein Wollen zum Vorwrtsdringen, ein Dynamisches, eineAufgabe fr dieWissenschaft.

    Es ist noch eine zweite Schwierigkeit da, die ich kurz illustrieren kann an einemBeispiel unserer schnen exakten Wissenschaft: Wenn ein Mathematiker Ihneneinen Satz zeigt, knnte man den etwa so empfangen: das kann man schnnachhause tragen, kann katalogisieren, kann etwa sagen: dieser Satz gehrt indas Gebiet dieser und hnlicher historischer Stze, gehrt in diesesklassifikatorische Teilgebiet, - ich glaube, kein Mathematiker in der Arbeit wirdsich mit so etwas befassen, Philosophen sind leider Gottes durch mancheJahrzehnte mit solchen Dingen vielfach in erster Linie befat gewesen -

    sondern der Mathematiker wird sagen: Du begreifst den Satz gar nicht, kannstihn nicht begreifen, wenn du ihn nicht siehst in seiner Funktion, in seinerLeistung, in seinen Konsequenzen; du hast nichts in der Hand, wenn du bloeine Formel in der Hand hast - etwa im Gegensatz zu anderen - ohne einedynamische funktionale Beziehung mit demGanzen. Das ist nun bei derGestalttheorie im Extrem so, und daraus folgt ganz simpel, da es eigentlichein hchst miliches, geradezu zum Milingen verurteiltes Unternehmen ist,ber Gestalttheorie im Verlauf von einer Stunde irgend Aufklrung schaffen zuwollen. Es ist viel schwieriger, das hier zu tun, als es bei einemmathematischen Satz wre, wenn auch die Gestalttheorie in ihrem Ansatzebenso streng gemeint ist wie dieser, weil wir ja. in der Philosophie leider nichtin der glcklichen Lage sind, wie bei der Mathematik, wo jeder unter jederFunktionsbeziehung wenigstens einigermaen, auf das Entscheidendegerichtet, dasselbe versteht. Alle Begriffe, die hier verwandt werden. Teil,

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    Ganzes, Von-innen-her-bestimmt - das sind Dinge, die in der philosophischenDiskussion endlos belastet sind, die von jedem anders verstanden werden, undleider auch dadurch besonders belastet, da man sie unter dem Gesichtspunktzu katalogisierender Meinungen sieht, nicht unter dem Gesichtspunkt zuleistender Arbeit des Eindringens in das Gegebene, da man vielfach meint, sowie ber gewisse philosophische Probleme auch ber diese Probleme rein

    vom grnen Tisch aus, fern vom Wirklichen, fern von positivvorwrtsdringender wissenschaftlicher Arbeit, entscheidend sprechen zuknnen.

    Was kann ich also tun? Ich kann in dieser Lage nicht recht etwas anderes tun,als versuchen, Sie ein wenig in die Arbeitsstube zu fhren und Ihnen durchkurze Hinweise anzudeuten zu suchen, wie man an der Arbeit ist, wie inverschiedenen Problemgebieten, in verschiedenen Wissenschaftsgebieten diesProblem von der Gestalttheorie angefat wird.

    Nochmal: das Problem, so wie ich es jetzt kurz geschildert habe, die

    Problemlage und die Situation, ist ein Problem nicht spezialwissenschaftlicherNatur, ist im Grunde ein Problem unserer Zeit. Gestalttheorie ist nicht etwas,was pltzlich und unvermutet vom Himmel gefallen ist, sondern an allen Eckenund Enden, von allen Wissenschaften her, auch von den verschiedenstenphilosophischen Stellungnahmen her konvergiert alles, drngt alles zurEntscheidung dieser - wie die Gestalttheorie meint - nun prinzipiellsten Frage.Historisch will ich herausgreifen ein Stck aus der Geschichte der Psychologie.

    In der Psychologie war es so: wenn man vom lebendigen Erleben gekommenist und nachgesehen hat: was wei die Wissenschaft, was klrt mir dieWissenschaft? Dann hat man gefunden, es gibt Elemente,

    Empfindungen,Vorstellungen, Gottseidank auch noch Gefhle,Willensmomente, es gibt auch Gesetze fr diese, bitte sich nur aus diesenSachen das zusammenzusetzen, was du eben wolltest oder hattest. Mitten inder Arbeit der Psychologen an Problemen, die sich von hier aus, von dieserGrundeinstellung aus ergaben, tauchten nun immer mehr Schwierigkeiten auf,bestimmte Probleme, die schlielich durch einen glcklichen Griff einesPsychologen - ich meine Ehrenfels - in einer sehr scharfen Weise in denVordergrund traten. Es war ein scheinbar simples Problem, ein Problem, dasdem, der von auen, vom Leben her an die Wissenschaft herankommt,eigentlich zunchst unbegreiflich ist, deshalb, weil er gar nicht versteht, wie

    man so was fragen kann. Es war folgender Sachverhalt:Wir sind imstande, uns eine Melodie zu merken, sie wiederzuerkennen, odereine optische Figur. Alles psychologische knpft sich an die Summe derElemente. Es ist kein Wunder, da, wer die Melodie ein zweites Mal hrt, siemit dem Gedchtnis - wie wir wissen, gibt es das - wiedererkennt. Von einersehr einfachen Frage aus war nun die Sachlage pltzlich vllig undurchsichtiggeworden: Ehrenfels besann sich im Anschlu an Mach und andere daran, daeine Melodie auch dann wiedererkannt werde, wenn sie transportiertvorgefhrt wird. An der Summe der Elemente ist nichts gleich geblieben undich erkenne doch die Melodie als die identische, ja, ich wei u. U. gar nicht,

    da man mir andere Elemente vorgefhrt hat - zum Beispiel beimTransponieren von C-dur nach Cis-dur merken die meisten gar nicht, dasummenmig etwas total anderes da war. Worin liegt das?

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    Dafr gab es verschiedene ad hoc Hilfsmittel. Man hat versucht, die Situationzu retten; durch ad hoc Thesen; Ehrenfels in einer weitgreifenden, anderePsychologen in anderer Weise. Wenn man sich heute die These von Ehrenfelsberlegt, so erstaunt man darber, wie solche im Positiven doch nur ein xhinzufgende These mglich war, und zu gleicher Zeit doch ber die Khnheitdieses Mannes, der zu solcher These gegriffen hat, aus der Strenge der

    wissenschaftlichen Verantwortung. Worauf kommt die These Ehrenfels' heraus,wenn man sie streng fat? Wenn eine Melodie aus sechs Tnen besteht, undich reproduziere sie, indem ich sechs ganz andere Tne spiele, und sie wirdwiedererkannt - was bleibt brig? Diese sechs Elemente sind zunchst sicherals Summe da ... ; aber neben diesen sechs Elementen sei ein Siebentesanzunehmen, das ist die Gestaltqualitt. Das siebente, das ist das, was es mirmglich macht, die Melodie wiederzuerkennen. So seltsam uns diese Lsungerscheint, es gibt in der Geschichte der Wissenschaft, auch in der Geschichteder Physik grandiose Beispiele dafr, wie gerade dadurch, da derWissenschaftler ganz khn zu einer krassen - aber einer klar geraden -

    Annahme greift, wo er aus der wissenschaftlichen Verantwortung herausirgendeine Annahme machen mu - es gibt oft solche Situationen, wo dann dieweitere Entwicklung den grten Vorteil daraus gezogen hat. Auch wenn sichzeigt, da das Positive der These so die Sache selbst noch nicht entscheidendvorwrtsbringt. - Es gab andere Lsungsthesen.

    Eine Lsung sah so aus, da man sagte: beim regulren Transponieren istetwas erhalten, nmlich die Intervalle, die Relationen. Man wurde gedrngt,neben den Elementen so etwas Merkwrdiges wie Relationen anzunehmen -als Stck neben ihnen. Das tat man, bis sich nun herausstellt,da dieseAnnahme in Wirklichkeit nicht hilft. Denn, z. B., das Grundgesetz fr denSachverhalt, das besagt: Du kannst etwas in allen seinen Stcken ndern, undes ist identisch; du kannst sehr wenig daran ndern und hast es totalverndert - dies Grundgesetz wiederholt. sich in gewisser Weise noch auchwieder bei den Relationen. Man kann auch die Relationen recht verndern, undjedermann sprt doch, erkennt doch dieselbe Melodie; und man kann dieRelationen in einem empfindlichen Punkte sehr gering ndern und jeder sieht,da ist etwas ganz anderes geworden, und es wird nicht wiedererkannt. Dassind alles Dinge, die ich hier freilich blo kurz andeuten kann.

    Man hatte auch zu anderen Hilfsmitteln gegriffen - alle jener bekannten Art,

    die in allen Wissenschaften wiederkehrt und in der Geschichte der Philosophiebei hnlichen Problemlagen oft wiedergekehrt ist, da man gesagt hat: Zu denGegebenheiten - Stcksumme treten eben noch irgend welche hherenProzesse hinzu, die an der Summe des Gegebenen ansetzen, und die leistendas.

    So war die Lage, bis die Gestalttheorie sich die radikale Frage stellte: Ist esdenn berhaupt wahr, da, wenn ich eine Melodie hre, ich dann die Summeder einzelnen Tne als primr zu sehende Grundlage - die einzelnen Tne alsStcke - jedenfalls habe; ist es vielleicht nicht umgekehrt so, da das, was ichda berhaupt habe, was ich auch an dem Ort der einzelnen Tne habe, was da

    in mir entsteht, ein Teilist, der sich auch in sich bestimmt von dem Charakterdes Ganzen?Da das, was mir in der Melodie gegeben ist, sich nicht irgendwieaufbaut (durch irgendwelche Hilfsmittel) sekundr aufder Summe der

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    einzelnen Stcke an sich, sondern da das, was im einzelnen vorhanden ist,entsteht, schon radikal abhngt von dem, wie sein Ganzes ist. Da das Fleischund Blut eines Tones in der Melodie schon von seiner Rolle in der Melodieabhngt, da ein h als Vorhalt zum c etwas radikal anderes ist als das h alsTonika, da es zum Fleisch und Blut der Gegebenheiten gehrt, wie, in welcherRolle, in welcher Funktion sie in ihrem Ganzen sind.

    Das konnte alles nur in Verkrzung hier gesagt werden.

    Ich mchte jetzt an einer Reihe in Krze andeuten, zu was fr Problemensolche Fragestellung weiter fhrt. Ich knpfe an, und zwar absichtlich, an einmglichst bescheidenes, mglichst simples Problem der Psychologie, nmlichan die Schwelle. Seit Alters gilt es: einem Reiz entspricht eine bestimmteEmpfindung, diese Empfindung ist dem Reiz konstant zugeordnet - wenn einbestimmter Reiz da ist, habe ich prinzipiell - eine bestimmte - ihm zugeordnete- Empfindung; wenn die Reize verschieden sind, ber ein bestimmtes Maverschieden, habe ich zwei verschiedene Empfindungen. Man hat viele

    Untersuchungen darber gemacht; diese Schwellenuntersuchungen gehren zuden grndlichsten und langweiligsten in der lteren Psychologie. Bei den vielenUntersuchungen traten Schwierigkeiten auf, immer strker, deren man Herr zuwerden suchte dadurch, da man sagte: Ja, so eine Sache hngt ab von allerleiFaktoren hherer Art, Urteil, Tuschung, Aufmerksamkeit usw. usw. - diese inder charakteristischen Art aller der Behelfsmittel der lteren Psychologie. Bisman die radikale Frage gestellt hat: Liegt es nicht etwa so, da es gar nichtwahr ist, da ich bei einem bestimmten Reiz eine bestimmte Empfindunghabe, sondern da dort dann das entsteht, was an diesem Teil seines Ganzenzu entstehen Tendenz hat? Das ist eine einfache Formulierung. Sie fhrt zum

    Experiment; es zeigt sich im exakten Experiment, da die Frage, ob ich zweiFarben oder eine Farbe sehe, extrem von der figuralen Ganzbedingung - undanderen Ganzbedingungen - des Feldes abhngt. Man kann bei denselbenStck-Reizen einerseits in einer erstaunlich extremen Weise vollstndiggleiches erzeugen - homogenes - bei bestimmten figuralen Ganzbedingungen,die von innen her auf die Einheit drngen, und bei anderen figuralenGanzbedingungen, die von innen her auf die Trennung, auf ein Sichsondern,auf ein Sichabheben drngen, zwei verschiedene Farben. Und es entsteht dieAufgabe, die Art jener Ganzbedingungen - in ihrer Wirksamkeit - zuerforschen.

    Ein Schritt weiter: es ergibt sich die Frage: kann man nicht allgemeiner nunprfen, ob das, was ich in einem Feldteil sehe, davon abhngt, Teil welchesGanzen es ist? Davon, wie es im Ganzen steht, was fr eine Rolle es als Teilin diesem Ganzen spielt? Wieder das Experiment zeigt: das ist der Fall. Was ichda meine, sind Dinge, die jeder gute Maler lngst - im Gefhl - wei. Es sindkeine eigentlichen Neuigkeiten, obzwar kein Wissenschaftler vor denErgebnissen wohl bedacht hat, da die Abhngigkeit so kra sein werde, daman gesetzlich z. B. zwei Feldteile, den einen in einen helleren, den anderen ineinen dunkleren verwandeln kann, wobei stckhaft reizmig dasselbe vorliegt,blo dadurch, da man die Ganzbedingung verndert.

    [Auf die Komplikationen mit der Kontrasttheorie kann ich hier nicht eingehen.Die bliche Kontrasttheorie war fr solches u. E. im Grunde eine grandioseFlickung vom Boden der Summativtheorie her, und es zeigt sich immer mehr,

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    da die zunchst sehr plausible Kontrasttheorie hier auf Grund dieses

    Sachverhalts versagt; es handelt sich nicht um die Summe von Indukten 1,sondern um Gestaltbedingungen.]

    Ein Schritt weiter. Ich sage: Fr das, was man an einer Stelle sieht oder hrt,in einem Gesichtsfeld, einem Feldteil sieht, ist entscheidend, wie die

    Ganzverhltnisse sind. Der Mensch ist einem Felde gegenber und was in demFelde geschieht, hngt nun - und hier ist eines der schnsten Stcke dieserArbeit - im wesentlichen damit zusammen, da das Feld dahin tendiert,sinnvoll zu werden, einheitlich zu werden, von innerer Notwendigkeitbeherrscht zu werden, und da man oft erstaunlich starke Mittel verwendenmu, um ein nach dem sinnvollen tendierendes Feld, zu guten Gestaltentendierendes Feld zu zerstren bzw. andere Gestaltung zu erzwingen.

    Dies Feld hat von seinen Ganztendenzen her auch seine Dynamik, und dasDynamische, das in der Psychologie vorher fast gar nicht vorgekommen war,drngte nun extrem vorwrts. Es haben sich die merkwrdigsten und dabei

    doch einfachsten Zusammenhnge hier gezeigt. Von all diesem will ich aberjetzt nicht sprechen, sondern ich will kurz ein Stck in demselben Sinneweitergehen. Da bin ich mit diesem Ich zunchst ein Teil in dem Feld. Ich binnicht von vornherein, wie seit alters so oft gelehrt wird, prinzipiell ein Ichgegenber anderen, sondern das Werden eines Ich gehrt zu denmerkwrdigsten und seltsamsten Dingen, die es gibt, wiederum Dinge, diesich, wie es scheint, von Ganzgesetzlichkeiten her beherrschen. Ich bin nun,sage ich, Teil in diesem Felde. Es ergibt sich von hier aus die Fragestellung:was geschieht denn, wenn ich Teil in dem Felde bin? Bestimmt sich meinVerhalten typisch durch irgendwelche stckhaften Momente in diesem Felde

    wie im Prinzip durch Assoziationen, durch stckhafte Erfahrungen unddergleichen? Die Experimente scheinen immer klarer zu zeigen: Nein, das istnicht der Fall, sondern auch hier wieder sind es typisch Ganzgesetzlichkeiten,und die Ganzgesetzlichkeiten sind es, welche bedingen, da das menschlicheWesen sich, oft, sinnvoll verhlt.

    Ein Stck weiter. Dies Feld ist nicht richtig beschrieben als wren da primrEmpfindungsinhalte in Summe. Auch hier wiederholt sich dieselbe Sache:primr sollten Stcke da sein, Empfindungen da sein. Betrachtet man dieSachlage von hier, so ergbe sich die seltsame Konsequenz, da bei Kindern,bei Naturvlkern, bei Tieren, zunchst also blo Stck-Empfindungen da sein

    werden;zu diesen kommt dann etwas Hheres noch da zu, noch Hheres unddergleichen. Die Forschung hat berall, wo man gesucht hat, dasEntgegengesetzte gezeigt. Nur Selbsttuschung hat bei einigenVlkerpsychologen z. B. noch aufrecht erhalten, irgendwo werde die stckhafteGrundlage des Psychologischen auffindbar sein -; man sah sich gedrungen, zusagen: Ja, in Wirklichkeit ist das lebendige Psychologische ein Strom desGeschehens schon im primr Einfachen; aber... wenn wir Wissenschaft treibenwollen, wird oft hinzugefgt, dann mssen wir ja doch analysieren, auf dieElemente gehen; wer wollte denn wissenschaftlich versuchen, ein solchesFlieendes, Strmendes irgend zu fassen? Und dabei tut solches die Physik

    dauernd! Und dabei ist es blo ein altes erkenntnistheoretisches Vorurteil, dadie Physik rein mit Stcken arbeite, sondern gerade dies: das Flieende, dasStrmende, von Ganzgesetzlichkeiten Beherrschte, ist Arbeitsgebiet der Physik

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    seit mehreren Jahrzehnten.

    Sieht man sich das von da aus an, so kommt immer nher, da das, wasprimitiv ist, was eigentlich zu Grunde liegt, was voran liegt, mit unseremSptderivat, mit unserem Kulturprodukt von Empfindungen wenig zu tun hat.Tausendmal besser haben das die Romantiker erfat, wenn sie von Empfindung

    in ihrem Sinn gesprochen haben und dabei wahrhaftig nicht eine Rotnuancegemeint haben. Hat denn typisch ein Kind eine Rotnuance im gemeinten Sinnder Empfindungsqualitt, ein Naturmensch? Das Aufreizende, Frhliche, dasStarke, das Dahinstrmende kommt dem Vorhandenen sicher viel nher, imeinfachsten Menschen schon; mit seiner Reaktion.

    Ich sagte, der Mensch ist ein Teil im Felde, und ist aber ein Teil, der seinenGanzcharakter und in diesem seine Reaktionen hat. An die Stelle desZusammenhanges: Reiz als stckhafte Erregung eines peripheren Nerven aufder einen Seite und stckhafte Empfindung auf der anderen Seite - an Stelledieses Zusammenhanges tritt mit Notwendigkeit der Zusammenhang:

    Tangierung der Feldbedingungen, der Lebensbedingungen, Tangierung dessen,was einem Wesen Umfeld ist und Reaktion dieses Wesens; Reaktion primrnicht im Sinne von Haben eines konstatierbaren Inhaltes und Vollziehen einerStckbewegung, sondern Reaktion primr im Sinne einer Habitusvernderung,eines Verhaltens, eines Wollens, eines Strebens, eines Fhlens, und nicht imSinne der Summe von all solchem, sondern im Ganzen von diesen.

    Ein Stck weiter. Der Mensch ist nicht blo - ich kann freilich all dieseschwierigen Probleme blo ganz kurz andeuten; hoffentlich gelingt es mir aber,dabei klar zu machen, wie alles, was ich hier sage, mit konkreterwissenschaftlicher Forschung und vielfach auch experimenteller Entscheidung

    notwendig zusammenhngt - der Mensch ist nicht blo so Teil eines Feldes,sondern der Mensch ist auch Teil und Glied in dem Zusammen mit Menschen.Wenn Menschen zusammen sind, etwa in einer bestimmten Arbeit zusammen,dann ist das unnatrlichste Verhalten, das erst in spten Fllen, oder inkrankhaften Fllen vorhandene Verhalten, da da mehrere Ich zusammen dasind, sondern diese verschiedenen arbeiten gemeinsam zusammen, jeder alssinnvoll funktionierender Teil des Ganzen unter normalen Umstnden. DenkenSie an ein Zusammenarbeiten von Eingeborenen in der Sdsee, denken Sie anKinder beim Zusammenspielen. Es sind meist sehr spezielle Umstnde, diebewirken, da aus einem Menschen ein Ich wird gegenber und im Gegensatz

    zu den anderen, Umstnde, die, wenn man von bestimmten Voraussetzungen,die sich bei der Gestalttheorie ergeben haben, ausgeht, z. B. zur Vermutungfhren: es mten, wenn ein guter Gleichgewichtszustand zwischen einemMenschen und denen, mit denen er zusammen ist, aus gewissen ueren oderinneren Grnden nicht durchsetzbar ist, bestimmte Gleichgewichtsstrungenauftreten, bestimmte Surrogatgleichgewichte im Extrem auftreten, die daspsychische Sein des Menschen dann verndern. Das fhrte dann z. B. zurHypothese, da ein groes Gebiet psychischer Erkrankungen, fr das bishereine eigentliche Theorie berhaupt noch nicht recht vorliegt, vielleichtKonsequenz solcher Grundgesetzlichkeit ist. Das mir beispielsweise als Hinweis

    darauf, wie die Fragen, die ich hier besprechen mit konkreten Entscheidungenzusammenhngen und der strengen Entscheidungsmethode der Wissenschaftimmer in jedem Satz unterliegen mssen.

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    Ich knnte das noch weiterfahren. Diese Problemreihe fhrt in klarer Weise zuProblemen der Kultur- und Geistesgeschichte; und fhrt weit ber das hinaus,was man sonst Wissenschaftsgebiet nennt. Ich will es mir versagen, ich willkurz noch anderes illustrieren. Ich sprach vorhin davon, da der Reizbegriff,das Zusammensein zwischen Reiz und Empfindung, durch diese Fragestellungund durch die Ergebnisse radikale Vernderungen erleiden mu,

    Vernderungen im Sinne einer Bereicherung und Verwesentlichung. Das ist nunnicht blo der Fall in der Psychologie, sondern entsprechendes ist ebenso derFall in der Physiologie, in den biologischen Wissenschaften. Auch hier hat mandamit sich zu helfen versucht, Maschinchen neben Maschinchen - in Summe -zu setzen, um nur irgendwie dessen Herr zu werden, was bei einem lebendigenOrganismus sinnvoll oder wie man manchmal sagt, zweckmig funktioniert.Auch hier hat man heute vielfach noch den Begriff des Reflexes als einer reinsinnlosen Koppelung von zwei Stckdingen, die gar nicht miteinanderzusammengehren. Der Stck-Reiz bewirkt ,mechanisch, automatischdiesen oder jenen Stck-Effekt - prinzipiell vllig beliebig -.

    Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach, wie sich jetzt immer mehr herausstellt,schon bei primitivsten Lebewesen, bei Einzellern nicht der Fall. Auf diesemGebiete verdankt man sehr viel Klrung den Arbeiten von Driesch, der desGrundproblemes, von dem wir sprechen, freilich in anderer Weise Herr zuwerden sucht. Im Grunde ist es ja die These des Vitalismus, die auf Grundderselben Probleme entsteht, die aber nach dem Erachten der Gestalttheorieden Fehler begeht, da sie das Problem zu lsen sucht dadurch, da sie an dievorhandenen blindgesetzlichen naturwissenschaftlichen Vorgnge, die man sovermeint, etwas anderes - selbst wieder eigentlich unbehandelbares -daransetzt, hinzufgt, ohne zu fragen, ob es schon sicher wahr ist, da diephysikalischen anorganischen Gesetzmigkeiten berall diesen stckhaft blindgekoppelten mechanischen Charakter tragen, den viele Erkenntnistheoretikerals das einzig Gegebene der Physik erachten. Ich will hier nur darauf hinweisen

    - hier liegt eine klar entscheidende Leistung vor - da es Khler2 gelungen ist,nachzuweisen, da auch in der anorganischen Physik allenthalbenGesetzmigkeiten vorliegen, die echte Ganzgesetzmigkeiten sind, wo sichdas, was in einem Teile geschieht, von der inneren Ganzstruktur, von deninneren Ganztendenzen her bestimmt, nicht umgekehrt. Ich mchte auch nurkurz darauf hinweisen, da es schon gelungen ist, Konsequenzen von hier aufdie Biogenese, auf die Entwicklung der Lebewesen zu ziehen. Was mir hier in

    diesem Zusammenhange wichtig ist, ist blo dieses: da klar wird, da das,was uns bei den vorigen einzelnen herausgegriffenen psychologischenBeispielen wichtig war, sich prinzipiell zunchst ebenso zeigt im Biologischen,im Organischen, ja im Anorganischen, und da es von hier aus gesehen alseine Ausflucht erscheint, das Problem damit zu lsen, da man sagt: Ja, das istetwas spezifisch Psychologisches - eine Ausflucht sofern man meint, dasProblem durch Gebietstrennung erledigen zu knnen.

    Es mag sein, da die Ganzgesetzlichkeiten, die im Psychischen sind - sicher istdas in mancher Hinsicht der Fall - in vieler Weise verschieden sein werden vondenen, die z. B. gerade ein elektrisches Feld etwa hat. Das hat mit derGrundfrage aber nichts zu tun. Die Grundfrage, von der wir ganz simpel undganz klar, ganz streng immer handeln wollen, ist diese: Bestimmt sich ein Teil

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    sinnvoll von innen, von seinem Ganzen, von der Struktur des Ganzen her odergeschieht mechanisch, stckhaft, zufllig, blind, das, was im ganzen geschiehtauf Grund der summierten Geschehnisse im einzelnen Stck? Das geschieht inder Physik oft, in erster Linie dann, wenn ich mehrere Maschinen aneinanderkoppele, das heit, wenn ich menschlich gemachte Physik treibe. Hier ist einPunkt, wo die Gestalttheorie am wenigsten leicht verstanden wird und zwar

    deshalb, weil eine groe Anzahl im Laufe der Jahrhunderte aufgesummteVorurteile ber die Natur vorhanden sind: die Natur mu etwas sein, wasblindgesetzlich ist, wo das, was im Ganzen geschieht, sieh rein summativzusammen setze. Die Physik hat ja Mhe genug gehabt, die Teleologie aus sichherauszubringen - Teleologie ist freilich und wahrhaftig nicht die Lsung derSache. Wir sind heute gentigt, auf ganz anderem Wege zu dem zu kommen,was man frher mit der hier brutal uerlichen These der Zweckmigkeitteleologisch zu lsen versuchte.

    Einen Schritt weiter. Wie steht es mit der Frage des Verhaltens zwischen Leibund Seele? Wie steht es mit meiner Kenntnis von der Psyche eines anderenMenschen? Nun, wir haben althergebrachte dogmatische Thesen, die uns allenins Blut gesetzt sind. Psychisches und Physisches sind was total Heterogenes;zwischen Psychischem und Physischem ist toto genere Heterogenitt, das sindzwei Gebiete, die Gottseidank vllig geschieden sind. Wahrhaftig, wir habeneine Menge von metaphysischen Schlufolgerungen daraus, um die Seele rechtschn erscheinen zu lassen, und die Natur recht schlecht. Und: Wenn ich dasPsychische von einem Menschen spre, wenn ich wei, fhle, was in ihm vorsich geht, dann kann ich das also blo auf Grund eines Analogieschlusses, dersehr kurz, aber im Prinzip streng, die Grundlage hat: ein bestimmtesPsychisches ist gekoppelt, sinnlos gekoppelt mit einem bestimmten Physischen.Ich sehe dieses Physische und schliee auf das heterogen andere Psychische.Also etwa in dem Schema: Ich sehe, da ein Mensch ein schwarzes Ding ander Wand umdreht und schliee: er will Licht haben. Solche Zusammenhngemag es geben. [Ob sie typisch so entstehen, wie man das meint, nmlich inreiner Stckkoppelung von Heterogenem, mag hier dahingestellt sein.] Es gibtnun eine ganze Reihe von Wissenschaftlern - es ist auf diesem Gebiet genauwie auf den anderen -, die von ihrem Gefhl auf das strkste bedrngt werdendurch diese Zweisetzung, die wieder zu den seltsamsten Thesen greifen, umsich davon zu retten. Es ist ja auch fr den natrlichen Menschen einehorrende Zumutung, wenn er sieht, da ein anderer Mensch erschrickt, Furcht

    hat, zornig ist, da man ihm einreden knnte: ja, du siehst bestimmtephysische Sachen, die haben nichts in ihrem Inneren zu tun mit demPsychischen, sie sind blo uerlich gekoppelt mit dem, was psychisch in ihnenvorgeht; du hast oft gesehen, da dies und dies gekoppelt war... Man hatversucht, in der verschiedensten Weise des Problemes Herr zu werden. Manspricht von Intuition, man sagt, es ist nicht anders mglich, ich sehe doch dieAngst des anderen. Es ist nicht wahr, da ich blo diesen krperlichen Vorgangsehe, mit dem das andere nur sinnlos gekoppelt ist. Das Schne in dieserThese von der Intuition liegt darin, da man positiv irgendwie doch sprt, esmu ganz anders liegen. Aber der Name Intuition kann zunchst nichts

    darstellen als blo Benennung dessen, was man begreifen will. Ganz hnlich istes mit der These, da man sagt: Ja, neben dem krperlichen Sehen gibt es einpsychisches, geistiges Sehen. Genau so unbegreiflich, wie es ist, sagt man,

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    da bei 700mm rot gesehen wird, genau so unbegreiflich ist es, da ich dieAngst eines Menschen sehe, aber - ich sehe sie mit meinem geistigen Auge.Das sind Thesen, die so wissenschaftlich nichts vorwrts bringen; bei derWissenschaft kommt es immer auf das fruchtbare Eindringen an, nicht auf dasKatalogisieren und Systematisieren von Dingen.

    Wie mag es nun wirklich liegen? Sieht man nher zu, so liegt noch ein drittesVorurteil dabei. Es heit: das, was psychologisch ist, das, was vor sich geht,wenn der Mensch Angst hat, ist ein psychisch bewutes Phnomen. Wie ?!?Denken Sie, Sie sehen, ein Mensch verhlt sich gtig zum anderen oder dieserMensch verhlt sich fromm in seinem Leben. Meint da irgend jemand ernstlich,dieser habe das betreffende - etwa - sliche Gefhl in sich? Kein Menschmeint das, sondern das Charakteristische seines Habitus, seines geistigenVerhaltens, was mit Bewutsein noch sehr wenig zu tun hat -. Es ist eines derbequemsten Aushilfsmittel in der Philosophie gewesen, Geist einfach mitBewutsein zu koppeln. Hier ein kleiner Ausblick. Man spricht vom Idealismusim Gegensatz vom Materialismus und meint damit Idealismus Schnes und mitMaterialismus, wenn man nher zusieht, Trbes, Drres, Trockenes, Hliches.Meint man da wirklich Bewuthaftes im Gegensatz zum Beispiel zum friedlichsprossenden Baum? Wenn man sich einmal recht berlegt, was an demmaterialistischen, mechanischen einem zuwider ist, und was an demidealistischen gro, hngt denn das an den Materialeigenschaften der Stcke,die da verbunden sind? Grob gesagt: es gibt psychologische Theorien undrecht viele psychologische Lehrbcher sogar, die, trotzdem sie dauernd nur vonBewutseinselementen sprechen, materialistischer, drrer, sinnloser, geistlosersind als ein lebendiger Baum, der vom Bewutsein auch vielleicht nichts in sichhat. Nicht darauf kann es ankommen, woraus materialiter die Stckchen desGeschehens bestehen, sondern auf den Sinn des Ganzen, die Art des Ganzenmu es ankommen.

    Geht man von da aus in die konkreten Probleme, von denen ich spreche, dannstellt sich sehr rasch heraus, da es sehr vieles von krperlichen Vorgngengibt, wo nur wir Europer in unserer Sptkultur berhaupt auf die Ideegekommen sind, das Geistige und Physische so zu trennen. Denken Sie, einMensch tanzt. Im Tanzen liege Anmut, Freude. Wie steht es damit? Ist dawirklich auf der einen Seite eine Summe physikalischer Muskel- undGliederbewegungen, auf der anderen Seite psychisch Bewutes? Nein. Damit

    wre aber das Problem noch nicht gelst, sondern hier beginnt die Aufgabe. Esist meines Erachtens geglckt, hier einen fruchtbaren Ansatz zu finden. Esstellt sich nmlich heraus, da es viele solche Vorgnge gibt, bei denen, wennman nur von dem materialen Charakter der einzelnen Stckchen absieht,gestaltlich Identisches vorliegt. Wenn ein Mensch zaghaft, ngstlich oderenergisch, munter oder traurig ist, lt sich streng nachweisen, da - mankonnte auch solche Experimente machen - der Charakter des physikalischenGeschehens im Verlaufe, auch im Physikalischen streng fabar, mit dem desinneren Geschehens, der Art des Verlaufes im Psychischen, gestaltident odergestaltverwandt ist.

    Auch das konnte ich hier blo andeuten. Ich wollte gerade dies Problem auchnur erwhnen, um beispielsweise darauf hinzuweisen, wie solcheProblemstellung auch mit prgnanten philosophischen Fragen zusammenhngt.

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    Ich will das aber noch verstrken. Wie steht es mit der Erkenntnistheorie, wiesteht es mit der Logik? Es ist durch Jahrhunderte die Erkenntnistheoriegebannt gewesen in das dogmatische Vorurteil, da im Grunde die Welt ausSummen-Stckchen, aus Bndeln besteht, wie etwa bei David Hume, wie auchz. B. bei Kant, wo doch das Dogma mitspielt von der sinnlosen Summe, obzwarbei Kant sich manches findet, was mit unserem Problem sehr positiv

    zusammenhngt. Und wie steht es mit der Logik ? Was lernen wir in der Logik,was gibt uns die traditionelle Logik? Begriffe, die, wenn man sie streng ansieht,Merkmal-Summen sind, Klassen, die, wenn man sie streng ansieht, auf alleswas wirklich geleistet ist in der traditionellen Logik, sich darstellen lassen alsScke, die jene umfassen, Syllogismen, die aus beliebig zusammengewrfeltenzwei Stzen entstehen, wenn sie nur die Eigenschaft haben, da usw.

    Wenn man sich recht berlegt, was im lebendigen Denken ein Begriff ist, wasdas wirkliche Kapieren eines Schlusses ist, wenn man sich berlegt, was dasEntscheidende bei einem mathematischen Beweisgang ist, bei dem sachlichenIneinanderhngen, dann sieht man, da mit den Kategorien der traditionellenLogik hier nichts gemacht ist. Wie ernst ich Sie aber bitten mchte, dasProblem anzusehen, mchte ich dadurch charakterisieren: damit ist gar nichtsgetan, wenn man das einmal fhlt - damit ist vielleicht menschlich etlichesgetan und knstlerisch vielleicht auch, aber fr die Wissenschaft beginnt erstdie Aufgabe, wenn man sieht, da das, was wir in der traditionellen Logikhaben, im Prinzip stckhaft ist. Da beginnt erst die Aufgabe und diese Aufgabegehrt wahrhaftig zu den schwierigen; es ist die schne Aufgabe: wie dennberhaupt eine Logik prinzipiell mglich ist, die nicht stckhaft fundiert ist.Alles was an irgend dahingehenden Versuchen bis vor kurzem vorlag, lt sichan Strenge mit dem, was die traditionelle Logik in ihrer Art geleistet hat, nichtvergleichen. Als extremes Beispiel will ich noch auf etwas hinweisen. Wir habenin einer ganzen Reihe von Wissenschaften jetzt die Entwicklung, da alles inder glnzenden Vervollkommnung stckhafter Methodik kulminierte, daSchwierigkeiten auftauchen, da man sie durch Daransetzen vonAndersartigem scheinbar erledigt meint. Denken Sie an die wunderschnenAufstiege, die sich ergeben haben in der mathematischen Axiomatik, etwa inHilberts Arbeiten. Denken Sie, was es fr die Wissenschaft bedeutet, zu soprinzipiellen Anstzen in der Klrung zu kommen, und berlegen Sie, da, wasHilbert tut, sich von der einen Seite charakterisiert als strkste Kondensierungstckhaften Ansatzes. Sprche man mit Hilbert darber und sagte: Ja, dann

    knnte man doch die sinnlosesten Axiome in Summe nebeneinandersetzen,dann sagt er wohl: Davor bewahrt mich mein mathematisches Gefhl ... Genauso, wie auf anderen Problemgebieten tritt auf, ist aufgetreten, bei diesemProblemgebiet der Axiomatik in der Mathematik die Frage: Mu denn allesMathematische stckhaft fundiert werden und wie mte ein mathematischesSystem aussehen, nicht stckhaft fundiert? Wir haben mehrere Anstze dahin,die doch irgend schon in diese Richtung gehen, die das Beste gewollt haben,fast immer aber rasch in das Stckhafte zurckgefallen sind. Das ist einSchicksal, das vielen passiert, denn die Dressur auf das stckhafte Denken istextrem stark. Wie streng das gemeint ist, mag dadurch illustriert sein, da

    auch hier wieder das Problem damit noch nicht im innersten gelst ist, daman erkennt und etwa scharf und streng nachweist, da die bekanntenAnstze in der mathematischen Axiomatik stckhaft sind, da sich aber auch

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