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24. August 2020

erheben wir hiermit unter Vorlage der auf uns ausgestellten Vollmachten der Beschwerdefüh­rer (Anlagenkonvolut Bf 1)

VERFASSUNGSBESCHWERDE

gegen das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Ok­tober 2002 (BGBI. I S. 4130), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Rückführung des

Solidaritätszuschlags 1995 (Änderung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995) vom 10. Dezem­ber 2019 (BGBL I S. 2115).

Wir beantragen, das Bundesverfassungsgericht möge wie folgt entscheiden:

1. Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Okto­

ber 2002 (BGBl. I S. 4130), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Rückführung

des Solidaritätszuschlags 1995 (Änderung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995) vom

10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2115), verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrech­

ten aus Art. 14 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes und ist nichtig.

2. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen

für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

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BEGRÜNDUNG

Der Begründung der Verfassungsbeschwerde und unserer Anträge liegt folgende

Gliederung zugrunde:

A. Vorbemerkungen ................................................................................... 5

B. Sachverhalt ............................................................................................. 8

I. Zu dem Solidaritätszuschlag ..................................................... 8

1. Ergänzungsabgabe Historie, Funktion undLegitimation ..................................................................... 8

2. Historie Solidaritätszuschlag 1991 und 1995 ............. 10

3. Aufkommen des Solidaritätszuschlags .......................... 12

4. Finanzierung der Wiedervereinigung/ SolidarpaktI und II ........................................................................... 13

2

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5. Entscheidung zur fortdauernden Erhebung .................... 14

II. Zum Stand des wiedervereinigungsbedingten

zusätzlichen Finanzbedarfs ..................................................... 18

III. Zur aktuellen Haushaltslage und Steuerbelastung ............... 20

1. Aktuelle Haushaltslage .................................................. 20

a) Bundeshaushalt .............................................................. 20

b) Haushalte der Länder und Kommunen .......................... 22

2. Wachsende Steuerbelastung .......................................... 23

IV. Zu den Beschwerdeführern .................................................... 24

1. Einkünfte der Beschwerdeführer ................................... 25

2. Solidaritätszuschlagpflicht ............................................. 25

C. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde .......................................... 25

I. Beschwerdegegenstand ............................................................ 25

II. Beschwerdefähigkeit und Beschwerdebefugnis .................... 26

III. Beschwerdebefugnis und Grundsatz der Subsidiarität ....... 26

1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung ........................ 27

a) Art. 14 Abs. 1 GG .......................................................... 27

b) Art. 2 Abs. 1 GG ............................................................ 29

c) Art. 3 Abs. 1 GG ............................................................ 30

2. Gegenwärtige Selbstbetroffenheit.. ................................ 31

3. Keine Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ........... 32

a) Allgemeine Bedeutung .................................................. 33

b) Zweck des Subsidiaritätsprinzips verfehlt ..................... 34

aa) Ausschließlich verfassungsrechtliche Fragen ................ 34

bb) Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips ................... 35

IV. Rechtswegerschöpfung ............................................................ 36

V. Frist ........................................................................................... 36

D. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde ...................................... 38

I. Art. 14 Abs. 1 GG .................................................................... 38

(1)

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1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie ............................ 38

2. Eingriff in die Eigentumsgarantie .................................. 3 9

3.

a)

b)

aa)

bb)

Verfassungswidrige Inhalts- und

Schrankenbestimmung ................................................... 3 9

Regelungsschranken ...................................................... 39

Verfassungsrechtliche Anforderungen verfehlt ............. 3 9

Funktion des Finanzverfassungsrechts ......................... .40

Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe .................. .41

Sachlicher Grund .......................................................... .43

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(2) Zeitliche Grenzen .......................................................... .45

(3) Verfassungsgerichtliche Kontrolle ................................ .46

cc) Sachlicher Grund für Solidaritätszuschlag entfallen .... .4 7

dd) Keine Umwidmung ........................................................ 51

(1) Keine explizite Umwidmung ......................................... 51

(2) Implizite Umwidmung für andere Zwecke unzulässig .. 51

(3) ,,Corona-Soli" unzulässig .............................................. 52

II. Art. 2 Abs. 1 GG ...................................................................... 54

III. Art. 3 Abs. 1 GG ...................................................................... 54

1. Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes ....... 55

2. Missachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes ........... 55

a) Ungleichbehandlung ...................................................... 56

b) Keine Rechtfertigung ..................................................... 57

aa) Die Ungeeignetheit des Instruments der Freigrenze ...... 57

bb) Keine sachgemäße Begründung ..................................... 59

cc) Keine folgerichtige Belastungsentscheidung ................. 61

dd) Keine Rechtfertigung der Ungleichbehandlunghinsichtlich der Kapitalerträge ....................................... 62

IV. Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs 1 GG .............................. 63

1. Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m.

Art. 3 Abs 1 GG ............................................................. 63

2. Missachtung der Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1

GG i.V.m. Art. 3 Abs 1 GG ........................................... 64

a) Verstoß gegen das Gebot horizontalerSteuergerechtigkeit ........................................................ 64

aa) Ungleichbehandlung ...................................................... 64

bb) Keine Rechtfertigung ..................................................... 66

b) Unzulässige Anreize zur ehelichenAufgabenverteilung ....................................................... 66

E. Nichtigkeitserklärung .......................................................................... 67

F. Annahme der Verfassungsbeschwerde .............................................. 69

I. Grundsatzannahme ................................................................. 69

II. Durchsetzungsannahme .......................................................... 70

G. Zusammenfassung ............................................................................... 71

Die der Verfassungsbeschwerde über die Vollmachten hinaus beigefügten An­

lagen sind in einem Anlagenverzeichnis aufgeführt.

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A. Vorbemerkungen

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1. Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Solidaritätszuschlaggesetz 1995

(SolzG 1995) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Oktober

2002 (BGBl. I S. 4130), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur

Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 (Änderung des Solidaritäts­

zuschlaggesetzes 1995) vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2115) (im

Weiteren „Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetz"). Auf Grund­

lage des SolzG 1995 wird zur Finanzierung der Kosten der Wiederverei­nigung seit 1995 ein sogenannter Solidaritätszuschlag als Ergänzungsab­

gabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer erhoben. Mit

dem Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetz wird der Solidaritätszu­

schlag zur Einkommensteuer im Jahr 2020 unverändert fortgeführt und

ab dem Jahr 2021 für einen Teil derer abgeschafft, die ihn bisher auf dieLohn- oder Einkommensteuer zahlen sowie für weitere bisherigen Zahler

im Vergleich zur heutigen Abgabepflicht reduziert. Zehn Prozent der

heutigen Solidaritätszuschlagzahler auf die Lohn- oder Einkommens­

teuer werden ab 2021 rund 50 Prozent des bisherigen jährlichen Gesamt­

aufkommens der Abgabe finanzieren. Auf die Kapitalertragsteuer und

auf die Körperschaftsteuer wird der Solidaritätszuschlag über den

31. Dezember 2019 hinaus wie bisher erhoben.

2. Am 31. Dezember 2019 ist der sogenannte Solidarpakt II zur Finanzie­

rung der Wiedervereinigung ausgelaufen. Der Gesetzgeber hat sich mitdem Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetz 30 Jahre nach der deut­

schen Einheit und 25 Jahre nach der Einführung des Solidaritätszu­schlags gleichwohl entschieden, einen Teil der einkommensteuerpflich­

tigen Personen über den 31. Dezember 2019 hinaus unverändert in voller

Höhe der Solidaritätszuschlagpflicht zu unterwerfen. Einen verbindli­

chen Abbaupfad für den vollständigen Abbau der Belastung hat der Ge­

setzgeber bei Erlass des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes

nicht präsentiert. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber weder eine Ab­

schaffung noch eine Rückführung des Solidaritätszuschlags zur Körper­schaftsteuer und auf die Kapitalertragsteuer geregelt.

3. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich

- zum einen gegen das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der Fas­

sung der Bekanntmachung vom 15. Oktober 2002, zuletzt geän­dert durch Art. 1 des Gesetzes vom 10. Dezember 2019 im Hin­

blick auf den Veranlagungszeitraum 2020 mit der unverändertenFortführung der Solidaritätszuschlagspflicht sowie

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zum anderen gegen das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der

Fassung der Bekanntmachung vom 15. Oktober 2002, zuletzt ge­

ändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 10. Dezember 2019 im

Hinblick auf den Veranlagungszeitraum 2021 mit dem nicht voll­

ständigen Abbau des Solidaritätszuschlags ab dem Veranla­

gungszeitraum 2021.

4. Die Erhebung des ursprünglich verfassungsgemäß eingeführten Solida­

ritätszuschlags kann ab dem Jahr 2020 nicht mehr auf eine verfassungs­

rechtliche Grundlage gestützt werden, weil

(1) das Finanzverfassungsrecht des Grundgesetzes kein Steuererfin­

dungsrecht des Gesetzgebers kennt und sich der Bund nicht nach

politischer Opportunität an dem Katalog der Steuertypen des

Art. 106 GG vorbei eine Einnahmequelle schaffen kann,

(2) die auf Grundlage des SolzG 1995 erhobene Abgabe eine Ergän­

zungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG (nur) zur Fi­

nanzierung der deutschen Einheit ist und nicht etwa einer allge­

meinen Finanzierung des Bundeshaushalts dienen darf,

(3) die die Einführung des Solidaritätszuschlags rechtfertigende fi­

nanzverfassungsrechtliche Sonderlage für die Zeit ab 2020 von

einem neuen, nur an der Finanzkraft und nicht der örtlichen Lage

ausgerichteten Länderfinanzausgleich ohne spezifische Regelun­

gen für die ostdeutschen Bundesländer und damit einer finanzver­

fassungsrechtlichen Normallage abgelöst wurde,

(4) den Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag seit 2020 weder im

Bundeshaushalt noch im Länderfinanzausgleich entsprechende

Ausgaben ausschließlich für die ostdeutschen Länder zur Vollen­

dung der Deutschen Einheit entgegenstehen und auch im Bundes­

haushalt keine neue Ausgabe, anknüpfend an den Solidarpakt II

explizit zur Vollendung der deutschen Einheit geschaffen wurde,

(5) die Weiterführung des Solidaritätszuschlags außerhalb der nicht

fortbestehenden finanzverfassungsrechtlichen Sonderlage als

„zweite Säule" der allgemeinen Einkommensbesteuerung das

verfassungsrechtliche Normgefüge von Zustimmungs- und Er­

tragszuständigkeiten unterläuft und

(6) die fortdauernde Erhebung des Solidaritätszuschlags zur dauer­

haften Fixierung der Gesamtertragsteuerbelastung einer bestimm­

ten Gruppe von Einkommensbeziehern außerhalb des Einkom­

mensteuertarifs missbraucht wird.

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5. Die Beschwerdeführer sind Mitglieder des Vorstands der FDP-Bundes­

tagsfraktion. Mit dieser Verfassungsbeschwerde verfolgen sie das politi­

sche Anliegen weiter, die versprochene und verfassungsrechtlich gebo­

tene vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags mit Wirkung

zum 1. Januar 2020 mit juristischen Mitteln durchzusetzen. Die FDP­

Fraktion hatte sowohl in den Haushaltsberatungen für 2020 als auch bei

den Beratungen zum zweiten Nachtragsaushalt 2020 mit zahlreichen

konkreten Vorschlägen aufgezeigt, wie man auf die Einnahmen aus dem

Solidaritätszuschlag in Höhe von 20 Mrd. Euro vollständig verzichten

könnte, ohne dass die Ausgaben für Aufgaben der staatlichen Daseins­

vorsorge deswegen gekürzt werden müssten. Die Große Koalition be­

schloss gleichwohl, die streitgegenständliche Abgabe in 2020 unverän­

dert zu erheben und ab 2021 nur partiell abzuschaffen bzw. ,,zurückzu­

führen".

6. Die Beschwerdeführer sind mit ihren Einkünften, die sie als Mitglieder

des Deutschen Bundestages erhalten, einkommensteuerpflichtig und da­

her zur Entrichtung des Solidaritätszuschlags über das Jahr 2019 hinaus

verpflichtet. Neben den Beschwerdeführern sind im Jahr 2020 rund

37,4 Mio. der insgesamt rund 51,1 Mio. einkommensteuerpflichtigen

Personen und rund 500.000 körperschaftsteuerpflichtige Körperschaften

von der angegriffenen Regelung und den mit der Verfassungsbeschwerde

aufgeworfenen Fragen betroffen (zu den Zahlen etwa Institut der deut­

schen Wirtschaft, Auswirkungen der Reform des Solidaritätszuschlags

auf die Steuer, Kurzgutachten vom 27. Januar 2020, 1 S. 10, 13, im Wei­

teren „IW-Gutachten"). Ab dem Jahr 2021 greift das Solidaritätszu­

schlag-Rückführungsgesetz in die Rechte von rund 3,7 Mio. einkom­

mensteuerpflichtigen Personen ein (vgl. IW-Gutachten, S. 10). Die Be­

schwerdeführer zählen dazu.

7. Bis zum Ende der aktuellen Finanzplanung (Bundeshaushalt 2023) er­

wartet der Bund Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag in Höhe von

bis zu 54,2 Mrd. Euro. Würde der Bund wie im Fall der Kembrennstoff­

besteuerung zu einer Rückzahlung der vom Haushaltsjahr 2020 an ein­

genommenen Steuermittel verurteilt werden, würde diese milliarden­

schwere Rückzahlungspflicht neben die Verpflichtungen zur Rückfüh­

rung der anlässlich der Corona-Pandemie aufgenommenen Kredite ab

dem Bundeshaushalt 2023 treten. Die vorliegende Verfassungsbe­

schwerde ist deshalb von ganz besonderer Aktualität und Dringlichkeit.

1 http ://www.in.m.de/fileadmin/insm-dm iext/kampagn srcuem- enken-jcrzt/Soli/20200127 Gut­achten Soli-Rcfonn I W.pclt: zuletzt abgerufen am 21. August 2020.

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B. Sachverhalt

8. Den rechtlichen Ausführungen stellen wir die für die Verfassungsbe­

schwerde wesentlichen Fakten zu dem Solidaritätszuschlag (I), dem

Stand der Finanzierung der Deutschen Einheit (II), der aktuellen Haus­

haltslage und Steuerbelastung (III) und zu den Beschwerdeführern (IV)

voran.

I. Zu dem Solidaritätszuschlag

1. Ergänzungsabgabe - Historie, Funktion und Legitimation

9. Der Solidaritätszuschlag beruht auf der Gesetzgebungskompetenz des

Bundes gemäß Art. 105 Abs. 2, 106 Abs. 1 Nr. 6 GG zur Einführung ei­

ner besonderen Steuer vom Einkommen, der neben der Einkommen- und

Körperschaftsteuer zu erhebenden Ergänzungsabgabe. Die Einnahmen

aus einer Ergänzungsabgabe, wie dem Solidaritätszuschlag, stehen allein

dem Bund zu, weshalb der Bundesrat einem Bundesgesetz über eine sol­

che Abgabe nicht zustimmen muss.

10. Die mit dem Gesetz zur Anderung und Ergänzung der Finanzverfassung

(Finanzverfassungsgesetz) vom 23. Dezember 1955 (BGBl. I S. 817) zu­

nächst in Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG geschaffene Kompetenz zur Einfüh­

rung einer Ergänzungsabgabe im Gesamtsteuersystem

,, ist dazu bestimmt, anderweitig 11icht auszugleichende Bedarfs

spitzen im Bundeshaushalt zu decken, den gesetzgebenden Kör­perschafen des Bundes in begrenztem Rahmen eine elastische,

der iewei/igen Koniunkturlage und dem ie'1veiligen Haushaltsbe­

darf angepaßte Finanzpolitik zu ermöglichen und das Steuerver­

teilungssystem im Verhältnis zwischen Bund und Ländern

dadurch zu festigen, daß die Notwendigkeit einer Revision der

Steuerbeteiligungsquoten [. . .} beschränkt wird [. . .}. " (vgl.

BTDrucks IV480, S. 72, Nr. 105, Hervorhebung nur hier)

11. Die damalige Bundesregierung setzte sich mit dem Vorhaben, zeitgleich

mit dem neuen Kompetenztitel auch ein Gesetz über eine Ergänzungsab­

gabe zur Einkommensteuer und zur Körperschafisteuer zu erlassen (vgl.

BTDrucks II/484), wegen des Widerstands des Bundesrats zunächst nicht

durch. Der Bundesrat lehnte eine Ergänzungsabgabe im Sinne der Regie­

rungsvorlage mit dem Argument ab, dass es nicht vertretbar sei, im Zu­

sammenhang mit der Steuerreform, die eine Tarifsenkung vorsah, die

steuerliche Entlastung durch Gebrauch machen von dem Zuschlagsrecht

zum Teil wieder aufzuheben. Er erkannte aber die Notwendigkeit eines

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Zuschlagsrechts des Bundes grundsätzlich an, wobei „von dem Zu­

schlagsrecht[. . .} jedoch nur in besonderen Notfällen Gebrauch gemacht

werden [sollte}" (vgl. BTDrucks Il/484, S. 1, Hervorhebung nur hier).

12. Der amtlichen Begriindung des seinerzeit gescheiterten Gesetzentwurfs

sind wesentliche Beweggrunde für die Erhebung einer Ergänzungsab­

gabe sowie ihre Funktion zu entnehmen:

„ Die mit einem durch Gesetz jederzeit änderbaren und damit »beweglichen« Hebesatz ausgestattete Ergänzungsabgabe [. . .}soll es dem Bundesgesetzgeber ermöglichen, ohne Anwendungder Revisionsklausel und ohne .Änderung der Steuersätze Be­darfsspitzen im Bundeshaushalt zu decken. [. . .} Auf diese Weisewird die Abgabe, deren Erhebung nur mit geringen Hebesätzenin Betracht kommt und keineswegs /ilr die Dauer. sondern ledig­lich fiir Ausnahmelagen bestimmt ist, wesentlich zur inneren Fes­

tigung der bundesstaatlichen Finanzstruktur beitragen. " (vgl.

BTDrucks Il/484, S. 4, Hervorhebung nur hier)

13. Spätestens bei der Beratung über den Haushaltsplan für das nächste

Rechnungsjahr wäre „erneut zu prüfen [. . .}, ob und inwieweit die Erhe­bung der Abgabe weiterhin geboten ist" (vgl. BTDrucks Il/484, S. 5).

14. Gut zehn Jahre später legte die damals amtierende Bundesregierung er­

neut einen Gesetzentwurf für eine Ergänzungsabgabe auf die Einkom­

men- und Körperschaftsteuer vor (vgl. BTDrucks V/2087). Mit dem Ge­setz zur Verwirklichung der mehrjährigen Finanzplanung des Bundes,

I Teil Zweites Steueränderungsgesetz 1967 vom 21. Dezember 1967

(BGBL I S. 1254), das in Art. 1 das Gesetz über eine Ergänzungsabgabezur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer (Ergänzungsabgabe­gesetz) enthielt, wurde erstmalig eine Ergänzungsabgabe von 3 Prozent

mit Wirkung ab dem Jahr 1968 eingeführt und für ein knappes Jahrzehnt

erhoben. Das Gesetz sah keine Befristung der Ergänzungsabgabe vor.

Das Ergänzungsabgabegesetz war Teil eines Gesamtprogramms zur Si­

cherung der Ordnung der Bundesfinanzen. Zu den Steuerrechtsänderun­

gen zählte die den Konsum breiter Bevölkerungsschichten treffende Um­

satzsteuererhöhung. Die Ergänzungsabgabe sollte ein Gegengewicht zu

dieser Erhöhung der Verbrauchsbesteuerung schaffen und durch die stär­

kere direkte Belastung der höheren Einkommen dem Prinzip der leis­

tungsfähigkeitsgerechten Besteuerung in besonderem Maße Rechnung

tragen (vgl. BTDrucks V/2087, S. 8).

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2. Historie - Solidaritätszuschlag 1991 und 1995

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15. Der erste Solidaritätszuschlag wurde im Jahr 1991 mit dem Gesetz zur

Einführung eines befristeten Solidaritätszuschlags und zur „4.°nderung von

Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen (Solidaritätsgesetz) vom

24. Juni 1991 (BGBL I S. 1318) eingeführt. Als Sinn und Zweck der Er­

hebung wurden damals mehrere kurzfristig aufgetretene Ausgabenbe­

darfe infolge der jüngsten Veränderungen in der Weltlage angeführt,

konkret die Entwicklungen im Mittleren Osten und die finanziellen Aus­

wirkungen des Golfkriegs sowie die Mehrbelastungen resultierend aus

den Entwicklungen in Südost- und Osteuropa und aus den Aufgaben in

den neuen Bundesländern (vgl. BTDrucks 12/220, S. 1, 6). Damit wurde

intendiert, dass die Finanzierung „der unabweisbaren Mehraufwendun­

gen [. . .} von allen Bevölkerungsgruppen und Schichten getragen wer­

den" müsse (vgl. BTDrucks 12/220, S. 6, Hervorhebung nur hier). Dieser

erste Solidaritätszuschlag war zeitlich befristet und lief Mitte 1992 aus.

„Ein geringer, kurz befristeter Zuschlag zur Lohn-/Einkommen- und

Körperschafsteuer ist zur Lösung vorübergehender dringender Finanz­

probleme besonders geeignet und nach der deutlichen Entlastung im

Rahmen des Steuerreformgesetzes 1990 vertretbar", so die damalige Be­

gründung (vgl. BTDrucks 12/220, S. 6).

16. Der zweite und streitgegenständliche Solidaritätszuschlag wurde zur

langfristigen und nachhaltigen Finanzierung der deutschen Wiederverei­

nigung beschlossen. Die Wiedervereinigung löste beim Bund einen er­

heblichen zusätzlichen Finanzbedarf aus. Das Gesetz zur Umsetzung des

Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) vom 23. Juni 1993

(BGBL I S. 944, 975) enthielt neben der Neuordnung des bundesstaatli­

chen Finanzausgleichs und einer Reihe von Maßnahmen zur Einschrän­

kung von Ausgaben auch steuerliche Maßnahmen, u.a. den Solidaritäts­

zuschlag: Als Teil des steuerlichen Maßnahmenpakets sah Art. 31 FKPG

das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 vor.

17. Der Solidaritätszuschlag war nur ein Baustein eines Finanzierungskon­

zepts. Die Bundesregierung betonte damals in ihrem Gesetzentwurf:

„ Wegen des engen sachlichen Zusammenhangs aller Einzelfragen kann

die Lösung nur in einem alle Probleme umfassenden Gesamtkonzept ge­

lingen." (BTDrucks 12/4748, S. 3). Ziel war es, den neuen Ländern „auf

Dauer eine angemessene Finanzausstattung zu sichern, um sie in dieLage zu versetzen, die laufenden Ausgaben wie in den alten Bundeslän­

dern erfüllen und ihren investiven Nachholbedarf im öffentlichen Bereich

fnanzieren zu können. Außerdem sind für die Bewältigung der bei der

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Einigung Deutschlands übernommenen finanziellen Erblasten der ehe­

maligen DDR dauerhafte Finanzierungsinstrumente zu schaffen"

(BTDrucks 12/4748, S. 2f).

18. Die Notwendigkeit der Einführung eines Solidaritätszuschlags von da­

mals 7,5 Prozent der Bemessungsgrundlage, d.h. der festgesetzten Ein­kommen- oder Körperschaftsteuer, als Ergänzungsabgabe zur Lohn-,

Einkommen- und Körperschaftsteuer begründete die damalige Bundes­

regierung wie folgt (vgl. BTDrucks 12/4748, S. 9 i.V.m. BTDrucks

12/4401, S. 51, Hervorhebung nur hier):

„ Zur Finanzierung der Vollendung der Ein/zeit Deutschlands ist

ein solidarisches finanzielles Opfer aller Bevölkerungsgruppen

unausweichlich. Die Bundesregierung schlägt deshalb mit Wir­

kung ab 1. Januar 1995 einen mittelfi,istig zu überprüfenden

Zuschlag zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer far

alle Steuerpflichtigen vor. Dies ist auch unter dem Gesichtspunkt

der Steuergerechtigkeit der richtige Lösungsweg. Der Zuschlag

ohne Einkommensgrenzen belastet alle Steuerpflichtigen entspre­

chend ihrer Leistungsfahigkeit. [. . .}"

19. Wie im Jahr 1991 sollten und wurden im Ausgangspunkt alle Steuerzah­ler zum Solidaritätszuschlag herangezogen. Das Gesetz in der endgülti­

gen Fassung ist das Ergebnis einer Überarbeitung des Haushalts- und Fi­nanzausschusses (vgl. BTDrucks 12/4801). Von der Abgabepflicht voll­

ständig ausgenommen waren danach lediglich diejenigen einkommen­

steuerpflichtigen Personen, bei denen die Einkommensteuerschuld die

Freigrenze von 1.332 DM (681,04 Euro) nicht überstieg. Mit der soge­

nannten „Null-Zone" wurden „Kleinbeträge" von etwa 100 DM Solida­ritätszuschlag bei Alleinstehenden bzw. 200 DM Solidaritätszuschlag beiVerheirateten von der Abgabepflicht ausgenommen (vgl. BTDrucks12/4801, S. 149). Mit dem Überschreiten der Freigrenze wurde nicht so­

fort der volle Solidaritätszuschlag fällig. Der Zuschlag durfte nicht mehr

als 20 Prozent der Differenz zwischen der relevanten Einkommensteuer­schuld und der jeweils maßgebenden Freigrenze betragen (sog. Milde­

rungszone).2

2 Das heißt beispielsweise, dass bei einer Einkommensteuerschuld von 1.500 DM (über der Freigrenze)ein Solidaritätszuschlag nur in Höhe von 33,60 DM (20 Prozent der Differenz zwischen 1.500 DM und der Freigrenze von 1.332 DM) erhoben wird anstelle von 112,50 DM (7,5 Prozent von 1.500 DM). Erst ab einer Einkommensteuerschuld von mehr als 2.131 DM wurde der volle Solidaritätszuschlag fällig. Betrachtet man das zu versteuernde jährliche Einkommen eines Alleinstehenden besteht eine gede­ckelte Abgabepflicht ab 12.517 DM (6.400 Euro) und muss der volle Abgabesatz ab einem zu versteu­ernden Einkommen von 16.330 DM (8.349,4 Euro) geleistet werden.

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20. Eine anfängliche Befristung enthielt das Gesetz in der endgültigen Fas­

sung zwar nicht. Gleichwohl bestand im Gesetzgebungsverfahren Einig­

keit, dass der Solidaritätszuschlag nur vorübergehend erhoben werden

sollte. Insbesondere in den Beratungen des Haushaltsausschusses wurde

die Frage einer zeitlichen Begrenzung des Solidaritätszuschlags ausführ­

lich diskutiert (vgl. BTDrucks 12/4801, S. 145). Während die damaligen

Koalitionsfraktionen (CDU/CSU und FDP) eine Befristung auf drei

Jahre für wünschenswert hielten, sah die SPD Fraktion eine Befristung

zum damaligen Zeitpunkt nicht als sinnvoll an. Einigkeit bestand aber

darüber, dass „die Natur des Solidaritätszuschlags als eine Ergänzungs­

abgabe. die aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht auf Dauer erho­

ben werden könne, für eine Befristung spreche" (BTDrucks 12/4801,

S. 145, Hervorhebung nur hier).

21. Seither nahm der Gesetzgeber lediglich redaktionelle Anpassungen am

Solidaritätszuschlaggesetz 1995 vor und reduzierte die Höhe der Abgabe

ab dem Jahr 1998 auf 5,5 Prozent der Bemessungsgrundlage. Im Zusam­

menhang damit wurden die Bundesanteile an der Umsatzsteuer angeho­

ben. Zur Absenkung des Abgabensatzes hieß es, dass der Abbau keinen

Abbau der Solidarität mit den neuen Bundesländern bedeute und die Ab­

senkung nur konjunkturelle Gründe habe (vgl. BTDrucks 13/8701, S. 6).

22. Der Gesetzgeber dehnte ab dem Jahr 2009 den Solidaritätszuschlag auf

die neu eingeführte Abgeltungsteuer, einer Erhebungsform der Einkom­

mensteuer, aus (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SolzG 1995 i.V.m. § 32d

EStG). Für die Abgeltungsteuer finden die Freigrenzen nach § 3 Abs. 3

bis 5 SolzG 1995 keine Anwendung (vgl. Beck'sches Steuer-und Bilanz­

rechtslexikon, Ed. 49 2019, Solidaritätszuschlag, Rn. 8).

3. Aufkommen des Solidaritätszuschlags

23. Das Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag steht allein dem Bund zu.

Es geht in den allgemeinen Bundeshaushalt ein. Eine spezifische haus­

haltsrechtliche Zweckbindung besteht aufgrund des sogenannten Non­

Affektationsprinzips nicht.

24. Für den Zeitraum von 1995 bis 2018 betrugen die kassenmäßigen Ein­

nahmen aus dem Solidaritätszuschlag insgesamt 311,7 Mrd. Euro (vgl.

Präsident des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirt­

schaftlichkeit in der Verwaltung in seinem Gutachten über den Abbau

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II bestand aus zwei Teilen. Der Korb I umfasste Sonderbedarfs-Bundes­

ergänzungszuweisungen nach dem Finanzausgleichsgesetz in Höhe von

rund 105 Mrd. Euro mit dem Zweck, teilungsbedingte Rückstände bei

der Infrastruktur zu beseitigen und die schwächere kommunale Finanz­

kraft auszugleichen. Die Zuweisungen überproportionaler Mittel von

rund 51 Mrd. Euro unter dem Korb II sollte den ostdeutschen Ländern

bis 2019 Planungssicherheit verschaffen, um noch bestehende struktu­

relle Schwächen und Altlasten in bestimmten Politikfeldern gezielt ab­

bauen zu können.

28. Zwischenzeitlich sind die finanziellen Beziehungen zwischen Bund und

Ländern neu geregelt. Seit Jahresbeginn 2020 liegt dem Finanzausgleich

wieder die verfassungsrechtliche Normallage zugrunde (dazu noch

Rn. 39ff.). Auch die anderen Bestandteile des Finanzierungskonzepts

sind mittlerweile ausgelaufen oder abgelöst worden.

5. Entscheidung zur fortdauernden Erhebung

29. Die Regierungskoalition vereinbarte für die 19. Wahlperiode, den Soli­

daritätszuschlag „stufenweise" abzubauen, ohne allerdings einen konkre­

ten Zeitplan für ein solches Stufenkonzept zu bestimmen. Ab dem Jahr

2021 sollen untere und mittlere Einkommen beim Solidaritätszuschlag

entlastet werden (vgl. Koalitionsvertrag, S. 53f., Zeilen 2431-2435 und

S. 68, Zeilen 3083-30876). Für die Bezieher höherer Einkommen bzw.

Löhne bleibt der Solidaritätszuschlag ebenso auf unbekannte Dauer be­

stehen wie für körperschaftsteuerpflichtige Unternehmen und Sparer.

30. Die Fraktion der FDP war allerdings der Auffassung, dass der Fortbe­

stand des Solidaritätszuschlags nach dem Auslaufen des zur Vollendung

der deutschen Einheit aufgelegten Solidarpakts II unter mehreren Ge­

sichtspunkten verfassungswidrig wäre ( dazu näher BTDrucks 19/6440,

S. 4). Sie verfolgte mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des

Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 vom 1. März 2018 (BTDrucks

19/1038) das Ziel, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen. Das Vorhaben

war am 27. Juni 2018 Gegenstand eines öffentlichen Fachgesprächs im

Finanzausschuss. Die geladenen Sachverständigen äußerten mehrheitlich

Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Fortbestands des Solidaritäts­

zuschlags und sahen auch die nur teilweise Abschaffung äußerst kritisch

6 https://www.bundcsrcgicrune.de/breg-d themcn/koalitionsvertrug-zwis hcn-cdu-csu-und- pd-195906, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.

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11,9 Prozent des Unterschiedsbetrags zwischen der relevanten Bemes­

sungsgrundlage und der jeweils maßgebenden Freigrenze. Danach ent­

fällt ab dem Jahr 2021 durch die Anhebung der Freigrenzen in § 3

SolzG 1995 für einen Teil der Einkommensteuerzahler der Solidaritäts­

zuschlag komplett. Für weitere bisherige Solidaritätszuschlagzahler wird

der Solidaritätszuschlag in der Milderungszone mit abnehmender Inten­

sität abgesenkt. Oberhalb der Milderungszone wird er von knapp 1 Mio.

einkommensteuerpflichtigen Personen weiterhin in voller Höhe erhoben.

Darüber hinaus findet eine Entlastung auch nicht in Bezug auf die kör­

perschaftsteuerpflichtigen Unternehmen und die Sparer statt, die Kapi­

talertragsteuer leisten. Hierauf wird der Solidaritätszuschlag ebenfalls

unverändert in der vollen Höhe erhoben.

34. Während die Einführung des Solidaritätszuschlags damit begründet

wurde, dass das solidarische fnanzielle Opfer von allen Bevölkerungs­

gruppen getragen werden müsse ( dazu oben Rn. 18), soll nun durch den

Abbau des Solidaritätszuschlags der Verteilung der zusätzlichen Steuer­

last nach der Leistungsfähigkeit in besonderem Maße Rechnung getragen

werden; die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte rechtfertigt es

nach Auffassung der Bundesregierung, ,, einen Teil der Einkommensteu­

erpflichtigen nicht zu erfassen" (vgl. BTDrucks 19/14103, S. lf., 11).

Die Bundesregierung begründet diesen nur teilweisen Abbau des Solida­

ritätszuschlags damit, dass der

,, Bund[ . . .} weiterhin einen wiedervereinigungsbedingten zusätz­

lichen Finanzierungsbedarf [hat], etwa im Bereich der Renten­

versicherung, beim Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungs­

gesetz, für den Arbeitsmarkt sowie für andere überproportionale

Leistungen aus dem Bundeshaushalt für die ostdeutschen Bun­

desländer (bisheriger Korb II des Solidarpakts 11)." (vgl.

BTDrucks 19/14103, S. 1, ähnlich S. 9).

35. Weiter heißt es in der Begründung der Bundesregierung:

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,,Die Mittel, die bisher zur Überwindung der Folgen der deut­

schen Teilung aufgewendet worden sind, übersteigen das durch

den Solidaritätszuschlag erzielte Aufkommen. Das Aufkommen

des Solidaritätszuschlags 1995 bis 2016 betrug etwa 275 Mrd.

Euro. Hingegen beliefen sich allein die Ausgaben des Bundes aus

dem Solidarpakt I und II bis 2016, dem Bundesanteil für den

,, Fonds Deutsche Einheit" und das vom Bund übernommene De­

fizit der Treuhandanstalt auf insgesamt 383 Mrd. Euro. Die Bun­

desregierung geht davon aus, dass auch der fortgeführte Teil der

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Ergänzungsabgabe die fortbestehenden Lasten nicht vollständig

decken wird." (Vgl. BTDrucks 19/14103, S. 1)

Die Berechnung der Bundesregierung ist indes nicht nachvollziehbar.

Wegen der Einzelheiten verweisen wir auf das IW-Gutachten (S. 6): Auf

der Ausgabenseite bezieht die Bundesregierung Zahlungen im Rahmen

des Fonds Deutsche Einheit und die Defizite der Treuhandgesellschaft in

den Jahren 1990 bis 1994 mit ein und kommt so auf 3 83 Mrd. Euro bis

einschließlich 2016. Auf der Einnahmenseite betrachtet die Bundesregie­

rung demgegenüber die Jahre erst ab 1995 und kommt auf Einnahmen

von 275 Mrd. Euro. Unklar ist, weshalb nur der Zeitraum bis 2016 und

nicht bis 2019 betrachtet wird. Ferner erscheint es unsystematisch, auf

der Ausgabenseite Jahre zu betrachten, in denen es den streitgegenständ­

lichen Solidaritätszuschlag nicht gab. Laut IW-Gutachten (S. 6) hat der

Bund von 1995 bis 2019 rund 87 Mrd. Euro mit dem Solidaritätszuschlag

mehr eingenommen, als er für die Förderung der ostdeutschen Bundes­

länder im Rahmen des Solidarpakts ausgegeben hat. Ausgehend von den

Solidarpakt-Zahlungen kann seit dem Jahr 2011 ein kontinuierlich wach­

sender Betrag aus den Solidaritätszuschlags-Einnahmen zur Finanzie­

rung anderer Ausgabenprojekte des Bundes verwendet werden, weil die

Einnahmen die Zahlungsverpflichtungen für den Solidarpakt I und II

übersteigen.

36. Die Argumentation der Bundesregierung, dass allein das Aufkommen

aus dem Solidaritätszuschlag die Gesamtkosten der Deutschen Einheit

finanzieren soll, widerspricht auch der Begründung im Ursprungsgesetz

von 1993, wonach der Solidaritätszuschlag nur ein Baustein sei (oben

Rn. 17). Es gibt ferner keine Pflicht in der Bundeshaushaltsordnung, spe­

zifische Ausgaben durch spezifische Steuern komplett gegen zu finan­

zieren. Zudem gilt nach dem Jährlichkeitsgrundsatz jedes Haushaltsge­

setz nur für ein Jahr, bestimmte Ausgaben aus der Vergangenheit können

nicht später getilgt werden, sie fallen der Gesamtverschuldung anheim.

Die Schulden der Treuhandanstalt und des Kreditabwicklungsfonds so­

wie Teile der alten Schulden der kommunalen Wohnungswirtschaft wur­

den im sogenannten Erblastentilgungsfonds zusammengeführt. Dieser

wurde zum 31. Dezember 2015 aufgelöst, seine Verbindlichkeiten wur­

den in die Schulden des Bundes eingegliedert. Auch die restlichen Ver­

bindlichkeiten aus dem Fonds Deutsche Einheit wurden in die Bundes­

schulden eingegliedert. Diese Verbindlichkeiten können nicht mehr ge­

sondert getilgt werden.

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37. Der teilweise Abbau des Solidaritätszuschlags wird gegenüber der bishe­

rigen Finanzplanung der Bundesregierung zu einer jährlichen Nichtver­

einnahmung von Steuern von rund 10 Mrd. Euro führen (vgl. BTDrucks

19/14103, S. 10). Dies entspricht der Hälfte des Aufkommens aus dem

Solidaritätszuschlag, der im Haushaltsentwurf 2020 mit 20,0 Mrd. Euro

veranschlagt wurde (vgl. Stellungnahme Bundesrechnungshof S. 1).

Nach dem Eckwertebeschluss der Bundesregierung vom 20. März 2019

zum Finanzplan 2019 bis 2023 muss davon ausgegangen werden, dass

bis zum Jahr 2023 kein weiterer Abbau des Solidaritätszuschlags vorge­

sehen ist (vgl. Eckwertebeschluss der Bundesregierung zum Regierungs­

entwurf des Bundeshaushalts 2020 und zum Finanzplan 2019 bis 20239;

Monatsbericht des Bundesministeriums der Finanzen vom März 2019,

Editorial, S. 310).

II. Zum Stand des wiedervereinigungsbedingten zusätzlichen Finanz­

bedarfs

38. Soweit die Bundesregierung die fortdauernde Erhebung des Solidaritäts­

zuschlags damit begründet, dass es weiterhin einen wiedervereinigungs­

bedingten zusätzlichen Finanzbedarf für überproportionale Leistungen

aus dem Bundeshaushalt für die ostdeutschen Länder gäbe (vgl.

BTDrucks 19/14103, S. 1), ist Folgendes festzuhalten:

39. Die Finanzierung der Deutschen Einheit über den bundesstaatlichen Fi­

nanzausgleich ist mit dem Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 ab­

geschlossen (so BWV-Gutachten, Tz. 6.1). Die finanzpolitische und fi­

nanzverfassungsrechtliche Sonderlage einer besonderen Aufbauhilfe zu­

gunsten der neuen Länder kann damit als beendet betrachtet werden (so

Papier, Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Auf­

hebung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995, Juni 2018, S. 4).

Im Einzelnen:

40. Zwischenzeitlich sind die finanziellen Beziehungen zwischen Bund und

Ländern neu geregelt. Die spezifische Ausrichtung des bisherigen Fi­

nanzausgleichs mit einer Schwerpunktsetzung auf die neuen Länder

wurde ersetzt durch einen vertikalen Finanzausgleich, in dem der Bund

mittels einer Reihe von teilweise neuen Bundesergänzungszuweisungen

9 lmps:/lwww.bundesfinanz111inis1eriu111.de/Conrent/DE/Pressc111i11eilungcn/Finanzpo!i-1ik/2019/03/20 l 7-03-20-pm-eckwe11cb�chlus. -uerbersicht.pdt'? blob=publicationFilc&-=3, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.

10 http ://www.bundcsfinanzministerium.d, Content/DE/Downloads/Broschueren Bestellservice/mo­nat bericht-maerz-2019.hunl, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.

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42. Auch ein besonderer Finanzbedarf des Bundes zur Abdeckung neuer spe­

zifischer Ausgabenbedarfe ist nicht gegeben (vgl. BWV-Gutachten,Tz. 0.8, dazu noch Rn. 155ff.).

43. Der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung weist inseinem Gutachten über den Abbau des Solidaritätszuschlags zu Rechtdaraufhin, dass diefinanzverfassungsrechtliche Normallage das Gegen­

stück zu den in der amtlichen Begründung zum Entwurf eines Gesetzesüber eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körper­schaftsteuer genannten Ausnahmelagen in Bezug auf den Bundeshaus­halt ist, in denen eine Ergänzungsabgabe als zulässig erachtet wird (vgl.BWV-Gutachten, Tz. 4.2, Fn. 19; BTDrucks II/484, S. 4).

44. Der fortlaufenden Erhebung des Solidaritätszuschlages stehen im Bun­deshaushalt 2020 keine konkreten Ausgaben gegenüber, die ausschließ­lich der Vollendung der Deutschen Einheit dienen sollen.

III. Zur aktuellen Haushaltslage und Steuerbelastung

1. Aktuelle Haushaltslage

a) Bundeshaushalt

45. Gegenüber dem Zeitpunkt der Einführung des Solidaritätszuschlags vorrund 25 Jahren hat sich die finanzwirtschaftliche Ausgangslage für denBund wie folgt verändert:

46. Bis zum Inkrafttreten des angegriffenen Gesetzes Mitte Dezember 2019hatte sich die finanzwirtschaftliche Lage für den Bund verbessert undkonnte aufgrund der Haushalts- und Finanzplanung von einer schwieri­gen Haushaltslage nicht die Rede sein:

47. Der Bundeshaushalt benötigte seit dem Haushaltsjahr 2014 keine Netto­

kreditaufnahme (NKA) zum Haushaltsausgleich. Im Vergleich dazu lagdie NKA beim Inkrafttreten des Solidarpakts I im Jahr 1995 bei 25,6Mrd. Euro; dies entsprach einer Kreditfinanzierungsquote 13 von10,8 Prozent. Beim Inkrafttreten des Solidarpakts II im Jahr 2005 betrugdie NKA sogar 31,2 Mrd. Euro; dies entsprach einer Kreditfinanzie­rungsquote von 12,0 Prozent (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 6.1). Der Bun­deshaushalt verzeichnete in den Haushaltsjahren 2015 bis 2018 Über­schüsse von insgesamt mehr als 35 Mrd. Euro, die der sogenannten Asyl-

13 Die Kreditfinanzierungsquote bezeichnet den Anteil der durch die NKA gedeckten Ausgaben im Bun­deshaushalt.

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Rücklage zugeführt wurden (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 6.1; Stellung­

nahme Bundesrechnungshof, S. 3). Die Staatsschulden gingen in 2019

um 16 Mrd. Euro auf 2,05 Billionen Euro bzw. eine Staatsschuldenquote

von 59,8 Prozent zurück (vgl. F.A.Z. vom 1. April 2020, Wirtschaft,

Haushaltsplanung verzögert sich, unter Bezugnahme auf einen Bericht

der Deutschen Bundesbank14).

48. Nach dem vorläufigen Abschluss des Bundeshaushalts 201915 betrug der

Haushaltsüberschuss im Jahr 2019 rund 13,5 Mrd. Euro. Die Einnahmen

aus dem Solidaritätszuschlag beliefen sich im gleichen Zeitraum auf rund

19,65 Mrd. Euro. 16 Damit entsprach allein der Haushaltsüberschuss des

Bundes 7/10 des jährlichen Aufkommens aus dem Solidaritätszuschlag,

sodass die Abschaffung des Solidaritätszuschlags zum 31. Dezember

2019 nur ein Defizit von knapp 6 Mrd. Euro ergeben hätte. Berücksich­

tigt man ferner, dass zusätzliche rund 5,5 Mrd. Euro nicht aus der Rück­

lage entnommen werden mussten (vgl. vorläufiger Abschluss des Bun­

deshaushalts 2019 17), betrug der Haushaltsüberschuss des Bundes also

zuletzt rund 19 Mrd. Euro, was dem Aufkommen aus dem Solidaritäts­

zuschlag nahezu entsprach.

49. Die Verhältnisse änderten sich im Jahr 2020 aufgrund der Corona- bzw.

COVID-19-Pandemie wie folgt:

50. Zur Finanzierung der Ausgaben des Bundes für die pandemiebedingten

Maßnahmen zur Stärkung des Gesundheitsschutzes und des Gesund­

heitssystems und zur Begrenzung der Folgen für Wirtschaft, Unterneh­

men und Beschäftigte in Höhe von rund 122,5 Mrd. und zur Deckung der

geringeren Steuereinnahmen von 33,5 Mrd. Euro als ursprünglich im

Haushalt 2020 geplant war eine (erste) Neuverschuldung von 156 Mrd.

Euro erforderlich, die der Bundestag mit dem Nachtragshaushaltsgesetz

2020 vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 556) beschlossen hat. Für das Kon­

junktur- und Krisenbewältigungspaket, mit dem die Wirtschaft aus der

14 https://1.eitung. fa1..net/fazh irtschaft/2020-04-0 J /93 9 J 509cd5 I a83c5ttl4bcc6bcddfü0a'?OEPC=s5, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.

15 hups://www.bundcstinanzministerium.d Contcn DE/Pr�. emilteilungen/Finanzpoli­tik/2020/01/2020 01 13-PMO 1 Abschluss BHH2019.html: jscssio-nid=4EAD8904F5389BB7 A8444305C316DOD4.deliverv2-rep1ication, zuletzt abgerufen am 21. Au­gust 2020.

16 https://www-gencsis.dcstatis.d genesi onlinc?operation=abruftabelleBcarbeiten&le clind x= l &le­vel id= 15980070 l 2299&au. wah loperat ion=abruftabelleAuspraegungAu wachlcn&auswahlven.:eich­ni -ordnungssrruktur&auswahlziel=wcrteabruf&code=71211-0001 ·auswahltcxt=&werteabruf.=Wer­teabrufflabreadcrumb, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.

17 lmps://www.bundesfinan2ministerium.d Conrent/DE/Presscmitteilungen/Finanzpoli­tik/2020/01 /2020 01 13 PMOI Abschluss BHH2019Jnml:jse io-nid=4EAD8904F5389BB7 A8444305C316DOD4.delivery2-replication. zuletzt abgerufen am 21. Au­gust 2020.

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Krise geführt und in Schwung gebracht werden soll, unter anderem durch

die befristete Absenkung der Mehrwertsteuer, einen Kinderbonus und

Existenzsicherungen für kleine und mittlere Unternehmen, hat der Bun­destag das zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2020 vom 14. Juli 2020

(BGBl. I S. 1669) beschlossen.

51. Die Nettokreditaufnahme beläuft sich nunmehr auf rund 217,8 Mrd.

Euro. Die nach der Schuldenbremse zulässige Obergrenze der Verschul­dung wurde damit um rund 118, 7 Mrd. Euro überschritten. Die Über­schreitung war aufgrund der außergewöhnlichen Notsituation durch die

Corona-Pandemie erforderlich, wie der Bundestag mit Beschlüssen ge­mäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG feststellte. Mit den Beschlüssen

hat der Bundestag zugleich einen Tilgungsplan für die sogenannten

Corona-Notfallkredite aufgelegt. Ab dem Bundeshaushalt 2023 wird der

Bund die Kredite über 20 Jahre in Höhe von jeweils 1/20 des die zuläs­

sige Verschuldung übersteigenden Betrages der Kreditaufnahme zurück­führen (vgl. den Antrag der Koalitionsfraktionen BTDrucks 19/18108

und BTDrucks 19/20128).

52. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte für den zweiten Nachtragshaushalt

mit konkreten Anträgen aufgezeigt, wie eine erneute Überschreitung dernach der Schuldenbremse zulässigen Obergrenzen vermieden und rück­wirkend für 2020 auf die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag ver­

zichtet werden könnte. Wir verweisen hierzu auf die Beschlussempfeh­lung des Haushaltsausschusses (BTDrucks 19/20601, S. 12).

b) Haushalte der Länder und Kommunen

53. Die COVID-19-Pandemie spiegelt sich nicht nur im Bundeshaushalt wi­der. Auch die Haushalte der Länder und Kommunen sind bereits undwerden noch stark belastet.

54. Wie der Bund haben die Länder Schutzschirme bzw. Soforthilfepro­gramme zur Unterstützung der Wirtschaft aufgelegt. Die Länder nutzen

verschiedene Wege, um auf die zusätzlichen Mittel zurückzugreifen.

Manche Länder haben die Soforthilfen in einem Nachtragshaushalt ver­

bucht, andere Länder haben die Regierungen ermächtigt, auf einen Ret­tungsschirm in bestimmter Höhe zurückzugreifen und hiermit erst im

Haushaltsvollzug 2020 den Haushalt zu belasten. Einige Länder wieThüringen greifen zudem auf in den letzten Jahren angesparte Rücklagenzurück. Mehrere Länder wie NRW, Bayern oder Niedersachsen habenbereits einen zweiten Nachtragshaushalt beschlossen oder beraten wieRheinland-Pfalz derzeit darüber. Die zusätzlichen Mittel der Länder zur

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Bekämpfung der Corona-Pandemie stellen sich mit Stand 19. Au­

gust 2020 exemplarisch wie folgt dar, im Übrigen verweisen wir auf die

als Anlage Bf 2 beigefügte Übersicht „Zusätzliche Mittel der Länder zur

Bekämpfung der Corona-Pandemie", Stand 19. August 2020):

- Das Land Bayern hat zwei Nachtragshaushalte in Höhe von insge­

samt 20,0 Mrd. Euro beschlossen und stellt zusätzlich 40,0 Mrd. Euro

für Bürgschaften und Kredite zur Verfügung.

- Das Land Niedersachsen hat ein Gesamtpaket von 8,4 Mrd. Euro ge­

schnürt, davon 7,8 Mrd. Euro über einen Nachtragshaushalt.

Das Land Nordrhein-Westfalen stellt in zwei Nachtragshaushalten

insgesamt rund 25,0 Mrd. Euro an Hilfen und rund 15 Mrd. Euro für

Bürgschaften und Kredite zur Verfügung.

55. In den Kommunen sieht es nicht anders aus: Die Einnahmen der Kom­

munen gehen infolge der Corona-Pandemie zurück, während mit zuneh­

mender Arbeitslosigkeit die Sozialausgaben ansteigen. Insbesondere die

deutlichen Ausfälle bei der Gewerbesteuer in Höhe von über 12 Mrd.

Euro laut der Steuerschätzung vom Mai 2020, ein wesentliches Finanzie­

rungsinstrument der Kommunen, führen zu deutlichen Mindereinnah­

men in den Kommunalhaushalten. Zudem drohen weitere Einnahmeaus­

fälle für Beiträge und Gebühren bei Kitas, Museen oder bei der Ab­

fallentsorgung und zusätzliche krisenbedingte Ausgaben.

56. Die skizzierten Entwicklungen bei Ländern und Kommunen zeigen, dass

die aufgrund der COVID-19-Pandemie ausgelöste veränderte Finanzlage

keineswegs speziell den Bund, sondern alle staatlichen Ebenen gleicher­

maßen trifft, so dass eine nur dem Bund zufließende Ergänzungsabgabe

etwa in Form eines „Corona-Solis" von vornherein als adäquates Instru­

ment ausscheidet (dazu weiter Rn. 155ff.).

2. Wachsende Steuerbelastung

57. Die fortdauernde Erhebung des Solidaritätszuschlags ist auch an der seit

Jahren gewachsenen Steuerbelastung zu messen (vgl. nur BWV-Gutach­ten, Tz. 6.2).

58. So merkte der Steuerrechtswissenschaftler Tipke beispielsweise Folgen­

des an (vgl. Besteuerungsmoral statt Fiskalismus, Beilage zum Steuertip

im markt intern Verlag vom 17. Juli 2009, S. 2):

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,, Von jeher waren Finanzminister und Steuerpolitiker daran in­

teressiert, die Gesamtsteuerlast niedrig erscheinen zu lassen

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1. Einkünfte der Beschwerdeführer

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62. Als Bundestagsabgeordnete erhalten die Beschwerdeführer gemäß § 11

Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deut­

schen Bundestages (Abgeordnetengesetz AbgG) eine Abgeordne­

tenentschädigung. Einzelne Beschwerdeführer erhalten darüber hinaus

eine Amtszulage nach § 11 Abs. 2 AbgG. Die Abgeordnetenentschädi­

gung wie auch die Amtszulagen sind gemäß § 22 Nr. 4 Einkommensteu­

ergesetz (EStG) als sonstige Einkünfte einkommensteuerpflichtig.

2. Solidaritätszuschlagpflicht

63. Aufgrund der Einkommensteuerpflicht müssen die Beschwerdeführer

nach§§ 1 Abs. 1, 2 Nr. 1 SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszu­

schlag-Rückführungsgesetzes den akzessorisch zur Einkommensteuer

erhobenen Solidaritätszuschlag entrichten.

64. Sowohl die Abgabepflicht der Beschwerdeführer für das Jahr 2020 als

auch für das Jahr 2021 und weitere Jahre ist Gegenstand von Vorauszah­

lungsbescheiden. Sämtliche Beschwerdeführer haben einen Vorauszah­

lungsbescheid erhalten, der die jeweilige Pflicht zur Zahlung des Solida­

ritätszuschlags festsetzt. Wir verweisen hierzu auf die als Anlagen Bf 3

bis Bf 8 beigefügten Vorauszahlungsbescheide. Mit ihren Einkünften

zählen die Beschwerdeführer zu der Gruppe der einkommensteuerpflich­

tigen Abgabepflichtigen, die nicht von der Rückführung des Solidaritäts­

zuschlags profitieren. Die Beschwerdeführer werden auch ab dem Jahr

2021 einen Solidaritätszuschlag zu leisten haben, wie sich aus den ein­

zelnen Vorauszahlungsbescheiden ergibt. Sollte die angegriffene Rege­

lung nicht für nichtig erklärt werden, hat dies mithin schwerwiegende

Folgen für die Beschwerdeführer.

C. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

65. Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m.

§§ 13 Nr. 8a, 90 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) zuläs­

sig.

I. Beschwerdegegenstand

66. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das SolzG 1995 in der

Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes, in Kraft getre­

ten am 13. Dezember 2019 (im Weiteren auch das „angegriffene Ge­

setz"). Die angegriffenen Regelungen sind als Gesetz im formellen Sinne

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ein Akt der öffentlichen Gewalt im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG und

damit tauglicher Beschwerdegegenstand.

II. Beschwerdefähigkeit und Beschwerdebefugnis

67. Die Beschwerdeführer sind als natürliche Personen beschwerdefähig im

Sinne des§ 90 Abs. 1 BVerfGG.

III. Beschwerdebefugnis und Grundsatz der Subsidiarität

68. Die Verfassungsbeschwerde gegen das SolzG 1995 in der Fassung des

Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes ist zulässig, weil die Be­

schwerdeführer schlüssig behaupten können, durch das beanstandete Ge­

setz beschwert zu sein (zur Möglichkeit der Grundrechtsverletzung nach­

folgend 1 ). Das angegriffene Gesetz ist nach Struktur und Inhalt geeig­

net, in die Grundrechte der Beschwerdeführer aus Art. 14 Abs. 1, Art. 2

Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG einzugreifen, das heißt umnittelbar eine

grundrechtlich geschützte Rechtsposition der Beschwerdeführer zu ih­

rem Nachteil zu verändern (vgl. BVerfGE 40, 141 <156>; 64, 301

<319> ). Die Beschwer der Beschwerdeführer ergibt sich zum einen aus

der unveränderten Fortführung der Solidaritätszuschlagpflicht im Jahr

2020 und zum anderen aus dem nicht vollständigen Abbau des Solidari­

tätszuschlags ab dem Jahr 2021 und dem Umstand, dass die Beschwer­

deführer zu derjenigen Gruppe der einkommensteuerpflichtigen Perso­

nen zählen, die nicht von der Rückführung des Solidaritätszuschlags pro­

fitieren.

69. Die Beschwerdeführer sind auch selbst und gegenwärtig durch das ange­

griffene Gesetz betroffen (dazu nachfolgend unter 2). Weil der Gesetz­

geber seiner Pflicht nicht nachgekommen ist, die ursprünglich verfas­

sungsgemäß eingeführte Solidaritätszuschlagpflicht aufgrund der mit

dem Auslaufen des Solidarpakts II veränderten Umstände mit Wirkung

zum 1. Januar 2020 vollständig aufzuheben, sind die Beschwerdeführer

nach wie vor verpflichtet, den Solidaritätszuschlag zu leisten.

70. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass

die Beschwerdeführer grundsätzlich Rechtsschutz vor den Fachgerichten

suchen und die auf Grundlage des angegriffenen Gesetzes mit der fort­

dauernden Solidaritätszuschlagpflicht der Beschwerdeführer ergangenen

Vorauszahlungsbescheide für das Jahr 2020 sowie das Jahr 2021 und

weitere Jahre anfechten könnten. Hierauf können die Beschwerdeführer

nicht verwiesen werden. Zwar greift der Grundsatz der Subsidiarität der

Verfassungsbeschwerde auch in Fällen umnittelbarer Betroffenheit

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durch eine Norm ein. Nach dem insoweit sinngemäß anwendbaren§ 90

Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ist jedoch eine sofortige Entscheidung über die

Verfassungsbeschwerden wegen deren allgemeiner Bedeutung geboten.

Ein Vorrang der fachgerichtlichen Inzidentkontrolle besteht vorliegend

auch deshalb nicht, weil die Anrufung der Finanzgerichte zur Klärung

rein verfassungsrechtlicher Fragen wie hier den Zweck des Subsidiari­

tätsgrundsatzes verfehlte (dazu nachfolgend 3).

1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung

a) Art. 14 Abs. 1 GG

71. Wie im Teil D I ausführlich dargelegt wird, verletzen die angegriffenen

Regelungen die Eigentumsgarantie der Beschwerdeführer.

72. Der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG ist im Fall der Pflicht zur Leis­

tung des Solidaritätszuschlags eröffnet (dazu D I 1, Rn. 115 f.). Die Ei­

gentumsgarantie kann durch gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestim­

mungen i.S.v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG verkürzt werden. Das angegrif­

fene SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­

gesetzes ist als Inhalts- und Schrankenbestimmung zu qualifizieren ( dazu

D I 2, Rn. 117).

73. Als Inhalts- und Schrankenbestimmung unterliegt das angegriffene Ge­

setz den allgemeinen für das Eigentum geltenden Eingriffsbegrenzungen,

weshalb das angegriffene Gesetz nur dann verfassungsgemäß ist, wenn

es sowohl in formeller als auch materieller Hinsicht mit dem Grundge­

setz in Einklang steht (dazu D I 3 a, Rn. 118). Das ist vorliegend nicht

der Fall. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rück­

führungsgesetzes hält sich nicht an die geltenden Eingriffsbegrenzungen.

Seit dem 1. Januar 2020 ist das Gesetz nicht mehr mit der Kompetenzor­

dnung des Grundgesetzes und den finanzverfassungsrechtlichen Rege­

lungen der Art. 105 ff. GG vereinbar (dazu D I 3 b, Rn. 119 ff.).

74. Der strikten Beachtung der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeits­

bereiche von Bund und Ländern kommt eine überragende Bedeutung für

die Stabilität der bundesstaatlichen Verfassung zu. Die Finanzverfassung

entfaltet eine auf das Vertrauen der Bürger bezogene Schutz- und Be­

grenzungsfunktion, nur in dem durch die Finanzverfassung vorgegebe­

nen Rahmen belastet zu werden, die es dem einfachen Gesetzgeber un­

tersagt, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten. Hiernach muss der

Solidaritätszuschlag die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den

Steuertyp der Ergänzungsabgabe fortwährend einhalten (dazu D I 3 b aa,

Rn. 123 ff.).

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75. In seiner Entscheidung zur Ergänzungsabgabe 1968 hielt das Bundesver­fassungsgericht fest, dass der Bundesgesetzgeber nicht berechtigt ist, un­

ter der Bezeichnung „Ergänzungsabgabe" eine Steuer einzuführen, die

den Vorstellungen widerspricht, die der Verfassungsgeber erkennbar mit

dem Charakter einer solchen Abgabe verbunden hat. Die Zulässigkeit ei­ner Ergänzungsabgabe beschränkt sich auf einen temporären besonderen

Finanzbedarf des Bundes für einen spezifischen Zweck. Hinsichtlich der

Ertragshoheit bedeutet die Einführung einer Ergänzungsabgabe eine Ver­

schiebung der Einkommensverteilung zugunsten des Bundes. Könnte derBund die Ergänzungsabgabe (zeitlich) unbeschränkt erheben, stünde ihm

die Möglichkeit offen, einseitig das verfassungsrechtliche Steuervertei­

lungssystem durch einfaches Gesetz zu ändern. Darüber hinaus würde

das Zustimmungsbedürfnis des Bundesrates zur Änderung der Einkom­

men- und Körperschaftsteuertarife ausgehebelt. Die zeitliche Begren­zung ergibt sich aus ihrer Zweckkausalität, die einen temporären aufga­

benbezogenen Mehrbedarf des Bundes finanzieren soll und kein dauer­haftes Instrument der Steuerumverteilung darstellt. Die Ergänzungsab­

gabe ist dann aufzuheben, wenn die Voraussetzungen ihrer Erhebung

entfallen, also kein zusätzlicher Finanzbedarf des Bundes für den spezi­fischen Zweck mehr festzustellen ist. Der Beurteilungs- und Einschät­

zungsspielraum des Gesetzgebers in der Frage, ob und in welchem Um­

fang der besondere Erhebungs- oder Finanzierungszweck einer vor J ah­ren eingeführten Ergänzungsabgabe noch besteht, dürfte überschritten

sein, wenn der Wegfall des besonderen Erhebungszwecks angesichts der

Änderung der Verhältnisse „eindeutig und offensichtlich feststeht". Mit

zunehmendem zeitlichen Abstand wächst die Rechtfertigungslast für denFortbestand der Ergänzungsabgabe (dazu D I 3 b bb, Rn. 126 ff.).

76. Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 ist mit dem Ende des Solidarpakts

II zum 31. Dezember 2019 verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfer­tigen. Zwischen dem Solidaritätszuschlag und den Solidarpakten I und II

besteht unstreitig eine Verbindung, weil die Legitimation der Einführung

des streitgegenständlichen Solidarzuschlags ausschließlich in dem zu­

sätzlichen Finanzbedarf des Bundes im Rahmen der Wiedervereinigung

gelegen hat. Der neue Finanzausgleich weist ab dem Jahr 2020 keine

Sonderbedarfe für die neuen Länder mehr aus, sondern bildet eine finanz­

verfassungsrechtliche Normallage ab. Nach der Entscheidung des Bun­desfinanzhofs über die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlagsim Veranlagungszeitraum 2007 ist der Solidaritätszuschlag zwar im Jahr1995 verfassungskonform eingeführt worden. Dieser Zustand steht abernicht fest und kann sich im Laufe der Jahre ändern, wie insbesondere im

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Hinblick auf das Auslaufen des Solidarpakts II Die Änderung der Ver­hältnisse steht mit dem Auslaufen des Solidarpakts II im Sinne der Rechtsprechung „evident" bzw. ,,eindeutig und offensichtlich" fest. Die

unbefüstete Fortführung des Solidaritätszuschlags über den 31. Dezem­ber 2019 hinaus ist nicht gerechtfertigt, weil es seitdem an dem spezifi­

schen Finanzbedarf des Bundes fehlt, zu dessen Deckung das angegrif­fene Gesetz erlassen und die Abgabe eingeführt wurde ( dazu D I 3 b cc,

Rn. 146 ff.).

77. Auch eine Umwidmung des Solidaritätszuschlags für andere Haushalts­zwecke als die Finanzierung der Wiedervereinigung ist verfassungsrecht­lich nicht vertretbar. Im Ergebnis würde mit der Umwidmung eine neueErgänzungsabgabe eingeführt, deren verfassungsrechtliche Rechtferti­gung allerdings nicht gegeben ist. Eine explizite Umwidmung ist nicht

erfolgt. Eine implizite Umwidmung wäre unzulässig. Ein „Corona-Soli"kommt nicht in Betracht (dazu D I 3 b dd, Rn. 154 ff.).

78. Den Vortrag der Beschwerdeführer als richtig unterstellt, kann die hie­sige Verfassungsbeschwerde aufgrund der möglichen Verletzung der Ei­

gentumsgarantie der Beschwerdeführer erfolgreich sein.

b) Art. 2 Abs. 1 GG

79. Wie im Teil D II (Rn. 163 ff.) ausführlich dargelegt wird, verletzen die

angegriffenen Regelungen die allgemeine Handlungsfreiheit der Be­schwerdeführer.

80. Zur Handlungsfreiheit zählt das Grundrecht des Bürgers, nur auf Grundsolcher Rechtsvorschriften zur Steuer herangezogen zu werden, die for­mell und materiell der Verfassung gemäß sind und deshalb zur verfas­sungsmäßigen Ordnung gehören. Die Beschwerdeführer können geltendmachen, ein ihre Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht

zu verfassungsmäßigen Ordnung, weil es gegen einzelne Verfassungsbe­stimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße. Das an­gegriffene Gesetz verstößt gegen die Art. 105 ff. GG und stellt daher ei­nen ungerechtfertigten Eingriff auch in die allgemeine Handlungsfreiheitder Beschwerdeführer dar.

81. Die hiesige Verfassungsbeschwerde kann danach auch wegen der mög­lichen Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit der Beschwerde­führer erfolgreich sein.

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c) Art. 3 Abs. 1 GG

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82. Wie im Teil D III (Rn. 166 ff.) ausführlich dargelegt wird, verletzen die

angegriffenen Regelungen für den Zeitraum ab dem Jahr 2021 schließ­

lich den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG.

83. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­

gesetzes muss auch sonst in jeder Hinsicht verfassungsgemäß sein und

insbesondere den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG be­

achten. Das ist allerdings nicht der Fall. Das angegriffene Gesetz miss­

achtet den allgemeinen Gleichheitssatz zu Lasten der Beschwerdeführer.

Vor dem Gleichheitssatz hat die Ungleichbehandlung der von der Soli­

daritätszuschlagpflicht Betroffenen im Vergleich zu den hiervon ausge­

nommenen Personen keinen Bestand. Ein vernünftiger, aus der Sache o­

der sonst sachlich einleuchtender Grund dafür, dass nur ein Teil der bis­

her nach dem SolzG 1995 abgabepflichtigen Personen weiterhin den So­

lidaritätszuschlag zahlen müssen, während andere vormals Abgabe­

pflichtigen befreit werden, ist nicht ersichtlich. Von einem „solidari­

schen finanziellen Opfer aller Bevölkerungsgruppen" ( dazu oben Rn. 18)

kann nicht mehr die Rede sein. Bei der Prüfung anhand des Gleichheits­

satzes ist von einer strengeren Bindung des Gesetzgebers auszugehen.

Denn die Ungleichbehandlung wirkt sich nachteilig auf die Ausübung

grundrechtlich geschützter Freiheiten aus (dazu D III 1, Rn. 168 ff.)).

84. Die hiesige Vergleichsgruppe sind alle nach dem Einkommensteuerge­

setz abgabepflichtigen Personen. Innerhalb dieser Personengruppe er­

folgt durch die selektive Abschaffung des Solidaritätszuschlags eine un­

gleiche Belastung bestimmter Abgabepflichtiger ( dazu D III 2 a,

Rn. 171 ff.).

85. Die fortdauernde selektive hohe Belastung eines gewissen Teils der nach

dem Einkommensteuergesetz abgabepflichtigen Personen gegenüber ei­

ner vollständigen Entlastung eines anderen Teils der Einkommensteuer­

pflichtigen ist willkürlich (dazu D III 2 b, Rn. 175 ff.). Die vom Gesetz­

geber zur Differenzierung nach dem Einkommen herangezogenen Krite­

rien der steuerlichen Umverteilung sind nicht zur Rechtfertigung geeig­

net. Erstens ist das Instrument der Freigrenze ungeeignet. Der Gesetzge­

ber kann sich nicht auf die Vermeidung eines erheblichen Verwaltungs­

mehraufwands berufen. Zweitens hat der Gesetzgeber eine unsachge­

mäße Begründung herangezogen. Ausweislich der Gesetzesbegründung

wird die selektive Entlastung vorrangig von sozialpolitischen Erwägun­

gen mit Lenkungszweck getragen. Während die Ergänzungsabgabe 1968

schon mit einer sozialen Zielsetzung eingeführt worden war, diente der

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Solidaritätszuschlag dazu, einen konkreten Finanzbedarf des Bundes zu decken. Die Zielsetzung legt als solche keinerlei besondere Differenzie­rung zwischen den Steuerpflichtigen nahe. Der Solidaritätszuschlag mu­tiert folglich in verfassungswidriger Weise vom Mittel zur Mehrbedarfs­deckung und „solidarischen finanziellen Opfer aller Bevölkerungsgrup­

pen" zu einem Mittel zur Herstellung sozialpolitisch motivierter Vertei­

lungsgerechtigkeit und im Ergebnis zu einer Reichensteuer. Drittens fehlt es an einer folgerichtigen Belastungsentscheidung. Durch die deutliche Anhebung der Freigrenze wird der steuerliche Tarifverlauf verschoben und die ursprüngliche Belastungsentscheidung nicht folgerichtig umge­

setzt. Eine Intervention, die das Steuerrecht in den Dienst außerfiskali­scher Verwaltungsziele stellt, setzt eine erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers voraus, mit dem Instrument der Steuer auch andere als bloße Ertragswirkungen erzielen zu wollen sein. Daran fehlt es vorlie­gend.

86. Die hiesige Verfassungsbeschwerde kann danach schließlich auch wegender möglichen Verletzung der Beschwerdeführer in Art. 3 Abs. 1 GG er­folgreich sein.

2. Gegenwärtige Selbstbetroffenheit

87. Die Beschwerdeführer sind durch das angegriffene Gesetz selbst und ge­genwärtig betroffen.

88. Die Beschwerdeführer sind durch die angegriffenen Regelungen selbstbetroffen, weil sie Adressaten der Normen sind und sich hieraus Pflichtenfür die Beschwerdeführer ergeben (vgl. BVerfGE 102, 197 <206f.>; 140,42 <57>). Die Beschwerdeführer gehören zu der nach §§ 1 Abs. 1, 2Nr. 1 SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückfüh­rungsgesetzes aufgrund ihrer Einkommensteuerpflicht abgabepflichtigenPersonengruppe.

89. Die gemäß Art. 2 des Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszu­schlags 1995 am 13. Dezember 2019 in Kraft getretene Änderung desSolidaritätszuschlaggesetzes 1995 sieht für die Beschwerdeführer eineüber den 31. Dezember 2019 fortdauernde Abgabenpflicht vor. Die Be­troffenheit der Beschwerdeführer ist gegenwärtig, das heißt schon undnoch vorhanden, weil die angegriffenen Regelungen in Kraft sind undaktuell im Jahr 2020 und auch darüber hinaus in Form der Solidaritäts­zuschlagpflicht auf die Rechtsstellung der Beschwerdeführer einwirken(vgl. BVerfGE 114,258 <277>; 140, 42 <57f. Rn. 58f.>). Die Betroffen-

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heit der Beschwerdeführer ist sowohl in Bezug auf die unveränderte Fort­

führung der Solidaritätszuschlagpflicht im Jahr 2020 und als auch in Be­

zug auf den nicht vollständigen Abbau des Solidaritätszuschlags ab dem

Jahr 2021 gegenwärtig. Wie sich aus den Vorauszahlungsbescheiden für

das Jahr 2020 sowie das Jahr 2021 und weitere Jahre ergibt, fallen die

Beschwerdeführer nicht unter die jeweils geltenden Freigrenzen des § 3

Abs. 3 SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückfüh­

nmgsgesetzes und sind demnach auf Dauer abgabepflichtig.

90. Das Erfordernis, es müsse klar abzusehen sein, dass und wie die Be­

schwerdeführer von dem angegriffenen Gesetz betroffen sind oder sein

werden (BVerfGE 102, 197 <207>; 114, 258 <277f.>), ist vorliegend

auch in Bezug auf die Abgabepflicht ab dem Jahr 2021 gegeben. Ange­

sichts der jeweils gegenüber den Beschwerdeführern finanzbehördlicher­

seits festgesetzten Vorauszahlungen (Anlagen Bf 3 bis Bf 8) kann nicht

die Rede davon sein, dass allein die vage Aussicht besteht, dass die Be­

schwerdeführer irgendwann einmal in Zukunft von der beanstandeten

Regelung betroffen sein könnten (BVerfGE 140, 42 <58>). Die Voraus­

zahlungsbescheide legen vielmehr bereits heute ganz konkret für im Ein­

zelnen genannte Termine eine der Höhe nach ausgewiesene Zahlungs­

pflicht der Beschwerdeführer fest, was die Gegenwärtigkeit der Betrof­

fenheit begründet (vgl. BVerfGE 114,258 <278f.>).

3. Keine Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde

91. Die Beschwerdeführer können nicht darauf verwiesen werden, die auf­

geworfenen verfassungsrechtlichen Fragen im Rechtsweg vor den Fach­

gerichten klären zu lassen, indem sie die auf Grundlage des angegriffe­

nen Gesetzes mit der fortdauernden Solidaritätszuschlagpflicht der Be­

schwerdeführer ergangenen Vorauszahlungsbescheide für das Jahr 2020

sowie das Jahr 2021 und weitere Jahre anfechten. Zwar greift der Grund­

satz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch in Fällen unmit­

telbarer Betroffenheit durch eine Norm ein (vgl. BVerfGE 74, 69 <74>).

Nach dem insoweit sinngemäß anwendbaren § 90 Abs. 2 Satz 2 BVer­

fGG ist vorliegend jedoch eine sofortige Entscheidung über die Verfas­

sungsbeschwerden wegen deren allgemeiner Bedeutung geboten ( dazu

a). Darüber hinaus verfehlte die Anrufung der Finanzgerichte zur Klä­

rung rein verfassungsrechtlicher Fragen wie hier den Zweck des Subsi­

diaritätsgrundsatzes ( dazu b ).

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a) Allgemeine Bedeutung

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92. Nach dem sinngemäß anwendbaren§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ist eineEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegend möglich, weilder Verfassungsbeschwerde allgemeine Bedeutung zukommt (vgl.BVerfGE 90, 128 <136f.>). Die Verfassungsbeschwerde ist von allge­meiner Bedeutung, da sie die Klärung grundsätzlicher verfassungsrecht­licher Fragen erwarten lässt, die weitreichende Auswirkungen haben(vgl. BVerfGE 19,268 <273>; 93,319 <338>; 108, 370 <386>). Mit derEntscheidung über den Fall der Beschwerdeführer hinaus würden zu­gleich zahlreiche gleich gelagerte Fälle anderer abgabenpflichtiger Per­sonen faktisch mitentschieden (vgl. BVerfGE 19, 268 <273>; 108, 370<386>).

93. Die hiesige Verfassungsbeschwerde lässt die Klärung grundsätzlicherverfassungsrechtlicher Fragen erwarten. Die mit der Verfassungsbe­schwerde aufgeworfenen Fragen betreffen die über das Auslaufen desSolidarpakts II am 31. Dezember 2019 fortdauernde und ab dem Jahr2021 selektive Erhebung des Solidaritätszuschlags als Ergänzungsab­gabe und damit die in der grundlegenden Entscheidung des BVerfG ausdem Jahr 1972 noch offengelassene Frage nach der Verfassungsmäßig­keit der Ergänzungsabgabe nach evidentem Wegfall der Voraussetzun­gen der Erhebung der Abgabe (vgl. BVerfGE 32, 333 <343>). Mit demWegfall der zuletzt auf den Solidarpakt II zurückzuführenden Mehraus­gaben des Bundes ist diese Situation nun eingetreten. So erkennt auchder Bundesrechnungshof in seinem Gutachten an, dass der für die Recht­fertigung einer Ergänzungsabgabe außergewöhnliche Finanzierungsbe­

darf gegenwärtig nicht besteht (vgl. BWV-Gutachten, S. 17f., 21 ). So­wohl die Frage, welche Anforderungen an die Änderung der Verhältnissezu stellen sind, die für die Einführung der Ergänzungsabgabe maßgebendwaren, als auch die Frage, ob sich ein verfassungsrechtlicher Zwang zurAufhebung einer zeitlich unbefristet geregelten Ergänzungsabgabeergibt, ist verfassungsrechtlich nicht geklärt. Darüber hinaus sind Fragender finanzverfassungsrechtlichen Verteilungsgerechtigkeit betroffen, diein der Öffentlichkeit stark umstritten sind, und denen die Frage hinsicht­lich der Ausgestaltung und Legitimation der Ergänzungsabgabe nachArt. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG zugrunde liegt, konkret die Frage, ob die Se­lektivität der Entlastung vom Solidaritätszuschlag mit Blick auf ihre Be­gründung und ihre Auswirkungen in der Kumulation mit der Einkom­mensteuer verfassungsrechtlich haltbar ist.

94. Von der Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungensind nicht nur die Beschwerdeführer betroffen, sondern im Jahr 2020

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rund 37,4 Mio. und ab 2021 rund 3,7 Mio. einkommensteuerpflichtige

Personen (vgl. IW-Gutachten, S. 10) und damit eine Vielzahl an Perso­

nen (vgl. BVerfGE 25, 236 <246>). Eine Entscheidung des Bundesver­

fassungsgerichts würde die Zulässigkeit der Erhebung des Solidaritäts­

zuschlags über den 31. Dezember 2019 hinaus und ab dem Jahr 2021 in

der Form der selektiven Erhebung insgesamt klären. Würde die Zuläs­

sigkeit der fortdauernden (und selektiven) Erhebung des Solidaritätszu­

schlags im Ergebnis verneint, würde dies die Fortexistenz der Abgabe

nicht bloß in Frage stellen, sondern ausschließen.

b) Zweck des Subsidiaritätsprinzips verfehlt

95. Die Verpflichtung, zunächst Rechtsschutz vor den Fachgerichten zu su­

chen, besteht nicht, wenn der Zweck, eine fachgerichtliche Vorklärung

der verfassungsrechtlich relevanten Sach- und Rechtsfragen herbeizu­

führen, nicht erreicht werden kann, oder die Anrufung der Fachgerichte

offensichtlich sinn- und aussichtslos wäre (vgl. BVerfGE 79, 1 <20>; 90,

128 <136ff.>; 97, 157 <165>). Die Anrufung der Fachgerichte ist ferner

unzumutbar, wenn die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffe­

nen Norm allein von der Beurteilung verfassungsrechtlicher Fragen ab­

hängt (vgl. BVerfGE 68, 319 <326f.>). Dies ist vorliegend der Fall.

96. Erstens ergibt sich die Unzumutbarkeit der Ausschöpfung des Rechts­

wegs vorliegend daraus, dass es ausschließlich um die Beurteilung ver­

fassungsrechtlicher Fragen geht (dazu aa). Zweitens ist die Erschöpfung

des Rechtswegs im Hinblick auf den Sinn des Subsidiaritätsprinzips nicht

geboten, um eine vorherige Klärung tatsächlicher oder rechtlicher Fragen

durch die Fachgerichte zu gewährleisten (dazu bb).

aa) Ausschließlich verfassungsrechtliche Fragen

97. Die Unzumutbarkeit der Ausschöpfung des Rechtswegs ergibt sich dar­

aus, dass es ausschließlich um die Beurteilung verfassungsrechtlicher

Fragen geht. Die Verfassungsbeschwerde wirft allein spezifische Fragen

des Finanzverfassungsrechts auf, die im Ergebnis nur das Bundesverfas­

sungsgericht beantworten kann, ohne dass von einer vorherigen fachge­

richtlichen Prüfung verbesserte tatsächliche oder rechtliche Entschei­

dungsgrundlagen zu erwarten wären ( dazu sogleich bb ). Die vorherige

Ausschöpfung des Rechtswegs wäre den Beschwerdeführern hiernach

im Hinblick auf einen in zeitlicher und tatsächlicher Hinsicht effektiven

Rechtsschutz nicht zumutbar (vgl. BVerfGE 123, 148 <172 f.>; 138, 261

<272 Rn. 23>).

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bb) Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips

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98. Eine vorherige Anrufung der Fachgerichte ist vorliegend nach Sinn und

Zweck des Subsidiaritätsgrundsatzes entbehrlich, weil der damit ver­

folgte Zweck, eine tatsächliche Aufklärung und die Klärung einfach­

rechtlicher Fragen durch die Fachgerichte herbeizuführen, nicht erreicht

werden kann (vgl. BVerfGE 79, 1 <20>; 90, 128 <138>; 150, 309

<326>).

99. Bei der Frage, ob und nachrangig in welcher Höhe die Beschwerdeführer

über das Jahr 2019 hinaus solidaritätszuschlagpflichtig sind und sein dür­

fen, stellen sich keine tatsächlichen Fragen, die einer Aufklärung durch

die Fachgerichte bedürfen und ihr zugänglich sind. Die angegriffenen

Regelungen bestimmen keinerlei tatsächliche Anforderungen an die Zu­

lässigkeit der Erhebung des Solidaritätszuschlags außerhalb des Einkom­

mensnachweises und des Familienstands, die die Fachgerichte aufklären

könnten.

100. Auch werfen die angegriffenen Regelungen keine einfachrechtlichen

Fragen auf, deren Klärung durch die Fachgerichte für das Bundesverfas­

sungsgericht nach Sinn und Zweck des Subsidiaritätsgrundsatzes sinn­

voll oder hilfreich wäre. Art. 1 des Gesetzes zur Rückführung des Soli­

daritätszuschlags 1995 enthält im Hinblick auf die hier streitgegenständ­

liche Frage weder subsumtionsbedürftige unbestimmte Rechtsbegriffe

des einfachen Rechts noch Ermessens- oder Beurteilungsspielräume, de­

ren Klärung durch eine vorherige Befassung der Fachgerichte befördert

werden könnte (vgl. BVerfGE 150, 309 <327>). Die in den fachgericht­

lichen Verfahren gegebenen Möglichkeiten können vorliegend also nicht

zu einer Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung beitra­

gen, ohne dass eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG erfolgen

müsste (vgl. BVerfGE 114, 1 <32>). Soweit tatsächliche oder rechtliche

Fragen von Bedeutung sind, betreffen sie die Entscheidungsgrundlagen

und die Einschätzung des parlamentarischen Gesetzgebers, über die ein­

zig das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden berufen ist (vgl. BVer­fGE 90, 128 <138>; 150,309 <327>).

101. Im Übrigen ist es ferner gut möglich, dass ein (angenommener) Vorrang

des fachgerichtlichen Rechtsschutzes vorliegend das Subsidiaritätsprin­

zip in sein Gegenteil verkehren würde. Sofern sich das Bundesverfas­

sungsgericht mit einer Vielzahl fachgerichtlicher Entscheidungen im

Rahmen von Urteilsverfassungsbeschwerden der Solidaritätszuschlag­zahler oder einer Vielzahl von Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG

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auseinandersetzen müsste, würde es nicht entlastet, sondern einem Ent­

scheidungsdruck ausgesetzt (vgl. BVerfGE 65, 1 <38>).

102. Die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes hätte vorliegend also

keine Entlastungswirkung zur Folge, sondern würde zum Gegenteil des

angestrebten Ziels führen.

103. Die Verzögerung hätte darüber hinaus zur Folge, dass Jahr für Jahr ein

milliardenschwerer Betrag aus den Einnahmen der verfassungswidrigen

Abgabe auflaufen würde, den der Bund nach einer Entscheidung des

Bundesverfassungsgerichts in der ohnehin schon angespannten Haus­

halts- und Finanzlage erstatten müsste. Wie ausgeführt (oben Rn. 7, 25),

erwartet der Bund bis zum Ende der aktuellen Finanzplanung (Haushalt

2023) Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag in Höhe von insgesamt

54,2 Mrd. Euro, über denen das Damoklesschwert der Erstattung

schwebt zuzüglich der nicht unerheblichen auflaufenden Zinsen. Die

drohende Milliarden-Erstattung wiegt besonders schwer, wenn man be­

rücksichtigt, dass der Bund die Corona-Notkredite ab dem Bundeshaus­

halt 2023 über 20 Jahre in jährlichen Tranchen zurückführen wird (oben

Rn. 50f.). Durch eine unmittelbare verbindliche Entscheidung durch das

Bundesverfassungsgericht könnte eine jahrelange Phase der Unsicherheit

für den Haushaltsgesetzgeber vermieden und das Problem der Erstattun­

gen möglichst kleingehalten werden.

104. Es bleibt festzuhalten, dass eine frühe verfassungsgerichtliche Klärung

der mit der Beschwerde aufgeworfenen Fragen im Zuge der Corona-Pan­

demie noch wichtiger geworden ist und keinen Aufschub durch eine vor­

herige Anrufung der Finanzgerichte duldet.

IV. Rechtswegerschöpfung

105. Es liegen die Voraussetzungen vor, unter denen der Senat gemäß § 90

Abs. 2 Satz 2 BVerfGG sofort entscheiden kann (dazu oben Rn. 91ff.).

V. Frist

I 06. Die Jahresfrist gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG zur Erhebung der Verfas­

sungsbeschwerde ist gewahrt. Das Gesetz zur Rückführung des Solidari­

tätszuschlags 1995 (Änderung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995)

vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2115) ist nach dessen Art. 2 am

13. Dezember 2019 in Kraft getreten. Die Jahresfrist läuft noch.

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107. Dies gilt auch hinsichtlich der Regelungen des SolzG 1995, die durch dasGesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 unverändert ge­

blieben sind. Es ist vom Gericht anerkannt, dass die Beschwerdefrist er­

neut in Gang gesetzt wird, wenn sich durch die Änderung des Gesetzes

ein neuer Inhalt ergibt (vgl. BVerfGE 11, 351 <359f.>; 100, 313 <356> ).

Das ist durch die drastische Veränderung der Freigrenzen der Fall, dasich hiermit auch die Belastung für die Bürgerinnen und Bürger verän­

dert und neue grundrechtliche Problemlagen, insbesondere im Hinblick

auf Art. 3 Abs. 1 GG ergeben.

108. Die Jahresfrist ist auch hinsichtlich der Regelungen des SolzG 1995 ge­

wahrt, soweit sie Grundlage für die Erhebung des Solidaritätszuschlags

im Veranlagungszeitraum 2020 sind, auch wenn die zugrundliegenden

Rechtsgrundlagen durch das Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszu­

schlags 1995 nicht verändert worden sind:

109. Der Bundesgesetzgeber hat erstens die Regelungen in seinen Willen auf­

genommen und im Dezember 2019 erneut eine politische Entscheidung

über die Rechtfertigung der Ergänzungsabgabe getroffen (auch wenndiese aus Sicht der Beschwerdeführer verfassungsrechtlich unzureichend

ist, vgl. BTDrucks 19/14103, S. 1). Damit verbunden hat er die bewussteEntscheidung getroffen, den Solidaritätszuschlag erst ab dem 1. Januar

2021 nicht mehr in gleichem Umfang zu erheben. Dabei hat er sich be­wusst dafür entschieden, diese Änderung nicht bereits auf den Veranla­

gungszeitraum 2020 anzuwenden. Diese Entscheidung und die Verringe­rung des Solidaritätszuschlags für die Veranlagungszeiträume ab 2021lassen sich nicht voneinander trennen, weil sie auf einer einheitlichen ge­

setzgeberischen Bewertung und Gesamtkonzeption beruhen.

110. Zweitens trifft den Gesetzgeber hinsichtlich des Veranlagungszeitraums

2020 (wie auch der folgenden Veranlagungszeiträume) ein echtes Unter­

lassen. Er hat es unterlassen, seine verfassungsrechtliche Pflicht zu erfül­len, die Rechtfertigung einer Ergänzungsabgabe stetig zu beobachten und

bei einem Wegfall der Rechtfertigung die Ergänzungsabgabe wieder ab­

zuschaffen. Diese Pflicht ergibt sich aus den verfassungsrechtlichen Vo­raussetzungen zur Rechtfertigung einer Ergänzungsabgabe, die nur demzeitlich begrenzten Ausgleich von Ausgabenspitzen dient und nicht der

dauerhaften Finanzierung des Bundeshaushalts. Sie ist daher auch nichtauf andere Konstellationen übertragbar. Seine Pflicht zur Aufhebung desSolidaritätszuschlags hat der Gesetzgeber spätestens mit dem Auslaufen

des Solidarpakts II durch Unterlassen evident verletzt, weil aufgrund ei­ner veränderten Sachlage eine Aufrechterhaltung der Ergänzungsabgabeunhaltbar geworden ist (vgl. BVerfG (K) BeckRS 2010, 47502 Rn. 20

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m.w.N.; zum Wegfall der Rechtfertigung des Solidaritätszuschlags siehe

Rn. 146ff.). Im Falle eines echten Unterlassens ist die Beschwerdefrist

nach § 93 Abs. 3 BVerfGG nicht anzuwenden (BVerfG (K) BeckRS

2010, 47502 Rn. 13). Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber es auch unter­

lassen hat, zumindest den Weg zum vollständigen Abbau der Ergän­

zungsabgabe festzulegen. Er hat lediglich eine Rückführung begonnen,

deren Ende weder festgelegt noch absehbar ist.

111. Drittens stellt sich die Fortführung des Solidaritätszuschlags im Veran­

lagungszeitraum 2020 aus Sicht der Beschwerdeführer als implizite Än­derung der Einkommensteuer dar. Auch dieser neue Inhalt hat die Jah­

resfrist erneut in Gang gesetzt.

D. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

112. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Das SolzG 1995 in der

Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes verletzt die Be­

schwerdeführer in ihren Grundrechten der Eigentumsfreiheit aus Art. 14

Abs. 1 GG ( dazu I) und der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2

Abs. 1 GG ( dazu II) und missachtet den allgemeinen Gleichheitssatz ge­mäß Art. 3 Abs. 1 GG (dazu III). Das SolzG 1995 in der Fassung des

Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes verstößt auch gegen Art. 6

Abs. 1 GG sowie das Gebot horizontaler Steuergerechtigkeit aus Art. 3

Abs. 1 GG ( dazu IV).

113. Der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung äußerte

in seinem Gutachten über den Abbau des Solidaritätszuschlags zutref­fend den Schluss, dass der teilweise Fortbestand des Solidaritätszu­

schlags hohen verfassungsrechtlichen Risiken unterliegt und die Gefahr,

dass der Bund wie im Fall der Kembrennstoffbesteuerung zu einer mil­

liardenschweren Steuerrückzahlung verurteilt wird, nicht von der Hand

zu weisen sei (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 04).

I. Art. 14 Abs. 1 GG

114. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­gesetzes verletzt die Beschwerdeführer in ihrer Eigentumsgarantie aus

Art. 14 Abs. 1 GG.

1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie

115. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfasst die Ei­

gentumsgarantie alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten

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von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit

verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu

seinem privaten Nutzen ausüben darf (vgl. BVerfGE 115, 97 <110 f.>).

Die Steuerbelastung fällt in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie.

Die Einkommensteuer ist als Beeinträchtigung konkreter subjektiver

Rechtspositionen zu qualifizieren. Weil die Abgabenpflicht an den Er­

werb vermögenswerter Rechtspositionen anknüpft, berührt sie die Eigen­

tumsgarantie (vgl. BVerfGE 115, 97 <111 f.> ).

116. Der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG ist auch im Fall der Pflicht zur

Leistung des Solidaritätszuschlags eröffnet (so auch BFHE 234, 250

<Rn. 41>). Der Hinzuerwerb der Eigentumspositionen innerhalb einer

Besteuerungsperiode ist tatbestandliche Voraussetzung für die Belastung

mit dem Solidaritätszuschlag. Die Beschwerdeführer müssen den Solida­

ritätszuschlag zahlen, weil und soweit ihre Leistungsfähigkeit durch den

Erwerb von Eigentum erhöht ist (vgl. BVerfGE 115, 97 <112>).

2. Eingriff in die Eigentumsgarantie

117. Die Eigentumsgarantie kann durch gesetzliche Inhalts- und Schranken­

bestimmungen i.S.v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG verkürzt werden. Das an­

gegriffene SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückfüh­

rungsgesetzes ist als Inhalts- und Schrankenbestimmung zu qualifizieren,

weil es generell und abstrakt die Pflichten der einkommensteuerpflichti­

gen Beschwerdeführer festlegt.

3. Verfassungswidrige Inhalts- und Schrankenbestimmung

a) Regelungsschranken

118. Als Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1

Satz 2 GG unterliegt das angegriffene SolzG 1995 in der Fassung des

Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes den allgemeinen für das Ei­

gentum geltenden Eingriffsbegrenzungen. Die Bestimmung des Inhalts

des Eigentumsrechts durch das angegriffene Gesetz ist nur dann verfas­

sungsgemäß, wenn es sowohl in formeller als auch materieller Hinsicht

mit dem Grundgesetz in Einklang steht (vgl. BVerfGE 14, 263 <278>;

52, 1 <27>).

b) Verfassungsrechtliche Anforderungen verfehlt

119. Bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums hat der

Gesetzgeber die Aufgabe, den Freiheitsraum des Einzelnen im Bereich

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der Eigentumsordnung und die Belange der Allgemeinheit in einen ge­

rechten Ausgleich zu bringen. Die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers

ist aber nicht schrankenlos. Eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des

Eigentums muss mit allen anderen Verfassungsnormen vereinbar sein

(vgl. BVerfGE 14,263 <278>).

120. Das ist vorliegend nicht der Fall. Das SolzG 1995 in der Fassung des

Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes hält sich nicht an die für die

Bestimmung des Inhalts des Eigentumsrechts geltenden Eingriffsbegren­

zungen:

121. Erstens wahrt das angegriffene Gesetz die Kompetenzordnung des

Grundgesetzes nicht mehr. Die bloße Teilabschaffung des Solidaritäts­

zuschlags auf die Einkommensteuer ist bei gleichzeitiger unbefristeter

Fortführung der Abgabepflicht für einen anderen Teil der Einkommen­

steuerzahler mit Ordnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion des Fi­

nanzverfassungsrechts nicht vereinbar, weil der Bund mit einem solchen

,,Dauer-Solidaritätszuschlag" einseitig das verfassungsrechtliche Steuer­

verteilungssystem durch einfaches Gesetz geändert hat. Das Zustim­

mungsbedürfuis des Bundesrates zur Änderung der Einkommen- und

Körperschaftsteuertarife (Art. 105 Abs. 3 i.V.m. Art. 106 Abs. 3 Satz 1

und 2 GG) wird hierdurch ausgehebelt (dazu Wemsmann, NJW 2018,

916 <918>).

122. Zweitens ist das Gesetz seit dem 1. Januar 2020 nicht mehr mit den fi­

nanzverfassungsrechtlichen Regelungen der Art. 105 ff. GG vereinbar.

Nachfolgend gehen wir auf die Funktion des Finanzverfassungsrechts

(unter aa) und die Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe ein (unter

bb) und stellen dar, weshalb der sachliche Grund für die fortgesetzte Er­

hebung des Solidaritätszuschlags entfallen (unter cc) und eine Umwid­

mung unzulässig ist (unter dd).

aa) Funktion des Finanzverfassungsrechts

123. Die grundgesetzliche Finanzverfassung, wie sie in den Art. 104a ff. GGzum Ausdruck kommt, bildet eine in sich geschlossene Rahmen- und

Verfahrensordnung und ist aufFormenklarheit und Formenbindung aus­

gelegt (vgl. BVerfGE 145, 171 <191 Rn. 58>). Der strikten Beachtung

der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereiche von Bund und

Ländern kommt eine überragende Bedeutung für die Stabilität der bun­

desstaatlichen Verfassung zu (vgl. BVerfGE 145, 171 <191 Rn. 59>).

Über ihre Ordnungsfunktion hinaus entfaltet die Finanzverfassung eine

Schutz- und Begrenzungsfunktion, die es dem einfachen Gesetzgeber un­tersagt, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten (vgl. BVerfGE 132,

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334 <349 Rn. 47 f.> ; 145, 171 <191f. Rn. 60>). Dieser Schutz bezieht

sich auch und vor allem auf das Vertrauen der Bürger, nur in dem durch

die Finanzverfassung vorgegebenen Rahmen belastet zu werden (vgl.

BVerfGE 132,334 <349 Rn. 48>; 145, 171 <192 Rn. 60>).

124. Der Ordnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion entsprechend besteht

eine Bindung des Gesetzgebers an den Steuertypenkatalog des

Art. 106 GG. Ein über diesen Katalog hinausgehendes allgemeines Steu­

erfindungsrecht steht dem Bundesgesetzgeber nicht zu (vgl. BVerfGE

145, 171 <194 Rn. 69>). Die einzelnen Steuern und Steuerarten sind Ty­

pusbegriffe. Zur Feststellung der Merkmale, die den betreffenden Typus

kennzeichnen, ist auf den jeweiligen Normal- oder Durchschnittsfall ab­

zustellen. Dabei sind die diejenigen Merkmale zu ermitteln, die eine

Steuer oder Steuerart nach dem herkömmlichen Verständnis typischer­

weise aufweist und die zu ihrer Unterscheidung von anderen Steuern o­

der Steuerarten notwendig sind (vgl. BVerfGE 145, 171 <193 Rn. 66>).

125. Der Solidaritätszuschlag wurde mit dem SolzG 1995 als Ergänzungsab­

gabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer eingeführt. Da­

her muss der Solidaritätszuschlag die verfassungsrechtlichen Anforde­

rungen an den Steuertyp der Ergänzungsabgabe nach Art. 106 Abs. 1

Nr. 6 GG fortwährend einhalten.

bb) Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe

126. Die Voraussetzungen an eine Ergänzungsabgabe sind stets zu wahren.

Werden die Grenzen überschritten, so ist eine derartige Abgabe (fortan)

verfassungswidrig. Die Frage, ob sich eine Weitererhebung des Solidari­

tätszuschlags in kompetenzieller Hinsicht verfassungsrechtlichen Barri­

eren ausgesetzt sieht, ist über begriffliche, historische sowie systemati­

sche Erwägungen zu beantworten (vgl. Selmer/Hummel, Der Solidari­

tätszuschlag eine unendliche Geschichte?, in: Junkernheinrich u.a.

(Hrsg.), Jahrbuch für öffentliche Finanzen. 2013, 361 <372 m.w.N.>).

127. Die Ergänzungsabgabe stellt gemäß Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG eine Er­

gänzung der Einkommen- und Körperschaftsteuer dar. Eine nähere De­

finition des Begriffs der Ergänzungsabgabe oder Voraussetzungen für

die Erhebung enthält das Grundgesetz nicht. In seiner Entscheidung zur

Ergänzungsabgabe 1968 nahm das Bundesverfassungsgericht nur frag­

mentarisch zu den Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe Stellung.

Es hielt allerdings fest, dass der Bundesgesetzgeber nicht berechtigt ist,

unter der Bezeichnung „Ergänzungsabgabe" eine Steuer einzuführen, die

den Vorstellungen widerspricht, die der Verfassungsgeber erkennbar mit

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dem Charakter einer solchen Abgabe verbunden hat. Deshalb sei die Zu­

ständigkeit des Bundes zur Einführung einer Ergänzungsabgabe als einer

besonderen Steuer vom Einkommen im Lichte des verfassungsrechtli­

chen Begriffs der Ergänzungsabgabe nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG a.F.

zu interpretieren (vgl. BVerfGE 32,333 <338>).

128. Aus dem Wesen der Ergänzungsabgabe folgt jedenfalls eine Begrenzung

in der Höhe. Die Ergänzungsabgabe muss sich in einem angemessenen

Verhältnis zur Einkommensteuer halten, um deren Aushöhlung zu ver­

meiden (vgl. BVerfGE 32,333 <338>).

129. Eine zeitliche Befristung von vornherein ist verfassungsrechtlich nicht

geboten. Eine Ergänzungsabgabe darf nicht nur für einen ganz kurzen

Zeitraum erhoben werden (vgl. BVerfGE 32, 333 <340>). Zu der Frage,

ob auch eine Erhebung über sehr lange Zeiträume von unter Umständen

mehreren Jahrzehnten, wie hier, mit dem Charakter der Ergänzungsab­

gabe vereinbar ist, äußerte sich das Bundesverfassungsgericht nicht. Ins­

besondere konnte es im damaligen Fall dahinstehen lassen,

,, ob ein verfassungsrechtlicher Zwang zur Aufhebung der [Er­

gänzungsabgabe] sich ergeben würde, wenn die Voraussetzun­

gen far die Erhebung dieser Abgabe evident entfielen, etwa weil

die dem Bund im vertikalen Finanzausgleich zufallenden Steuern

möglicherweise nach einer grundsätzlichen Steuer- und Finanz­

verfassungsreform, zur Erfallung seiner Aufgaben far die Dauer

offensichtlich ausreichen. " (BVerfGE 32, 333 <343> ).

130. Die Voraussetzungen und Grenzen einer Ergänzungsabgabe sind danach

durch Auslegung von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG zu ermitteln. Maßgeblich

müssen die Vorstellungen sein, die der Verfassungsgeber erkennbar mit

dem Charakter einer Ergänzungsabgabe verbunden hat (vgl. BVerfGE

32, 333 <338>; zur Beachtlichkeit des Gesetzgeberwillens ausführlich

Thomas Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates, S.

317 ff.). Die Auslegung des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ergibt, dass die

verfassungsgemäße Erhebung einer Ergänzungsabgabe erstens einer

sachlichen Begründung in Form eines zusätzlichen Finanzbedarfs des

Bundes erfordert (nachfolgend (1)) und sich zweitens eine zeitliche Be­

grenzung durch den Fortbestand bzw. Wegfall des sachlichen Grundes

ergibt (nachfolgend (2)). Sie ist als subsidiäres Finanzierungsinstrument

anzusehen, dem von Verfassungs wegen Ausnahmecharakter zukommt

(vgl. Seiler, in: Maunz/Dürig, GG, Stand September 2017, Lfg. 81,

Art. 106 Rn. 117). Anders ausgedrückt: Die Zulässigkeit einer Ergän-

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zungsabgabe beschränkt sich auf einen „temporären besonderen Finanz­

bedarf [des Bundes] far einen spezifischen Zweck" (so Stellungnahme Bundesrechnungshof, S. 3).

Im Einzelnen:

(1) Sachlicher Grund

(a) Historische Auslegung

131. Zur Erschließung der Reichweite der Kompetenz des Bundesgesetzge­bers, eine Ergänzungsabgabe einzuführen und aufrechtzuerhalten, ist diehistorische Verfassungsinterpretation von Bedeutung (so Kube, DStR2017, 1792 <1796>; vgl. auch Selmer/Hummel, Der Solidaritätszuschlag

eine unendliche Geschichte?, in: Junkernheinrich u.a. (Hrsg.), Jahrbuchfür öffentliche Finanzen. 2013, 361 <372ff.>).

132. Eine verfassungsgemäße Ergänzungsabgabe bedarf als sachlichen Grundeiner haushaltsrechtlichen Sondersituation in Form eines legislativ zu be­nennenden zusätzlichen konkreten Finanzbedarfs des Bundes. Ein allge­meiner Finanzierungsbedarf des Bundes ist nicht ausreichend, um die Er­hebung bzw. die Fortdauer einer Sonderabgabe auf das Einkommen alssolche zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr weitergehende, außerordent­liche und legitimierende Gründe vorliegen (vgl. Ausarbeitung WD, S. 7f.m.w.N.; Hoch, DStR 2018, 2410 <2411>).

133. Nach der Vorstellung des verfassungsändernden Gesetzgebers bezwecktdie Ergänzungsabgabe „ anderweitig nicht auszugleichende Bedarfsspit­

zen im Bundeshaushalt zu decken" (BTDrucks II/480, S. 72, Nr. 105,bereits unter Rn. 10). In der amtlichen Begründung zum parallel einge­brachten Entwurf des Ergänzungsabgabengesetzes (BT-Drs. II/484,S. 4), auf die die Begründung zum verfassungsändernden Gesetz Bezug

nimmt (s. BTDrucks II/480, S. 72, Nr. 105), ist ebenfalls davon die Rede,dem Bundesgesetzgeber solle ermöglicht werden, ohne eine Änderungder Steuersätze „ Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt" zu decken, die aufanderem Wege, insbesondere durch Senkung von Ausgaben nicht ausge­glichen werden können. Auf diese Weise werde die Abgabe, deren Erhe­bung „ keineswegs far die Dauer, sondern lediglich far Ausnahmelagen

bestimmt ist" (BT-Drs. II/484, S. 4) wesentlich zur inneren Festigung derbundesstaatlichen Finanzstruktur beitragen (vgl. Papier-Gutachten,S. 16).

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(b) Systematisch-teleologische Auslegung

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134. Das Erfordernis des sachlichen Grundes in Form eines zusätzlichen Fi­nanzbedarfs des Bundes findet seine Begründung auch im systemati­schen Normenkontext des Finanzverfassungsrechts, insbesondere 1m

bundestaatlichen Verteilungsgefüge der Steuereinnahmen.

135. Der Ordnungsrahmen des Art. 106 GG sieht hinsichtlich der Ertragsho­heit vor, dass bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer alssogenannte Gemeinschaftsteuer das Aufkommen dem Bund und denLändern je zur Hälfte zukommt (Art. 106 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG). Dem­

gegenüber steht das Aufkommen aus der Ergänzungsabgabe zur Einkom­mensteuer und zur Körperschaftsteuer allein dem Bund zu (Art. 106Abs. 1 Nr. 6 GG). Die Einführung einer Ergänzungsabgabe bedeutet des­

halb eine Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten des Bun­des. Könnte der Bund die zur Einkommen- und Körperschaftsteuer ak­zessorische Ergänzungsabgabe (zeitlich) unbeschränkt erheben, stündeihm die Möglichkeit offen, einseitig das verfassungsrechtliche Steuerver­teilungssystem durch einfaches Gesetz zu ändern. Das wäre aber mit derOrdnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion des Finanzverfassungs­rechts nicht vereinbar. Darüber hinaus würde das Zustimmungsbedürfnisdes Bundesrates zur Änderung der Einkommen- und Körperschaftsteu­ertarife (Art. 105 Abs. 3 i.V.m. Art. 106 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG) ausge­hebelt. Damit kommt der Ergänzungsabgabe im System von Verfassungswegen ein Ausnahmecharakter zu (vgl. Papier-Gutachten, S. 19f.m.w.N.). Diesen Charakter berücksichtigend sollte ein Instrument ge­schaffen werden, mit dem in begrenztem Rahmen eine elastische, der je­weiligen Konjunkturlage und dem jeweiligen Haushaltsbedarf ange­passte Finanzpolitik ermöglicht und das Steuerverteilungssystem imVerhältnis zwischen Bund und Ländern durch die Beschränkung der Not­wendigkeit einer Revision der Steuerbeteiligungsquoten gefestigt wird(vgl. BTDrucks II/480, S. 72, Nr. 105). Die Ergänzungsabgabe ist daheran konkrete Umstände zu knüpfen, die einen außerordentlichen Mehrbe­

darf allein des Bundes begründet (vgl. Hoch, DStR 2018, 2410 <2411>;ferner Papier-Gutachten, S. 19f.).

136. Zusammengefasst gilt: Der sachliche Grund muss einen Finanzbedarfauslösen, der aus den laufenden Einnahmen nicht gedeckt werden kann.Dieser Finanzbedarf darf jedoch nur vorübergehender Natur sein, wobeider Begriff „vorübergehend" einem weiten zeitlichen Spielraum unter­liegt (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 5.3; ferner Papier-Gutachten, S. 20). Derkonkrete Finanzierungsbedarf des Bundes, dem die Ergänzungsabgabe

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dient, muss nachgewiesen werden (vgl. Schwarz, in: v. Man­

goldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 106 Abs. 1 Rn. 49).

(c) Zwischenfazit

137. Die Zulässigkeit einer Ergänzungsabgabe beschränkt sich somit auf ei­

nen temporären besonderen Finanzbedarf allein des Bundes für einen

spezifischen Zweck. Der Bund darf sich kein zeitlich unbegrenztes Zu­

schlagsrecht im Bereich der Steuern vom Einkommen für seinen allge­

meinen Finanzbedarf schaffen. Dies ist im Grundgesetz nicht vorgese­

hen.

(2) Zeitliche Grenzen

138. Die Erhebung einer Ergänzungsabgabe im finanzverfassungsrechtlichen

Gesamtsystem der Steuerertragszuordnung und des bundesstaatlichen Fi­

nanzausgleichs bedarf der fortdauernden inhaltlichen Rechtfertigung

(vgl. Kube, DStR 2017, 1792 <1797>). Der fortdauernde Rechtferti­

gungsbedarf entspricht einer zeitlichen Begrenzung der Ergänzungsab­

gabe. Die zeitliche Begrenzung ergibt sich aus ihrer Zweckkausalität, die

einen temporären aufgabenbezogenen Mehrbedarf des Bundes auch

über mehrere Haushalts- und Finanzplanungsperioden finanzieren soll

und kein dauerhaftes Instrument der Steuerumverteilung darstellt. Hierin

unterscheidet sich die Ergänzungsabgabe von den auf Dauer angelegten

Steuern (vgl. BVerfGE 32, 333 <338 f.>; ferner Hidien/Tehler, StBW

2010, 458 <461>). Grund ist, dass sich der Bund anderenfalls zur De­

ckung einer längerfristigen Steigerung seines Finanzbedarfs an den Län­

dern vorbei eine Ertragsquelle schaffen und hierbei die regulären Mittel

der Erhöhung der Bundessteuern und die Anpassung der Beteiligungs­

quoten an der Umsatzsteuer umgehen könnte (vgl. Kube, DStR 2017,

1792 <1797>).

139. Eine ursprünglich verfassungskonform eingeführte Ergänzungsabgabe

kann mit Zeitablauf verfassungswidrig werden, wenn der beschriebene

Sonderbedarf dauerhaft wegfällt (vgl. Ausarbeitung WD, S. 8 m.w.N.;

Kube, DStR 2017, 1792 <1798>; Hoch, DStR 2018, 2410 <2411>

m.w.N.). Wenngleich es nicht erforderlich ist, eine Ergänzungsabgabe

von vornherein zu befristen, ist doch die Ergänzungsabgabe dann aufzu­

heben, wenn die Voraussetzungen ihrer Erhebung entfallen, also kein zu­

sätzlicher Finanzbedarf des Bundes für den spezifischen Zweck mehr

festzustellen ist (vgl. Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3,

7. Aufl. 2018, Art. 106 Abs. 1 Rn. 49; Papier-Gutachten, S. 21 ff.; Bar­

tone, Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsabgaben im

Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochum u.a. (Hrsg.), Festschrift

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für Rudolf Wendt, 2015, S. 739 <760>). Denn eine Fortführung einer Er­

gänzungsabgabe ist stets an ein Defizit im Steueraufkommen des Bundes

zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs geknüpft.

140. Geht ein ursprünglich konkret gesteigerter Mittelbedarf des Bundes über

die Zeit in einer allgemeinen Finanzlücke auf, verlangen die Ordnung der

Ertragskompetenzen und das Gleichgewicht des bundesstaatlichen Fi­

nanzausgleichs die Inanspruchnahme der strukturell nachhaltigen, regu­

lären Instrumente des bundesstaatlichen Finanzrechts, um die Lücke zu

schließen (vgl. Kube, DStR 2017, 1792 <1798> m.w.N.).

141. Mit dem Wegfall des sachlichen Grundes entfällt auch die Berechtigung

der Ergänzungsabgabe. Wird sie mit einem anderen sachlichen Grund

vorübergehender Natur unterlegt, ist ggf. eine Fortführung zulässig,

wenn tatsächlich ein neuer konkreter Mehrbedarf allein des Bundes ent­

steht, der nicht über die allgemeinen Steuereinnahmen des Bundes ge­

deckt werden kann (vgl. BVerfGE 32, 333 <341>). Allerdings darf sich

der Bund nicht auf diese Weise ein dauerhaftes Zuschlagsrecht auf die

Einkommensteuer und Körperschaftsteuer verschaffen. Es muss daher

ein die Ergänzungsabgabe rechtfertigender spezifischer Finanzbedarf be­

stehen (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 5.3).

(3) Verfassungsgerichtliche Kontrolle

142. Aus dem Ausnahmecharakter der Ergänzungsabgabe folgt, dass es zur

Gewährleistung der Ordnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion des

Finanzverfassungsrechts einer erhöhten Kontrolldichte des Bundesver­

fassungsgerichts bedarf. Insbesondere kann das Bundesverfassungsge­

richt überprüfen, ob die objektiven Erhebungsvoraussetzungen gegeben

sind.

143. Dem Gesetzgeber kommt unzweifelhaft ein Beurteilungs- und Einschät­

zungsspielraum in der Frage zu, ob und in welchem Umfang der beson­

dere Erhebungs- oder Finanzierungszweck einer vor Jahren eingeführten

Ergänzungsabgabe noch besteht. Allerdings dürfte ein solcher Beurtei­

lungs- und Einschätzungsspielraum doch überschritten sein, wenn der

Wegfall des besonderen Erhebungszwecks angesichts der Änderung der

Verhältnisse „eindeutig und offensichtlich feststeht" (BFHE 234, 250

<Rn. 25>) und durch ein objektiv bestehendes und feststellbares Ereignis

belegbar ist (vgl. Papier-Gutachten, S. 22; hierauf verweist auch Hoch,

DStR 2018, 2410 <2413>). Teilweise wird die Auffassung vertreten, es

müsse ausreichen, wenn die Änderung der Verhältnisse „erkennbar" sei

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(vgl. Bartone, Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsab­

gaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochum u.a. (Hrsg.),

Festschrift für RudolfWendt, 2015, S. 739 <756 m.w.N.>).

144. Bei der Beurteilung der Verhältnisse muss die Zeitspanne Berücksichti­gung finden, die seit der Einführung einer Ergänzungsabgabe vergangen

ist. So ist im Zeitpunkt der Einführung einer Ergänzungsabgabe ganz we­

sentlich auf die Einschätzung des Gesetzgebers abzustellen. Im weiteren

Verlauf der Zeit ist hingegen eine zunehmend genaue, auch judikative

Prüfung des fortbestehenden Vorliegens des konkreten zusätzlichen Fi­nanzbedarfs des Bundes erforderlich; zum einen, weil die legitimierende

gesetzgeberische Entscheidung weit zurückliegt, zum anderen, weil mitdem Zeitablauf eine immer stärkere tatsächliche Vermutung dafürspricht, dass der konkrete zusätzliche Finanzbedarf des Bundes nicht

mehr besteht oder in einer allgemeinen Deckungslücke aufgegangen ist(vgl. Kube, DStR 2017, 1792 <1798>). Mit zunehmendem zeitlichen Ab­

stand wächst die Rechtfertigungslast für den Fortbestand der Ergän­

zungsabgabe (vgl. Bartone, Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Er­gänzungsabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochumu.a. (Hrsg.), Festschrift für RudolfWendt, 2015, S. 739 <752 m.w.N.>).

145. Der Umstand, dass eine haushaltsrechtliche Zweckbindung des Aufkom­mens aus einer Ergänzungsabgabe nicht besteht, sondern der Grundsatzder Gesamtdeckung öffentlicher Steuereinnahmen gilt (vgl. § 7 Haus­

haltsgrundsätzegesetz), bedeutet im Übrigen nicht, dass der Bund überdie Kompetenznorm des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG das Recht erhielte, imRahmen seines Beurteilungsspielraums das fnanzverfassungsrechtliche

System der Ertragsverteilung nach seinem Belieben umzugestalten (vgl.

Papier-Gutachten, S. 22f.).

cc) Sachlicher Grund für Solidaritätszuschlag entfallen

146. Auf die Ergänzungsabgabe „Solidaritätszuschlag" angewendet, führt

dies im Ergebnis dazu, dass das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 mit demEnde des Solidarpakts II zum 31. Dezember 2019 verfassungsrechtlich

nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. Papier-Gutachten, S. 28). Die finanz­

politische und finanzverfassungsrechtliche Sonderlage einer besonderenAufbauhilfe zugunsten der neuen Länder kann als beendet betrachtet

werden (vgl. Papier, Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Ge­setzes zur Aufhebung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995, Juni 2018,

s. 4).

147. Nach Auffassung der früheren Bundesregierung sollte eine Ergänzungs­abgabe „keineswegs für die Dauer, sondern lediglich für Ausnahmelagen

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bestimmt" sein und „nur für den Zeitraum" erhoben werden, in dem die

Deckungslücke des Bundeshaushalts nicht anderweitig geschlossen wer­

den kann (vgl. BTDrucks II/484, S. 4 und 5). Bei der Einführung des

streitgegenständlichen Solidaritätszuschlags waren sich die damaligen

Koalitionsfraktionen (CDU/CSU und FDP) und die SPD Fraktion dar­

über einig, dass der Solidaritätszuschlag wegen seiner Natur als eine Er­

gänzungsabgabe, ,,aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht auf Dauer

erhoben werden könne" (BTDrucks 12/4801, S. 145). Dem Gedanken

einer nur vorübergehenden Erhebung entsprechend benannten die Frak­

tionen auch das Ziel, die Steuerbelastung mittelfristig wieder abzubauen.

Hierzu sollte der Solidaritätszuschlag spätestens nach drei Jahren auf

seine weitere Notwendigkeit hin überprüft werden (BTDrucks 12/4801,

S. 145). Der zeitliche Horizont der Erhebung war demnach auf einige

Jahre und nicht Jahrzehnte ausgerichtet, wie es sich allerdings inzwi­

schen darstellt.

148. Der Solidaritätszuschlag ist mit notwendigen finanziellen Anstrengun­

gen für den Aufbau der neuen Länder begründet worden, die nach der

damaligen Finanzlage des Bundes aus dem normalen Steueraufkommen

nicht finanzierbar waren (dazu oben Rn. 16ff., vgl. auch die Nachweise

in Ausarbeitung WD, S. 8ff.). Der Aufbau der neuen Länder manifes­

tierte sich finanziell vor allem in den Leistungen des Bundes auf Grund­

lage der Solidarpakte I und II (dazu oben Rn. 26ff.). Zwischen dem So­

lidaritätszuschlag und den Solidarpakten I und II besteht damit unstreitig

eine Verbindung, weil die Legitimation der Einführung des streitgegen­

ständlichen Solidarzuschlags ausschließlich in dem zusätzlichen Finanz­

bedarf des Bundes im Rahmen der Wiedervereinigung gelegen hat. So

bestätigte auch der frühere Staatssekretär Hauser auf eine Anfrage vom

21. Dezember 1995 die Zweckbindung des angegriffenen Solidaritätszu­

schlags mit seiner Erklärung, der Zuschlag diene „zur Finanzierung des

Transfers des Bundes für die neuen Länder im Rahmen des Finanzaus­

gleichs" (vgl. Kruhl, StBW 2015, 311 <314>).

149. Der Solidarpakt II ist Ende des Jahres 2019 ausgelaufen und durch einen

neuen Finanzausgleich ersetzt, der ab dem Jahr 2020 keine Sonderbe­

darfe für die neuen Länder mehr ausweist, sondern eine finanzverfas­

sungsrechtliche Normallage abbildet. Ein besonderer Finanzbedarf zur

Abdeckung weiterer wiedervereinigungsbedingter Ausgaben ist folge­

richtig im Bundeshaushalt nicht mehr ausgewiesen ( dazu oben

Rn. 39ff.). Somit entfällt der spezifsche Mittelbedarf für die Aufgabe

„Finanzierung des Aufbaus Ost". Der Solidaritätszuschlag stellt 25 Jahre

nach seiner Einführung einen Fremdkörper innerhalb des Steuersystems

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dar (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 0.8 und Stellungnahme Bundesrech­

nungshof, S. 3).

150. Die Problematik des Wegfalls des besonderen Finanzierungsbedarfs we­

gen Zweckerreichung und damit zusammenhängend des verfassungswid­

rigen „Dauerfinanzierungsinstruments" sprach der Bundesfinanzhof be­

reits im Jahr 2011 in seiner Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit

des Solidaritätszuschlags für den Veranlagungszeitraum 2007 an. Er hielt

Folgendes fest (BFHE 234,250 <Rn. 25>, Hervorhebung nur hier):

„Eine zeitliche Begrenzung einer nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG unbefristet erhobenen Ergänzungsabgabe kann sich allerdings daraus ergeben, dass die Ergänzungsabgabe nach ihrem Charak­ter den Zweck hat, einen vorübergehenden aufgaben.bezogenen Mehrbedarf des Bundes zu finanzieren, und sie damit kein dauer­haftes Instrument der Steuerwn.verteilung sein darf[. . .}. Ein dau­erhafer Finanzbedarf ist regelmäßig über die auf Dauer ange­legten Steuern und nicht über eine Ergänzungsabgabe zu decken. Deshalb kann eine verfassungsgemäß beschlossene Ergänzungs­abgabe dann verfassungswidrig 11\ erden. wenn sich die Verhält­nisse. die für die Einführung maßgebend waren, grundlegend än­dern, z.B. weil der mit der Erhebung verfolgte Zweck erreicht ist und die Ergänzungsabgabe nicht wegen eines anderen Zwecks fortgefahrt werden soll oder weil insoweit eine dauerhafe Finan­

zierungslücke entstanden ist[. . .}. Die Verfassungsmäßigkeit der Ergänzungsabgabe wird in diesen Fällen aber erst zweifelhaft, wenn die Ai1derung der Verhältnisse eindeutig und offensichtlich. feststeht."

151. Danach hielt der Bundesfinanzhof es zwar nicht für verfassungsrechtlich

geboten, den Solidaritätszuschlag ab dem 1. Januar 2007 nicht mehr zu

erheben. Der Bundesfinanzhof stützte seine Entscheidung allerdings ex­

plizit auf den Solidarpakt II. Er nahm Bezug auf die zum Ausgleich der

teilungsbedingten Sonderlasten, zum Abbau der bestehenden Infrastruk­

turlücke sowie zum Ausgleich der unterproportionalen kommunalen Fi­

nanzkraft an die "neuen" Bundesländer bis 2019 geleisteten Sonderbe­

darfs-Bundesergänzungszuweisungen und leitete daraus ab, dass im Zu­

sammenhang mit der Wiedervereinigung im Jahr 2007 noch ein Finanz­

bedarf des Bundes bestand. Die Erhebung des Solidaritätszuschlags seit

dem Jahr 1995 widerspräche daher- gemessen an dem mit seiner Einfüh­

rung verbundenen Zweck - nicht dem Wesen einer zur Deckung von Be­

darfsspitzen im Bundeshaushalt dienenden Ergänzungsabgabe (BFHE

234, 250 <Rn. 26> ). Der Bundesfinanzhof kam danach zu dem Ergebnis,

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dass der ursprüngliche Gesetzeszweck für die Einführung des Solidari­

tätszuschlags auch im dortigen Streitjahr 2007 noch nicht entfallen war,

weil weiterhin ein Mehrbedarf des Bundes zur Finanzierung der Ausga­

ben im Zusammenhang mit der Herstellung der deutschen Einheit be­

standen hat. Es liege daher keine implizite Umwidmung des Solidaritäts­

zuschlags für andere Zwecke vor (BFHE 234, 250 <Rn. 27> ).

152. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist der Solidaritätszu­

schlag zwar im Jahr 1995 verfassungskonform eingeführt worden. Dieser

Zustand der Verfassungskonformität steht aber nicht fest und kann sichim Laufe der Jahre ändern, wie insbesondere im Hinblick auf das Aus­

laufen des Solidarpakts II (so auch Ausarbeitung WD, S. 14). Seit der

Entscheidung des Bundesfinanzhofs hinsichtlich des Veranlagungszeit­raums 2007 hat sich ein ganz entscheidender Umstand geändert: Der So­

lidarpakt II ist ausgelaufen. Die auf seiner Grundlage vom Bund an dieostdeutschen Länder im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung ge­

leisteten Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen fließen nicht

mehr und können demnach nicht als Rechtfertigung für den Fortbestand

des Solidaritätszuschlags herhalten, wie dies noch bezogen auf den Ver­

anlagungszeitraum 2007 der Fall war. Im Ergebnis stellt sich der Solida­

ritätszuschlag seit dem 1. Januar 2020 danach als verfassungswidriges

„Dauerfinanzierungsinstrument" dar. Die Änderung der Verhältnisse

steht mit dem Auslaufen des Solidarpakts II im Sinne der Rechtspre­

chung „evident" (BVerfGE 32, 333 <343>) bzw. ,,eindeutig und offen­

sichtlich" (BFHE 234, 250 <Rn. 25>) fest. Die unbefristete Fortführung

des Solidaritätszuschlags über den 31. Dezember 2019 hinaus ist nicht

gerechtfertigt, weil es seitdem an dem spezifischen Finanzbedarf desBundes fehlt, zu dessen Deckung das angegriffene Gesetz erlassen und

die Abgabe eingeführt wurde. Aus dem evidenten Wegfall der Voraus­

setzungen zur Erhebung der Abgabe folgt der verfassungsrechtliche

Zwang zur Aufhebung der Ergänzungsabgabe.

153. So kamen auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundes­

tages und der Präsident des Bundesrechnungshofes zu der Einschätzung,

dass an der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags über das

Ende 2019 hinaus „erhebliche Bedenken" bestünden (vgl. Ausarbei­

tung WD, S. 14) bzw. der Fortbestand „hohen verfassungsrechtlichen Ri­

siken unterliegt" (so BWV-Gutachten, Tz. 0.4 und Stellungnahme Bun­

desrechnungshof, S. 2).

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dd) Keine Umwidmung

154. Auch eine Umwidmung des Solidaritätszuschlags für andere Haushalts­zwecke als die Finanzierung der Wiedervereinigung ist verfassungsrecht­lich nicht vertretbar. Im Ergebnis würde mit der Umwidmung eine neueErgänzungsabgabe eingeführt, deren verfassungsrechtliche Rechtferti­gung allerdings nicht gegeben ist. Eine explizite Umwidmung ist nichterfolgt (dazu (1)). Eine implizite Umwidmung wäre unzulässig (dazu

(2)). Ein „Corona-Soli" kommt nicht in Betracht (dazu (3)).

(1) Keine explizite Umwidmung

155. Eine ausdrückliche Umwidmung des Solidaritätszuschlags durch den

Beschluss eines neuen Gesetzes ist nicht erfolgt. Der Gesetzgeber hateine neue „nicht anderweitig zu deckende Bedarfsspitze" des Bundesnicht benannt.

156. Eine explizite Umwidmung ist auch nicht durch einen Beschluss desBundestages erfolgt, sofern dies überhaupt für einen Austausch des dieErgänzungsabgabe rechtfertigenden Zwecks ausreichte. Da die Ergän­zungsabgabe zur Deckung eines nur temporären besonderen Finanzbe­darfs und anderweitig nicht auszugleichenden Fehlbedarfs des Bundes­haushalts gedacht ist, hat der Bundestag im Rahmen seiner Etatverant­wortung im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Bundeshaus­halts darüber zu entscheiden, ob und in welchem Ausmaß die Abgabe zu

erheben ist (vgl. BTDrucks 11/484, S. 4; Fischer-Menshausen, DÖV1956, 161 <164>). Eine Fortführung des Solidaritätszuschlags mit geän­

dertem Zweck müsste also vom Bundestag beschlossen werden; eine an­dauernde Umwidmung der Ergänzungsabgabe für neue Finanzbedarfeohne parlamentarische Erneuerung des Gesetzes widerspräche dem Be­fassungsvorrecht des Bundestags (vgl. Hidien/Tehler, StBW 2010, 458<461 f.>; so auch Bartone, Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Er­gänzungsabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochumu.a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wendt, 2015, S. 739 <758 m.w.N.>;Selmer/Hummel, Der Solidaritätszuschlag eine unendliche Ge­

schichte?, in: Junkernheinrich u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für öffentliche Fi­nanzen. 2013, 361 <381>). Einen solchen „Solidaritätszuschlag-Fortfüh­rungs Beschluss" hat der Deutsche Bundestag im Rahmen seiner Budge­thoheit indes (bislang) nicht getroffen.

(2) Implizite Umwidmung für andere Zwecke unzulässig

157. Eine implizite Umwidmung des Solidaritätszuschlags für andere Zweckeist verfassungsrechtlich nicht tragbar. Hierfür fehlt es an dem für eine

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Fortsetzung des Solidaritätszuschlags ab 2020 notwendigen neuen Sach­

grund und konkreten außergewöhnlichen Finanzierungsbedarf allein des

Bundes.

158. Der Bundesgesetzgeber könnte sich zur Rechtfertigung der Auswechs­

lung der Begründung für die fortdauernde Erhebung des Solidaritätszu­

schlags ab 2020 nicht auf einen allgemeinen Finanzierungsbedarf auf­

grund neuer Staatsaufgaben stützen. Ein allgemeiner Finanzierungsbe­

darf des Bundes kann die Fortdauer einer Sonderabgabe auf das Einkom­

men nicht rechtfertigen (vgl. Ausarbeitung WD, S. 7f., 17; Bartone, Ge­

danken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsabgaben im Sinne von

Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochum u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf

Wendt, 2015, S. 739 <744>; Selmer/Hummel, Der Solidaritätszuschlag

eine unendliche Geschichte?, in: Junkernheinrich u.a. (Hrsg.), Jahrbuch

für öffentliche Finanzen. 2013, 361 <375>; jew. m.w.N.). Bei dem Soli­

daritätszuschlag handelt es sich um eine Ergänzungsabgabe mit verfas­

sungsrechtlich inhärentem Ausnahmecharakter, die nicht dazu vorgese­

hen ist, langfristig eine stabile Haushaltslage sicherzustellen (vgl. Hoch,

DStR 2018, 2410 <2414> ). So erwachsen immer wieder neue Aufgaben

und möglicherweise außergewöhnliche finanzielle Mehrbelastungen.

Dies allein rechtfertigt jedoch nicht die Beibehaltung der Ergänzungsab­

gabe. Neue Staatsaufgaben als solche, auf die sich der Bund gegebenen­

falls berufen könnte, reichen für die Fortführung nicht aus.

(3) ,,Corona-Soli" unzulässig

159. Eine Umwidmung des wiedervereinigungsbedingten Solidaritätszu­

schlags zu einer COVID-19-pandemiebedingten Abgabe (,,Corona­

Soli") wäre gleichermaßen verfassungsrechtlich nicht vertretbar.

160. Der Bund hat mit den pandemiebedingten Maßnahmen zur Stärkung des

Gesundheitsschutzes und des Gesundheitssystems sowie zur Begrenzung

der Folgen für Wirtschaft, Unternehmen und Beschäftigte (dazu oben

Rn. 50f.) unbestritten neue Staatsaufgaben übernommen, die einen au­

ßerordentlichen Mehrbedarf ausgelöst haben. Trotz der milliardenschwe­

ren Neuverschuldung liegt gleichwohl keine haushaltsrechtliche Sonder­

situation bzw. Ausnahmelage vor, die den Einsatz des Instruments der

Ergänzungsabgabe rechtfertigte. Denn es fehlt (i) an einer speziellen

bzw. vorrangigen Aufgabe des Bundes, die (ii) den die Ergänzungsab­

gabe rechtfertigenden zusätzlichen konkreten Finanzbedarf allein des

Bundes auslöst. Nur unter der Voraussetzung eines erhöhten Bedarfs

(nur) des Bundes sind nämlich die Einführung und Beibehaltung einer

Ergänzungsabgabe das mildere Mittel gegenüber einer Erhöhung der

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Einkommen- und Körperschaftsteuer (so Tappe, Schriftliche Stellung­nahme zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 31. Oktober

2019 für die öffentliche Anhörung des Finanzausschusses am 4. Novem­ber 2019, S. 7). Die Bewältigung der Corona-Pandemie nimmt allerdings alle - Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen in die Pflicht.

Dementsprechend belastet die Corona-Pandemie nicht ausschließlich

den Bundeshaushalt, sondern auch die Haushalte der Länder und Kom­

munen (dazu oben Rn. 53ff.). Anstelle eines „Corona-Solis" würde es

hiernach sehr viel näherliegen, die Länder unmittelbar an den Einnahmen partizipieren zu lassen. Mit der Finanzautonomie der Länder unvereinbar

wäre es zudem, zunächst einen Zuschlag auf Bundesebene zu erheben,

um selbigen sodann in Form von Bundeszuschüssen auf die Länder und

kommunale Ebene zu verteilen.

161. Ein „Corona-Soli" würde mithin gerade nicht zur inneren Festigung der

bundesstaatlichen Finanzstruktur beitragen, sondern vielmehr zu einer

Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten des Bundes führen.Der Bund würde sich an den Ländern vorbei eine Ertragsquelle zur De­

ckung seiner pandemiebedingten Lasten schaffen und hierbei die regulä­ren Mittel der Erhöhung der Bundessteuern und die Anpassung der Be­

teiligungsquoten an der Umsatzsteuer umgehen. Ein „Corona-Soli"würde im Ergebnis dazu führen, dass der Bund eine eigene Steuerkom­petenz in Form eines zeitlich unbegrenzten Zuschlagsrechts auf die Steu­

ern vom Einkommen zementiert (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 0.6 und 5.3;

Papier-Gutachten, S. 23). Ein solches ausschließliches Steuersetzungs­recht des Bundes ohne Zustimmung des Bundesrats sieht das Grundge­

setz jedoch nicht vor, zumal die Haushaltslage der Länder und Kommu­nen von einer derart einseitigen Änderung des verfassungsrechtlichen

Steuerverteilungssystems in keiner Weise profitieren würden. Wie das

Bundesverfassungsgericht im Fall der Kembrennstoffsteuer betont hat,darf der Bund seine Zuständigkeitsgrenzen für steuerliche Maßnahmen

nicht an den Regelungen im Grundgesetz vorbei ausweiten (vgl. BWV­

Gutachten, Tz. 0.6, 6.3). Der Finanzbedarf des Bundes müsste über eine

Anpassung der Regelsteuern oder über eine Neuverteilung des Umsatz­

steueraufkommens gedeckt werden.

162. Zu erinnern ist an den allgemeinen Grundgedanken der Besteuerung des

Bürgers im Zusammenhang mit der Verteilung steuerlicher Lasten bei

wachsendem staatlichen Finanzbedarf (vgl. BVerfGE 87, 153 <172 >):

,,Ein besonderer Finanzbedarf des Staates und die Dringlichkeit ei­

ner Haushaltssanierung mögen den Gesetzgeber veranlassen, die

bisherigen Bedarfstatbestände in der gesamten Rechtsordnung zu

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überprüfen, sind aber nicht geeignet, eine verfassungswidrige Be­

steuerung zu rechtfertigen."

II. Art. 2 Abs. 1 GG

163. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­

gesetzes verstößt auch gegen das Grundrecht der Beschwerdeführer aus

Art. 2 Abs. 1 GG.

164. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit in ei­

nem umfassenden Sinne. Steuergesetze greifen in die allgemeine Hand­

lungsfreiheit in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermö­

gensrechtlichen Bereich ein (vgl. BVerfGE 87, 153 <169>). Zur Hand­

lungsfreiheit zählt das Grundrecht des Bürgers, nur auf Grund solcher

Rechtsvorschriften zur Steuer herangezogen zu werden, die formell und

materiell der Verfassung gemäß sind und deshalb zur verfassungsmäßi­

gen Ordnung gehören (vgl. BVerfGE 9, 3 <11>). Jedermann kann im

Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungs­

freiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen

Ordnung, weil es gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allge­

meine Verfassungsgrundsätze verstoße (vgl. grundlegend BVerfGE 6, 32

<41>).

165. Das ist wie unter Rn. 120ff. aufgezeigt der Fall. Das angegriffene Gesetz

verstößt gegen die Art. 105 ff. GG und stellt daher einen ungerechtfer­

tigten Eingriff auch in die allgemeine Handlungsfreiheit der Beschwer­

deführer aus Art. 2 Abs. 1 GG dar.

III. Art. 3 Abs. 1 GG

166. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­

gesetzes muss auch sonst in jeder Hinsicht verfassungsgemäß sein und

insbesondere den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG be­

achten (vgl. BVerfGE 14,263 <278>). Das ist allerdings nicht der Fall.

167. Das angegriffene Gesetz missachtet den allgemeinen Gleichheitssatz ge­

mäß Art. 3 Abs. 1 GG zu Lasten der Beschwerdeführer. Vor dem Gleich­

heitssatz hat die Ungleichbehandlung der von der Solidaritätszuschlag­

pflicht Betroffenen im Vergleich zu den hiervon ausgenommenen Perso­

nen keinen Bestand. Ein vernünftiger, aus der Sache oder sonst sachlich

einleuchtender Grund dafür, dass ein Teil der bisher nach dem

SolzG 1995 abgabepflichtigen Personen weiterhin den Solidaritätszu­

schlag zahlen müssen, während ein anderer Teil befreit wird, ist nicht

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ersichtlich. Von einem „solidarischen finanziellen Opfer aller Bevölke­

rungsgruppen" (vgl. BTDrucks 12/4401, S. 51) kann nicht mehr die

Rede sein.

1. Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes

168. Dem Gesetzgeber ist es untersagt, wesentlich Gleiches in sachwidriger

Weise ungleich zu behandeln. Dies gilt für ungleiche Belastungen wie

auch für ungleiche Begünstigungen (vgl. BVerfGE 116, 164 <180>;

BVerfGE 122, 210 <230>). Eine Regelung ist mit dem Gleichheitssatz

unvereinbar, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache oder

sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die vom Gesetzgeber vorge­

nommene Differenzierung nicht finden lässt, die Bestimmung also als

willkürlich erscheint (vgl. BVerfGE 1, 14 <52>; 55, 114 <128>). Es er­

geben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkma­

len unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Will­

kürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfor­

demisse reichen (vgl. BVerfGE 116, 164 <180>; 122,210 <230>). Prü­

fungsmaßstab ist, ob eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu

anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen bei­

den Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht

bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl.

BVerfGE 55, 72 <88>; 95, 39 <45> ).

169. Für die vorliegend zu beurteilende Differenzierung zwischen denjenigen

einkommensteuerpflichtigen Personen, die, wie die Beschwerdeführer,

weiterhin mit dem Solidaritätszuschlag belastet werden, und jenen ein­

kommensteuerpflichtigen Personen, die aufgrund der angehobenen Frei­

grenzen einen Solidaritätszuschlag nicht mehr leisten müssen, ist bei der

Prüfung anhand des Gleichheitssatzes von einer strengeren Bindung des

Gesetzgebers auszugehen. Denn die Ungleichbehandlung wirkt sich

nachteilig auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten aus -

hier in Gestalt der durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentumsga­

rantie (dazu oben D I) und der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten all­

gemeinen Handlungsfreiheit ( dazu oben D II). Die Ungleichbehandlung

und die sie rechtfertigenden Gründe müssen in einem angemessenen Ver­

hältnis zueinanderstehen.

2. Missachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes

170. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­

gesetzes wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht.

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Der Gesetzgeber hat wesentlich Gleiches in sachwidriger Weise ungleich

behandelt.

a) Ungleichbehandlung

171. Eine Ungleichbehandlung liegt vor. Die hiesige Vergleichsgruppe sind

alle nach dem Einkommensteuergesetz abgabepflichtigen Personen. In­

nerhalb dieser Personengruppe erfolgt durch die selektive Abschaffung

des Solidaritätszuschlags eine ungleiche Belastung einer sehr geringen

Personenzahl. Es bestehen zwischen den weiterhin Zahlungspflichtigen

und den entlasteten Personen keine Unterschiede von solcher Art und

solchem Gewicht, dass diese ungleiche Behandlung gerechtfertigt ist.

172. Ab dem Veranlagungszeitraum 2021 sind nur noch etwa 900.000 Perso­

nen in voller Höhe mit dem Solidaritätszuschlag belastet. Die Abschmel­

zung des Solidaritätszuschlags durch die extreme Anhebung der Frei­

grenze von 972 Euro auf 16.956 Euro bedeutet einen erheblichen Pro­

gressionssprung. Eine Belastung mit dem Solidaritätszuschlag erfolgt

künftig ab einem zu versteuernden Einkommen von 61.717 Euro, wobei

mit steigendem Einkommen schrittweise an die vollständige Abgaben­

höhe von 5,5 Prozent der Bemessungsgrundlage (Einkommensteuer­

schuld) herangeführt und der volle Solidaritätszuschlag erst ab einem zu

versteuernden Einkommen 96.410 Euro erhoben wird. Angesichts eines

Durchschnittsbruttoeinkommens von 51.333 Euro (vgl. IW-Gutachten,

S. 8) profitieren rund 33,7 Mio. einkommensteuerpflichtige Personen

von der vollständigen Entlastung und werden rund 2,8 Mio. Einkommen­

steuerpflichtige einen gedeckelten Solidaritätszuschlag leisten (vgl. IW­

Gutachten, S. 9f.). Die maximale Entlastung einer einzelveranlagten Per­

son beträgt dabei bis zu 933 Euro im Jahr. Betrachtet man eine einkom­

mensteuerpflichtige Person mit einem Jahresbruttoeinkommen von bei­

spielsweise 100.000 Euro, die einen Solidaritätszuschlag in Höhe von

etwa 1.800 Euro zu leisten haben wird, und im Vergleich dazu eine Per­

son mit einem Jahresbruttoeinkommen von 60.000 Euro, die ab dem Ver­

anlagungszeitraum 2021 vollständig entlastet wird, entspricht dies einer

Entlastung von etwa 890 Euro, die einer fortlaufenden Belastung von

1.800 Euro gegenübersteht.

173. Darüber hinaus besteht eine Ungleichbehandlung im Hinblick auf die

Aufrechterhaltung der Pflicht zur Zahlung des Solidaritätszuschlags auf

die Kapitalertragsteuer. Die Freigrenze findet - anders als bei der veran­

lagten Einkommensteuer, aber auch der Lohnsteuer im Wirkungskreis

der Freigrenzen - bei der Erhebung der Kapitalertragsteuer keine An­

wendung (auch nicht in Form der Abgeltungsteuer, vgl.§ 3 Abs. 3 Satz 2

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SolzG 1995). Steuerpflichtige können in solchen Fällen nach § 32d

Abs. 6 EStG im Zuge der Günstigerprüfung überprüfen, inwieweit die

Anwendung der regulären Tarifvorschrift nach§ 32a EStG unter Anwen­

dung von§§ 3, 4 SolzG 1995 günstiger ist. Bei einem positiven Ergebnis

aber auch nur dann werden die Kapitaleinkünfte dem progressiven

Einkommensteuertarif unter Anwendung der ( erhöhten) Freigrenze un­

terworfen (vgl. Hechtner, Schriftliche Stellungnahme zu dem Entwurfeines Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995, Novem­

ber 2019, 19S. 9, im Weiteren „Stellungnahme Hechtner 2019").

174. Die Günstigerprüfung wird auch in Zukunft nur dann zur Anwendung

des progressiven Einkommensteuertarifs führen, wenn die Gesamtsteu­

erbelastung bestehend aus Einkommensteuer- und Solidaritätszuschlag

geringer ausfällt als unter Anwendung der Abgeltungssteuer von 25 %

zzgl. 5,5 % Solidaritätszuschlag (vgl. Stellungnahme Hechtner 2019,

S. 10).

b) Keine Rechtfertigung

175. Die Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt:

Die fortdauernde selektive hohe Belastung einer bestimmten Personen­

zahl gegenüber einer vollständigen Entlastung der Mehrheit der Einkom­

mensteuerpflichtigen ist willkürlich. Die vom Gesetzgeber zur Differen­

zierung nach dem Einkommen herangezogenen Kriterien der steuerli­chen Umverteilung sind nicht zur Rechtfertigung geeignet. Erstens istdas Instrument der Freigrenze ungeeignet ( dazu aa), zweitens hat der Ge­

setzgerber eine unsachgemäße Begründung herangezogen ( dazu bb) und

drittens fehlt es an einer folgerichtigen Belastungsentscheidung ( dazu

cc).

aa) Die Ungeeignetheit des Instruments der Freigrenze

176. Im Rahmen seiner Typisierungs- und Pauschalisierungsbefugnis darf

sich der Gesetzgeber grundsätzlich des Instruments der Freigrenze be­

dienen. Bei einer Freigrenze fällt mit dem Überschreiten die Abgabenlast

auf die gesamte Bemessungsgrundlage an, während bei einem Freibetrag

nur der Anteil oberhalb des Grenzwerts der Besteuerung unterliegt. Frei­

grenzen erleichtern den Vollzug der Steuernorm durch die Finanzverwal­

tung, insbesondere, wenn sich bei einer gleitenden Übergangsregelung

19 http·://www.bundcsrag.de/rcsourcc/blob/666044 23b9 e4 7b567d02 l 28e6b b07bda608/1 IHcchtner data.pdf, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.

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durch einen Freibetrag ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand erge­ben würde (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. Juli 2010 2

BvR 2122/09 , juris Rn. 7).

177. Die Freigrenze ist allerdings nicht das richtige Instrument zur Umsetzungder selektiven Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Der Gesetzgeberkann sich nicht darauf berufen, dass durch die Regelung eines Freibetrags

ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand entstünde (so im Ergebnis

auch Kube, Verfassungsrechtliche Würdigung der koalitionsvertragli­chen Aussagen zum Solidaritätszuschlag, März 2018,20 S. 8, im Weiteren

,,Kube-Gutachten"). Die Bemessungsgrundlage (Einkommensteuer­schuld) wird im Rahmen der Einkommensteuerhebung berechnet.Knüpfte man den Solidaritätszuschlag nur an denjenigen Teil der Ein­kommensteuerschuld, der einen bestimmten Freibetrag überschreitet,ließe sich die Abgabenhöhe von der Finanzverwaltung mit wohl nahezuidentischem Aufwand „auf Knopfdruck" ermitteln, wie dies bei der Frei­

grenze der Fall ist.

178. Aufgrund des sog. Fallheileffekts wird der Rückgriff auf das typisierendeInstrument der Freigrenze statt des Freibetrags allerdings umso proble­matischer, je höher die Freigrenze angesetzt ist, da der mit Überschreitender Freigrenze eintretende Progressionssprung dann umso schwererwiegt. Die durch das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszu­schlag-Rückführungsgesetzes eingeführten Freigrenzen bedeuten eine

solche besonders schwerwiegende Ungleichbehandlung. Mag die Frei­grenze in ihrer ursprünglichen Fassung bei Einführung des Solidaritäts­zuschlags im Jahr 1995 dazu gedient haben ,,Kleinbeträge" zur Gewähr­leistung des Existenzminimums von der Abgabe auszunehmen ( dazuoben Rn. 19), wird durch die Freigrenzen ab 2021 der weit überwiegendeTeil der bisherigen Solidaritätszuschlagzahler von der Abgabepflicht be­freit. Das Verhältnis von Zahlungs- zu nicht Abgabepflichtigen hat sichalso umgekehrt. Für die über den Freigrenzen liegenden einkommensteu­erpflichtigen Personen bewirken die Freigrenzen willkürliche Progressi­

onsverschärfungen und Progressionssprünge ( dazu Wemsmann, NJW2018, 916 <918>). Die Milderungszone vermag den beschriebenen Ef­

fekt zwar abzumildern, sie kann jedoch den gleichheitswidrigen Rück­griff auf derart hohe Freigrenzen wie im SolzG 1995 in der Fassung desSolidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes nicht rechtfertigen ( vgl.Kube-Gutachten, S. 8).

20 hrrp. ://www.insm.d tilcadmin/insm-dms/text/steuem-finanzen/Gutachten-Kube-zum Solidaritaetszu­schlag.pdf, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.

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179. Ein sachlicher Grund für die konkrete Ausgestaltung ist nicht gegeben.

Der Gesetzgeber kann sich nicht auf die Vermeidung eines erheblichen

Verwaltungsmehraufwands berufen.

bb) Keine sachgemäße Begründung

180. Ausweislich der Gesetzesbegründung wird die selektive Entlastung vor­

rangig von sozialpolitischen Erwägungen mit Lenkungszweck getragen.

Es soll eine sozialpolitische Korrektur der allgemeinen einkommensteu­

errechtlichen Lastenverteilung stattfinden. Im Einzelnen wird die selek­

tive Abschaffung des Solidaritätszuschlags folgendermaßen begründet

(BTDrucks 19/14103, S. lf.):

„ Durch den schrittweisen Abbau des Solidaritätszuschlags durch

eine erhebliche Anhebung der Freigrenze beim Solidaritätszu­

schlag in einem ersten Entlastungsschritt wird der Verteilung der

zusätzlichen Steuerlast nach der Leistungsfahigkeit in besonde­

rem Maße Rechnung getragen. Hierbei sind sozialstaatliche Er­

wägungen maßgebend, da höhere Einkommen einer stärkeren

Besteuerung unterliegen sollen als niedrigere Einkommen. [. . .]

Dies stellt zudem eine wirksame Maßnahme zur Stärkung der Ar­

beitsanreize, Kaufkraf und Binnenkonjunktur dar. Bürgerinnen

und Bürger mit mittleren und niedrigen Einkommen haben eine

deutlich höhere Konsumquote als Spitzenverdienende, d.h. sie

sind typsicherweise gezwungen, deutlich mehr von ihrem Ein­

kommen für Güter und Dienstleistungen auszugeben. "

181. Diese Erwägungen sind im Hinblick auf den Solidaritätszuschlag als Er­

gänzungsabgabe sachfremd und vermögen einen steuerlichen Progressi­

onsknick in der ausgeprägten Form nicht zu rechtfertigen.

182. Zwar hat das Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1972 beschlossen, dass

bei

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,, [. . .} Steuern, die wie die Einkommensteuer an der Leistungsfa­

higkeit des Steuerpflichtigen ausgerichtet sind, [. . .] die Berück­

sichtigung sozialer Gesichtspunkte zulässig und geboten [ist].

Deshalb konnte der Gesetzgeber auch bei der Ergänzungsab­

gabe, die im Ergebnis eine Verschärfung der Einkommensteuer

darstellt, solchen Erwägungen Rechnung tragen. [ .. .] Im Ver­

hältnis zum Steuerzahler wäre es ohne weiteres zulässig gewesen,

die Einkommensteuer zu erhöhen und dabei die unteren Einkom­

mensstufen von der Erhöhung auszunehmen. Dann ist aber auch

kein Grund dafür ersichtlich, die Ergänzungsabgabe als eine

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selbständige Steuer strenger an die Struktur der Einkommen- und

Körperschaftsteuer zu binden als eine Erhöhung der Einkommen­

und Körperschaftsteuer selbst." (vgl. BVerfGE 32, 333 <339>)

Die der Entscheidung zugrundeliegende Ausgangssituation war jedoch

eine andere als die der selektiven Abschaffung des Solidaritätszuschlags

zugrundeliegende. Die Ergänzungsabgabe 1968, über die das Bundesver­

fassungsgericht zu entscheiden hatte, war mit der Zielsetzung eingeführt

worden, ungleiche Steuerbelastungen auszugleichen, die sich durch die

Erhöhung der Umsatzsteuer ergaben. Mithin war die Ergänzungsabgabe

1968 schon mit einer sozialen Zielsetzung eingeführt worden. Grundsätz­

lich verschieden dazu ist der Grund für die Einführung des Solidaritäts­

zuschlags. Der Solidaritätszuschlag diente dazu, einen konkreten Finanz­

bedarf des Bundes zu decken (vgl. BTDrucks 12/4401, S. 51). Die Ziel­

setzung legt als solche keinerlei besondere Differenzierung zwischen den

Steuerpflichtigen nahe (vgl. Kube, DStR 2017, 1792 <1800> ). Anders

ausgedrückt: Wenn eine Ergänzungsabgabe dazu dient, einen konkreten

Finanzbedarf zu decken, trägt dieser Finanzierungszweck eine soziale

Staffelung nicht (vgl. Kube-Gutachten, S. 7).

183. Eine steuerliche Umverteilung hat grundsätzlich über das Instrument der

Einkommensteuer zu erfolgen. Wird mit Blick auf sozialpolitische As­

pekte eine Ent- oder Belastung bestimmter Einkommensgruppen ange­

strebt, müsste dies durch einen offenen und gleichheitsgerechten verän­

derten Tarifverlauf der Einkommensteuer geschehen und nicht durch

eine Ergänzungsabgabe (so BWV-Gutachten, Tz. 5.3; vgl. auch Kube­

Gutachten, S. 7f.). Wird aber an die Einkommensteuer, bereits sozial

staffelnd, nunmehr eine zusätzlich sozial staffelnde Ergänzungsabgabe

gekoppelt, führt dies zu einer demokratisch und rechtsstaatlich proble­

matischen Intransparenz der Umverteilung (vgl. Kube-Gutachten, S. 7).

Der Solidaritätszuschlag mutiert folglich in verfassungswidriger Weise

vom Mittel zur Mehrbedarfsdeckung und „solidarischen finanziellen Op­

fer aller Bevölkerungsgruppen" zu einem Mittel zur Herstellung sozial­

politisch motivierter Verteilungsgerechtigkeit und im Ergebnis zu einer

Reichensteuer (vgl. Hoch, DStR 2018, 2410 <2414f.>; so auch Loritz,

Stellungnahme für das Öffentliche Fachgespräch u.a. zu dem Gesetzent­

wurf der Fraktion der FDP zur Aufhebung des Solidaritätszuschlaggeset­

zes 1995 am 27. Juni 2018, BT-Drucksache 19/1038, S. 4).

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cc) Keine folgerichtige Belastungsentscheidung

184. Durch die deutliche Anhebung der Freigrenze wird der steuerliche Tarif­

verlauf verschoben und die ursprüngliche Belastungsentscheidung nicht

folgerichtig umgesetzt.

185. Aus dem Gebot der möglichst gleichmäßigen Belastung aller Steuer­

pflichtigen folgt, dass der Gesetzgeber zwar bei der Auswahl des Steuer­

gegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitrei­

chenden Entscheidungsspielraum hat. Bei der Ausgestaltung dieses Aus­

gangstatbestandes hat er die einmal getroffene Belastungsentscheidung

dann aber folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen

(vgl. BVerfGE 84, 239 <271>; 93, 121 <147>).

186. Führt ein Steuergesetz zu einer steuerlichen Verschonung, die einer

gleichmäßigen Belastung der jeweiligen Steuergegenstände innerhalb ei­

ner Steuerart widerspricht, so kann eine solche Steuerentlastung dennoch

vor dem Gleichheitssatz gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber

dadurch das wirtschaftliche oder sonstige Verhalten des Steuerpfichti­

gen aus Gründen des Gemeinwohls fördern oder lenken will (vgl. BVer­

fGE 38, 61 <79 ff.>; 84, 239 <274>; stRspr). Eine solche Intervention,

die das Steuerrecht in den Dienst außerfiskalischer Verwaltungsziele

stellt, setzt aber eine erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers voraus,

mit dem Instrument der Steuer auch andere als bloße Ertragswirkungen

erzielen zu wollen sein (vgl. BVerfGE 93, 121 <147>). Daran fehlt es

vorliegend. § 1 Abs. 1 i.V.m. § 2 SolzG 1995 trifft die Belastungsent­

scheidung, ,, alle Steuerpflichtigen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit

[zu belasten]" (vgl. BTDrucks 12/4801, S. 3). Der Einführung des Soli­

daritätszuschlags lag damit erkennbar nicht die Entscheidung des Gesetz­

gebers zugrunde, mit dem Solidaritätszuschlag über die bloße Einnah­

menerzielung hinaus einen steuerlichen Ausgleich zu schaffen. Hier liegt

insbesondere der Unterschied zu der Ergänzungsabgabe 1968.

187. Zwar galt auch bei Einführung des Solidaritätszuschlags 1995 eine Frei­

grenze von umgerechnet rund 680 Euro. Der niedrige Wert führte indes

dazu, dass zu versteuernde Einkommen in einer Höhe von 6.400 Euro

schon nicht mehr von der Solidaritätszuschlagpflicht ausgenommen wa­

ren. Ab 2021 werden demgegenüber angesichts der extrem hohen Frei­

grenze zu versteuernde Einkommen von bis zu 61.717 Euro vollständig

von der Abgabe verschont. Während die ursprüngliche Freigrenze dazu

diente, ,,Kleinbeträge" von der Solidaritätszuschlagpflicht auszunehmen

und sich dementsprechend als Instrument zur Entlastung der Geringver­

diener nach dem Gebot der Belastungsgleichheit darstellte, bezweckt die

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mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung eine stärkere Be­

lastung von Personengruppen mit einem bestimmten Einkommen zu

Zwecken der Verteilungsgerechtigkeit. Faktisch handelt es sich um zwei

völlig verschiedene steuerpolitische Instrumente. Dem Gesetzgeber ist

mithin vorzuhalten, dass er die einmal getroffene Belastungsentschei­

dung nicht folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt hat.

188. Im Ergebnis verdeutlicht die fortgesetzte Belastung höherer Einkommen

mit dem streitgegenständlichen Zuschlag über den Wegfall des die Er­

gänzungsabgabe legitimierenden Zwecks des Mehrbedarfs hinaus, dass

inzwischen die sozialpolitische Korrektur der allgemeinen einkommen­

steuerrechtlichen Lastenverteilung vorrangiges Ziel des Gesetzgebers ist.

Der Bundesgesetzgeber hat hiermit im Ergebnis eine spezifische Tarifän­derung bei der Einkommensteuer zulasten derjenigen Einkommensteuer­

pflichtigen etabliert, deren Einkommen sich nicht im unteren oder mitt­leren Bereich bewegen. Das Vorgehen unterläuft allerdings das verfas­

sungsrechtliche Normgefüge von Zustimmungs- und Ertragskompeten­

zen. Der Bundesgesetzgeber übergeht seine lediglich subsidiäre Ertrags­

kompetenz für den Fall eines anderweitig nicht behebbaren akuten Fehl­

bedarfs im Bundeshaushalt. Den Solidaritätszuschlag zweckwidrig als

Mittel der Verteilungsgerechtigkeit einzusetzen, widerspricht dem allge­

meinen Finanzierungszweck einer Ergänzungsabgabe und ist ein verfas­

sungswidriger Formmissbrauch (vgl. Hoch, DStR 2018, 2410 <2414f.>;

Papier-Gutachten, S. 28).

dd) Keine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung hinsichtlich der Kapital­

erträge

189. Auch die Ungleichbehandlung im Hinblick auf die Behandlung der Ka­

pitalerträge lässt sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.

190. Durch die Anwendung des progressiven Tarifs auf das Gesamteinkom­

men ( einschließlich Kapitaleinkünften) könnte die Freigrenze nach § 3

SolzG 1995 auch auf die Kapitaleinkünfte angewendet werden (Vorteil).

Gleichwohl kann der persönliche Steuersatz (genauer Differenzsteuer­

satz) unter Anwendung des progressiven Tarifs höher ausfallen als die

Abgeltungssteuer von 25 % (Nachteil). Überwiegt der Nachteil den Vor­

teil, so bleibt es bei der Anwendung der Abgeltungssteuer. In diesen Fäl­

len unterliegen die Kapitaleinkünfte dem (vollen) Solidaritätszuschlag,

obwohl das Gesamteinkommen und die damit verbundene progressive

Einkommensteuer noch unter der Freigrenze von 16.956 Euro liegenkönnte. Die Effekte ergeben sich aus der allgemeinen Systematik der Be­

steuerung von privaten Kapitaleinkünften. Die deutliche Erhöhung der

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Freigrenze bewirkt letztendlich, dass die beschriebenen Fallkonstellatio­

nen künftig stärker auftreten können (vgl. Stellungnahme Hechtner 2019,

S. 10). Mithin liegt eine zweifache Ungleichbehandlung vor. So werden

die künftig greifenden Freigrenzen bei der Besteuerung von Kapitaler­

trägen ( auch in relativer Anwendung) nicht berücksichtigt. Vielmehr

wird der Solidaritätszuschlag auf Kapitalerträge grundsätzlich unverän­

dert erhoben.

191. Anzumerken ist zudem, dass ausländische (private) Kapitalanleger über­

haupt keine Möglichkeit haben, dass die neue Freigrenze auf die Kapi­

taleinkünfte zur Anwendung kommt. Die einbehaltene Kapitalertrag­

steuer hat nach § 50 Abs. 2 Satz 1 EStG stets abgeltende Funktion. Eine

Möglichkeit zur Veranlagung unter Anwendung des progressiven Ein­

kommensteuertarifs besteht nicht (vgl. Stellungnahme Hechtner 2019,

S. 10).

192. Ferner sind sowohl die Lohnsteuer als auch die Kapitalertragsteuer in ih­

rer Erhebungsform als Abgeltungsteuer Abzugssteuern, so dass sich eine

Ungleichbehandlung trotz Einbettung in ein System der synthetischen

bzw. einer schedularen Einkommensbesteuerung nicht rechtfertigen

lässt.

IV. Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs 1 GG

193. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­

gesetzes verstößt auch gegen Art. 6 Abs. 1 GG sowie das Gebot horizon­

taler Steuergerechtigkeit aus Art. 3 Abs. 1 GG.

1. Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs 1 GG

194. Art. 6 Abs. 1 GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der

staatlichen Ordnung (vgl. BVerfGE 114, 316 <333>). Das Gebot des

Schutzes von Ehe und Familie bezieht sich auf jede Ehe und Familie (vgl.

BVerfGE 6, 55 <82> ). Der Schutzgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG erstreckt

sich demnach auf die „Alleinverdienerehe" ebenso wie auf die „Doppel­

verdienerehe" (vgl. BVerfGE 107, 27 <53>) und garantiert den Eheleu­

ten, ihre Gemeinschaft in ehelicher und familiärer Verantwortlichkeit

und Rücksicht frei zu gestalten (vgl. BVerfGE 80, 81 <92>, 103, 89

<101 > ). Insbesondere muss den Ehepartnern die Entscheidungsfreiheit

verbleiben, zu welchen Teilen jeder Ehepartner zum gemeinsamen Ein­

kommen beitragen soll (vgl. BVerfGE 6, 55 <81f.>). Daher verbietet es

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Art. 6 Abs. 1 GG, über die Ausgestaltung von Steuergesetzen eine be­

stimmte Gestaltung der privaten Sphäre der Ehe zu erzwingen (vgl.

BVerfGE 6, 55 <82>).

195. Entsprechend muss der Gesetzgeber Regelungen vermeiden, die geeignet

sind, in die freie Entscheidung der Ehepartner über ihre Aufgabenvertei­

lung in der Ehe einzugreifen (vgl. BVerfGE 107, 27 <53>). Ehen mit

gleichem Gesamteinkommen müssen deshalb unabhängig von den je­

weiligen Beiträgen der Ehepartner hierzu steuerlich gleichbehandelt wer­

den.

196. Auch fordert das aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitete Gebot horizontaler

Steuergerechtigkeit eine gleiche Besteuerung bei gleicher Leistungsfä­

higkeit (vgl. BVerfGE 112, 268 <279>). Hierbei ist zu beachten, dass

Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe und Familie auch als Wirtschaftsgemeinschaft

schützt (vgl. BVerfGE 114,316 <333>), sodass auch die gleiche Besteu­

erung von Ehepaaren mit gleicher gemeinsamer Leistungsfähigkeit ge­

boten ist.

2. Missachtung der Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3

Abs 1 GG

197. Den dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben wird die Ausgestal­

tung des Solidaritätszuschlags im SolzG 1995 in der Fassung des Solida­

ritätszuschlag-Rückführungsgesetzes nicht gerecht.

a) Verstoß gegen das Gebot horizontaler Steuergerechtigkeit

aa) Ungleichbehandlung

198. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­

gesetzes verstößt gegen das Gebot horizontaler Steuergerechtigkeit.

Denn die Erhöhung der Freigrenze auf 16.956 Euro führt dazu, dass Ehe­

paare als Wirtschaftsgemeinschaft mit identischer gemeinsamer Leis­

tungsfähigkeit in Abhängigkeit der individuellen Beiträge der Ehepartner

zu den gemeinsamen Einkünften unterschiedlich besteuert werden. Diese

Ungleichbehandlung widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot

gleicher Steuer bei gleicher Leistungsfähigkeit (vgl. BVerfGE 112, 268

<279>).

199. Das ergibt sich aus folgenden Wirkungen: Die Erhöhung der Freibeträge

führt in bestimmten Einkommensregionen dazu, dass für Ehepaare ein

steuerlicher Anreiz entsteht, eine getrennte Veranlagung statt einer ge­

meinsamen Veranlagung zu wählen. Bei einer getrennten Veranlagung

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ist die Höhe des Solidaritätszuschlags für Ehepaare mit gleichem zu ver­

steuerndem gemeinsamen Einkommen jedoch nicht stets identisch, son­

dern wird durch die jeweiligen Beiträge der Ehepartner zum identischen

zu versteuernden gemeinsamen Einkommen beeinflusst (vgl. Broer, Ver­

fassungswidrige Ehegattenbesteuerung durch die Reform des Solidari­

tätszuschlags, Wirtschaftsdienst 2019, S. 697, im Weiteren „Broer

Wirtschaftsdienst 2019"). Je höher der Anteil des Haupteinkommenbe­

ziehers am gemeinsamen Einkommen ist, desto größere Einsparungen

können hinsichtlich des Solidaritätszuschlags erzielt werden. In der

Folge werden Ehepartner mit ungleicher Einkommensverteilung bei der

Höhe des Solidaritätszuschlags bevorzugt.

200. Der beschriebene Effekt gilt allgemein für Ehen, in denen bei getrennter

Veranlagung das auf jeden Ehepartner entfallende zu versteuernde Ein­

kommen mit dem konstanten Grenzsteuersatz von 42 Prozent belastet

wird (nach dem Tarif2020 zwischen 57.052 Euro und 270.500 Euro) und

auch das gemeinsame zu versteuernde Einkommen mit 42 Prozent belas­

tet wird. Denn bei diesen Ehepartnern hat das Ehegattensplitting keiner­

lei Wirkung, sodass die Einkommenssteuerschuld unabhängig davon ist,

ob es zu einer getrennten oder gemeinsamen Veranlagung kommt (vgl.

Broer, Wirtschaftsdienst 2019, S. 700). Die Höhe des Solidaritätszu­

schlags hängt bei getrennter Veranlagung hingegen von den jeweiligen

Beiträgen der Ehepartner zum gemeinsamen Gesamteinkommen ab, da

bei Individualbesteuerung für einen Ehepartner ggf. gar kein Solidaritäts­

zuschlag anfällt oder die Milderungszone greift. Gegenüber Ehepaaren

mit paritätischer Einkommensverteilung kann es bei Ehepaaren mit un­

gleicher Einkommensverteilung so zu erheblichen Minderbelastungen

von knapp 900 Euro pro Steuerjahr kommen (vgl. Broer, Wirtschafts­

dienst 2019, S. 700).

201. Beispielhaft lässt sich der Effekt für ein Ehepaar mit einem gemeinsamen

zu versteuernden Einkommen von 200.000 Euro beschreiben. Setzt sich

das gemeinsame Einkommen aus einem Einkommen von 60.000 Euro

für Ehegatten 1 und 140.000 Euro für Ehegatten 2 zusammen, so beträgt

der Solidaritätszuschlag bei gemeinsamer Veranlagung rund 3.650 Euro

und bei getrennter Veranlagung rund 2.750 Euro. Setzt sich das gemein­

same Einkommen hingegen paritätisch aus Einkommen von jeweils

100.000 Euro für Ehegatten 1 und 2 zusammen, so beträgt der Solidari­

tätszuschlag sowohl bei gemeinsamer als auch bei getrennter Veranla­

gung rund 3.650 Euro (vgl. Broer, Wirtschaftsdienst 2019, S. 700).

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202. Ehepaare mit gleichem Gesamteinkommen werden also steuerlich unter­

schiedlich belastet, weil die Ehepartner mit unterschiedlichen Anteilen

zum Gesamteinkommen beitragen.

bb) Keine Rechtfertigung

203. Gründe, die die Ungleichbehandlung rechtfertigen können, sind nicht er­

sichtlich. Zwischen den verschiedenen Ehepaaren bestehen in der Leis­

tungsfähigkeit keinerlei Unterschiede. Unterschiede bestehen allein hin­

sichtlich der jeweiligen Beiträge der Ehepartner zur gemeinsamen Leis­

tungsfähigkeit. Das kann eine Ungleichbehandlung aber nicht rechtferti­

gen. Auch der Unterschied in der Veranlagung als getrennt oder gemein­

sam kann die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Denn die Mög­

lichkeit einer gemeinsamen Veranlagung soll allein sicherstellen, dass

Ehepartner nicht schlechter gestellt werden als zwei unverheiratete Per­

sonen bei Individualbesteuerung. Schließlich widerspricht die im Gleich­

heitssatz von Art. 3 Abs. 2 GG garantierte Gleichstellung von Mann und

Frau der steuerlichen Begünstigung von Ehen mit ungleichen Anteilen

am gemeinsamen Einkommen.

b) Unzulässige Anreize zur ehelichen Aufgabenverteilung

204. Entgegen der verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 6 Abs 1 GG ist

das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­

gesetzes auch dazu geeignet, in die freie Entscheidung der Ehepartner

über ihre Aufgabenverteilung in der Ehe einzugreifen. Denn durch die

beschriebenen steuerlichen Vorteile gibt das angegriffene Gesetz An­

reize, die Aufgabenverteilung in Richtung eines Zuverdienermodells

bzw. einer Hauptverdienerehe auszugestalten, d.h., dass beide Partner ei­

ner Erwerbstätigkeit nachgehen, dabei aber ein Ehepartner einen deutlich

höheren Beitrag zum gemeinsamen Einkommen leistet.

205. Es ist mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht vereinbar, Ehen mit eigenen Einkünften

beider Ehepartner ohne besondere stichhaltige Gründe günstiger zu be­

steuern als Ehen, in denen ein Ehepartner die gesamten Einkünfte be­

zieht, der andere Ehepartner sich aber im Wirtschaftsleben nicht betäti­

gen kann, etwa, weil er im Haushalt tätig ist und die Kinder erzieht (vgl.

BFH, Urt. v. 2. April 1957 I 335/56 U juris Rn. 11 ). Genauso kann es

andersherum ohne besondere stichhaltige Gründe nicht mit Art. 6 Abs. 1

GG vereinbar sein, Ehen, in denen ein Ehepartner den überwiegenden

Anteil an den gemeinsamen Einkünften erzielt, günstiger zu besteuern

als Ehen, in denen die Ehepartner gleiche Beiträge zu den Gesamtein-

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künften leisten, etwa, weil beide Partner eine gleichberechtigte Auftei­

lung der Erziehungs- und Hausarbeit anstreben. Ein sachlicher Rechtfer­

tigungsgrund für die steuerliche Bevorzugung von Ehen mit einem

Haupteinkommensbezieher ist jedoch nicht ersichtlich. Denn verfas­

sungsrechtlich geschützt ist eine Ehe, in der die Ehepartner in gleichbe­

rechtigter Partnerschaft zueinanderstehen (vgl. BVerfGE 103, 89

<101>). So wurde in familienrechtlicher Verwirklichung von Art. 6

Abs. 1 GG bereits mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Fa­

milienrechts vom 14. Juni 1976 (BGBl. I 1421) das Leitbild der Haus­

frauenehe aufgegeben (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Stand Februar

2020, Lfg. 90, Art. 6 Rn. 27). Auch die im besonderen Gleichheitssatz

von Art. 3 Abs. 2 GG garantierte Gleichstellung von Mann und Frau wi­

derspricht der Bevorzugung von Ehen mit ungleichen Anteilen an den

gemeinsamen Einkünften.

206. Stattdessen hätte der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspiel­

raums einen Mechanismus entwickeln müssen, der die steuerliche Be­

vorzugung von Ehepartnern mit unterschiedlichen Beiträgen zum ge­

meinsamen Einkommen gegenüber Ehepartnern mit paritätischen Beiträ­

gen zum gemeinsamen Einkommen vermeidet. Das hat er indes mit dem

angegriffenen Gesetz versäumt.

E. Nichtigkeitserklärung

207. Die Verfassungswidrigkeit des SolzG 1995 in der Fassung des Solidari­

tätszuschlag-Rückführungsgesetzes hat zu einer Nichtigkeitserklärung

gemäß § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG zu führen. Eine bloße Unvereinbar­

keitserklärung, verbunden mit einer befristeten Fortgeltung der verfas­

sungswidrigen Regelung, kommt vorliegend nicht in Betracht. Die Vo­

raussetzungen hierfür sind nicht gegeben. Eine der vom Bundesverfas­

sungsgericht entwickelten Fallgruppen liegt nicht vor.

208. Die Nichtigerklärung schränkt nicht die Gestaltungsfreiheit des Gesetz­

gebers ein. Im Hinblick auf die über den 31. Dezember 2019 hinaus fort­

dauernde Solidaritätszuschlagpflicht geht es nicht darum, einen gleich­

heitswidrigen Begünstigungsausschluss zu korrigieren (vgl. BVerfGE

104, 74 <91>; 122, 210 <246>). Wie gezeigt (unter D I und II), verletzt

die unveränderte Erhebung der Abgabe die Beschwerdeführer in ihrer

Eigentumsgarantie und ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit. Die Verlet­

zung des allgemeinen Gleichheitssatzes ( dazu D III) tritt „lediglich" ab

dem Jahr 2021 verstärkend hinzu. Der gleichheitswidrige Begünsti-

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gungsausschluss ist also nicht das die Verfassungswidrigkeit des ange­

griffenen Gesetzes begründende Kriterium. Die Verfassungswidrigkeit

des SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs­

gesetzes folgt vielmehr bereits aus dem Wegfall des besonderen Finan­

zierungsbedarfs des Bundes mit dem 31. Dezember 2019 und der diesen

Umstand missachtenden fortdauernden Erhebung des Solidaritätszu­

schlags.

209. Die Nichtigerklärung des SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszu­

schlag-Rückführungsgesetzes führt darüber hinaus nicht zu schwer er­

träglichen Folgen. Der Nichtigkeitsausspruch hat kein „rechtliches Va­

kuum" zu Folge, das noch weniger mit dem Grundgesetz vereinbar wäre

als die Neuregelung (vgl. BVerfGE 8, 1 <19f.>; 34, 9 <43f.>). Vor dem

Hintergrund, dass die Abschaffung des Solidaritätszuschlags schon jahr­

zehntelang Gegenstand der politischen Diskussionen, wissenschaftlichen

Untersuchungen und gerichtlicher Verfahren war, ist kein Anhaltspunkt

dafür ersichtlich, dass die sofortige Ungültigkeit des SolzG 1995 in der

Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes dem Schutz

überragender Güter des Gemeinwohls die Grundlage entziehen würde.

210. Die Notwendigkeit einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung

steht einer Nichtigerklärung nicht entgegen. Sie kann nur Geltung bean­

spruchen, wenn sich der Gesetzgeber auf seine Finanz- und Haushalts­

planung verlassen durfte (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 5.3; ferner Presse­

mitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 42/2017 vom 7. Juni 2017

zur Kembrennstoffsteuer; siehe auch BVerfGE 145, 171 <229>; dazu

auch Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2017, BTDrucks 19/170,

S. 122ff., Nr. 2.2.3.). Auf einen solchen Vertrauensschutz kann sich der

Gesetzgeber angesichts der breit diskutierten verfassungsrechtlichen

Problematik eines Fortbestands des Solidaritätszuschlags über das Jahr

2019 hinaus hier nicht berufen. Nach der jahrelangen kritischen Debatte

um den Abbau des Solidaritätszuschlags können der Gesetzgeber und die

Bundesregierung nicht mehr guten Glaubens von der Rechtmäßigkeit der

im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorgehensweise ausgehen (vgl.

BWV-Gutachten, Tz. 5.3).

211. Der Eingriff in die betroffenen Grundrechte der Beschwerdeführer ist

auch nicht für eine Übergangszeit hinzunehmen (vgl. BVerfGE 33, 1

<13>; 51,268 <290 ff.>; 109, 190 <235f.>).

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F. Annahme der Verfassungsbeschwerde

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212. Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG zur Ent­

scheidung anzunehmen. Die Voraussetzungen hierfür sind in beiden Al­

ternativen gegeben. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich

unzulässig oder unbegründet, wie unter C und D dargelegt. Darüber hin­

aus kommt der Verfassungsbeschwerde grundsätzliche Bedeutung zu (I).

Jedenfalls ist die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zur

Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführer angezeigt (II).

I. Grundsatzannahme

213. Der Verfassungsbeschwerde kommt gemäߧ 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG

grundsätzliche Bedeutung zu.

214. Eine grundsätzliche Bedeutung ist gegeben, wenn die Verfassungsbe­

schwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne

weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und noch nicht durch

die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder die durch ver­

änderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist (vgl. BVer­

fGE 90, 22 <24f.>; 96, 245 <248>). Über die Beantwortung der verfas­

sungsrechtlichen Frage müssen also ernsthafte Zweifel bestehen. An ih­

rer Klärung muss zudem ein über den Einzelfall hinausgehendes Inte­resse bestehen. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn sie für eine nicht

unerhebliche Anzahl von Fällen bedeutsam ist oder ein Problem von ei­

nigem Gewicht betrifft, das in künftigen Fällen erneut Bedeutung erlan­

gen kann (BVerfGE 90, 22 <24f.>).

215. Die hiesige Verfassungsbeschwerde lässt die Klärung grundsätzlicher

verfassungsrechtlicher Fragen erwarten, die weitreichende Auswirkun­

gen auf eine Vielzahl von Fällen haben. Denn von der Frage der Verfas­

sungsmäßigkeit des SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag­

Rückführungsgesetzes sind nicht nur die Beschwerdeführer betroffen,

sondern mit 37,4 Mio. eine überaus große Zahl anderer Einkommensteu­

erpflichtiger.

216. Unter anderem die Fragen,

- ob sich ein verfassungsrechtlicher Zwang zur Aufhebung einer

zeitlich unbefristet geregelten Ergänzungsabgabe ergeben würde,

wenn die Voraussetzungen für die Erhebung dieser Abgabe evident

entfielen,

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welche Anforderungen an die Änderung der Verhältnisse zu stellen

sind, die für die Einführung der Ergänzungsabgabe maßgebend wa­

ren,

ob die Selektivität der Entlastung vom Solidaritätszuschlag mit

Blick auf ihre Begründung und ihre Auswirkungen in der Kumula­

tion mit der Einkommensteuer verfassungsrechtlich haltbar und

die Freigrenze anstelle eines Freibetrags im Zusammenhang mit

der Entlastung vom Solidaritätszuschlag das zutreffende Instru­

ment ist,

sind noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ge­

klärt, insbesondere nicht durch die Entscheidung zur Ergänzungsabgabe

1968 (vgl. BVerfGE 32, 333) und auch nicht durch die Nichtannahme­beschlüsse betreffend das Solidaritätszuschlaggesetz von 1991 (Be­

schluss vom 19. November 1999 2 BvR 1167/96) und das Solidaritäts­

zuschlaggesetz 1995 im Veranlagungszeitraum 2002 (Beschluss vom

11. Februar 2008 2 BvR 1708/06). Die Fragen sind auch nicht durch

den Beschluss betreffend das Normenkontrollverfahren zum Solidaritäts­

zuschlaggesetz 1995 im Veranlagungszeitraum 2007 (Beschluss vom

8. September 2010 - 2 BvL 3/10) geklärt. Das zweite Normenkontroll­

verfahren (2 BvL 6/14) ist noch anhängig.

217. Die Fragen werden aber bereits seit einigen Jahren in Rechtsprechung

und Literatur kontrovers diskutiert. Diese Diskussion hat sich mit nahen­

dem Ende des Solidarpakts II weiter intensiviert und ist Gegenstand zahl­

reicher Fachbeiträge. Die Rezeption ist dabei (fast) ausschließlich kri­

tisch. Die hier vorgetragenen Einwände werden vielfach geteilt und eine

Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht für notwendig erach­

tet. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts würde die Zuläs­

sigkeit der fortdauernden Erhebung des Solidaritätszuschlags über den

31. Dezember 2019 hinaus in sämtlichen betroffenen Fällen klären.

II. Durchsetzungsannahme

218. Die Verfassungsbeschwerde ist gemäߧ 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG auch

deshalb anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der

Beschwerdeführer angezeigt ist.

219. Das ist immer der Fall, wenn die geltend gemachte Verletzung von

Grundrechten besonderes Gewicht hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25f.>;

107, 395 <415>). Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung,die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet

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bzw. auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten

Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich

geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass

verletzt ( vgl. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge,

BVerfGG, Stand 59. EL 2020, § 93a Rn. 114ff.)).

220. Die angegriffenen Regelungen des SolzG 1995 in der Fassung des Soli­

daritätszuschlag-Rückführungsgesetzes sind ein unverhältnismäßiger

Eingriff in den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit und der allgemeinen

Handlungsfreiheit der Beschwerdeführer sowie eine Verletzung des all­

gemeinen Gleichheitssatzes. Ohne eine Entscheidung des Bundesverfas­

sungsgerichts entstünde den Beschwerdeführern „ein besonders schwe­

rer Nachteil", weil die geltend gemachte Verletzung ihrer Grundrechte

aus Art. 14 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG besonderes Ge­

wicht hat. Die Grundrechtsverletzung durch die fortdauernde Erhebung

des Solidaritätszuschlags über den Wegfall des besonderen Finanzie­

rungsbedarfs des Bundes hinaus deutet auf eine generelle Vernachlässi­

gung der Grundrechte der einkommensteuerpflichtigen Personen ein­

schließlich der Beschwerdeführer hin. Die Annahme der vorliegenden

Verfassungsbeschwerde ist insbesondere deshalb angezeigt, weil abseh­

bar ist, dass die Grundrechtsrügen der Beschwerdeführer berechtigt und

die aus der fortdauernden Abgabenpflicht folgenden erheblichen wirt­

schaftlichen Belastungen der Beschwerdeführer mangels entsprechender

Rückstellungen im Bundeshaushalt im Nachhinein nicht rückgängig zu

machen sind.

G. Zusammenfassung

1. Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Solidaritätszuschlaggesetz

1995, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Rückführung des Solida­

ritätszuschlags 1995 vom 10. Dezember 2019. Auf Grundlage des

SolzG 1995 wird seit 1995 ein Solidaritätszuschlag als Ergänzungs­

abgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer erhoben.

Die damalige Bundesregierung hielt ein solidarisches finanzielles

Opfer aller Bevölkerungsgruppen zur Finanzierung der Vollendung

der Einheit Deutschlands für unausweichlich und schlug deshalb ei­

nen mittelfristig zu überprüfenden Zuschlag für alle Steuerpflichti­

gen vor.

2. Am 31. Dezember 2019 ist der sogenannte Solidarpakt II zur Finan­

zierung der Wiedervereinigung ausgelaufen. Der Gesetzgeber hat

sich mit dem Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetz gleichwohl

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entschieden, einkommensteuerpflichtige Personen über den 31. De­

zember 2019 hinaus unverändert in voller Höhe der Solidaritätszu­

schlagpflicht zu unterwerfen. Die Beschwerdeführer sind mit ihren

Einkünften, die sie als Mitglieder des Deutschen Bundestages erhal­

ten, einkommensteuerpflichtig und zur Entrichtung des Solidaritäts­

zuschlags über das Jahr 2019 hinaus verpflichtet. Neben den Be­

schwerdeführern sind im Jahr 2020 rund 37,4 Mio. einkommensteu­

erpflichtige Personen und rund 500.000 körperschaftsteuerpflichtige

Körperschaften von der angegriffenen Regelung und den mit der Ver­

fassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen betroffen. Ab dem Jahr

2021 wird der Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer für einen

Teil der bisherigen Solidaritätszuschlagzahler abgeschafft und für ei­

nen weiteren Teil der bisherigen Solidaritätszuschlagzahler im Ver­

gleich zur heutigen Abgabepflicht reduziert.

3. Mit dem Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 kann die finanz­

politische und finanzverfassungsrechtliche Sonderlage einer beson­

deren Aufbauhilfe zugunsten der neuen Länder als beendet betrachtet

werden bzw. ist die Finanzierung der Deutschen Einheit über den

bundesstaatlichen Finanzausgleich abgeschlossen. Dem seit Beginn

des Jahres 2020 geltenden neuen Finanzausgleich liegt eine finanz­

verfassungsrechtliche Normallage zugrunde. Der Solidaritätszu­

schlag hat 25 Jahre nach seiner Einführung seine Finanzierungsauf­

gabe die Mitfinanzierung der Wiedervereinigung erfüllt. Seine

Aufrechterhaltung würde ihn zu einem Fremdkörper innerhalb des

Steuersystems machen.

4. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Die ange­

fochtene fortdauernde Abgabepflicht über den 31. Dezember 2019

hinaus verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus

Art. 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG und verstößt darüber hinaus ge­

gen den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG sowie

gegen den Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG.

5. Die unmittelbare Verfassungsbeschwerde gegen die gesetzliche Neu­

regelung ist zulässig. Die Erschöpfung des Rechtwegs ist nicht gebo­

ten, um eine vorherige Klärung der tatsächlichen und rechtlichen Fra­

gen durch die Fachgerichte zu gewährleisten. Denn es stellen sich

keine tatsächlichen Fragen, die einer Aufklärung durch die Finanz­

gerichte bedürfen und zugänglich sind. Soweit tatsächliche oder

rechtliche Fragen von Bedeutung sind, betreffen sie die Entschei­

dungsgrundlagen und die Einschätzung des parlamentarischen Ge-

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setzgebers, über die einzig das Bundesverfassungsgericht zu ent­scheiden berufen ist. Im Übrigen wirft die Verfassungsbeschwerde ausschließlich verfassungsrechtliche Fragen auf. Weil sich der Bun­desfinanzhof in den maßgebenden Fragen schon positioniert hat, wäre die Anrufung der Fachgerichte im Ergebnis sinnlos und würde die Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen bloß verzögern. Die Verzögerung würde nicht nur eine unzumutbare Belastung der Be­schwerdeführer bedeuten, die Jahr für Jahr weiter mit dem Solidari­

tätszuschlag belastet würde, was für sich genommen bereits die Ver­fassungsbeschwerde zum jetzigen Zeitpunkt rechtfertigt. Die Verzö­

gerung hätte darüber hinaus zur Folge, dass Jahr für Jahr ein milliar­denschwerer Betrag aus den Einnahmen der verfassungswidrigen Abgabe auflaufen würde, den der Bund nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der ohnehin schon angespannten Haushalts- und Finanzlage erstatten müsste.

6. Die Verfassungsbeschwerde ist von allgemeiner Bedeutung, dennvon der Frage der Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Gesetzessind nicht nur die Beschwerdeführer betroffen, sondern auch eineüberaus große Zahl anderer einkommensteuerpflichtiger Personen.

7. Die Jahresfrist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde ist gewahrt.Das gilt auch hinsichtlich der Regelungen des SolzG 1995, soweit sieGrundlage für die Erhebung des Solidaritätszuschlags im Veranla­gungszeitraum 2020 sind. Denn der Bundesgesetzgeber hat die Re­gelungen in seinen Willen aufgenommen und im Dezember 2019 er­neut eine politische Entscheidung über die Rechtfertigung der Ergän­zungsabgabe getroffen. Darüber hinaus trifft den Gesetzgeber hin­sichtlich des Veranlagungszeitraums 2020 (wie auch der folgendenVeranlagungszeiträume) ein echtes Unterlassen. Er hat es unterlas­sen, seine verfassungsrechtliche Pflicht zu erfüllen, die Rechtferti­gung einer Ergänzungsabgabe stetig zu beobachten und bei einemWegfall der Rechtfertigung die Ergänzungsabgabe wieder abzu­schaffen. Im Falle eines echten Unterlassens ist die Beschwerdefristnicht anzuwenden.

8. Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der Fassung des Solidaritäts­zuschlag-Rückführungsgesetzes stellt sich als verfassungswidrige In­halts- und Schrankenbestimmung des Eigentums und Verletzung derallgemeinen Handlungsfreiheit der Beschwerdeführer dar, weil esnicht mehr die Kompetenzordnung des Grundgesetzes wahrt. Seitdem 1. Januar 2020 ist das Gesetz nicht mehr mit den finanzverfas-

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sungsrechtlichen Regelungen vereinbar. Die Erhebung des ursprüng­

lich verfassungsgemäß eingeführten Solidaritätszuschlags kann nicht

mehr auf eine verfassungsrechtliche Grundlage gestützt werden, weil

a) das Finanzverfassungsrecht des Grundgesetzes kein Steuerer­

findungsrecht des Gesetzgebers kennt und sich der Bund nicht

nach politischer Opportunität an dem Katalog der Steuertypen

vorbei eine Einnahmequelle schaffen kann,

b) die auf Grundlage des SolzG 1995 erhobene Abgabe eine Er­

gänzungsabgabe (nur) zur Finanzierung der deutschen Einheit

ist und nicht etwa einer allgemeinen Finanzierung des Bundes­

haushalts dienen darf,

c) die die Einführung des Solidaritätszuschlags rechtfertigende fi­

nanzverfassungsrechtliche Sonderlage für die Zeit ab 2020 von

einem neuen, nur an der Finanzkraft und nicht der örtlichen

Lage ausgerichteten Länderfinanzausgleich ohne spezifische

Regelungen für die ostdeutschen Bundesländer und damit einer

finanzverfassungsrechtlichen Normallage abgelöst wurde und

d) die Weiterführung des Solidaritätszuschlags außerhalb der

nicht fortbestehenden finanzverfassungsrechtlichen Sonder­

lage als „zweite Säule" der allgemeinen Einkommensbesteue­

rung das verfassungsrechtliche Normgefüge von Zustim­

mungs- und Ertragszuständigkeiten unterläuft.

9. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückfüh­

rungsgesetzes verstößt darüber hinaus gegen den allgemeinen

Gleichheitssatz. Ein vernünftiger, aus der Sache oder sonst sachlich

einleuchtender Grund dafür, dass die Beschwerdeführer und ein Teil

der bisher abgabepflichtigen Personen weiterhin den Solidaritätszu­

schlag zahlen müssen, während eine andere Gruppe der Einkommen­

steuerpflichtigen hiervon befreit wurde, ist nicht ersichtlich. Von ei­

nem „solidarischen finanziellen Opfer aller Bevölkerungsgruppen"

kann nicht mehr die Rede sein. Die fortdauernde Erhebung des Soli­

daritätszuschlags wird zur dauerhaften Fixierung der Gesamtertrag­

steuerbelastung einer bestimmten Gruppe von Einkommensbezie­

hern außerhalb des Einkommensteuertarifs missbraucht.

10. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückfüh­

rungsgesetzes verstößt auch gegen Art. 6 Abs. 1 GG sowie das Gebot

horizontaler Steuergerechtigkeit aus Art. 3 Abs. 1 GG. Denn die Er-

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höhung der Freigrenze führt dazu, dass Ehepaare als Wirtschaftsge­

meinschaft mit identischer gemeinsamer Leistungsfähigkeit in Ab­

hängigkeit der individuellen Beiträge der Ehepartner zu den gemein­

samen Einkünften unterschiedlich besteuert werden. Diese Ungleich­

behandlung widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot gleicher

Steuer bei gleicher Leistungsfähigkeit und ist nicht durch sachliche

Gründe gerechtfertigt. Entgegen der verfassungsrechtlichen Vorga­

ben ist das angegriffene Gesetz auch dazu geeignet, in die freie Ent­

scheidung der Ehepartner über ihre Aufgabenverteilung in der Ehe

einzugreifen.

11. Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG zur

Entscheidung anzunehmen, weil sie nicht offensichtlich unzulässig

oder unbegründet ist.

12. Der Verfassungsbeschwerde kommt grundsätzliche Bedeutung zu,

weil sie die Klärung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen

erwarten lässt, die weitreichende Auswirkungen haben und noch

nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt sind.

Von der Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelun­

gen ist eine Vielzahl von Einkommensteuerpflichtigen betroffen.

Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts würde die Zuläs­

sigkeit der Erhebung des Solidaritätszuschlags in sämtlichen be­

troffenen Fällen klären und über den Fall der Beschwerdeführer hin­

aus zahlreiche gleich gelagerte Fälle anderer einkommensteuer­

pflichtigen Personen praktisch mitentschieden.

13. Die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ist auch zur

Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführer angezeigt.

Ohne eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entstünde

den Beschwerdeführern „ein besonders schwerer Nachteil". Die fort­

dauernde Abgabenpflicht deutet auf eine generelle Vernachlässigung

der Grundrechte der Beschwerdeführer hin. Der Gesetzgeber hat die

grundrechtlichen Positionen der Beschwerdeführer und die Wirkun­

gen seiner einseitig belastenden Maßnahmen grob verkannt und ist

gerade zu leichtfertig mit den grundrechtlich geschützten Positionen

umgegangen.

14. Die Annahme der vorliegenden Verfassungsbeschwerde ist schließ­

lich insbesondere deshalb angezeigt, weil die aus der fortdauernden

Abgabepflicht folgenden erheblichen wirtschaftlichen Belastungen

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