WHITE CASE · 2020. 8. 27. · WHITE CASE 24.August 2020 erheben wir hiermit unter Vorlage der auf...
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WHITE �CASE
24. August 2020
erheben wir hiermit unter Vorlage der auf uns ausgestellten Vollmachten der Beschwerdeführer (Anlagenkonvolut Bf 1)
VERFASSUNGSBESCHWERDE
gegen das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Oktober 2002 (BGBI. I S. 4130), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Rückführung des
Solidaritätszuschlags 1995 (Änderung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995) vom 10. Dezember 2019 (BGBL I S. 2115).
Wir beantragen, das Bundesverfassungsgericht möge wie folgt entscheiden:
1. Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Okto
ber 2002 (BGBl. I S. 4130), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Rückführung
des Solidaritätszuschlags 1995 (Änderung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995) vom
10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2115), verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrech
ten aus Art. 14 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes und ist nichtig.
2. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen
für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
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BEGRÜNDUNG
Der Begründung der Verfassungsbeschwerde und unserer Anträge liegt folgende
Gliederung zugrunde:
A. Vorbemerkungen ................................................................................... 5
B. Sachverhalt ............................................................................................. 8
I. Zu dem Solidaritätszuschlag ..................................................... 8
1. Ergänzungsabgabe Historie, Funktion undLegitimation ..................................................................... 8
2. Historie Solidaritätszuschlag 1991 und 1995 ............. 10
3. Aufkommen des Solidaritätszuschlags .......................... 12
4. Finanzierung der Wiedervereinigung/ SolidarpaktI und II ........................................................................... 13
2
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5. Entscheidung zur fortdauernden Erhebung .................... 14
II. Zum Stand des wiedervereinigungsbedingten
zusätzlichen Finanzbedarfs ..................................................... 18
III. Zur aktuellen Haushaltslage und Steuerbelastung ............... 20
1. Aktuelle Haushaltslage .................................................. 20
a) Bundeshaushalt .............................................................. 20
b) Haushalte der Länder und Kommunen .......................... 22
2. Wachsende Steuerbelastung .......................................... 23
IV. Zu den Beschwerdeführern .................................................... 24
1. Einkünfte der Beschwerdeführer ................................... 25
2. Solidaritätszuschlagpflicht ............................................. 25
C. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde .......................................... 25
I. Beschwerdegegenstand ............................................................ 25
II. Beschwerdefähigkeit und Beschwerdebefugnis .................... 26
III. Beschwerdebefugnis und Grundsatz der Subsidiarität ....... 26
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung ........................ 27
a) Art. 14 Abs. 1 GG .......................................................... 27
b) Art. 2 Abs. 1 GG ............................................................ 29
c) Art. 3 Abs. 1 GG ............................................................ 30
2. Gegenwärtige Selbstbetroffenheit.. ................................ 31
3. Keine Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ........... 32
a) Allgemeine Bedeutung .................................................. 33
b) Zweck des Subsidiaritätsprinzips verfehlt ..................... 34
aa) Ausschließlich verfassungsrechtliche Fragen ................ 34
bb) Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips ................... 35
IV. Rechtswegerschöpfung ............................................................ 36
V. Frist ........................................................................................... 36
D. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde ...................................... 38
I. Art. 14 Abs. 1 GG .................................................................... 38
(1)
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1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie ............................ 38
2. Eingriff in die Eigentumsgarantie .................................. 3 9
3.
a)
b)
aa)
bb)
Verfassungswidrige Inhalts- und
Schrankenbestimmung ................................................... 3 9
Regelungsschranken ...................................................... 39
Verfassungsrechtliche Anforderungen verfehlt ............. 3 9
Funktion des Finanzverfassungsrechts ......................... .40
Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe .................. .41
Sachlicher Grund .......................................................... .43
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(2) Zeitliche Grenzen .......................................................... .45
(3) Verfassungsgerichtliche Kontrolle ................................ .46
cc) Sachlicher Grund für Solidaritätszuschlag entfallen .... .4 7
dd) Keine Umwidmung ........................................................ 51
(1) Keine explizite Umwidmung ......................................... 51
(2) Implizite Umwidmung für andere Zwecke unzulässig .. 51
(3) ,,Corona-Soli" unzulässig .............................................. 52
II. Art. 2 Abs. 1 GG ...................................................................... 54
III. Art. 3 Abs. 1 GG ...................................................................... 54
1. Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes ....... 55
2. Missachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes ........... 55
a) Ungleichbehandlung ...................................................... 56
b) Keine Rechtfertigung ..................................................... 57
aa) Die Ungeeignetheit des Instruments der Freigrenze ...... 57
bb) Keine sachgemäße Begründung ..................................... 59
cc) Keine folgerichtige Belastungsentscheidung ................. 61
dd) Keine Rechtfertigung der Ungleichbehandlunghinsichtlich der Kapitalerträge ....................................... 62
IV. Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs 1 GG .............................. 63
1. Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m.
Art. 3 Abs 1 GG ............................................................. 63
2. Missachtung der Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1
GG i.V.m. Art. 3 Abs 1 GG ........................................... 64
a) Verstoß gegen das Gebot horizontalerSteuergerechtigkeit ........................................................ 64
aa) Ungleichbehandlung ...................................................... 64
bb) Keine Rechtfertigung ..................................................... 66
b) Unzulässige Anreize zur ehelichenAufgabenverteilung ....................................................... 66
E. Nichtigkeitserklärung .......................................................................... 67
F. Annahme der Verfassungsbeschwerde .............................................. 69
I. Grundsatzannahme ................................................................. 69
II. Durchsetzungsannahme .......................................................... 70
G. Zusammenfassung ............................................................................... 71
Die der Verfassungsbeschwerde über die Vollmachten hinaus beigefügten An
lagen sind in einem Anlagenverzeichnis aufgeführt.
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A. Vorbemerkungen
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1. Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Solidaritätszuschlaggesetz 1995
(SolzG 1995) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Oktober
2002 (BGBl. I S. 4130), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur
Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 (Änderung des Solidaritäts
zuschlaggesetzes 1995) vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2115) (im
Weiteren „Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetz"). Auf Grund
lage des SolzG 1995 wird zur Finanzierung der Kosten der Wiedervereinigung seit 1995 ein sogenannter Solidaritätszuschlag als Ergänzungsab
gabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer erhoben. Mit
dem Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetz wird der Solidaritätszu
schlag zur Einkommensteuer im Jahr 2020 unverändert fortgeführt und
ab dem Jahr 2021 für einen Teil derer abgeschafft, die ihn bisher auf dieLohn- oder Einkommensteuer zahlen sowie für weitere bisherigen Zahler
im Vergleich zur heutigen Abgabepflicht reduziert. Zehn Prozent der
heutigen Solidaritätszuschlagzahler auf die Lohn- oder Einkommens
teuer werden ab 2021 rund 50 Prozent des bisherigen jährlichen Gesamt
aufkommens der Abgabe finanzieren. Auf die Kapitalertragsteuer und
auf die Körperschaftsteuer wird der Solidaritätszuschlag über den
31. Dezember 2019 hinaus wie bisher erhoben.
2. Am 31. Dezember 2019 ist der sogenannte Solidarpakt II zur Finanzie
rung der Wiedervereinigung ausgelaufen. Der Gesetzgeber hat sich mitdem Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetz 30 Jahre nach der deut
schen Einheit und 25 Jahre nach der Einführung des Solidaritätszuschlags gleichwohl entschieden, einen Teil der einkommensteuerpflich
tigen Personen über den 31. Dezember 2019 hinaus unverändert in voller
Höhe der Solidaritätszuschlagpflicht zu unterwerfen. Einen verbindli
chen Abbaupfad für den vollständigen Abbau der Belastung hat der Ge
setzgeber bei Erlass des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes
nicht präsentiert. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber weder eine Ab
schaffung noch eine Rückführung des Solidaritätszuschlags zur Körperschaftsteuer und auf die Kapitalertragsteuer geregelt.
3. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich
- zum einen gegen das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der Fas
sung der Bekanntmachung vom 15. Oktober 2002, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 10. Dezember 2019 im Hin
blick auf den Veranlagungszeitraum 2020 mit der unverändertenFortführung der Solidaritätszuschlagspflicht sowie
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zum anderen gegen das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der
Fassung der Bekanntmachung vom 15. Oktober 2002, zuletzt ge
ändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 10. Dezember 2019 im
Hinblick auf den Veranlagungszeitraum 2021 mit dem nicht voll
ständigen Abbau des Solidaritätszuschlags ab dem Veranla
gungszeitraum 2021.
4. Die Erhebung des ursprünglich verfassungsgemäß eingeführten Solida
ritätszuschlags kann ab dem Jahr 2020 nicht mehr auf eine verfassungs
rechtliche Grundlage gestützt werden, weil
(1) das Finanzverfassungsrecht des Grundgesetzes kein Steuererfin
dungsrecht des Gesetzgebers kennt und sich der Bund nicht nach
politischer Opportunität an dem Katalog der Steuertypen des
Art. 106 GG vorbei eine Einnahmequelle schaffen kann,
(2) die auf Grundlage des SolzG 1995 erhobene Abgabe eine Ergän
zungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG (nur) zur Fi
nanzierung der deutschen Einheit ist und nicht etwa einer allge
meinen Finanzierung des Bundeshaushalts dienen darf,
(3) die die Einführung des Solidaritätszuschlags rechtfertigende fi
nanzverfassungsrechtliche Sonderlage für die Zeit ab 2020 von
einem neuen, nur an der Finanzkraft und nicht der örtlichen Lage
ausgerichteten Länderfinanzausgleich ohne spezifische Regelun
gen für die ostdeutschen Bundesländer und damit einer finanzver
fassungsrechtlichen Normallage abgelöst wurde,
(4) den Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag seit 2020 weder im
Bundeshaushalt noch im Länderfinanzausgleich entsprechende
Ausgaben ausschließlich für die ostdeutschen Länder zur Vollen
dung der Deutschen Einheit entgegenstehen und auch im Bundes
haushalt keine neue Ausgabe, anknüpfend an den Solidarpakt II
explizit zur Vollendung der deutschen Einheit geschaffen wurde,
(5) die Weiterführung des Solidaritätszuschlags außerhalb der nicht
fortbestehenden finanzverfassungsrechtlichen Sonderlage als
„zweite Säule" der allgemeinen Einkommensbesteuerung das
verfassungsrechtliche Normgefüge von Zustimmungs- und Er
tragszuständigkeiten unterläuft und
(6) die fortdauernde Erhebung des Solidaritätszuschlags zur dauer
haften Fixierung der Gesamtertragsteuerbelastung einer bestimm
ten Gruppe von Einkommensbeziehern außerhalb des Einkom
mensteuertarifs missbraucht wird.
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5. Die Beschwerdeführer sind Mitglieder des Vorstands der FDP-Bundes
tagsfraktion. Mit dieser Verfassungsbeschwerde verfolgen sie das politi
sche Anliegen weiter, die versprochene und verfassungsrechtlich gebo
tene vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags mit Wirkung
zum 1. Januar 2020 mit juristischen Mitteln durchzusetzen. Die FDP
Fraktion hatte sowohl in den Haushaltsberatungen für 2020 als auch bei
den Beratungen zum zweiten Nachtragsaushalt 2020 mit zahlreichen
konkreten Vorschlägen aufgezeigt, wie man auf die Einnahmen aus dem
Solidaritätszuschlag in Höhe von 20 Mrd. Euro vollständig verzichten
könnte, ohne dass die Ausgaben für Aufgaben der staatlichen Daseins
vorsorge deswegen gekürzt werden müssten. Die Große Koalition be
schloss gleichwohl, die streitgegenständliche Abgabe in 2020 unverän
dert zu erheben und ab 2021 nur partiell abzuschaffen bzw. ,,zurückzu
führen".
6. Die Beschwerdeführer sind mit ihren Einkünften, die sie als Mitglieder
des Deutschen Bundestages erhalten, einkommensteuerpflichtig und da
her zur Entrichtung des Solidaritätszuschlags über das Jahr 2019 hinaus
verpflichtet. Neben den Beschwerdeführern sind im Jahr 2020 rund
37,4 Mio. der insgesamt rund 51,1 Mio. einkommensteuerpflichtigen
Personen und rund 500.000 körperschaftsteuerpflichtige Körperschaften
von der angegriffenen Regelung und den mit der Verfassungsbeschwerde
aufgeworfenen Fragen betroffen (zu den Zahlen etwa Institut der deut
schen Wirtschaft, Auswirkungen der Reform des Solidaritätszuschlags
auf die Steuer, Kurzgutachten vom 27. Januar 2020, 1 S. 10, 13, im Wei
teren „IW-Gutachten"). Ab dem Jahr 2021 greift das Solidaritätszu
schlag-Rückführungsgesetz in die Rechte von rund 3,7 Mio. einkom
mensteuerpflichtigen Personen ein (vgl. IW-Gutachten, S. 10). Die Be
schwerdeführer zählen dazu.
7. Bis zum Ende der aktuellen Finanzplanung (Bundeshaushalt 2023) er
wartet der Bund Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag in Höhe von
bis zu 54,2 Mrd. Euro. Würde der Bund wie im Fall der Kembrennstoff
besteuerung zu einer Rückzahlung der vom Haushaltsjahr 2020 an ein
genommenen Steuermittel verurteilt werden, würde diese milliarden
schwere Rückzahlungspflicht neben die Verpflichtungen zur Rückfüh
rung der anlässlich der Corona-Pandemie aufgenommenen Kredite ab
dem Bundeshaushalt 2023 treten. Die vorliegende Verfassungsbe
schwerde ist deshalb von ganz besonderer Aktualität und Dringlichkeit.
1 http ://www.in.m.de/fileadmin/insm-dm iext/kampagn srcuem- enken-jcrzt/Soli/20200127 Gutachten Soli-Rcfonn I W.pclt: zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
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B. Sachverhalt
8. Den rechtlichen Ausführungen stellen wir die für die Verfassungsbe
schwerde wesentlichen Fakten zu dem Solidaritätszuschlag (I), dem
Stand der Finanzierung der Deutschen Einheit (II), der aktuellen Haus
haltslage und Steuerbelastung (III) und zu den Beschwerdeführern (IV)
voran.
I. Zu dem Solidaritätszuschlag
1. Ergänzungsabgabe - Historie, Funktion und Legitimation
9. Der Solidaritätszuschlag beruht auf der Gesetzgebungskompetenz des
Bundes gemäß Art. 105 Abs. 2, 106 Abs. 1 Nr. 6 GG zur Einführung ei
ner besonderen Steuer vom Einkommen, der neben der Einkommen- und
Körperschaftsteuer zu erhebenden Ergänzungsabgabe. Die Einnahmen
aus einer Ergänzungsabgabe, wie dem Solidaritätszuschlag, stehen allein
dem Bund zu, weshalb der Bundesrat einem Bundesgesetz über eine sol
che Abgabe nicht zustimmen muss.
10. Die mit dem Gesetz zur Anderung und Ergänzung der Finanzverfassung
(Finanzverfassungsgesetz) vom 23. Dezember 1955 (BGBl. I S. 817) zu
nächst in Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG geschaffene Kompetenz zur Einfüh
rung einer Ergänzungsabgabe im Gesamtsteuersystem
,, ist dazu bestimmt, anderweitig 11icht auszugleichende Bedarfs
spitzen im Bundeshaushalt zu decken, den gesetzgebenden Körperschafen des Bundes in begrenztem Rahmen eine elastische,
der iewei/igen Koniunkturlage und dem ie'1veiligen Haushaltsbe
darf angepaßte Finanzpolitik zu ermöglichen und das Steuerver
teilungssystem im Verhältnis zwischen Bund und Ländern
dadurch zu festigen, daß die Notwendigkeit einer Revision der
Steuerbeteiligungsquoten [. . .} beschränkt wird [. . .}. " (vgl.
BTDrucks IV480, S. 72, Nr. 105, Hervorhebung nur hier)
11. Die damalige Bundesregierung setzte sich mit dem Vorhaben, zeitgleich
mit dem neuen Kompetenztitel auch ein Gesetz über eine Ergänzungsab
gabe zur Einkommensteuer und zur Körperschafisteuer zu erlassen (vgl.
BTDrucks II/484), wegen des Widerstands des Bundesrats zunächst nicht
durch. Der Bundesrat lehnte eine Ergänzungsabgabe im Sinne der Regie
rungsvorlage mit dem Argument ab, dass es nicht vertretbar sei, im Zu
sammenhang mit der Steuerreform, die eine Tarifsenkung vorsah, die
steuerliche Entlastung durch Gebrauch machen von dem Zuschlagsrecht
zum Teil wieder aufzuheben. Er erkannte aber die Notwendigkeit eines
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Zuschlagsrechts des Bundes grundsätzlich an, wobei „von dem Zu
schlagsrecht[. . .} jedoch nur in besonderen Notfällen Gebrauch gemacht
werden [sollte}" (vgl. BTDrucks Il/484, S. 1, Hervorhebung nur hier).
12. Der amtlichen Begriindung des seinerzeit gescheiterten Gesetzentwurfs
sind wesentliche Beweggrunde für die Erhebung einer Ergänzungsab
gabe sowie ihre Funktion zu entnehmen:
„ Die mit einem durch Gesetz jederzeit änderbaren und damit »beweglichen« Hebesatz ausgestattete Ergänzungsabgabe [. . .}soll es dem Bundesgesetzgeber ermöglichen, ohne Anwendungder Revisionsklausel und ohne .Änderung der Steuersätze Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt zu decken. [. . .} Auf diese Weisewird die Abgabe, deren Erhebung nur mit geringen Hebesätzenin Betracht kommt und keineswegs /ilr die Dauer. sondern lediglich fiir Ausnahmelagen bestimmt ist, wesentlich zur inneren Fes
tigung der bundesstaatlichen Finanzstruktur beitragen. " (vgl.
BTDrucks Il/484, S. 4, Hervorhebung nur hier)
13. Spätestens bei der Beratung über den Haushaltsplan für das nächste
Rechnungsjahr wäre „erneut zu prüfen [. . .}, ob und inwieweit die Erhebung der Abgabe weiterhin geboten ist" (vgl. BTDrucks Il/484, S. 5).
14. Gut zehn Jahre später legte die damals amtierende Bundesregierung er
neut einen Gesetzentwurf für eine Ergänzungsabgabe auf die Einkom
men- und Körperschaftsteuer vor (vgl. BTDrucks V/2087). Mit dem Gesetz zur Verwirklichung der mehrjährigen Finanzplanung des Bundes,
I Teil Zweites Steueränderungsgesetz 1967 vom 21. Dezember 1967
(BGBL I S. 1254), das in Art. 1 das Gesetz über eine Ergänzungsabgabezur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer (Ergänzungsabgabegesetz) enthielt, wurde erstmalig eine Ergänzungsabgabe von 3 Prozent
mit Wirkung ab dem Jahr 1968 eingeführt und für ein knappes Jahrzehnt
erhoben. Das Gesetz sah keine Befristung der Ergänzungsabgabe vor.
Das Ergänzungsabgabegesetz war Teil eines Gesamtprogramms zur Si
cherung der Ordnung der Bundesfinanzen. Zu den Steuerrechtsänderun
gen zählte die den Konsum breiter Bevölkerungsschichten treffende Um
satzsteuererhöhung. Die Ergänzungsabgabe sollte ein Gegengewicht zu
dieser Erhöhung der Verbrauchsbesteuerung schaffen und durch die stär
kere direkte Belastung der höheren Einkommen dem Prinzip der leis
tungsfähigkeitsgerechten Besteuerung in besonderem Maße Rechnung
tragen (vgl. BTDrucks V/2087, S. 8).
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2. Historie - Solidaritätszuschlag 1991 und 1995
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15. Der erste Solidaritätszuschlag wurde im Jahr 1991 mit dem Gesetz zur
Einführung eines befristeten Solidaritätszuschlags und zur „4.°nderung von
Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen (Solidaritätsgesetz) vom
24. Juni 1991 (BGBL I S. 1318) eingeführt. Als Sinn und Zweck der Er
hebung wurden damals mehrere kurzfristig aufgetretene Ausgabenbe
darfe infolge der jüngsten Veränderungen in der Weltlage angeführt,
konkret die Entwicklungen im Mittleren Osten und die finanziellen Aus
wirkungen des Golfkriegs sowie die Mehrbelastungen resultierend aus
den Entwicklungen in Südost- und Osteuropa und aus den Aufgaben in
den neuen Bundesländern (vgl. BTDrucks 12/220, S. 1, 6). Damit wurde
intendiert, dass die Finanzierung „der unabweisbaren Mehraufwendun
gen [. . .} von allen Bevölkerungsgruppen und Schichten getragen wer
den" müsse (vgl. BTDrucks 12/220, S. 6, Hervorhebung nur hier). Dieser
erste Solidaritätszuschlag war zeitlich befristet und lief Mitte 1992 aus.
„Ein geringer, kurz befristeter Zuschlag zur Lohn-/Einkommen- und
Körperschafsteuer ist zur Lösung vorübergehender dringender Finanz
probleme besonders geeignet und nach der deutlichen Entlastung im
Rahmen des Steuerreformgesetzes 1990 vertretbar", so die damalige Be
gründung (vgl. BTDrucks 12/220, S. 6).
16. Der zweite und streitgegenständliche Solidaritätszuschlag wurde zur
langfristigen und nachhaltigen Finanzierung der deutschen Wiederverei
nigung beschlossen. Die Wiedervereinigung löste beim Bund einen er
heblichen zusätzlichen Finanzbedarf aus. Das Gesetz zur Umsetzung des
Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) vom 23. Juni 1993
(BGBL I S. 944, 975) enthielt neben der Neuordnung des bundesstaatli
chen Finanzausgleichs und einer Reihe von Maßnahmen zur Einschrän
kung von Ausgaben auch steuerliche Maßnahmen, u.a. den Solidaritäts
zuschlag: Als Teil des steuerlichen Maßnahmenpakets sah Art. 31 FKPG
das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 vor.
17. Der Solidaritätszuschlag war nur ein Baustein eines Finanzierungskon
zepts. Die Bundesregierung betonte damals in ihrem Gesetzentwurf:
„ Wegen des engen sachlichen Zusammenhangs aller Einzelfragen kann
die Lösung nur in einem alle Probleme umfassenden Gesamtkonzept ge
lingen." (BTDrucks 12/4748, S. 3). Ziel war es, den neuen Ländern „auf
Dauer eine angemessene Finanzausstattung zu sichern, um sie in dieLage zu versetzen, die laufenden Ausgaben wie in den alten Bundeslän
dern erfüllen und ihren investiven Nachholbedarf im öffentlichen Bereich
fnanzieren zu können. Außerdem sind für die Bewältigung der bei der
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Einigung Deutschlands übernommenen finanziellen Erblasten der ehe
maligen DDR dauerhafte Finanzierungsinstrumente zu schaffen"
(BTDrucks 12/4748, S. 2f).
18. Die Notwendigkeit der Einführung eines Solidaritätszuschlags von da
mals 7,5 Prozent der Bemessungsgrundlage, d.h. der festgesetzten Einkommen- oder Körperschaftsteuer, als Ergänzungsabgabe zur Lohn-,
Einkommen- und Körperschaftsteuer begründete die damalige Bundes
regierung wie folgt (vgl. BTDrucks 12/4748, S. 9 i.V.m. BTDrucks
12/4401, S. 51, Hervorhebung nur hier):
„ Zur Finanzierung der Vollendung der Ein/zeit Deutschlands ist
ein solidarisches finanzielles Opfer aller Bevölkerungsgruppen
unausweichlich. Die Bundesregierung schlägt deshalb mit Wir
kung ab 1. Januar 1995 einen mittelfi,istig zu überprüfenden
Zuschlag zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer far
alle Steuerpflichtigen vor. Dies ist auch unter dem Gesichtspunkt
der Steuergerechtigkeit der richtige Lösungsweg. Der Zuschlag
ohne Einkommensgrenzen belastet alle Steuerpflichtigen entspre
chend ihrer Leistungsfahigkeit. [. . .}"
19. Wie im Jahr 1991 sollten und wurden im Ausgangspunkt alle Steuerzahler zum Solidaritätszuschlag herangezogen. Das Gesetz in der endgülti
gen Fassung ist das Ergebnis einer Überarbeitung des Haushalts- und Finanzausschusses (vgl. BTDrucks 12/4801). Von der Abgabepflicht voll
ständig ausgenommen waren danach lediglich diejenigen einkommen
steuerpflichtigen Personen, bei denen die Einkommensteuerschuld die
Freigrenze von 1.332 DM (681,04 Euro) nicht überstieg. Mit der soge
nannten „Null-Zone" wurden „Kleinbeträge" von etwa 100 DM Solidaritätszuschlag bei Alleinstehenden bzw. 200 DM Solidaritätszuschlag beiVerheirateten von der Abgabepflicht ausgenommen (vgl. BTDrucks12/4801, S. 149). Mit dem Überschreiten der Freigrenze wurde nicht so
fort der volle Solidaritätszuschlag fällig. Der Zuschlag durfte nicht mehr
als 20 Prozent der Differenz zwischen der relevanten Einkommensteuerschuld und der jeweils maßgebenden Freigrenze betragen (sog. Milde
rungszone).2
2 Das heißt beispielsweise, dass bei einer Einkommensteuerschuld von 1.500 DM (über der Freigrenze)ein Solidaritätszuschlag nur in Höhe von 33,60 DM (20 Prozent der Differenz zwischen 1.500 DM und der Freigrenze von 1.332 DM) erhoben wird anstelle von 112,50 DM (7,5 Prozent von 1.500 DM). Erst ab einer Einkommensteuerschuld von mehr als 2.131 DM wurde der volle Solidaritätszuschlag fällig. Betrachtet man das zu versteuernde jährliche Einkommen eines Alleinstehenden besteht eine gedeckelte Abgabepflicht ab 12.517 DM (6.400 Euro) und muss der volle Abgabesatz ab einem zu versteuernden Einkommen von 16.330 DM (8.349,4 Euro) geleistet werden.
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20. Eine anfängliche Befristung enthielt das Gesetz in der endgültigen Fas
sung zwar nicht. Gleichwohl bestand im Gesetzgebungsverfahren Einig
keit, dass der Solidaritätszuschlag nur vorübergehend erhoben werden
sollte. Insbesondere in den Beratungen des Haushaltsausschusses wurde
die Frage einer zeitlichen Begrenzung des Solidaritätszuschlags ausführ
lich diskutiert (vgl. BTDrucks 12/4801, S. 145). Während die damaligen
Koalitionsfraktionen (CDU/CSU und FDP) eine Befristung auf drei
Jahre für wünschenswert hielten, sah die SPD Fraktion eine Befristung
zum damaligen Zeitpunkt nicht als sinnvoll an. Einigkeit bestand aber
darüber, dass „die Natur des Solidaritätszuschlags als eine Ergänzungs
abgabe. die aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht auf Dauer erho
ben werden könne, für eine Befristung spreche" (BTDrucks 12/4801,
S. 145, Hervorhebung nur hier).
21. Seither nahm der Gesetzgeber lediglich redaktionelle Anpassungen am
Solidaritätszuschlaggesetz 1995 vor und reduzierte die Höhe der Abgabe
ab dem Jahr 1998 auf 5,5 Prozent der Bemessungsgrundlage. Im Zusam
menhang damit wurden die Bundesanteile an der Umsatzsteuer angeho
ben. Zur Absenkung des Abgabensatzes hieß es, dass der Abbau keinen
Abbau der Solidarität mit den neuen Bundesländern bedeute und die Ab
senkung nur konjunkturelle Gründe habe (vgl. BTDrucks 13/8701, S. 6).
22. Der Gesetzgeber dehnte ab dem Jahr 2009 den Solidaritätszuschlag auf
die neu eingeführte Abgeltungsteuer, einer Erhebungsform der Einkom
mensteuer, aus (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SolzG 1995 i.V.m. § 32d
EStG). Für die Abgeltungsteuer finden die Freigrenzen nach § 3 Abs. 3
bis 5 SolzG 1995 keine Anwendung (vgl. Beck'sches Steuer-und Bilanz
rechtslexikon, Ed. 49 2019, Solidaritätszuschlag, Rn. 8).
3. Aufkommen des Solidaritätszuschlags
23. Das Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag steht allein dem Bund zu.
Es geht in den allgemeinen Bundeshaushalt ein. Eine spezifische haus
haltsrechtliche Zweckbindung besteht aufgrund des sogenannten Non
Affektationsprinzips nicht.
24. Für den Zeitraum von 1995 bis 2018 betrugen die kassenmäßigen Ein
nahmen aus dem Solidaritätszuschlag insgesamt 311,7 Mrd. Euro (vgl.
Präsident des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirt
schaftlichkeit in der Verwaltung in seinem Gutachten über den Abbau
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II bestand aus zwei Teilen. Der Korb I umfasste Sonderbedarfs-Bundes
ergänzungszuweisungen nach dem Finanzausgleichsgesetz in Höhe von
rund 105 Mrd. Euro mit dem Zweck, teilungsbedingte Rückstände bei
der Infrastruktur zu beseitigen und die schwächere kommunale Finanz
kraft auszugleichen. Die Zuweisungen überproportionaler Mittel von
rund 51 Mrd. Euro unter dem Korb II sollte den ostdeutschen Ländern
bis 2019 Planungssicherheit verschaffen, um noch bestehende struktu
relle Schwächen und Altlasten in bestimmten Politikfeldern gezielt ab
bauen zu können.
28. Zwischenzeitlich sind die finanziellen Beziehungen zwischen Bund und
Ländern neu geregelt. Seit Jahresbeginn 2020 liegt dem Finanzausgleich
wieder die verfassungsrechtliche Normallage zugrunde (dazu noch
Rn. 39ff.). Auch die anderen Bestandteile des Finanzierungskonzepts
sind mittlerweile ausgelaufen oder abgelöst worden.
5. Entscheidung zur fortdauernden Erhebung
29. Die Regierungskoalition vereinbarte für die 19. Wahlperiode, den Soli
daritätszuschlag „stufenweise" abzubauen, ohne allerdings einen konkre
ten Zeitplan für ein solches Stufenkonzept zu bestimmen. Ab dem Jahr
2021 sollen untere und mittlere Einkommen beim Solidaritätszuschlag
entlastet werden (vgl. Koalitionsvertrag, S. 53f., Zeilen 2431-2435 und
S. 68, Zeilen 3083-30876). Für die Bezieher höherer Einkommen bzw.
Löhne bleibt der Solidaritätszuschlag ebenso auf unbekannte Dauer be
stehen wie für körperschaftsteuerpflichtige Unternehmen und Sparer.
30. Die Fraktion der FDP war allerdings der Auffassung, dass der Fortbe
stand des Solidaritätszuschlags nach dem Auslaufen des zur Vollendung
der deutschen Einheit aufgelegten Solidarpakts II unter mehreren Ge
sichtspunkten verfassungswidrig wäre ( dazu näher BTDrucks 19/6440,
S. 4). Sie verfolgte mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des
Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 vom 1. März 2018 (BTDrucks
19/1038) das Ziel, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen. Das Vorhaben
war am 27. Juni 2018 Gegenstand eines öffentlichen Fachgesprächs im
Finanzausschuss. Die geladenen Sachverständigen äußerten mehrheitlich
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Fortbestands des Solidaritäts
zuschlags und sahen auch die nur teilweise Abschaffung äußerst kritisch
6 https://www.bundcsrcgicrune.de/breg-d themcn/koalitionsvertrug-zwis hcn-cdu-csu-und- pd-195906, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
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Seite 16 177 WHITE 6.CASE
11,9 Prozent des Unterschiedsbetrags zwischen der relevanten Bemes
sungsgrundlage und der jeweils maßgebenden Freigrenze. Danach ent
fällt ab dem Jahr 2021 durch die Anhebung der Freigrenzen in § 3
SolzG 1995 für einen Teil der Einkommensteuerzahler der Solidaritäts
zuschlag komplett. Für weitere bisherige Solidaritätszuschlagzahler wird
der Solidaritätszuschlag in der Milderungszone mit abnehmender Inten
sität abgesenkt. Oberhalb der Milderungszone wird er von knapp 1 Mio.
einkommensteuerpflichtigen Personen weiterhin in voller Höhe erhoben.
Darüber hinaus findet eine Entlastung auch nicht in Bezug auf die kör
perschaftsteuerpflichtigen Unternehmen und die Sparer statt, die Kapi
talertragsteuer leisten. Hierauf wird der Solidaritätszuschlag ebenfalls
unverändert in der vollen Höhe erhoben.
34. Während die Einführung des Solidaritätszuschlags damit begründet
wurde, dass das solidarische fnanzielle Opfer von allen Bevölkerungs
gruppen getragen werden müsse ( dazu oben Rn. 18), soll nun durch den
Abbau des Solidaritätszuschlags der Verteilung der zusätzlichen Steuer
last nach der Leistungsfähigkeit in besonderem Maße Rechnung getragen
werden; die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte rechtfertigt es
nach Auffassung der Bundesregierung, ,, einen Teil der Einkommensteu
erpflichtigen nicht zu erfassen" (vgl. BTDrucks 19/14103, S. lf., 11).
Die Bundesregierung begründet diesen nur teilweisen Abbau des Solida
ritätszuschlags damit, dass der
,, Bund[ . . .} weiterhin einen wiedervereinigungsbedingten zusätz
lichen Finanzierungsbedarf [hat], etwa im Bereich der Renten
versicherung, beim Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungs
gesetz, für den Arbeitsmarkt sowie für andere überproportionale
Leistungen aus dem Bundeshaushalt für die ostdeutschen Bun
desländer (bisheriger Korb II des Solidarpakts 11)." (vgl.
BTDrucks 19/14103, S. 1, ähnlich S. 9).
35. Weiter heißt es in der Begründung der Bundesregierung:
EMEA 127848071 v3
,,Die Mittel, die bisher zur Überwindung der Folgen der deut
schen Teilung aufgewendet worden sind, übersteigen das durch
den Solidaritätszuschlag erzielte Aufkommen. Das Aufkommen
des Solidaritätszuschlags 1995 bis 2016 betrug etwa 275 Mrd.
Euro. Hingegen beliefen sich allein die Ausgaben des Bundes aus
dem Solidarpakt I und II bis 2016, dem Bundesanteil für den
,, Fonds Deutsche Einheit" und das vom Bund übernommene De
fizit der Treuhandanstalt auf insgesamt 383 Mrd. Euro. Die Bun
desregierung geht davon aus, dass auch der fortgeführte Teil der
Seite 17 177 WHITE �CASE
Ergänzungsabgabe die fortbestehenden Lasten nicht vollständig
decken wird." (Vgl. BTDrucks 19/14103, S. 1)
Die Berechnung der Bundesregierung ist indes nicht nachvollziehbar.
Wegen der Einzelheiten verweisen wir auf das IW-Gutachten (S. 6): Auf
der Ausgabenseite bezieht die Bundesregierung Zahlungen im Rahmen
des Fonds Deutsche Einheit und die Defizite der Treuhandgesellschaft in
den Jahren 1990 bis 1994 mit ein und kommt so auf 3 83 Mrd. Euro bis
einschließlich 2016. Auf der Einnahmenseite betrachtet die Bundesregie
rung demgegenüber die Jahre erst ab 1995 und kommt auf Einnahmen
von 275 Mrd. Euro. Unklar ist, weshalb nur der Zeitraum bis 2016 und
nicht bis 2019 betrachtet wird. Ferner erscheint es unsystematisch, auf
der Ausgabenseite Jahre zu betrachten, in denen es den streitgegenständ
lichen Solidaritätszuschlag nicht gab. Laut IW-Gutachten (S. 6) hat der
Bund von 1995 bis 2019 rund 87 Mrd. Euro mit dem Solidaritätszuschlag
mehr eingenommen, als er für die Förderung der ostdeutschen Bundes
länder im Rahmen des Solidarpakts ausgegeben hat. Ausgehend von den
Solidarpakt-Zahlungen kann seit dem Jahr 2011 ein kontinuierlich wach
sender Betrag aus den Solidaritätszuschlags-Einnahmen zur Finanzie
rung anderer Ausgabenprojekte des Bundes verwendet werden, weil die
Einnahmen die Zahlungsverpflichtungen für den Solidarpakt I und II
übersteigen.
36. Die Argumentation der Bundesregierung, dass allein das Aufkommen
aus dem Solidaritätszuschlag die Gesamtkosten der Deutschen Einheit
finanzieren soll, widerspricht auch der Begründung im Ursprungsgesetz
von 1993, wonach der Solidaritätszuschlag nur ein Baustein sei (oben
Rn. 17). Es gibt ferner keine Pflicht in der Bundeshaushaltsordnung, spe
zifische Ausgaben durch spezifische Steuern komplett gegen zu finan
zieren. Zudem gilt nach dem Jährlichkeitsgrundsatz jedes Haushaltsge
setz nur für ein Jahr, bestimmte Ausgaben aus der Vergangenheit können
nicht später getilgt werden, sie fallen der Gesamtverschuldung anheim.
Die Schulden der Treuhandanstalt und des Kreditabwicklungsfonds so
wie Teile der alten Schulden der kommunalen Wohnungswirtschaft wur
den im sogenannten Erblastentilgungsfonds zusammengeführt. Dieser
wurde zum 31. Dezember 2015 aufgelöst, seine Verbindlichkeiten wur
den in die Schulden des Bundes eingegliedert. Auch die restlichen Ver
bindlichkeiten aus dem Fonds Deutsche Einheit wurden in die Bundes
schulden eingegliedert. Diese Verbindlichkeiten können nicht mehr ge
sondert getilgt werden.
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Seite 18 177 WHITE &CASE
37. Der teilweise Abbau des Solidaritätszuschlags wird gegenüber der bishe
rigen Finanzplanung der Bundesregierung zu einer jährlichen Nichtver
einnahmung von Steuern von rund 10 Mrd. Euro führen (vgl. BTDrucks
19/14103, S. 10). Dies entspricht der Hälfte des Aufkommens aus dem
Solidaritätszuschlag, der im Haushaltsentwurf 2020 mit 20,0 Mrd. Euro
veranschlagt wurde (vgl. Stellungnahme Bundesrechnungshof S. 1).
Nach dem Eckwertebeschluss der Bundesregierung vom 20. März 2019
zum Finanzplan 2019 bis 2023 muss davon ausgegangen werden, dass
bis zum Jahr 2023 kein weiterer Abbau des Solidaritätszuschlags vorge
sehen ist (vgl. Eckwertebeschluss der Bundesregierung zum Regierungs
entwurf des Bundeshaushalts 2020 und zum Finanzplan 2019 bis 20239;
Monatsbericht des Bundesministeriums der Finanzen vom März 2019,
Editorial, S. 310).
II. Zum Stand des wiedervereinigungsbedingten zusätzlichen Finanz
bedarfs
38. Soweit die Bundesregierung die fortdauernde Erhebung des Solidaritäts
zuschlags damit begründet, dass es weiterhin einen wiedervereinigungs
bedingten zusätzlichen Finanzbedarf für überproportionale Leistungen
aus dem Bundeshaushalt für die ostdeutschen Länder gäbe (vgl.
BTDrucks 19/14103, S. 1), ist Folgendes festzuhalten:
39. Die Finanzierung der Deutschen Einheit über den bundesstaatlichen Fi
nanzausgleich ist mit dem Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 ab
geschlossen (so BWV-Gutachten, Tz. 6.1). Die finanzpolitische und fi
nanzverfassungsrechtliche Sonderlage einer besonderen Aufbauhilfe zu
gunsten der neuen Länder kann damit als beendet betrachtet werden (so
Papier, Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Auf
hebung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995, Juni 2018, S. 4).
Im Einzelnen:
40. Zwischenzeitlich sind die finanziellen Beziehungen zwischen Bund und
Ländern neu geregelt. Die spezifische Ausrichtung des bisherigen Fi
nanzausgleichs mit einer Schwerpunktsetzung auf die neuen Länder
wurde ersetzt durch einen vertikalen Finanzausgleich, in dem der Bund
mittels einer Reihe von teilweise neuen Bundesergänzungszuweisungen
9 lmps:/lwww.bundesfinanz111inis1eriu111.de/Conrent/DE/Pressc111i11eilungcn/Finanzpo!i-1ik/2019/03/20 l 7-03-20-pm-eckwe11cb�chlus. -uerbersicht.pdt'? blob=publicationFilc&-=3, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
10 http ://www.bundcsfinanzministerium.d, Content/DE/Downloads/Broschueren Bestellservice/monat bericht-maerz-2019.hunl, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
EMEA 127848071 v3
Seite 20177 WHITE 6..CASE
42. Auch ein besonderer Finanzbedarf des Bundes zur Abdeckung neuer spe
zifischer Ausgabenbedarfe ist nicht gegeben (vgl. BWV-Gutachten,Tz. 0.8, dazu noch Rn. 155ff.).
43. Der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung weist inseinem Gutachten über den Abbau des Solidaritätszuschlags zu Rechtdaraufhin, dass diefinanzverfassungsrechtliche Normallage das Gegen
stück zu den in der amtlichen Begründung zum Entwurf eines Gesetzesüber eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer genannten Ausnahmelagen in Bezug auf den Bundeshaushalt ist, in denen eine Ergänzungsabgabe als zulässig erachtet wird (vgl.BWV-Gutachten, Tz. 4.2, Fn. 19; BTDrucks II/484, S. 4).
44. Der fortlaufenden Erhebung des Solidaritätszuschlages stehen im Bundeshaushalt 2020 keine konkreten Ausgaben gegenüber, die ausschließlich der Vollendung der Deutschen Einheit dienen sollen.
III. Zur aktuellen Haushaltslage und Steuerbelastung
1. Aktuelle Haushaltslage
a) Bundeshaushalt
45. Gegenüber dem Zeitpunkt der Einführung des Solidaritätszuschlags vorrund 25 Jahren hat sich die finanzwirtschaftliche Ausgangslage für denBund wie folgt verändert:
46. Bis zum Inkrafttreten des angegriffenen Gesetzes Mitte Dezember 2019hatte sich die finanzwirtschaftliche Lage für den Bund verbessert undkonnte aufgrund der Haushalts- und Finanzplanung von einer schwierigen Haushaltslage nicht die Rede sein:
47. Der Bundeshaushalt benötigte seit dem Haushaltsjahr 2014 keine Netto
kreditaufnahme (NKA) zum Haushaltsausgleich. Im Vergleich dazu lagdie NKA beim Inkrafttreten des Solidarpakts I im Jahr 1995 bei 25,6Mrd. Euro; dies entsprach einer Kreditfinanzierungsquote 13 von10,8 Prozent. Beim Inkrafttreten des Solidarpakts II im Jahr 2005 betrugdie NKA sogar 31,2 Mrd. Euro; dies entsprach einer Kreditfinanzierungsquote von 12,0 Prozent (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 6.1). Der Bundeshaushalt verzeichnete in den Haushaltsjahren 2015 bis 2018 Überschüsse von insgesamt mehr als 35 Mrd. Euro, die der sogenannten Asyl-
13 Die Kreditfinanzierungsquote bezeichnet den Anteil der durch die NKA gedeckten Ausgaben im Bundeshaushalt.
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Rücklage zugeführt wurden (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 6.1; Stellung
nahme Bundesrechnungshof, S. 3). Die Staatsschulden gingen in 2019
um 16 Mrd. Euro auf 2,05 Billionen Euro bzw. eine Staatsschuldenquote
von 59,8 Prozent zurück (vgl. F.A.Z. vom 1. April 2020, Wirtschaft,
Haushaltsplanung verzögert sich, unter Bezugnahme auf einen Bericht
der Deutschen Bundesbank14).
48. Nach dem vorläufigen Abschluss des Bundeshaushalts 201915 betrug der
Haushaltsüberschuss im Jahr 2019 rund 13,5 Mrd. Euro. Die Einnahmen
aus dem Solidaritätszuschlag beliefen sich im gleichen Zeitraum auf rund
19,65 Mrd. Euro. 16 Damit entsprach allein der Haushaltsüberschuss des
Bundes 7/10 des jährlichen Aufkommens aus dem Solidaritätszuschlag,
sodass die Abschaffung des Solidaritätszuschlags zum 31. Dezember
2019 nur ein Defizit von knapp 6 Mrd. Euro ergeben hätte. Berücksich
tigt man ferner, dass zusätzliche rund 5,5 Mrd. Euro nicht aus der Rück
lage entnommen werden mussten (vgl. vorläufiger Abschluss des Bun
deshaushalts 2019 17), betrug der Haushaltsüberschuss des Bundes also
zuletzt rund 19 Mrd. Euro, was dem Aufkommen aus dem Solidaritäts
zuschlag nahezu entsprach.
49. Die Verhältnisse änderten sich im Jahr 2020 aufgrund der Corona- bzw.
COVID-19-Pandemie wie folgt:
50. Zur Finanzierung der Ausgaben des Bundes für die pandemiebedingten
Maßnahmen zur Stärkung des Gesundheitsschutzes und des Gesund
heitssystems und zur Begrenzung der Folgen für Wirtschaft, Unterneh
men und Beschäftigte in Höhe von rund 122,5 Mrd. und zur Deckung der
geringeren Steuereinnahmen von 33,5 Mrd. Euro als ursprünglich im
Haushalt 2020 geplant war eine (erste) Neuverschuldung von 156 Mrd.
Euro erforderlich, die der Bundestag mit dem Nachtragshaushaltsgesetz
2020 vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 556) beschlossen hat. Für das Kon
junktur- und Krisenbewältigungspaket, mit dem die Wirtschaft aus der
14 https://1.eitung. fa1..net/fazh irtschaft/2020-04-0 J /93 9 J 509cd5 I a83c5ttl4bcc6bcddfü0a'?OEPC=s5, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
15 hups://www.bundcstinanzministerium.d Contcn DE/Pr�. emilteilungen/Finanzpolitik/2020/01/2020 01 13-PMO 1 Abschluss BHH2019.html: jscssio-nid=4EAD8904F5389BB7 A8444305C316DOD4.deliverv2-rep1ication, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
16 https://www-gencsis.dcstatis.d genesi onlinc?operation=abruftabelleBcarbeiten&le clind x= l &level id= 15980070 l 2299&au. wah loperat ion=abruftabelleAuspraegungAu wachlcn&auswahlven.:eichni -ordnungssrruktur&auswahlziel=wcrteabruf&code=71211-0001 ·auswahltcxt=&werteabruf.=Werteabrufflabreadcrumb, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
17 lmps://www.bundesfinan2ministerium.d Conrent/DE/Presscmitteilungen/Finanzpolitik/2020/01 /2020 01 13 PMOI Abschluss BHH2019Jnml:jse io-nid=4EAD8904F5389BB7 A8444305C316DOD4.delivery2-replication. zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
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Krise geführt und in Schwung gebracht werden soll, unter anderem durch
die befristete Absenkung der Mehrwertsteuer, einen Kinderbonus und
Existenzsicherungen für kleine und mittlere Unternehmen, hat der Bundestag das zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2020 vom 14. Juli 2020
(BGBl. I S. 1669) beschlossen.
51. Die Nettokreditaufnahme beläuft sich nunmehr auf rund 217,8 Mrd.
Euro. Die nach der Schuldenbremse zulässige Obergrenze der Verschuldung wurde damit um rund 118, 7 Mrd. Euro überschritten. Die Überschreitung war aufgrund der außergewöhnlichen Notsituation durch die
Corona-Pandemie erforderlich, wie der Bundestag mit Beschlüssen gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG feststellte. Mit den Beschlüssen
hat der Bundestag zugleich einen Tilgungsplan für die sogenannten
Corona-Notfallkredite aufgelegt. Ab dem Bundeshaushalt 2023 wird der
Bund die Kredite über 20 Jahre in Höhe von jeweils 1/20 des die zuläs
sige Verschuldung übersteigenden Betrages der Kreditaufnahme zurückführen (vgl. den Antrag der Koalitionsfraktionen BTDrucks 19/18108
und BTDrucks 19/20128).
52. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte für den zweiten Nachtragshaushalt
mit konkreten Anträgen aufgezeigt, wie eine erneute Überschreitung dernach der Schuldenbremse zulässigen Obergrenzen vermieden und rückwirkend für 2020 auf die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag ver
zichtet werden könnte. Wir verweisen hierzu auf die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (BTDrucks 19/20601, S. 12).
b) Haushalte der Länder und Kommunen
53. Die COVID-19-Pandemie spiegelt sich nicht nur im Bundeshaushalt wider. Auch die Haushalte der Länder und Kommunen sind bereits undwerden noch stark belastet.
54. Wie der Bund haben die Länder Schutzschirme bzw. Soforthilfeprogramme zur Unterstützung der Wirtschaft aufgelegt. Die Länder nutzen
verschiedene Wege, um auf die zusätzlichen Mittel zurückzugreifen.
Manche Länder haben die Soforthilfen in einem Nachtragshaushalt ver
bucht, andere Länder haben die Regierungen ermächtigt, auf einen Rettungsschirm in bestimmter Höhe zurückzugreifen und hiermit erst im
Haushaltsvollzug 2020 den Haushalt zu belasten. Einige Länder wieThüringen greifen zudem auf in den letzten Jahren angesparte Rücklagenzurück. Mehrere Länder wie NRW, Bayern oder Niedersachsen habenbereits einen zweiten Nachtragshaushalt beschlossen oder beraten wieRheinland-Pfalz derzeit darüber. Die zusätzlichen Mittel der Länder zur
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Seite 23 177 WHITE 6.CASE
Bekämpfung der Corona-Pandemie stellen sich mit Stand 19. Au
gust 2020 exemplarisch wie folgt dar, im Übrigen verweisen wir auf die
als Anlage Bf 2 beigefügte Übersicht „Zusätzliche Mittel der Länder zur
Bekämpfung der Corona-Pandemie", Stand 19. August 2020):
- Das Land Bayern hat zwei Nachtragshaushalte in Höhe von insge
samt 20,0 Mrd. Euro beschlossen und stellt zusätzlich 40,0 Mrd. Euro
für Bürgschaften und Kredite zur Verfügung.
- Das Land Niedersachsen hat ein Gesamtpaket von 8,4 Mrd. Euro ge
schnürt, davon 7,8 Mrd. Euro über einen Nachtragshaushalt.
Das Land Nordrhein-Westfalen stellt in zwei Nachtragshaushalten
insgesamt rund 25,0 Mrd. Euro an Hilfen und rund 15 Mrd. Euro für
Bürgschaften und Kredite zur Verfügung.
55. In den Kommunen sieht es nicht anders aus: Die Einnahmen der Kom
munen gehen infolge der Corona-Pandemie zurück, während mit zuneh
mender Arbeitslosigkeit die Sozialausgaben ansteigen. Insbesondere die
deutlichen Ausfälle bei der Gewerbesteuer in Höhe von über 12 Mrd.
Euro laut der Steuerschätzung vom Mai 2020, ein wesentliches Finanzie
rungsinstrument der Kommunen, führen zu deutlichen Mindereinnah
men in den Kommunalhaushalten. Zudem drohen weitere Einnahmeaus
fälle für Beiträge und Gebühren bei Kitas, Museen oder bei der Ab
fallentsorgung und zusätzliche krisenbedingte Ausgaben.
56. Die skizzierten Entwicklungen bei Ländern und Kommunen zeigen, dass
die aufgrund der COVID-19-Pandemie ausgelöste veränderte Finanzlage
keineswegs speziell den Bund, sondern alle staatlichen Ebenen gleicher
maßen trifft, so dass eine nur dem Bund zufließende Ergänzungsabgabe
etwa in Form eines „Corona-Solis" von vornherein als adäquates Instru
ment ausscheidet (dazu weiter Rn. 155ff.).
2. Wachsende Steuerbelastung
57. Die fortdauernde Erhebung des Solidaritätszuschlags ist auch an der seit
Jahren gewachsenen Steuerbelastung zu messen (vgl. nur BWV-Gutachten, Tz. 6.2).
58. So merkte der Steuerrechtswissenschaftler Tipke beispielsweise Folgen
des an (vgl. Besteuerungsmoral statt Fiskalismus, Beilage zum Steuertip
im markt intern Verlag vom 17. Juli 2009, S. 2):
EMEA 127848071 v3
,, Von jeher waren Finanzminister und Steuerpolitiker daran in
teressiert, die Gesamtsteuerlast niedrig erscheinen zu lassen
Seite 25 177
1. Einkünfte der Beschwerdeführer
WHITE �CASE
62. Als Bundestagsabgeordnete erhalten die Beschwerdeführer gemäß § 11
Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deut
schen Bundestages (Abgeordnetengesetz AbgG) eine Abgeordne
tenentschädigung. Einzelne Beschwerdeführer erhalten darüber hinaus
eine Amtszulage nach § 11 Abs. 2 AbgG. Die Abgeordnetenentschädi
gung wie auch die Amtszulagen sind gemäß § 22 Nr. 4 Einkommensteu
ergesetz (EStG) als sonstige Einkünfte einkommensteuerpflichtig.
2. Solidaritätszuschlagpflicht
63. Aufgrund der Einkommensteuerpflicht müssen die Beschwerdeführer
nach§§ 1 Abs. 1, 2 Nr. 1 SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszu
schlag-Rückführungsgesetzes den akzessorisch zur Einkommensteuer
erhobenen Solidaritätszuschlag entrichten.
64. Sowohl die Abgabepflicht der Beschwerdeführer für das Jahr 2020 als
auch für das Jahr 2021 und weitere Jahre ist Gegenstand von Vorauszah
lungsbescheiden. Sämtliche Beschwerdeführer haben einen Vorauszah
lungsbescheid erhalten, der die jeweilige Pflicht zur Zahlung des Solida
ritätszuschlags festsetzt. Wir verweisen hierzu auf die als Anlagen Bf 3
bis Bf 8 beigefügten Vorauszahlungsbescheide. Mit ihren Einkünften
zählen die Beschwerdeführer zu der Gruppe der einkommensteuerpflich
tigen Abgabepflichtigen, die nicht von der Rückführung des Solidaritäts
zuschlags profitieren. Die Beschwerdeführer werden auch ab dem Jahr
2021 einen Solidaritätszuschlag zu leisten haben, wie sich aus den ein
zelnen Vorauszahlungsbescheiden ergibt. Sollte die angegriffene Rege
lung nicht für nichtig erklärt werden, hat dies mithin schwerwiegende
Folgen für die Beschwerdeführer.
C. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
65. Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m.
§§ 13 Nr. 8a, 90 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) zuläs
sig.
I. Beschwerdegegenstand
66. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das SolzG 1995 in der
Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes, in Kraft getre
ten am 13. Dezember 2019 (im Weiteren auch das „angegriffene Ge
setz"). Die angegriffenen Regelungen sind als Gesetz im formellen Sinne
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ein Akt der öffentlichen Gewalt im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG und
damit tauglicher Beschwerdegegenstand.
II. Beschwerdefähigkeit und Beschwerdebefugnis
67. Die Beschwerdeführer sind als natürliche Personen beschwerdefähig im
Sinne des§ 90 Abs. 1 BVerfGG.
III. Beschwerdebefugnis und Grundsatz der Subsidiarität
68. Die Verfassungsbeschwerde gegen das SolzG 1995 in der Fassung des
Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes ist zulässig, weil die Be
schwerdeführer schlüssig behaupten können, durch das beanstandete Ge
setz beschwert zu sein (zur Möglichkeit der Grundrechtsverletzung nach
folgend 1 ). Das angegriffene Gesetz ist nach Struktur und Inhalt geeig
net, in die Grundrechte der Beschwerdeführer aus Art. 14 Abs. 1, Art. 2
Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG einzugreifen, das heißt umnittelbar eine
grundrechtlich geschützte Rechtsposition der Beschwerdeführer zu ih
rem Nachteil zu verändern (vgl. BVerfGE 40, 141 <156>; 64, 301
<319> ). Die Beschwer der Beschwerdeführer ergibt sich zum einen aus
der unveränderten Fortführung der Solidaritätszuschlagpflicht im Jahr
2020 und zum anderen aus dem nicht vollständigen Abbau des Solidari
tätszuschlags ab dem Jahr 2021 und dem Umstand, dass die Beschwer
deführer zu derjenigen Gruppe der einkommensteuerpflichtigen Perso
nen zählen, die nicht von der Rückführung des Solidaritätszuschlags pro
fitieren.
69. Die Beschwerdeführer sind auch selbst und gegenwärtig durch das ange
griffene Gesetz betroffen (dazu nachfolgend unter 2). Weil der Gesetz
geber seiner Pflicht nicht nachgekommen ist, die ursprünglich verfas
sungsgemäß eingeführte Solidaritätszuschlagpflicht aufgrund der mit
dem Auslaufen des Solidarpakts II veränderten Umstände mit Wirkung
zum 1. Januar 2020 vollständig aufzuheben, sind die Beschwerdeführer
nach wie vor verpflichtet, den Solidaritätszuschlag zu leisten.
70. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass
die Beschwerdeführer grundsätzlich Rechtsschutz vor den Fachgerichten
suchen und die auf Grundlage des angegriffenen Gesetzes mit der fort
dauernden Solidaritätszuschlagpflicht der Beschwerdeführer ergangenen
Vorauszahlungsbescheide für das Jahr 2020 sowie das Jahr 2021 und
weitere Jahre anfechten könnten. Hierauf können die Beschwerdeführer
nicht verwiesen werden. Zwar greift der Grundsatz der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde auch in Fällen umnittelbarer Betroffenheit
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WHITE &CASE
durch eine Norm ein. Nach dem insoweit sinngemäß anwendbaren§ 90
Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ist jedoch eine sofortige Entscheidung über die
Verfassungsbeschwerden wegen deren allgemeiner Bedeutung geboten.
Ein Vorrang der fachgerichtlichen Inzidentkontrolle besteht vorliegend
auch deshalb nicht, weil die Anrufung der Finanzgerichte zur Klärung
rein verfassungsrechtlicher Fragen wie hier den Zweck des Subsidiari
tätsgrundsatzes verfehlte (dazu nachfolgend 3).
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
a) Art. 14 Abs. 1 GG
71. Wie im Teil D I ausführlich dargelegt wird, verletzen die angegriffenen
Regelungen die Eigentumsgarantie der Beschwerdeführer.
72. Der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG ist im Fall der Pflicht zur Leis
tung des Solidaritätszuschlags eröffnet (dazu D I 1, Rn. 115 f.). Die Ei
gentumsgarantie kann durch gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestim
mungen i.S.v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG verkürzt werden. Das angegrif
fene SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs
gesetzes ist als Inhalts- und Schrankenbestimmung zu qualifizieren ( dazu
D I 2, Rn. 117).
73. Als Inhalts- und Schrankenbestimmung unterliegt das angegriffene Ge
setz den allgemeinen für das Eigentum geltenden Eingriffsbegrenzungen,
weshalb das angegriffene Gesetz nur dann verfassungsgemäß ist, wenn
es sowohl in formeller als auch materieller Hinsicht mit dem Grundge
setz in Einklang steht (dazu D I 3 a, Rn. 118). Das ist vorliegend nicht
der Fall. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rück
führungsgesetzes hält sich nicht an die geltenden Eingriffsbegrenzungen.
Seit dem 1. Januar 2020 ist das Gesetz nicht mehr mit der Kompetenzor
dnung des Grundgesetzes und den finanzverfassungsrechtlichen Rege
lungen der Art. 105 ff. GG vereinbar (dazu D I 3 b, Rn. 119 ff.).
74. Der strikten Beachtung der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeits
bereiche von Bund und Ländern kommt eine überragende Bedeutung für
die Stabilität der bundesstaatlichen Verfassung zu. Die Finanzverfassung
entfaltet eine auf das Vertrauen der Bürger bezogene Schutz- und Be
grenzungsfunktion, nur in dem durch die Finanzverfassung vorgegebe
nen Rahmen belastet zu werden, die es dem einfachen Gesetzgeber un
tersagt, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten. Hiernach muss der
Solidaritätszuschlag die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den
Steuertyp der Ergänzungsabgabe fortwährend einhalten (dazu D I 3 b aa,
Rn. 123 ff.).
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75. In seiner Entscheidung zur Ergänzungsabgabe 1968 hielt das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Bundesgesetzgeber nicht berechtigt ist, un
ter der Bezeichnung „Ergänzungsabgabe" eine Steuer einzuführen, die
den Vorstellungen widerspricht, die der Verfassungsgeber erkennbar mit
dem Charakter einer solchen Abgabe verbunden hat. Die Zulässigkeit einer Ergänzungsabgabe beschränkt sich auf einen temporären besonderen
Finanzbedarf des Bundes für einen spezifischen Zweck. Hinsichtlich der
Ertragshoheit bedeutet die Einführung einer Ergänzungsabgabe eine Ver
schiebung der Einkommensverteilung zugunsten des Bundes. Könnte derBund die Ergänzungsabgabe (zeitlich) unbeschränkt erheben, stünde ihm
die Möglichkeit offen, einseitig das verfassungsrechtliche Steuervertei
lungssystem durch einfaches Gesetz zu ändern. Darüber hinaus würde
das Zustimmungsbedürfnis des Bundesrates zur Änderung der Einkom
men- und Körperschaftsteuertarife ausgehebelt. Die zeitliche Begrenzung ergibt sich aus ihrer Zweckkausalität, die einen temporären aufga
benbezogenen Mehrbedarf des Bundes finanzieren soll und kein dauerhaftes Instrument der Steuerumverteilung darstellt. Die Ergänzungsab
gabe ist dann aufzuheben, wenn die Voraussetzungen ihrer Erhebung
entfallen, also kein zusätzlicher Finanzbedarf des Bundes für den spezifischen Zweck mehr festzustellen ist. Der Beurteilungs- und Einschät
zungsspielraum des Gesetzgebers in der Frage, ob und in welchem Um
fang der besondere Erhebungs- oder Finanzierungszweck einer vor J ahren eingeführten Ergänzungsabgabe noch besteht, dürfte überschritten
sein, wenn der Wegfall des besonderen Erhebungszwecks angesichts der
Änderung der Verhältnisse „eindeutig und offensichtlich feststeht". Mit
zunehmendem zeitlichen Abstand wächst die Rechtfertigungslast für denFortbestand der Ergänzungsabgabe (dazu D I 3 b bb, Rn. 126 ff.).
76. Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 ist mit dem Ende des Solidarpakts
II zum 31. Dezember 2019 verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen. Zwischen dem Solidaritätszuschlag und den Solidarpakten I und II
besteht unstreitig eine Verbindung, weil die Legitimation der Einführung
des streitgegenständlichen Solidarzuschlags ausschließlich in dem zu
sätzlichen Finanzbedarf des Bundes im Rahmen der Wiedervereinigung
gelegen hat. Der neue Finanzausgleich weist ab dem Jahr 2020 keine
Sonderbedarfe für die neuen Länder mehr aus, sondern bildet eine finanz
verfassungsrechtliche Normallage ab. Nach der Entscheidung des Bundesfinanzhofs über die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlagsim Veranlagungszeitraum 2007 ist der Solidaritätszuschlag zwar im Jahr1995 verfassungskonform eingeführt worden. Dieser Zustand steht abernicht fest und kann sich im Laufe der Jahre ändern, wie insbesondere im
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Seite 29177 WHITE �CASE
Hinblick auf das Auslaufen des Solidarpakts II Die Änderung der Verhältnisse steht mit dem Auslaufen des Solidarpakts II im Sinne der Rechtsprechung „evident" bzw. ,,eindeutig und offensichtlich" fest. Die
unbefüstete Fortführung des Solidaritätszuschlags über den 31. Dezember 2019 hinaus ist nicht gerechtfertigt, weil es seitdem an dem spezifi
schen Finanzbedarf des Bundes fehlt, zu dessen Deckung das angegriffene Gesetz erlassen und die Abgabe eingeführt wurde ( dazu D I 3 b cc,
Rn. 146 ff.).
77. Auch eine Umwidmung des Solidaritätszuschlags für andere Haushaltszwecke als die Finanzierung der Wiedervereinigung ist verfassungsrechtlich nicht vertretbar. Im Ergebnis würde mit der Umwidmung eine neueErgänzungsabgabe eingeführt, deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung allerdings nicht gegeben ist. Eine explizite Umwidmung ist nicht
erfolgt. Eine implizite Umwidmung wäre unzulässig. Ein „Corona-Soli"kommt nicht in Betracht (dazu D I 3 b dd, Rn. 154 ff.).
78. Den Vortrag der Beschwerdeführer als richtig unterstellt, kann die hiesige Verfassungsbeschwerde aufgrund der möglichen Verletzung der Ei
gentumsgarantie der Beschwerdeführer erfolgreich sein.
b) Art. 2 Abs. 1 GG
79. Wie im Teil D II (Rn. 163 ff.) ausführlich dargelegt wird, verletzen die
angegriffenen Regelungen die allgemeine Handlungsfreiheit der Beschwerdeführer.
80. Zur Handlungsfreiheit zählt das Grundrecht des Bürgers, nur auf Grundsolcher Rechtsvorschriften zur Steuer herangezogen zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind und deshalb zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören. Die Beschwerdeführer können geltendmachen, ein ihre Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht
zu verfassungsmäßigen Ordnung, weil es gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße. Das angegriffene Gesetz verstößt gegen die Art. 105 ff. GG und stellt daher einen ungerechtfertigten Eingriff auch in die allgemeine Handlungsfreiheitder Beschwerdeführer dar.
81. Die hiesige Verfassungsbeschwerde kann danach auch wegen der möglichen Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit der Beschwerdeführer erfolgreich sein.
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Seite 30 177
c) Art. 3 Abs. 1 GG
WHITE 5..CASE
82. Wie im Teil D III (Rn. 166 ff.) ausführlich dargelegt wird, verletzen die
angegriffenen Regelungen für den Zeitraum ab dem Jahr 2021 schließ
lich den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG.
83. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs
gesetzes muss auch sonst in jeder Hinsicht verfassungsgemäß sein und
insbesondere den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG be
achten. Das ist allerdings nicht der Fall. Das angegriffene Gesetz miss
achtet den allgemeinen Gleichheitssatz zu Lasten der Beschwerdeführer.
Vor dem Gleichheitssatz hat die Ungleichbehandlung der von der Soli
daritätszuschlagpflicht Betroffenen im Vergleich zu den hiervon ausge
nommenen Personen keinen Bestand. Ein vernünftiger, aus der Sache o
der sonst sachlich einleuchtender Grund dafür, dass nur ein Teil der bis
her nach dem SolzG 1995 abgabepflichtigen Personen weiterhin den So
lidaritätszuschlag zahlen müssen, während andere vormals Abgabe
pflichtigen befreit werden, ist nicht ersichtlich. Von einem „solidari
schen finanziellen Opfer aller Bevölkerungsgruppen" ( dazu oben Rn. 18)
kann nicht mehr die Rede sein. Bei der Prüfung anhand des Gleichheits
satzes ist von einer strengeren Bindung des Gesetzgebers auszugehen.
Denn die Ungleichbehandlung wirkt sich nachteilig auf die Ausübung
grundrechtlich geschützter Freiheiten aus (dazu D III 1, Rn. 168 ff.)).
84. Die hiesige Vergleichsgruppe sind alle nach dem Einkommensteuerge
setz abgabepflichtigen Personen. Innerhalb dieser Personengruppe er
folgt durch die selektive Abschaffung des Solidaritätszuschlags eine un
gleiche Belastung bestimmter Abgabepflichtiger ( dazu D III 2 a,
Rn. 171 ff.).
85. Die fortdauernde selektive hohe Belastung eines gewissen Teils der nach
dem Einkommensteuergesetz abgabepflichtigen Personen gegenüber ei
ner vollständigen Entlastung eines anderen Teils der Einkommensteuer
pflichtigen ist willkürlich (dazu D III 2 b, Rn. 175 ff.). Die vom Gesetz
geber zur Differenzierung nach dem Einkommen herangezogenen Krite
rien der steuerlichen Umverteilung sind nicht zur Rechtfertigung geeig
net. Erstens ist das Instrument der Freigrenze ungeeignet. Der Gesetzge
ber kann sich nicht auf die Vermeidung eines erheblichen Verwaltungs
mehraufwands berufen. Zweitens hat der Gesetzgeber eine unsachge
mäße Begründung herangezogen. Ausweislich der Gesetzesbegründung
wird die selektive Entlastung vorrangig von sozialpolitischen Erwägun
gen mit Lenkungszweck getragen. Während die Ergänzungsabgabe 1968
schon mit einer sozialen Zielsetzung eingeführt worden war, diente der
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Seite 31 177 WHITE 6..CASE
Solidaritätszuschlag dazu, einen konkreten Finanzbedarf des Bundes zu decken. Die Zielsetzung legt als solche keinerlei besondere Differenzierung zwischen den Steuerpflichtigen nahe. Der Solidaritätszuschlag mutiert folglich in verfassungswidriger Weise vom Mittel zur Mehrbedarfsdeckung und „solidarischen finanziellen Opfer aller Bevölkerungsgrup
pen" zu einem Mittel zur Herstellung sozialpolitisch motivierter Vertei
lungsgerechtigkeit und im Ergebnis zu einer Reichensteuer. Drittens fehlt es an einer folgerichtigen Belastungsentscheidung. Durch die deutliche Anhebung der Freigrenze wird der steuerliche Tarifverlauf verschoben und die ursprüngliche Belastungsentscheidung nicht folgerichtig umge
setzt. Eine Intervention, die das Steuerrecht in den Dienst außerfiskalischer Verwaltungsziele stellt, setzt eine erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers voraus, mit dem Instrument der Steuer auch andere als bloße Ertragswirkungen erzielen zu wollen sein. Daran fehlt es vorliegend.
86. Die hiesige Verfassungsbeschwerde kann danach schließlich auch wegender möglichen Verletzung der Beschwerdeführer in Art. 3 Abs. 1 GG erfolgreich sein.
2. Gegenwärtige Selbstbetroffenheit
87. Die Beschwerdeführer sind durch das angegriffene Gesetz selbst und gegenwärtig betroffen.
88. Die Beschwerdeführer sind durch die angegriffenen Regelungen selbstbetroffen, weil sie Adressaten der Normen sind und sich hieraus Pflichtenfür die Beschwerdeführer ergeben (vgl. BVerfGE 102, 197 <206f.>; 140,42 <57>). Die Beschwerdeführer gehören zu der nach §§ 1 Abs. 1, 2Nr. 1 SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes aufgrund ihrer Einkommensteuerpflicht abgabepflichtigenPersonengruppe.
89. Die gemäß Art. 2 des Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 am 13. Dezember 2019 in Kraft getretene Änderung desSolidaritätszuschlaggesetzes 1995 sieht für die Beschwerdeführer eineüber den 31. Dezember 2019 fortdauernde Abgabenpflicht vor. Die Betroffenheit der Beschwerdeführer ist gegenwärtig, das heißt schon undnoch vorhanden, weil die angegriffenen Regelungen in Kraft sind undaktuell im Jahr 2020 und auch darüber hinaus in Form der Solidaritätszuschlagpflicht auf die Rechtsstellung der Beschwerdeführer einwirken(vgl. BVerfGE 114,258 <277>; 140, 42 <57f. Rn. 58f.>). Die Betroffen-
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Seite 32 177 WH ITE 6. CASE
heit der Beschwerdeführer ist sowohl in Bezug auf die unveränderte Fort
führung der Solidaritätszuschlagpflicht im Jahr 2020 und als auch in Be
zug auf den nicht vollständigen Abbau des Solidaritätszuschlags ab dem
Jahr 2021 gegenwärtig. Wie sich aus den Vorauszahlungsbescheiden für
das Jahr 2020 sowie das Jahr 2021 und weitere Jahre ergibt, fallen die
Beschwerdeführer nicht unter die jeweils geltenden Freigrenzen des § 3
Abs. 3 SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückfüh
nmgsgesetzes und sind demnach auf Dauer abgabepflichtig.
90. Das Erfordernis, es müsse klar abzusehen sein, dass und wie die Be
schwerdeführer von dem angegriffenen Gesetz betroffen sind oder sein
werden (BVerfGE 102, 197 <207>; 114, 258 <277f.>), ist vorliegend
auch in Bezug auf die Abgabepflicht ab dem Jahr 2021 gegeben. Ange
sichts der jeweils gegenüber den Beschwerdeführern finanzbehördlicher
seits festgesetzten Vorauszahlungen (Anlagen Bf 3 bis Bf 8) kann nicht
die Rede davon sein, dass allein die vage Aussicht besteht, dass die Be
schwerdeführer irgendwann einmal in Zukunft von der beanstandeten
Regelung betroffen sein könnten (BVerfGE 140, 42 <58>). Die Voraus
zahlungsbescheide legen vielmehr bereits heute ganz konkret für im Ein
zelnen genannte Termine eine der Höhe nach ausgewiesene Zahlungs
pflicht der Beschwerdeführer fest, was die Gegenwärtigkeit der Betrof
fenheit begründet (vgl. BVerfGE 114,258 <278f.>).
3. Keine Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde
91. Die Beschwerdeführer können nicht darauf verwiesen werden, die auf
geworfenen verfassungsrechtlichen Fragen im Rechtsweg vor den Fach
gerichten klären zu lassen, indem sie die auf Grundlage des angegriffe
nen Gesetzes mit der fortdauernden Solidaritätszuschlagpflicht der Be
schwerdeführer ergangenen Vorauszahlungsbescheide für das Jahr 2020
sowie das Jahr 2021 und weitere Jahre anfechten. Zwar greift der Grund
satz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch in Fällen unmit
telbarer Betroffenheit durch eine Norm ein (vgl. BVerfGE 74, 69 <74>).
Nach dem insoweit sinngemäß anwendbaren § 90 Abs. 2 Satz 2 BVer
fGG ist vorliegend jedoch eine sofortige Entscheidung über die Verfas
sungsbeschwerden wegen deren allgemeiner Bedeutung geboten ( dazu
a). Darüber hinaus verfehlte die Anrufung der Finanzgerichte zur Klä
rung rein verfassungsrechtlicher Fragen wie hier den Zweck des Subsi
diaritätsgrundsatzes ( dazu b ).
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Seite 33 177
a) Allgemeine Bedeutung
WHITE �CASE
92. Nach dem sinngemäß anwendbaren§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ist eineEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegend möglich, weilder Verfassungsbeschwerde allgemeine Bedeutung zukommt (vgl.BVerfGE 90, 128 <136f.>). Die Verfassungsbeschwerde ist von allgemeiner Bedeutung, da sie die Klärung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen erwarten lässt, die weitreichende Auswirkungen haben(vgl. BVerfGE 19,268 <273>; 93,319 <338>; 108, 370 <386>). Mit derEntscheidung über den Fall der Beschwerdeführer hinaus würden zugleich zahlreiche gleich gelagerte Fälle anderer abgabenpflichtiger Personen faktisch mitentschieden (vgl. BVerfGE 19, 268 <273>; 108, 370<386>).
93. Die hiesige Verfassungsbeschwerde lässt die Klärung grundsätzlicherverfassungsrechtlicher Fragen erwarten. Die mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen betreffen die über das Auslaufen desSolidarpakts II am 31. Dezember 2019 fortdauernde und ab dem Jahr2021 selektive Erhebung des Solidaritätszuschlags als Ergänzungsabgabe und damit die in der grundlegenden Entscheidung des BVerfG ausdem Jahr 1972 noch offengelassene Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Ergänzungsabgabe nach evidentem Wegfall der Voraussetzungen der Erhebung der Abgabe (vgl. BVerfGE 32, 333 <343>). Mit demWegfall der zuletzt auf den Solidarpakt II zurückzuführenden Mehrausgaben des Bundes ist diese Situation nun eingetreten. So erkennt auchder Bundesrechnungshof in seinem Gutachten an, dass der für die Rechtfertigung einer Ergänzungsabgabe außergewöhnliche Finanzierungsbe
darf gegenwärtig nicht besteht (vgl. BWV-Gutachten, S. 17f., 21 ). Sowohl die Frage, welche Anforderungen an die Änderung der Verhältnissezu stellen sind, die für die Einführung der Ergänzungsabgabe maßgebendwaren, als auch die Frage, ob sich ein verfassungsrechtlicher Zwang zurAufhebung einer zeitlich unbefristet geregelten Ergänzungsabgabeergibt, ist verfassungsrechtlich nicht geklärt. Darüber hinaus sind Fragender finanzverfassungsrechtlichen Verteilungsgerechtigkeit betroffen, diein der Öffentlichkeit stark umstritten sind, und denen die Frage hinsichtlich der Ausgestaltung und Legitimation der Ergänzungsabgabe nachArt. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG zugrunde liegt, konkret die Frage, ob die Selektivität der Entlastung vom Solidaritätszuschlag mit Blick auf ihre Begründung und ihre Auswirkungen in der Kumulation mit der Einkommensteuer verfassungsrechtlich haltbar ist.
94. Von der Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungensind nicht nur die Beschwerdeführer betroffen, sondern im Jahr 2020
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WHITE &CASE
rund 37,4 Mio. und ab 2021 rund 3,7 Mio. einkommensteuerpflichtige
Personen (vgl. IW-Gutachten, S. 10) und damit eine Vielzahl an Perso
nen (vgl. BVerfGE 25, 236 <246>). Eine Entscheidung des Bundesver
fassungsgerichts würde die Zulässigkeit der Erhebung des Solidaritäts
zuschlags über den 31. Dezember 2019 hinaus und ab dem Jahr 2021 in
der Form der selektiven Erhebung insgesamt klären. Würde die Zuläs
sigkeit der fortdauernden (und selektiven) Erhebung des Solidaritätszu
schlags im Ergebnis verneint, würde dies die Fortexistenz der Abgabe
nicht bloß in Frage stellen, sondern ausschließen.
b) Zweck des Subsidiaritätsprinzips verfehlt
95. Die Verpflichtung, zunächst Rechtsschutz vor den Fachgerichten zu su
chen, besteht nicht, wenn der Zweck, eine fachgerichtliche Vorklärung
der verfassungsrechtlich relevanten Sach- und Rechtsfragen herbeizu
führen, nicht erreicht werden kann, oder die Anrufung der Fachgerichte
offensichtlich sinn- und aussichtslos wäre (vgl. BVerfGE 79, 1 <20>; 90,
128 <136ff.>; 97, 157 <165>). Die Anrufung der Fachgerichte ist ferner
unzumutbar, wenn die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffe
nen Norm allein von der Beurteilung verfassungsrechtlicher Fragen ab
hängt (vgl. BVerfGE 68, 319 <326f.>). Dies ist vorliegend der Fall.
96. Erstens ergibt sich die Unzumutbarkeit der Ausschöpfung des Rechts
wegs vorliegend daraus, dass es ausschließlich um die Beurteilung ver
fassungsrechtlicher Fragen geht (dazu aa). Zweitens ist die Erschöpfung
des Rechtswegs im Hinblick auf den Sinn des Subsidiaritätsprinzips nicht
geboten, um eine vorherige Klärung tatsächlicher oder rechtlicher Fragen
durch die Fachgerichte zu gewährleisten (dazu bb).
aa) Ausschließlich verfassungsrechtliche Fragen
97. Die Unzumutbarkeit der Ausschöpfung des Rechtswegs ergibt sich dar
aus, dass es ausschließlich um die Beurteilung verfassungsrechtlicher
Fragen geht. Die Verfassungsbeschwerde wirft allein spezifische Fragen
des Finanzverfassungsrechts auf, die im Ergebnis nur das Bundesverfas
sungsgericht beantworten kann, ohne dass von einer vorherigen fachge
richtlichen Prüfung verbesserte tatsächliche oder rechtliche Entschei
dungsgrundlagen zu erwarten wären ( dazu sogleich bb ). Die vorherige
Ausschöpfung des Rechtswegs wäre den Beschwerdeführern hiernach
im Hinblick auf einen in zeitlicher und tatsächlicher Hinsicht effektiven
Rechtsschutz nicht zumutbar (vgl. BVerfGE 123, 148 <172 f.>; 138, 261
<272 Rn. 23>).
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Seite 35 1 77
bb) Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips
WHITE �CASE
98. Eine vorherige Anrufung der Fachgerichte ist vorliegend nach Sinn und
Zweck des Subsidiaritätsgrundsatzes entbehrlich, weil der damit ver
folgte Zweck, eine tatsächliche Aufklärung und die Klärung einfach
rechtlicher Fragen durch die Fachgerichte herbeizuführen, nicht erreicht
werden kann (vgl. BVerfGE 79, 1 <20>; 90, 128 <138>; 150, 309
<326>).
99. Bei der Frage, ob und nachrangig in welcher Höhe die Beschwerdeführer
über das Jahr 2019 hinaus solidaritätszuschlagpflichtig sind und sein dür
fen, stellen sich keine tatsächlichen Fragen, die einer Aufklärung durch
die Fachgerichte bedürfen und ihr zugänglich sind. Die angegriffenen
Regelungen bestimmen keinerlei tatsächliche Anforderungen an die Zu
lässigkeit der Erhebung des Solidaritätszuschlags außerhalb des Einkom
mensnachweises und des Familienstands, die die Fachgerichte aufklären
könnten.
100. Auch werfen die angegriffenen Regelungen keine einfachrechtlichen
Fragen auf, deren Klärung durch die Fachgerichte für das Bundesverfas
sungsgericht nach Sinn und Zweck des Subsidiaritätsgrundsatzes sinn
voll oder hilfreich wäre. Art. 1 des Gesetzes zur Rückführung des Soli
daritätszuschlags 1995 enthält im Hinblick auf die hier streitgegenständ
liche Frage weder subsumtionsbedürftige unbestimmte Rechtsbegriffe
des einfachen Rechts noch Ermessens- oder Beurteilungsspielräume, de
ren Klärung durch eine vorherige Befassung der Fachgerichte befördert
werden könnte (vgl. BVerfGE 150, 309 <327>). Die in den fachgericht
lichen Verfahren gegebenen Möglichkeiten können vorliegend also nicht
zu einer Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung beitra
gen, ohne dass eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG erfolgen
müsste (vgl. BVerfGE 114, 1 <32>). Soweit tatsächliche oder rechtliche
Fragen von Bedeutung sind, betreffen sie die Entscheidungsgrundlagen
und die Einschätzung des parlamentarischen Gesetzgebers, über die ein
zig das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden berufen ist (vgl. BVerfGE 90, 128 <138>; 150,309 <327>).
101. Im Übrigen ist es ferner gut möglich, dass ein (angenommener) Vorrang
des fachgerichtlichen Rechtsschutzes vorliegend das Subsidiaritätsprin
zip in sein Gegenteil verkehren würde. Sofern sich das Bundesverfas
sungsgericht mit einer Vielzahl fachgerichtlicher Entscheidungen im
Rahmen von Urteilsverfassungsbeschwerden der Solidaritätszuschlagzahler oder einer Vielzahl von Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG
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Seite 36 177 WHITE 6..CASE
auseinandersetzen müsste, würde es nicht entlastet, sondern einem Ent
scheidungsdruck ausgesetzt (vgl. BVerfGE 65, 1 <38>).
102. Die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes hätte vorliegend also
keine Entlastungswirkung zur Folge, sondern würde zum Gegenteil des
angestrebten Ziels führen.
103. Die Verzögerung hätte darüber hinaus zur Folge, dass Jahr für Jahr ein
milliardenschwerer Betrag aus den Einnahmen der verfassungswidrigen
Abgabe auflaufen würde, den der Bund nach einer Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts in der ohnehin schon angespannten Haus
halts- und Finanzlage erstatten müsste. Wie ausgeführt (oben Rn. 7, 25),
erwartet der Bund bis zum Ende der aktuellen Finanzplanung (Haushalt
2023) Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag in Höhe von insgesamt
54,2 Mrd. Euro, über denen das Damoklesschwert der Erstattung
schwebt zuzüglich der nicht unerheblichen auflaufenden Zinsen. Die
drohende Milliarden-Erstattung wiegt besonders schwer, wenn man be
rücksichtigt, dass der Bund die Corona-Notkredite ab dem Bundeshaus
halt 2023 über 20 Jahre in jährlichen Tranchen zurückführen wird (oben
Rn. 50f.). Durch eine unmittelbare verbindliche Entscheidung durch das
Bundesverfassungsgericht könnte eine jahrelange Phase der Unsicherheit
für den Haushaltsgesetzgeber vermieden und das Problem der Erstattun
gen möglichst kleingehalten werden.
104. Es bleibt festzuhalten, dass eine frühe verfassungsgerichtliche Klärung
der mit der Beschwerde aufgeworfenen Fragen im Zuge der Corona-Pan
demie noch wichtiger geworden ist und keinen Aufschub durch eine vor
herige Anrufung der Finanzgerichte duldet.
IV. Rechtswegerschöpfung
105. Es liegen die Voraussetzungen vor, unter denen der Senat gemäß § 90
Abs. 2 Satz 2 BVerfGG sofort entscheiden kann (dazu oben Rn. 91ff.).
V. Frist
I 06. Die Jahresfrist gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG zur Erhebung der Verfas
sungsbeschwerde ist gewahrt. Das Gesetz zur Rückführung des Solidari
tätszuschlags 1995 (Änderung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995)
vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2115) ist nach dessen Art. 2 am
13. Dezember 2019 in Kraft getreten. Die Jahresfrist läuft noch.
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107. Dies gilt auch hinsichtlich der Regelungen des SolzG 1995, die durch dasGesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 unverändert ge
blieben sind. Es ist vom Gericht anerkannt, dass die Beschwerdefrist er
neut in Gang gesetzt wird, wenn sich durch die Änderung des Gesetzes
ein neuer Inhalt ergibt (vgl. BVerfGE 11, 351 <359f.>; 100, 313 <356> ).
Das ist durch die drastische Veränderung der Freigrenzen der Fall, dasich hiermit auch die Belastung für die Bürgerinnen und Bürger verän
dert und neue grundrechtliche Problemlagen, insbesondere im Hinblick
auf Art. 3 Abs. 1 GG ergeben.
108. Die Jahresfrist ist auch hinsichtlich der Regelungen des SolzG 1995 ge
wahrt, soweit sie Grundlage für die Erhebung des Solidaritätszuschlags
im Veranlagungszeitraum 2020 sind, auch wenn die zugrundliegenden
Rechtsgrundlagen durch das Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszu
schlags 1995 nicht verändert worden sind:
109. Der Bundesgesetzgeber hat erstens die Regelungen in seinen Willen auf
genommen und im Dezember 2019 erneut eine politische Entscheidung
über die Rechtfertigung der Ergänzungsabgabe getroffen (auch wenndiese aus Sicht der Beschwerdeführer verfassungsrechtlich unzureichend
ist, vgl. BTDrucks 19/14103, S. 1). Damit verbunden hat er die bewussteEntscheidung getroffen, den Solidaritätszuschlag erst ab dem 1. Januar
2021 nicht mehr in gleichem Umfang zu erheben. Dabei hat er sich bewusst dafür entschieden, diese Änderung nicht bereits auf den Veranla
gungszeitraum 2020 anzuwenden. Diese Entscheidung und die Verringerung des Solidaritätszuschlags für die Veranlagungszeiträume ab 2021lassen sich nicht voneinander trennen, weil sie auf einer einheitlichen ge
setzgeberischen Bewertung und Gesamtkonzeption beruhen.
110. Zweitens trifft den Gesetzgeber hinsichtlich des Veranlagungszeitraums
2020 (wie auch der folgenden Veranlagungszeiträume) ein echtes Unter
lassen. Er hat es unterlassen, seine verfassungsrechtliche Pflicht zu erfüllen, die Rechtfertigung einer Ergänzungsabgabe stetig zu beobachten und
bei einem Wegfall der Rechtfertigung die Ergänzungsabgabe wieder ab
zuschaffen. Diese Pflicht ergibt sich aus den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zur Rechtfertigung einer Ergänzungsabgabe, die nur demzeitlich begrenzten Ausgleich von Ausgabenspitzen dient und nicht der
dauerhaften Finanzierung des Bundeshaushalts. Sie ist daher auch nichtauf andere Konstellationen übertragbar. Seine Pflicht zur Aufhebung desSolidaritätszuschlags hat der Gesetzgeber spätestens mit dem Auslaufen
des Solidarpakts II durch Unterlassen evident verletzt, weil aufgrund einer veränderten Sachlage eine Aufrechterhaltung der Ergänzungsabgabeunhaltbar geworden ist (vgl. BVerfG (K) BeckRS 2010, 47502 Rn. 20
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Seite 38 J 77 WHITE KCASE
m.w.N.; zum Wegfall der Rechtfertigung des Solidaritätszuschlags siehe
Rn. 146ff.). Im Falle eines echten Unterlassens ist die Beschwerdefrist
nach § 93 Abs. 3 BVerfGG nicht anzuwenden (BVerfG (K) BeckRS
2010, 47502 Rn. 13). Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber es auch unter
lassen hat, zumindest den Weg zum vollständigen Abbau der Ergän
zungsabgabe festzulegen. Er hat lediglich eine Rückführung begonnen,
deren Ende weder festgelegt noch absehbar ist.
111. Drittens stellt sich die Fortführung des Solidaritätszuschlags im Veran
lagungszeitraum 2020 aus Sicht der Beschwerdeführer als implizite Änderung der Einkommensteuer dar. Auch dieser neue Inhalt hat die Jah
resfrist erneut in Gang gesetzt.
D. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
112. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Das SolzG 1995 in der
Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes verletzt die Be
schwerdeführer in ihren Grundrechten der Eigentumsfreiheit aus Art. 14
Abs. 1 GG ( dazu I) und der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2
Abs. 1 GG ( dazu II) und missachtet den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG (dazu III). Das SolzG 1995 in der Fassung des
Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes verstößt auch gegen Art. 6
Abs. 1 GG sowie das Gebot horizontaler Steuergerechtigkeit aus Art. 3
Abs. 1 GG ( dazu IV).
113. Der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung äußerte
in seinem Gutachten über den Abbau des Solidaritätszuschlags zutreffend den Schluss, dass der teilweise Fortbestand des Solidaritätszu
schlags hohen verfassungsrechtlichen Risiken unterliegt und die Gefahr,
dass der Bund wie im Fall der Kembrennstoffbesteuerung zu einer mil
liardenschweren Steuerrückzahlung verurteilt wird, nicht von der Hand
zu weisen sei (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 04).
I. Art. 14 Abs. 1 GG
114. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes verletzt die Beschwerdeführer in ihrer Eigentumsgarantie aus
Art. 14 Abs. 1 GG.
1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie
115. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfasst die Ei
gentumsgarantie alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten
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von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit
verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu
seinem privaten Nutzen ausüben darf (vgl. BVerfGE 115, 97 <110 f.>).
Die Steuerbelastung fällt in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie.
Die Einkommensteuer ist als Beeinträchtigung konkreter subjektiver
Rechtspositionen zu qualifizieren. Weil die Abgabenpflicht an den Er
werb vermögenswerter Rechtspositionen anknüpft, berührt sie die Eigen
tumsgarantie (vgl. BVerfGE 115, 97 <111 f.> ).
116. Der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG ist auch im Fall der Pflicht zur
Leistung des Solidaritätszuschlags eröffnet (so auch BFHE 234, 250
<Rn. 41>). Der Hinzuerwerb der Eigentumspositionen innerhalb einer
Besteuerungsperiode ist tatbestandliche Voraussetzung für die Belastung
mit dem Solidaritätszuschlag. Die Beschwerdeführer müssen den Solida
ritätszuschlag zahlen, weil und soweit ihre Leistungsfähigkeit durch den
Erwerb von Eigentum erhöht ist (vgl. BVerfGE 115, 97 <112>).
2. Eingriff in die Eigentumsgarantie
117. Die Eigentumsgarantie kann durch gesetzliche Inhalts- und Schranken
bestimmungen i.S.v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG verkürzt werden. Das an
gegriffene SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückfüh
rungsgesetzes ist als Inhalts- und Schrankenbestimmung zu qualifizieren,
weil es generell und abstrakt die Pflichten der einkommensteuerpflichti
gen Beschwerdeführer festlegt.
3. Verfassungswidrige Inhalts- und Schrankenbestimmung
a) Regelungsschranken
118. Als Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1
Satz 2 GG unterliegt das angegriffene SolzG 1995 in der Fassung des
Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes den allgemeinen für das Ei
gentum geltenden Eingriffsbegrenzungen. Die Bestimmung des Inhalts
des Eigentumsrechts durch das angegriffene Gesetz ist nur dann verfas
sungsgemäß, wenn es sowohl in formeller als auch materieller Hinsicht
mit dem Grundgesetz in Einklang steht (vgl. BVerfGE 14, 263 <278>;
52, 1 <27>).
b) Verfassungsrechtliche Anforderungen verfehlt
119. Bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums hat der
Gesetzgeber die Aufgabe, den Freiheitsraum des Einzelnen im Bereich
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der Eigentumsordnung und die Belange der Allgemeinheit in einen ge
rechten Ausgleich zu bringen. Die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers
ist aber nicht schrankenlos. Eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des
Eigentums muss mit allen anderen Verfassungsnormen vereinbar sein
(vgl. BVerfGE 14,263 <278>).
120. Das ist vorliegend nicht der Fall. Das SolzG 1995 in der Fassung des
Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes hält sich nicht an die für die
Bestimmung des Inhalts des Eigentumsrechts geltenden Eingriffsbegren
zungen:
121. Erstens wahrt das angegriffene Gesetz die Kompetenzordnung des
Grundgesetzes nicht mehr. Die bloße Teilabschaffung des Solidaritäts
zuschlags auf die Einkommensteuer ist bei gleichzeitiger unbefristeter
Fortführung der Abgabepflicht für einen anderen Teil der Einkommen
steuerzahler mit Ordnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion des Fi
nanzverfassungsrechts nicht vereinbar, weil der Bund mit einem solchen
,,Dauer-Solidaritätszuschlag" einseitig das verfassungsrechtliche Steuer
verteilungssystem durch einfaches Gesetz geändert hat. Das Zustim
mungsbedürfuis des Bundesrates zur Änderung der Einkommen- und
Körperschaftsteuertarife (Art. 105 Abs. 3 i.V.m. Art. 106 Abs. 3 Satz 1
und 2 GG) wird hierdurch ausgehebelt (dazu Wemsmann, NJW 2018,
916 <918>).
122. Zweitens ist das Gesetz seit dem 1. Januar 2020 nicht mehr mit den fi
nanzverfassungsrechtlichen Regelungen der Art. 105 ff. GG vereinbar.
Nachfolgend gehen wir auf die Funktion des Finanzverfassungsrechts
(unter aa) und die Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe ein (unter
bb) und stellen dar, weshalb der sachliche Grund für die fortgesetzte Er
hebung des Solidaritätszuschlags entfallen (unter cc) und eine Umwid
mung unzulässig ist (unter dd).
aa) Funktion des Finanzverfassungsrechts
123. Die grundgesetzliche Finanzverfassung, wie sie in den Art. 104a ff. GGzum Ausdruck kommt, bildet eine in sich geschlossene Rahmen- und
Verfahrensordnung und ist aufFormenklarheit und Formenbindung aus
gelegt (vgl. BVerfGE 145, 171 <191 Rn. 58>). Der strikten Beachtung
der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereiche von Bund und
Ländern kommt eine überragende Bedeutung für die Stabilität der bun
desstaatlichen Verfassung zu (vgl. BVerfGE 145, 171 <191 Rn. 59>).
Über ihre Ordnungsfunktion hinaus entfaltet die Finanzverfassung eine
Schutz- und Begrenzungsfunktion, die es dem einfachen Gesetzgeber untersagt, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten (vgl. BVerfGE 132,
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334 <349 Rn. 47 f.> ; 145, 171 <191f. Rn. 60>). Dieser Schutz bezieht
sich auch und vor allem auf das Vertrauen der Bürger, nur in dem durch
die Finanzverfassung vorgegebenen Rahmen belastet zu werden (vgl.
BVerfGE 132,334 <349 Rn. 48>; 145, 171 <192 Rn. 60>).
124. Der Ordnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion entsprechend besteht
eine Bindung des Gesetzgebers an den Steuertypenkatalog des
Art. 106 GG. Ein über diesen Katalog hinausgehendes allgemeines Steu
erfindungsrecht steht dem Bundesgesetzgeber nicht zu (vgl. BVerfGE
145, 171 <194 Rn. 69>). Die einzelnen Steuern und Steuerarten sind Ty
pusbegriffe. Zur Feststellung der Merkmale, die den betreffenden Typus
kennzeichnen, ist auf den jeweiligen Normal- oder Durchschnittsfall ab
zustellen. Dabei sind die diejenigen Merkmale zu ermitteln, die eine
Steuer oder Steuerart nach dem herkömmlichen Verständnis typischer
weise aufweist und die zu ihrer Unterscheidung von anderen Steuern o
der Steuerarten notwendig sind (vgl. BVerfGE 145, 171 <193 Rn. 66>).
125. Der Solidaritätszuschlag wurde mit dem SolzG 1995 als Ergänzungsab
gabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer eingeführt. Da
her muss der Solidaritätszuschlag die verfassungsrechtlichen Anforde
rungen an den Steuertyp der Ergänzungsabgabe nach Art. 106 Abs. 1
Nr. 6 GG fortwährend einhalten.
bb) Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe
126. Die Voraussetzungen an eine Ergänzungsabgabe sind stets zu wahren.
Werden die Grenzen überschritten, so ist eine derartige Abgabe (fortan)
verfassungswidrig. Die Frage, ob sich eine Weitererhebung des Solidari
tätszuschlags in kompetenzieller Hinsicht verfassungsrechtlichen Barri
eren ausgesetzt sieht, ist über begriffliche, historische sowie systemati
sche Erwägungen zu beantworten (vgl. Selmer/Hummel, Der Solidari
tätszuschlag eine unendliche Geschichte?, in: Junkernheinrich u.a.
(Hrsg.), Jahrbuch für öffentliche Finanzen. 2013, 361 <372 m.w.N.>).
127. Die Ergänzungsabgabe stellt gemäß Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG eine Er
gänzung der Einkommen- und Körperschaftsteuer dar. Eine nähere De
finition des Begriffs der Ergänzungsabgabe oder Voraussetzungen für
die Erhebung enthält das Grundgesetz nicht. In seiner Entscheidung zur
Ergänzungsabgabe 1968 nahm das Bundesverfassungsgericht nur frag
mentarisch zu den Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe Stellung.
Es hielt allerdings fest, dass der Bundesgesetzgeber nicht berechtigt ist,
unter der Bezeichnung „Ergänzungsabgabe" eine Steuer einzuführen, die
den Vorstellungen widerspricht, die der Verfassungsgeber erkennbar mit
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dem Charakter einer solchen Abgabe verbunden hat. Deshalb sei die Zu
ständigkeit des Bundes zur Einführung einer Ergänzungsabgabe als einer
besonderen Steuer vom Einkommen im Lichte des verfassungsrechtli
chen Begriffs der Ergänzungsabgabe nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG a.F.
zu interpretieren (vgl. BVerfGE 32,333 <338>).
128. Aus dem Wesen der Ergänzungsabgabe folgt jedenfalls eine Begrenzung
in der Höhe. Die Ergänzungsabgabe muss sich in einem angemessenen
Verhältnis zur Einkommensteuer halten, um deren Aushöhlung zu ver
meiden (vgl. BVerfGE 32,333 <338>).
129. Eine zeitliche Befristung von vornherein ist verfassungsrechtlich nicht
geboten. Eine Ergänzungsabgabe darf nicht nur für einen ganz kurzen
Zeitraum erhoben werden (vgl. BVerfGE 32, 333 <340>). Zu der Frage,
ob auch eine Erhebung über sehr lange Zeiträume von unter Umständen
mehreren Jahrzehnten, wie hier, mit dem Charakter der Ergänzungsab
gabe vereinbar ist, äußerte sich das Bundesverfassungsgericht nicht. Ins
besondere konnte es im damaligen Fall dahinstehen lassen,
,, ob ein verfassungsrechtlicher Zwang zur Aufhebung der [Er
gänzungsabgabe] sich ergeben würde, wenn die Voraussetzun
gen far die Erhebung dieser Abgabe evident entfielen, etwa weil
die dem Bund im vertikalen Finanzausgleich zufallenden Steuern
möglicherweise nach einer grundsätzlichen Steuer- und Finanz
verfassungsreform, zur Erfallung seiner Aufgaben far die Dauer
offensichtlich ausreichen. " (BVerfGE 32, 333 <343> ).
130. Die Voraussetzungen und Grenzen einer Ergänzungsabgabe sind danach
durch Auslegung von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG zu ermitteln. Maßgeblich
müssen die Vorstellungen sein, die der Verfassungsgeber erkennbar mit
dem Charakter einer Ergänzungsabgabe verbunden hat (vgl. BVerfGE
32, 333 <338>; zur Beachtlichkeit des Gesetzgeberwillens ausführlich
Thomas Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates, S.
317 ff.). Die Auslegung des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ergibt, dass die
verfassungsgemäße Erhebung einer Ergänzungsabgabe erstens einer
sachlichen Begründung in Form eines zusätzlichen Finanzbedarfs des
Bundes erfordert (nachfolgend (1)) und sich zweitens eine zeitliche Be
grenzung durch den Fortbestand bzw. Wegfall des sachlichen Grundes
ergibt (nachfolgend (2)). Sie ist als subsidiäres Finanzierungsinstrument
anzusehen, dem von Verfassungs wegen Ausnahmecharakter zukommt
(vgl. Seiler, in: Maunz/Dürig, GG, Stand September 2017, Lfg. 81,
Art. 106 Rn. 117). Anders ausgedrückt: Die Zulässigkeit einer Ergän-
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zungsabgabe beschränkt sich auf einen „temporären besonderen Finanz
bedarf [des Bundes] far einen spezifischen Zweck" (so Stellungnahme Bundesrechnungshof, S. 3).
Im Einzelnen:
(1) Sachlicher Grund
(a) Historische Auslegung
131. Zur Erschließung der Reichweite der Kompetenz des Bundesgesetzgebers, eine Ergänzungsabgabe einzuführen und aufrechtzuerhalten, ist diehistorische Verfassungsinterpretation von Bedeutung (so Kube, DStR2017, 1792 <1796>; vgl. auch Selmer/Hummel, Der Solidaritätszuschlag
eine unendliche Geschichte?, in: Junkernheinrich u.a. (Hrsg.), Jahrbuchfür öffentliche Finanzen. 2013, 361 <372ff.>).
132. Eine verfassungsgemäße Ergänzungsabgabe bedarf als sachlichen Grundeiner haushaltsrechtlichen Sondersituation in Form eines legislativ zu benennenden zusätzlichen konkreten Finanzbedarfs des Bundes. Ein allgemeiner Finanzierungsbedarf des Bundes ist nicht ausreichend, um die Erhebung bzw. die Fortdauer einer Sonderabgabe auf das Einkommen alssolche zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr weitergehende, außerordentliche und legitimierende Gründe vorliegen (vgl. Ausarbeitung WD, S. 7f.m.w.N.; Hoch, DStR 2018, 2410 <2411>).
133. Nach der Vorstellung des verfassungsändernden Gesetzgebers bezwecktdie Ergänzungsabgabe „ anderweitig nicht auszugleichende Bedarfsspit
zen im Bundeshaushalt zu decken" (BTDrucks II/480, S. 72, Nr. 105,bereits unter Rn. 10). In der amtlichen Begründung zum parallel eingebrachten Entwurf des Ergänzungsabgabengesetzes (BT-Drs. II/484,S. 4), auf die die Begründung zum verfassungsändernden Gesetz Bezug
nimmt (s. BTDrucks II/480, S. 72, Nr. 105), ist ebenfalls davon die Rede,dem Bundesgesetzgeber solle ermöglicht werden, ohne eine Änderungder Steuersätze „ Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt" zu decken, die aufanderem Wege, insbesondere durch Senkung von Ausgaben nicht ausgeglichen werden können. Auf diese Weise werde die Abgabe, deren Erhebung „ keineswegs far die Dauer, sondern lediglich far Ausnahmelagen
bestimmt ist" (BT-Drs. II/484, S. 4) wesentlich zur inneren Festigung derbundesstaatlichen Finanzstruktur beitragen (vgl. Papier-Gutachten,S. 16).
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(b) Systematisch-teleologische Auslegung
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134. Das Erfordernis des sachlichen Grundes in Form eines zusätzlichen Finanzbedarfs des Bundes findet seine Begründung auch im systematischen Normenkontext des Finanzverfassungsrechts, insbesondere 1m
bundestaatlichen Verteilungsgefüge der Steuereinnahmen.
135. Der Ordnungsrahmen des Art. 106 GG sieht hinsichtlich der Ertragshoheit vor, dass bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer alssogenannte Gemeinschaftsteuer das Aufkommen dem Bund und denLändern je zur Hälfte zukommt (Art. 106 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG). Dem
gegenüber steht das Aufkommen aus der Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer allein dem Bund zu (Art. 106Abs. 1 Nr. 6 GG). Die Einführung einer Ergänzungsabgabe bedeutet des
halb eine Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten des Bundes. Könnte der Bund die zur Einkommen- und Körperschaftsteuer akzessorische Ergänzungsabgabe (zeitlich) unbeschränkt erheben, stündeihm die Möglichkeit offen, einseitig das verfassungsrechtliche Steuerverteilungssystem durch einfaches Gesetz zu ändern. Das wäre aber mit derOrdnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion des Finanzverfassungsrechts nicht vereinbar. Darüber hinaus würde das Zustimmungsbedürfnisdes Bundesrates zur Änderung der Einkommen- und Körperschaftsteuertarife (Art. 105 Abs. 3 i.V.m. Art. 106 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG) ausgehebelt. Damit kommt der Ergänzungsabgabe im System von Verfassungswegen ein Ausnahmecharakter zu (vgl. Papier-Gutachten, S. 19f.m.w.N.). Diesen Charakter berücksichtigend sollte ein Instrument geschaffen werden, mit dem in begrenztem Rahmen eine elastische, der jeweiligen Konjunkturlage und dem jeweiligen Haushaltsbedarf angepasste Finanzpolitik ermöglicht und das Steuerverteilungssystem imVerhältnis zwischen Bund und Ländern durch die Beschränkung der Notwendigkeit einer Revision der Steuerbeteiligungsquoten gefestigt wird(vgl. BTDrucks II/480, S. 72, Nr. 105). Die Ergänzungsabgabe ist daheran konkrete Umstände zu knüpfen, die einen außerordentlichen Mehrbe
darf allein des Bundes begründet (vgl. Hoch, DStR 2018, 2410 <2411>;ferner Papier-Gutachten, S. 19f.).
136. Zusammengefasst gilt: Der sachliche Grund muss einen Finanzbedarfauslösen, der aus den laufenden Einnahmen nicht gedeckt werden kann.Dieser Finanzbedarf darf jedoch nur vorübergehender Natur sein, wobeider Begriff „vorübergehend" einem weiten zeitlichen Spielraum unterliegt (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 5.3; ferner Papier-Gutachten, S. 20). Derkonkrete Finanzierungsbedarf des Bundes, dem die Ergänzungsabgabe
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dient, muss nachgewiesen werden (vgl. Schwarz, in: v. Man
goldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 106 Abs. 1 Rn. 49).
(c) Zwischenfazit
137. Die Zulässigkeit einer Ergänzungsabgabe beschränkt sich somit auf ei
nen temporären besonderen Finanzbedarf allein des Bundes für einen
spezifischen Zweck. Der Bund darf sich kein zeitlich unbegrenztes Zu
schlagsrecht im Bereich der Steuern vom Einkommen für seinen allge
meinen Finanzbedarf schaffen. Dies ist im Grundgesetz nicht vorgese
hen.
(2) Zeitliche Grenzen
138. Die Erhebung einer Ergänzungsabgabe im finanzverfassungsrechtlichen
Gesamtsystem der Steuerertragszuordnung und des bundesstaatlichen Fi
nanzausgleichs bedarf der fortdauernden inhaltlichen Rechtfertigung
(vgl. Kube, DStR 2017, 1792 <1797>). Der fortdauernde Rechtferti
gungsbedarf entspricht einer zeitlichen Begrenzung der Ergänzungsab
gabe. Die zeitliche Begrenzung ergibt sich aus ihrer Zweckkausalität, die
einen temporären aufgabenbezogenen Mehrbedarf des Bundes auch
über mehrere Haushalts- und Finanzplanungsperioden finanzieren soll
und kein dauerhaftes Instrument der Steuerumverteilung darstellt. Hierin
unterscheidet sich die Ergänzungsabgabe von den auf Dauer angelegten
Steuern (vgl. BVerfGE 32, 333 <338 f.>; ferner Hidien/Tehler, StBW
2010, 458 <461>). Grund ist, dass sich der Bund anderenfalls zur De
ckung einer längerfristigen Steigerung seines Finanzbedarfs an den Län
dern vorbei eine Ertragsquelle schaffen und hierbei die regulären Mittel
der Erhöhung der Bundessteuern und die Anpassung der Beteiligungs
quoten an der Umsatzsteuer umgehen könnte (vgl. Kube, DStR 2017,
1792 <1797>).
139. Eine ursprünglich verfassungskonform eingeführte Ergänzungsabgabe
kann mit Zeitablauf verfassungswidrig werden, wenn der beschriebene
Sonderbedarf dauerhaft wegfällt (vgl. Ausarbeitung WD, S. 8 m.w.N.;
Kube, DStR 2017, 1792 <1798>; Hoch, DStR 2018, 2410 <2411>
m.w.N.). Wenngleich es nicht erforderlich ist, eine Ergänzungsabgabe
von vornherein zu befristen, ist doch die Ergänzungsabgabe dann aufzu
heben, wenn die Voraussetzungen ihrer Erhebung entfallen, also kein zu
sätzlicher Finanzbedarf des Bundes für den spezifischen Zweck mehr
festzustellen ist (vgl. Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3,
7. Aufl. 2018, Art. 106 Abs. 1 Rn. 49; Papier-Gutachten, S. 21 ff.; Bar
tone, Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsabgaben im
Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochum u.a. (Hrsg.), Festschrift
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für Rudolf Wendt, 2015, S. 739 <760>). Denn eine Fortführung einer Er
gänzungsabgabe ist stets an ein Defizit im Steueraufkommen des Bundes
zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs geknüpft.
140. Geht ein ursprünglich konkret gesteigerter Mittelbedarf des Bundes über
die Zeit in einer allgemeinen Finanzlücke auf, verlangen die Ordnung der
Ertragskompetenzen und das Gleichgewicht des bundesstaatlichen Fi
nanzausgleichs die Inanspruchnahme der strukturell nachhaltigen, regu
lären Instrumente des bundesstaatlichen Finanzrechts, um die Lücke zu
schließen (vgl. Kube, DStR 2017, 1792 <1798> m.w.N.).
141. Mit dem Wegfall des sachlichen Grundes entfällt auch die Berechtigung
der Ergänzungsabgabe. Wird sie mit einem anderen sachlichen Grund
vorübergehender Natur unterlegt, ist ggf. eine Fortführung zulässig,
wenn tatsächlich ein neuer konkreter Mehrbedarf allein des Bundes ent
steht, der nicht über die allgemeinen Steuereinnahmen des Bundes ge
deckt werden kann (vgl. BVerfGE 32, 333 <341>). Allerdings darf sich
der Bund nicht auf diese Weise ein dauerhaftes Zuschlagsrecht auf die
Einkommensteuer und Körperschaftsteuer verschaffen. Es muss daher
ein die Ergänzungsabgabe rechtfertigender spezifischer Finanzbedarf be
stehen (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 5.3).
(3) Verfassungsgerichtliche Kontrolle
142. Aus dem Ausnahmecharakter der Ergänzungsabgabe folgt, dass es zur
Gewährleistung der Ordnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion des
Finanzverfassungsrechts einer erhöhten Kontrolldichte des Bundesver
fassungsgerichts bedarf. Insbesondere kann das Bundesverfassungsge
richt überprüfen, ob die objektiven Erhebungsvoraussetzungen gegeben
sind.
143. Dem Gesetzgeber kommt unzweifelhaft ein Beurteilungs- und Einschät
zungsspielraum in der Frage zu, ob und in welchem Umfang der beson
dere Erhebungs- oder Finanzierungszweck einer vor Jahren eingeführten
Ergänzungsabgabe noch besteht. Allerdings dürfte ein solcher Beurtei
lungs- und Einschätzungsspielraum doch überschritten sein, wenn der
Wegfall des besonderen Erhebungszwecks angesichts der Änderung der
Verhältnisse „eindeutig und offensichtlich feststeht" (BFHE 234, 250
<Rn. 25>) und durch ein objektiv bestehendes und feststellbares Ereignis
belegbar ist (vgl. Papier-Gutachten, S. 22; hierauf verweist auch Hoch,
DStR 2018, 2410 <2413>). Teilweise wird die Auffassung vertreten, es
müsse ausreichen, wenn die Änderung der Verhältnisse „erkennbar" sei
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(vgl. Bartone, Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsab
gaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochum u.a. (Hrsg.),
Festschrift für RudolfWendt, 2015, S. 739 <756 m.w.N.>).
144. Bei der Beurteilung der Verhältnisse muss die Zeitspanne Berücksichtigung finden, die seit der Einführung einer Ergänzungsabgabe vergangen
ist. So ist im Zeitpunkt der Einführung einer Ergänzungsabgabe ganz we
sentlich auf die Einschätzung des Gesetzgebers abzustellen. Im weiteren
Verlauf der Zeit ist hingegen eine zunehmend genaue, auch judikative
Prüfung des fortbestehenden Vorliegens des konkreten zusätzlichen Finanzbedarfs des Bundes erforderlich; zum einen, weil die legitimierende
gesetzgeberische Entscheidung weit zurückliegt, zum anderen, weil mitdem Zeitablauf eine immer stärkere tatsächliche Vermutung dafürspricht, dass der konkrete zusätzliche Finanzbedarf des Bundes nicht
mehr besteht oder in einer allgemeinen Deckungslücke aufgegangen ist(vgl. Kube, DStR 2017, 1792 <1798>). Mit zunehmendem zeitlichen Ab
stand wächst die Rechtfertigungslast für den Fortbestand der Ergän
zungsabgabe (vgl. Bartone, Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochumu.a. (Hrsg.), Festschrift für RudolfWendt, 2015, S. 739 <752 m.w.N.>).
145. Der Umstand, dass eine haushaltsrechtliche Zweckbindung des Aufkommens aus einer Ergänzungsabgabe nicht besteht, sondern der Grundsatzder Gesamtdeckung öffentlicher Steuereinnahmen gilt (vgl. § 7 Haus
haltsgrundsätzegesetz), bedeutet im Übrigen nicht, dass der Bund überdie Kompetenznorm des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG das Recht erhielte, imRahmen seines Beurteilungsspielraums das fnanzverfassungsrechtliche
System der Ertragsverteilung nach seinem Belieben umzugestalten (vgl.
Papier-Gutachten, S. 22f.).
cc) Sachlicher Grund für Solidaritätszuschlag entfallen
146. Auf die Ergänzungsabgabe „Solidaritätszuschlag" angewendet, führt
dies im Ergebnis dazu, dass das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 mit demEnde des Solidarpakts II zum 31. Dezember 2019 verfassungsrechtlich
nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. Papier-Gutachten, S. 28). Die finanz
politische und finanzverfassungsrechtliche Sonderlage einer besonderenAufbauhilfe zugunsten der neuen Länder kann als beendet betrachtet
werden (vgl. Papier, Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995, Juni 2018,
s. 4).
147. Nach Auffassung der früheren Bundesregierung sollte eine Ergänzungsabgabe „keineswegs für die Dauer, sondern lediglich für Ausnahmelagen
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bestimmt" sein und „nur für den Zeitraum" erhoben werden, in dem die
Deckungslücke des Bundeshaushalts nicht anderweitig geschlossen wer
den kann (vgl. BTDrucks II/484, S. 4 und 5). Bei der Einführung des
streitgegenständlichen Solidaritätszuschlags waren sich die damaligen
Koalitionsfraktionen (CDU/CSU und FDP) und die SPD Fraktion dar
über einig, dass der Solidaritätszuschlag wegen seiner Natur als eine Er
gänzungsabgabe, ,,aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht auf Dauer
erhoben werden könne" (BTDrucks 12/4801, S. 145). Dem Gedanken
einer nur vorübergehenden Erhebung entsprechend benannten die Frak
tionen auch das Ziel, die Steuerbelastung mittelfristig wieder abzubauen.
Hierzu sollte der Solidaritätszuschlag spätestens nach drei Jahren auf
seine weitere Notwendigkeit hin überprüft werden (BTDrucks 12/4801,
S. 145). Der zeitliche Horizont der Erhebung war demnach auf einige
Jahre und nicht Jahrzehnte ausgerichtet, wie es sich allerdings inzwi
schen darstellt.
148. Der Solidaritätszuschlag ist mit notwendigen finanziellen Anstrengun
gen für den Aufbau der neuen Länder begründet worden, die nach der
damaligen Finanzlage des Bundes aus dem normalen Steueraufkommen
nicht finanzierbar waren (dazu oben Rn. 16ff., vgl. auch die Nachweise
in Ausarbeitung WD, S. 8ff.). Der Aufbau der neuen Länder manifes
tierte sich finanziell vor allem in den Leistungen des Bundes auf Grund
lage der Solidarpakte I und II (dazu oben Rn. 26ff.). Zwischen dem So
lidaritätszuschlag und den Solidarpakten I und II besteht damit unstreitig
eine Verbindung, weil die Legitimation der Einführung des streitgegen
ständlichen Solidarzuschlags ausschließlich in dem zusätzlichen Finanz
bedarf des Bundes im Rahmen der Wiedervereinigung gelegen hat. So
bestätigte auch der frühere Staatssekretär Hauser auf eine Anfrage vom
21. Dezember 1995 die Zweckbindung des angegriffenen Solidaritätszu
schlags mit seiner Erklärung, der Zuschlag diene „zur Finanzierung des
Transfers des Bundes für die neuen Länder im Rahmen des Finanzaus
gleichs" (vgl. Kruhl, StBW 2015, 311 <314>).
149. Der Solidarpakt II ist Ende des Jahres 2019 ausgelaufen und durch einen
neuen Finanzausgleich ersetzt, der ab dem Jahr 2020 keine Sonderbe
darfe für die neuen Länder mehr ausweist, sondern eine finanzverfas
sungsrechtliche Normallage abbildet. Ein besonderer Finanzbedarf zur
Abdeckung weiterer wiedervereinigungsbedingter Ausgaben ist folge
richtig im Bundeshaushalt nicht mehr ausgewiesen ( dazu oben
Rn. 39ff.). Somit entfällt der spezifsche Mittelbedarf für die Aufgabe
„Finanzierung des Aufbaus Ost". Der Solidaritätszuschlag stellt 25 Jahre
nach seiner Einführung einen Fremdkörper innerhalb des Steuersystems
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dar (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 0.8 und Stellungnahme Bundesrech
nungshof, S. 3).
150. Die Problematik des Wegfalls des besonderen Finanzierungsbedarfs we
gen Zweckerreichung und damit zusammenhängend des verfassungswid
rigen „Dauerfinanzierungsinstruments" sprach der Bundesfinanzhof be
reits im Jahr 2011 in seiner Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit
des Solidaritätszuschlags für den Veranlagungszeitraum 2007 an. Er hielt
Folgendes fest (BFHE 234,250 <Rn. 25>, Hervorhebung nur hier):
„Eine zeitliche Begrenzung einer nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG unbefristet erhobenen Ergänzungsabgabe kann sich allerdings daraus ergeben, dass die Ergänzungsabgabe nach ihrem Charakter den Zweck hat, einen vorübergehenden aufgaben.bezogenen Mehrbedarf des Bundes zu finanzieren, und sie damit kein dauerhaftes Instrument der Steuerwn.verteilung sein darf[. . .}. Ein dauerhafer Finanzbedarf ist regelmäßig über die auf Dauer angelegten Steuern und nicht über eine Ergänzungsabgabe zu decken. Deshalb kann eine verfassungsgemäß beschlossene Ergänzungsabgabe dann verfassungswidrig 11\ erden. wenn sich die Verhältnisse. die für die Einführung maßgebend waren, grundlegend ändern, z.B. weil der mit der Erhebung verfolgte Zweck erreicht ist und die Ergänzungsabgabe nicht wegen eines anderen Zwecks fortgefahrt werden soll oder weil insoweit eine dauerhafe Finan
zierungslücke entstanden ist[. . .}. Die Verfassungsmäßigkeit der Ergänzungsabgabe wird in diesen Fällen aber erst zweifelhaft, wenn die Ai1derung der Verhältnisse eindeutig und offensichtlich. feststeht."
151. Danach hielt der Bundesfinanzhof es zwar nicht für verfassungsrechtlich
geboten, den Solidaritätszuschlag ab dem 1. Januar 2007 nicht mehr zu
erheben. Der Bundesfinanzhof stützte seine Entscheidung allerdings ex
plizit auf den Solidarpakt II. Er nahm Bezug auf die zum Ausgleich der
teilungsbedingten Sonderlasten, zum Abbau der bestehenden Infrastruk
turlücke sowie zum Ausgleich der unterproportionalen kommunalen Fi
nanzkraft an die "neuen" Bundesländer bis 2019 geleisteten Sonderbe
darfs-Bundesergänzungszuweisungen und leitete daraus ab, dass im Zu
sammenhang mit der Wiedervereinigung im Jahr 2007 noch ein Finanz
bedarf des Bundes bestand. Die Erhebung des Solidaritätszuschlags seit
dem Jahr 1995 widerspräche daher- gemessen an dem mit seiner Einfüh
rung verbundenen Zweck - nicht dem Wesen einer zur Deckung von Be
darfsspitzen im Bundeshaushalt dienenden Ergänzungsabgabe (BFHE
234, 250 <Rn. 26> ). Der Bundesfinanzhof kam danach zu dem Ergebnis,
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dass der ursprüngliche Gesetzeszweck für die Einführung des Solidari
tätszuschlags auch im dortigen Streitjahr 2007 noch nicht entfallen war,
weil weiterhin ein Mehrbedarf des Bundes zur Finanzierung der Ausga
ben im Zusammenhang mit der Herstellung der deutschen Einheit be
standen hat. Es liege daher keine implizite Umwidmung des Solidaritäts
zuschlags für andere Zwecke vor (BFHE 234, 250 <Rn. 27> ).
152. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist der Solidaritätszu
schlag zwar im Jahr 1995 verfassungskonform eingeführt worden. Dieser
Zustand der Verfassungskonformität steht aber nicht fest und kann sichim Laufe der Jahre ändern, wie insbesondere im Hinblick auf das Aus
laufen des Solidarpakts II (so auch Ausarbeitung WD, S. 14). Seit der
Entscheidung des Bundesfinanzhofs hinsichtlich des Veranlagungszeitraums 2007 hat sich ein ganz entscheidender Umstand geändert: Der So
lidarpakt II ist ausgelaufen. Die auf seiner Grundlage vom Bund an dieostdeutschen Länder im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung ge
leisteten Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen fließen nicht
mehr und können demnach nicht als Rechtfertigung für den Fortbestand
des Solidaritätszuschlags herhalten, wie dies noch bezogen auf den Ver
anlagungszeitraum 2007 der Fall war. Im Ergebnis stellt sich der Solida
ritätszuschlag seit dem 1. Januar 2020 danach als verfassungswidriges
„Dauerfinanzierungsinstrument" dar. Die Änderung der Verhältnisse
steht mit dem Auslaufen des Solidarpakts II im Sinne der Rechtspre
chung „evident" (BVerfGE 32, 333 <343>) bzw. ,,eindeutig und offen
sichtlich" (BFHE 234, 250 <Rn. 25>) fest. Die unbefristete Fortführung
des Solidaritätszuschlags über den 31. Dezember 2019 hinaus ist nicht
gerechtfertigt, weil es seitdem an dem spezifischen Finanzbedarf desBundes fehlt, zu dessen Deckung das angegriffene Gesetz erlassen und
die Abgabe eingeführt wurde. Aus dem evidenten Wegfall der Voraus
setzungen zur Erhebung der Abgabe folgt der verfassungsrechtliche
Zwang zur Aufhebung der Ergänzungsabgabe.
153. So kamen auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundes
tages und der Präsident des Bundesrechnungshofes zu der Einschätzung,
dass an der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags über das
Ende 2019 hinaus „erhebliche Bedenken" bestünden (vgl. Ausarbei
tung WD, S. 14) bzw. der Fortbestand „hohen verfassungsrechtlichen Ri
siken unterliegt" (so BWV-Gutachten, Tz. 0.4 und Stellungnahme Bun
desrechnungshof, S. 2).
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dd) Keine Umwidmung
154. Auch eine Umwidmung des Solidaritätszuschlags für andere Haushaltszwecke als die Finanzierung der Wiedervereinigung ist verfassungsrechtlich nicht vertretbar. Im Ergebnis würde mit der Umwidmung eine neueErgänzungsabgabe eingeführt, deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung allerdings nicht gegeben ist. Eine explizite Umwidmung ist nichterfolgt (dazu (1)). Eine implizite Umwidmung wäre unzulässig (dazu
(2)). Ein „Corona-Soli" kommt nicht in Betracht (dazu (3)).
(1) Keine explizite Umwidmung
155. Eine ausdrückliche Umwidmung des Solidaritätszuschlags durch den
Beschluss eines neuen Gesetzes ist nicht erfolgt. Der Gesetzgeber hateine neue „nicht anderweitig zu deckende Bedarfsspitze" des Bundesnicht benannt.
156. Eine explizite Umwidmung ist auch nicht durch einen Beschluss desBundestages erfolgt, sofern dies überhaupt für einen Austausch des dieErgänzungsabgabe rechtfertigenden Zwecks ausreichte. Da die Ergänzungsabgabe zur Deckung eines nur temporären besonderen Finanzbedarfs und anderweitig nicht auszugleichenden Fehlbedarfs des Bundeshaushalts gedacht ist, hat der Bundestag im Rahmen seiner Etatverantwortung im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Bundeshaushalts darüber zu entscheiden, ob und in welchem Ausmaß die Abgabe zu
erheben ist (vgl. BTDrucks 11/484, S. 4; Fischer-Menshausen, DÖV1956, 161 <164>). Eine Fortführung des Solidaritätszuschlags mit geän
dertem Zweck müsste also vom Bundestag beschlossen werden; eine andauernde Umwidmung der Ergänzungsabgabe für neue Finanzbedarfeohne parlamentarische Erneuerung des Gesetzes widerspräche dem Befassungsvorrecht des Bundestags (vgl. Hidien/Tehler, StBW 2010, 458<461 f.>; so auch Bartone, Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochumu.a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wendt, 2015, S. 739 <758 m.w.N.>;Selmer/Hummel, Der Solidaritätszuschlag eine unendliche Ge
schichte?, in: Junkernheinrich u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für öffentliche Finanzen. 2013, 361 <381>). Einen solchen „Solidaritätszuschlag-Fortführungs Beschluss" hat der Deutsche Bundestag im Rahmen seiner Budgethoheit indes (bislang) nicht getroffen.
(2) Implizite Umwidmung für andere Zwecke unzulässig
157. Eine implizite Umwidmung des Solidaritätszuschlags für andere Zweckeist verfassungsrechtlich nicht tragbar. Hierfür fehlt es an dem für eine
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Fortsetzung des Solidaritätszuschlags ab 2020 notwendigen neuen Sach
grund und konkreten außergewöhnlichen Finanzierungsbedarf allein des
Bundes.
158. Der Bundesgesetzgeber könnte sich zur Rechtfertigung der Auswechs
lung der Begründung für die fortdauernde Erhebung des Solidaritätszu
schlags ab 2020 nicht auf einen allgemeinen Finanzierungsbedarf auf
grund neuer Staatsaufgaben stützen. Ein allgemeiner Finanzierungsbe
darf des Bundes kann die Fortdauer einer Sonderabgabe auf das Einkom
men nicht rechtfertigen (vgl. Ausarbeitung WD, S. 7f., 17; Bartone, Ge
danken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsabgaben im Sinne von
Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, in: Jochum u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf
Wendt, 2015, S. 739 <744>; Selmer/Hummel, Der Solidaritätszuschlag
eine unendliche Geschichte?, in: Junkernheinrich u.a. (Hrsg.), Jahrbuch
für öffentliche Finanzen. 2013, 361 <375>; jew. m.w.N.). Bei dem Soli
daritätszuschlag handelt es sich um eine Ergänzungsabgabe mit verfas
sungsrechtlich inhärentem Ausnahmecharakter, die nicht dazu vorgese
hen ist, langfristig eine stabile Haushaltslage sicherzustellen (vgl. Hoch,
DStR 2018, 2410 <2414> ). So erwachsen immer wieder neue Aufgaben
und möglicherweise außergewöhnliche finanzielle Mehrbelastungen.
Dies allein rechtfertigt jedoch nicht die Beibehaltung der Ergänzungsab
gabe. Neue Staatsaufgaben als solche, auf die sich der Bund gegebenen
falls berufen könnte, reichen für die Fortführung nicht aus.
(3) ,,Corona-Soli" unzulässig
159. Eine Umwidmung des wiedervereinigungsbedingten Solidaritätszu
schlags zu einer COVID-19-pandemiebedingten Abgabe (,,Corona
Soli") wäre gleichermaßen verfassungsrechtlich nicht vertretbar.
160. Der Bund hat mit den pandemiebedingten Maßnahmen zur Stärkung des
Gesundheitsschutzes und des Gesundheitssystems sowie zur Begrenzung
der Folgen für Wirtschaft, Unternehmen und Beschäftigte (dazu oben
Rn. 50f.) unbestritten neue Staatsaufgaben übernommen, die einen au
ßerordentlichen Mehrbedarf ausgelöst haben. Trotz der milliardenschwe
ren Neuverschuldung liegt gleichwohl keine haushaltsrechtliche Sonder
situation bzw. Ausnahmelage vor, die den Einsatz des Instruments der
Ergänzungsabgabe rechtfertigte. Denn es fehlt (i) an einer speziellen
bzw. vorrangigen Aufgabe des Bundes, die (ii) den die Ergänzungsab
gabe rechtfertigenden zusätzlichen konkreten Finanzbedarf allein des
Bundes auslöst. Nur unter der Voraussetzung eines erhöhten Bedarfs
(nur) des Bundes sind nämlich die Einführung und Beibehaltung einer
Ergänzungsabgabe das mildere Mittel gegenüber einer Erhöhung der
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Einkommen- und Körperschaftsteuer (so Tappe, Schriftliche Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 31. Oktober
2019 für die öffentliche Anhörung des Finanzausschusses am 4. November 2019, S. 7). Die Bewältigung der Corona-Pandemie nimmt allerdings alle - Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen in die Pflicht.
Dementsprechend belastet die Corona-Pandemie nicht ausschließlich
den Bundeshaushalt, sondern auch die Haushalte der Länder und Kom
munen (dazu oben Rn. 53ff.). Anstelle eines „Corona-Solis" würde es
hiernach sehr viel näherliegen, die Länder unmittelbar an den Einnahmen partizipieren zu lassen. Mit der Finanzautonomie der Länder unvereinbar
wäre es zudem, zunächst einen Zuschlag auf Bundesebene zu erheben,
um selbigen sodann in Form von Bundeszuschüssen auf die Länder und
kommunale Ebene zu verteilen.
161. Ein „Corona-Soli" würde mithin gerade nicht zur inneren Festigung der
bundesstaatlichen Finanzstruktur beitragen, sondern vielmehr zu einer
Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten des Bundes führen.Der Bund würde sich an den Ländern vorbei eine Ertragsquelle zur De
ckung seiner pandemiebedingten Lasten schaffen und hierbei die regulären Mittel der Erhöhung der Bundessteuern und die Anpassung der Be
teiligungsquoten an der Umsatzsteuer umgehen. Ein „Corona-Soli"würde im Ergebnis dazu führen, dass der Bund eine eigene Steuerkompetenz in Form eines zeitlich unbegrenzten Zuschlagsrechts auf die Steu
ern vom Einkommen zementiert (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 0.6 und 5.3;
Papier-Gutachten, S. 23). Ein solches ausschließliches Steuersetzungsrecht des Bundes ohne Zustimmung des Bundesrats sieht das Grundge
setz jedoch nicht vor, zumal die Haushaltslage der Länder und Kommunen von einer derart einseitigen Änderung des verfassungsrechtlichen
Steuerverteilungssystems in keiner Weise profitieren würden. Wie das
Bundesverfassungsgericht im Fall der Kembrennstoffsteuer betont hat,darf der Bund seine Zuständigkeitsgrenzen für steuerliche Maßnahmen
nicht an den Regelungen im Grundgesetz vorbei ausweiten (vgl. BWV
Gutachten, Tz. 0.6, 6.3). Der Finanzbedarf des Bundes müsste über eine
Anpassung der Regelsteuern oder über eine Neuverteilung des Umsatz
steueraufkommens gedeckt werden.
162. Zu erinnern ist an den allgemeinen Grundgedanken der Besteuerung des
Bürgers im Zusammenhang mit der Verteilung steuerlicher Lasten bei
wachsendem staatlichen Finanzbedarf (vgl. BVerfGE 87, 153 <172 >):
,,Ein besonderer Finanzbedarf des Staates und die Dringlichkeit ei
ner Haushaltssanierung mögen den Gesetzgeber veranlassen, die
bisherigen Bedarfstatbestände in der gesamten Rechtsordnung zu
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überprüfen, sind aber nicht geeignet, eine verfassungswidrige Be
steuerung zu rechtfertigen."
II. Art. 2 Abs. 1 GG
163. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs
gesetzes verstößt auch gegen das Grundrecht der Beschwerdeführer aus
Art. 2 Abs. 1 GG.
164. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit in ei
nem umfassenden Sinne. Steuergesetze greifen in die allgemeine Hand
lungsfreiheit in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermö
gensrechtlichen Bereich ein (vgl. BVerfGE 87, 153 <169>). Zur Hand
lungsfreiheit zählt das Grundrecht des Bürgers, nur auf Grund solcher
Rechtsvorschriften zur Steuer herangezogen zu werden, die formell und
materiell der Verfassung gemäß sind und deshalb zur verfassungsmäßi
gen Ordnung gehören (vgl. BVerfGE 9, 3 <11>). Jedermann kann im
Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungs
freiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen
Ordnung, weil es gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allge
meine Verfassungsgrundsätze verstoße (vgl. grundlegend BVerfGE 6, 32
<41>).
165. Das ist wie unter Rn. 120ff. aufgezeigt der Fall. Das angegriffene Gesetz
verstößt gegen die Art. 105 ff. GG und stellt daher einen ungerechtfer
tigten Eingriff auch in die allgemeine Handlungsfreiheit der Beschwer
deführer aus Art. 2 Abs. 1 GG dar.
III. Art. 3 Abs. 1 GG
166. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs
gesetzes muss auch sonst in jeder Hinsicht verfassungsgemäß sein und
insbesondere den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG be
achten (vgl. BVerfGE 14,263 <278>). Das ist allerdings nicht der Fall.
167. Das angegriffene Gesetz missachtet den allgemeinen Gleichheitssatz ge
mäß Art. 3 Abs. 1 GG zu Lasten der Beschwerdeführer. Vor dem Gleich
heitssatz hat die Ungleichbehandlung der von der Solidaritätszuschlag
pflicht Betroffenen im Vergleich zu den hiervon ausgenommenen Perso
nen keinen Bestand. Ein vernünftiger, aus der Sache oder sonst sachlich
einleuchtender Grund dafür, dass ein Teil der bisher nach dem
SolzG 1995 abgabepflichtigen Personen weiterhin den Solidaritätszu
schlag zahlen müssen, während ein anderer Teil befreit wird, ist nicht
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ersichtlich. Von einem „solidarischen finanziellen Opfer aller Bevölke
rungsgruppen" (vgl. BTDrucks 12/4401, S. 51) kann nicht mehr die
Rede sein.
1. Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes
168. Dem Gesetzgeber ist es untersagt, wesentlich Gleiches in sachwidriger
Weise ungleich zu behandeln. Dies gilt für ungleiche Belastungen wie
auch für ungleiche Begünstigungen (vgl. BVerfGE 116, 164 <180>;
BVerfGE 122, 210 <230>). Eine Regelung ist mit dem Gleichheitssatz
unvereinbar, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache oder
sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die vom Gesetzgeber vorge
nommene Differenzierung nicht finden lässt, die Bestimmung also als
willkürlich erscheint (vgl. BVerfGE 1, 14 <52>; 55, 114 <128>). Es er
geben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkma
len unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Will
kürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfor
demisse reichen (vgl. BVerfGE 116, 164 <180>; 122,210 <230>). Prü
fungsmaßstab ist, ob eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu
anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen bei
den Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht
bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl.
BVerfGE 55, 72 <88>; 95, 39 <45> ).
169. Für die vorliegend zu beurteilende Differenzierung zwischen denjenigen
einkommensteuerpflichtigen Personen, die, wie die Beschwerdeführer,
weiterhin mit dem Solidaritätszuschlag belastet werden, und jenen ein
kommensteuerpflichtigen Personen, die aufgrund der angehobenen Frei
grenzen einen Solidaritätszuschlag nicht mehr leisten müssen, ist bei der
Prüfung anhand des Gleichheitssatzes von einer strengeren Bindung des
Gesetzgebers auszugehen. Denn die Ungleichbehandlung wirkt sich
nachteilig auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten aus -
hier in Gestalt der durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentumsga
rantie (dazu oben D I) und der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten all
gemeinen Handlungsfreiheit ( dazu oben D II). Die Ungleichbehandlung
und die sie rechtfertigenden Gründe müssen in einem angemessenen Ver
hältnis zueinanderstehen.
2. Missachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes
170. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs
gesetzes wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht.
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Der Gesetzgeber hat wesentlich Gleiches in sachwidriger Weise ungleich
behandelt.
a) Ungleichbehandlung
171. Eine Ungleichbehandlung liegt vor. Die hiesige Vergleichsgruppe sind
alle nach dem Einkommensteuergesetz abgabepflichtigen Personen. In
nerhalb dieser Personengruppe erfolgt durch die selektive Abschaffung
des Solidaritätszuschlags eine ungleiche Belastung einer sehr geringen
Personenzahl. Es bestehen zwischen den weiterhin Zahlungspflichtigen
und den entlasteten Personen keine Unterschiede von solcher Art und
solchem Gewicht, dass diese ungleiche Behandlung gerechtfertigt ist.
172. Ab dem Veranlagungszeitraum 2021 sind nur noch etwa 900.000 Perso
nen in voller Höhe mit dem Solidaritätszuschlag belastet. Die Abschmel
zung des Solidaritätszuschlags durch die extreme Anhebung der Frei
grenze von 972 Euro auf 16.956 Euro bedeutet einen erheblichen Pro
gressionssprung. Eine Belastung mit dem Solidaritätszuschlag erfolgt
künftig ab einem zu versteuernden Einkommen von 61.717 Euro, wobei
mit steigendem Einkommen schrittweise an die vollständige Abgaben
höhe von 5,5 Prozent der Bemessungsgrundlage (Einkommensteuer
schuld) herangeführt und der volle Solidaritätszuschlag erst ab einem zu
versteuernden Einkommen 96.410 Euro erhoben wird. Angesichts eines
Durchschnittsbruttoeinkommens von 51.333 Euro (vgl. IW-Gutachten,
S. 8) profitieren rund 33,7 Mio. einkommensteuerpflichtige Personen
von der vollständigen Entlastung und werden rund 2,8 Mio. Einkommen
steuerpflichtige einen gedeckelten Solidaritätszuschlag leisten (vgl. IW
Gutachten, S. 9f.). Die maximale Entlastung einer einzelveranlagten Per
son beträgt dabei bis zu 933 Euro im Jahr. Betrachtet man eine einkom
mensteuerpflichtige Person mit einem Jahresbruttoeinkommen von bei
spielsweise 100.000 Euro, die einen Solidaritätszuschlag in Höhe von
etwa 1.800 Euro zu leisten haben wird, und im Vergleich dazu eine Per
son mit einem Jahresbruttoeinkommen von 60.000 Euro, die ab dem Ver
anlagungszeitraum 2021 vollständig entlastet wird, entspricht dies einer
Entlastung von etwa 890 Euro, die einer fortlaufenden Belastung von
1.800 Euro gegenübersteht.
173. Darüber hinaus besteht eine Ungleichbehandlung im Hinblick auf die
Aufrechterhaltung der Pflicht zur Zahlung des Solidaritätszuschlags auf
die Kapitalertragsteuer. Die Freigrenze findet - anders als bei der veran
lagten Einkommensteuer, aber auch der Lohnsteuer im Wirkungskreis
der Freigrenzen - bei der Erhebung der Kapitalertragsteuer keine An
wendung (auch nicht in Form der Abgeltungsteuer, vgl.§ 3 Abs. 3 Satz 2
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SolzG 1995). Steuerpflichtige können in solchen Fällen nach § 32d
Abs. 6 EStG im Zuge der Günstigerprüfung überprüfen, inwieweit die
Anwendung der regulären Tarifvorschrift nach§ 32a EStG unter Anwen
dung von§§ 3, 4 SolzG 1995 günstiger ist. Bei einem positiven Ergebnis
aber auch nur dann werden die Kapitaleinkünfte dem progressiven
Einkommensteuertarif unter Anwendung der ( erhöhten) Freigrenze un
terworfen (vgl. Hechtner, Schriftliche Stellungnahme zu dem Entwurfeines Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995, Novem
ber 2019, 19S. 9, im Weiteren „Stellungnahme Hechtner 2019").
174. Die Günstigerprüfung wird auch in Zukunft nur dann zur Anwendung
des progressiven Einkommensteuertarifs führen, wenn die Gesamtsteu
erbelastung bestehend aus Einkommensteuer- und Solidaritätszuschlag
geringer ausfällt als unter Anwendung der Abgeltungssteuer von 25 %
zzgl. 5,5 % Solidaritätszuschlag (vgl. Stellungnahme Hechtner 2019,
S. 10).
b) Keine Rechtfertigung
175. Die Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt:
Die fortdauernde selektive hohe Belastung einer bestimmten Personen
zahl gegenüber einer vollständigen Entlastung der Mehrheit der Einkom
mensteuerpflichtigen ist willkürlich. Die vom Gesetzgeber zur Differen
zierung nach dem Einkommen herangezogenen Kriterien der steuerlichen Umverteilung sind nicht zur Rechtfertigung geeignet. Erstens istdas Instrument der Freigrenze ungeeignet ( dazu aa), zweitens hat der Ge
setzgerber eine unsachgemäße Begründung herangezogen ( dazu bb) und
drittens fehlt es an einer folgerichtigen Belastungsentscheidung ( dazu
cc).
aa) Die Ungeeignetheit des Instruments der Freigrenze
176. Im Rahmen seiner Typisierungs- und Pauschalisierungsbefugnis darf
sich der Gesetzgeber grundsätzlich des Instruments der Freigrenze be
dienen. Bei einer Freigrenze fällt mit dem Überschreiten die Abgabenlast
auf die gesamte Bemessungsgrundlage an, während bei einem Freibetrag
nur der Anteil oberhalb des Grenzwerts der Besteuerung unterliegt. Frei
grenzen erleichtern den Vollzug der Steuernorm durch die Finanzverwal
tung, insbesondere, wenn sich bei einer gleitenden Übergangsregelung
19 http·://www.bundcsrag.de/rcsourcc/blob/666044 23b9 e4 7b567d02 l 28e6b b07bda608/1 IHcchtner data.pdf, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
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durch einen Freibetrag ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand ergeben würde (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. Juli 2010 2
BvR 2122/09 , juris Rn. 7).
177. Die Freigrenze ist allerdings nicht das richtige Instrument zur Umsetzungder selektiven Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Der Gesetzgeberkann sich nicht darauf berufen, dass durch die Regelung eines Freibetrags
ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand entstünde (so im Ergebnis
auch Kube, Verfassungsrechtliche Würdigung der koalitionsvertraglichen Aussagen zum Solidaritätszuschlag, März 2018,20 S. 8, im Weiteren
,,Kube-Gutachten"). Die Bemessungsgrundlage (Einkommensteuerschuld) wird im Rahmen der Einkommensteuerhebung berechnet.Knüpfte man den Solidaritätszuschlag nur an denjenigen Teil der Einkommensteuerschuld, der einen bestimmten Freibetrag überschreitet,ließe sich die Abgabenhöhe von der Finanzverwaltung mit wohl nahezuidentischem Aufwand „auf Knopfdruck" ermitteln, wie dies bei der Frei
grenze der Fall ist.
178. Aufgrund des sog. Fallheileffekts wird der Rückgriff auf das typisierendeInstrument der Freigrenze statt des Freibetrags allerdings umso problematischer, je höher die Freigrenze angesetzt ist, da der mit Überschreitender Freigrenze eintretende Progressionssprung dann umso schwererwiegt. Die durch das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes eingeführten Freigrenzen bedeuten eine
solche besonders schwerwiegende Ungleichbehandlung. Mag die Freigrenze in ihrer ursprünglichen Fassung bei Einführung des Solidaritätszuschlags im Jahr 1995 dazu gedient haben ,,Kleinbeträge" zur Gewährleistung des Existenzminimums von der Abgabe auszunehmen ( dazuoben Rn. 19), wird durch die Freigrenzen ab 2021 der weit überwiegendeTeil der bisherigen Solidaritätszuschlagzahler von der Abgabepflicht befreit. Das Verhältnis von Zahlungs- zu nicht Abgabepflichtigen hat sichalso umgekehrt. Für die über den Freigrenzen liegenden einkommensteuerpflichtigen Personen bewirken die Freigrenzen willkürliche Progressi
onsverschärfungen und Progressionssprünge ( dazu Wemsmann, NJW2018, 916 <918>). Die Milderungszone vermag den beschriebenen Ef
fekt zwar abzumildern, sie kann jedoch den gleichheitswidrigen Rückgriff auf derart hohe Freigrenzen wie im SolzG 1995 in der Fassung desSolidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes nicht rechtfertigen ( vgl.Kube-Gutachten, S. 8).
20 hrrp. ://www.insm.d tilcadmin/insm-dms/text/steuem-finanzen/Gutachten-Kube-zum Solidaritaetszuschlag.pdf, zuletzt abgerufen am 21. August 2020.
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WHITE &..CASE
179. Ein sachlicher Grund für die konkrete Ausgestaltung ist nicht gegeben.
Der Gesetzgeber kann sich nicht auf die Vermeidung eines erheblichen
Verwaltungsmehraufwands berufen.
bb) Keine sachgemäße Begründung
180. Ausweislich der Gesetzesbegründung wird die selektive Entlastung vor
rangig von sozialpolitischen Erwägungen mit Lenkungszweck getragen.
Es soll eine sozialpolitische Korrektur der allgemeinen einkommensteu
errechtlichen Lastenverteilung stattfinden. Im Einzelnen wird die selek
tive Abschaffung des Solidaritätszuschlags folgendermaßen begründet
(BTDrucks 19/14103, S. lf.):
„ Durch den schrittweisen Abbau des Solidaritätszuschlags durch
eine erhebliche Anhebung der Freigrenze beim Solidaritätszu
schlag in einem ersten Entlastungsschritt wird der Verteilung der
zusätzlichen Steuerlast nach der Leistungsfahigkeit in besonde
rem Maße Rechnung getragen. Hierbei sind sozialstaatliche Er
wägungen maßgebend, da höhere Einkommen einer stärkeren
Besteuerung unterliegen sollen als niedrigere Einkommen. [. . .]
Dies stellt zudem eine wirksame Maßnahme zur Stärkung der Ar
beitsanreize, Kaufkraf und Binnenkonjunktur dar. Bürgerinnen
und Bürger mit mittleren und niedrigen Einkommen haben eine
deutlich höhere Konsumquote als Spitzenverdienende, d.h. sie
sind typsicherweise gezwungen, deutlich mehr von ihrem Ein
kommen für Güter und Dienstleistungen auszugeben. "
181. Diese Erwägungen sind im Hinblick auf den Solidaritätszuschlag als Er
gänzungsabgabe sachfremd und vermögen einen steuerlichen Progressi
onsknick in der ausgeprägten Form nicht zu rechtfertigen.
182. Zwar hat das Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1972 beschlossen, dass
bei
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,, [. . .} Steuern, die wie die Einkommensteuer an der Leistungsfa
higkeit des Steuerpflichtigen ausgerichtet sind, [. . .] die Berück
sichtigung sozialer Gesichtspunkte zulässig und geboten [ist].
Deshalb konnte der Gesetzgeber auch bei der Ergänzungsab
gabe, die im Ergebnis eine Verschärfung der Einkommensteuer
darstellt, solchen Erwägungen Rechnung tragen. [ .. .] Im Ver
hältnis zum Steuerzahler wäre es ohne weiteres zulässig gewesen,
die Einkommensteuer zu erhöhen und dabei die unteren Einkom
mensstufen von der Erhöhung auszunehmen. Dann ist aber auch
kein Grund dafür ersichtlich, die Ergänzungsabgabe als eine
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selbständige Steuer strenger an die Struktur der Einkommen- und
Körperschaftsteuer zu binden als eine Erhöhung der Einkommen
und Körperschaftsteuer selbst." (vgl. BVerfGE 32, 333 <339>)
Die der Entscheidung zugrundeliegende Ausgangssituation war jedoch
eine andere als die der selektiven Abschaffung des Solidaritätszuschlags
zugrundeliegende. Die Ergänzungsabgabe 1968, über die das Bundesver
fassungsgericht zu entscheiden hatte, war mit der Zielsetzung eingeführt
worden, ungleiche Steuerbelastungen auszugleichen, die sich durch die
Erhöhung der Umsatzsteuer ergaben. Mithin war die Ergänzungsabgabe
1968 schon mit einer sozialen Zielsetzung eingeführt worden. Grundsätz
lich verschieden dazu ist der Grund für die Einführung des Solidaritäts
zuschlags. Der Solidaritätszuschlag diente dazu, einen konkreten Finanz
bedarf des Bundes zu decken (vgl. BTDrucks 12/4401, S. 51). Die Ziel
setzung legt als solche keinerlei besondere Differenzierung zwischen den
Steuerpflichtigen nahe (vgl. Kube, DStR 2017, 1792 <1800> ). Anders
ausgedrückt: Wenn eine Ergänzungsabgabe dazu dient, einen konkreten
Finanzbedarf zu decken, trägt dieser Finanzierungszweck eine soziale
Staffelung nicht (vgl. Kube-Gutachten, S. 7).
183. Eine steuerliche Umverteilung hat grundsätzlich über das Instrument der
Einkommensteuer zu erfolgen. Wird mit Blick auf sozialpolitische As
pekte eine Ent- oder Belastung bestimmter Einkommensgruppen ange
strebt, müsste dies durch einen offenen und gleichheitsgerechten verän
derten Tarifverlauf der Einkommensteuer geschehen und nicht durch
eine Ergänzungsabgabe (so BWV-Gutachten, Tz. 5.3; vgl. auch Kube
Gutachten, S. 7f.). Wird aber an die Einkommensteuer, bereits sozial
staffelnd, nunmehr eine zusätzlich sozial staffelnde Ergänzungsabgabe
gekoppelt, führt dies zu einer demokratisch und rechtsstaatlich proble
matischen Intransparenz der Umverteilung (vgl. Kube-Gutachten, S. 7).
Der Solidaritätszuschlag mutiert folglich in verfassungswidriger Weise
vom Mittel zur Mehrbedarfsdeckung und „solidarischen finanziellen Op
fer aller Bevölkerungsgruppen" zu einem Mittel zur Herstellung sozial
politisch motivierter Verteilungsgerechtigkeit und im Ergebnis zu einer
Reichensteuer (vgl. Hoch, DStR 2018, 2410 <2414f.>; so auch Loritz,
Stellungnahme für das Öffentliche Fachgespräch u.a. zu dem Gesetzent
wurf der Fraktion der FDP zur Aufhebung des Solidaritätszuschlaggeset
zes 1995 am 27. Juni 2018, BT-Drucksache 19/1038, S. 4).
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cc) Keine folgerichtige Belastungsentscheidung
184. Durch die deutliche Anhebung der Freigrenze wird der steuerliche Tarif
verlauf verschoben und die ursprüngliche Belastungsentscheidung nicht
folgerichtig umgesetzt.
185. Aus dem Gebot der möglichst gleichmäßigen Belastung aller Steuer
pflichtigen folgt, dass der Gesetzgeber zwar bei der Auswahl des Steuer
gegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitrei
chenden Entscheidungsspielraum hat. Bei der Ausgestaltung dieses Aus
gangstatbestandes hat er die einmal getroffene Belastungsentscheidung
dann aber folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen
(vgl. BVerfGE 84, 239 <271>; 93, 121 <147>).
186. Führt ein Steuergesetz zu einer steuerlichen Verschonung, die einer
gleichmäßigen Belastung der jeweiligen Steuergegenstände innerhalb ei
ner Steuerart widerspricht, so kann eine solche Steuerentlastung dennoch
vor dem Gleichheitssatz gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber
dadurch das wirtschaftliche oder sonstige Verhalten des Steuerpfichti
gen aus Gründen des Gemeinwohls fördern oder lenken will (vgl. BVer
fGE 38, 61 <79 ff.>; 84, 239 <274>; stRspr). Eine solche Intervention,
die das Steuerrecht in den Dienst außerfiskalischer Verwaltungsziele
stellt, setzt aber eine erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers voraus,
mit dem Instrument der Steuer auch andere als bloße Ertragswirkungen
erzielen zu wollen sein (vgl. BVerfGE 93, 121 <147>). Daran fehlt es
vorliegend. § 1 Abs. 1 i.V.m. § 2 SolzG 1995 trifft die Belastungsent
scheidung, ,, alle Steuerpflichtigen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit
[zu belasten]" (vgl. BTDrucks 12/4801, S. 3). Der Einführung des Soli
daritätszuschlags lag damit erkennbar nicht die Entscheidung des Gesetz
gebers zugrunde, mit dem Solidaritätszuschlag über die bloße Einnah
menerzielung hinaus einen steuerlichen Ausgleich zu schaffen. Hier liegt
insbesondere der Unterschied zu der Ergänzungsabgabe 1968.
187. Zwar galt auch bei Einführung des Solidaritätszuschlags 1995 eine Frei
grenze von umgerechnet rund 680 Euro. Der niedrige Wert führte indes
dazu, dass zu versteuernde Einkommen in einer Höhe von 6.400 Euro
schon nicht mehr von der Solidaritätszuschlagpflicht ausgenommen wa
ren. Ab 2021 werden demgegenüber angesichts der extrem hohen Frei
grenze zu versteuernde Einkommen von bis zu 61.717 Euro vollständig
von der Abgabe verschont. Während die ursprüngliche Freigrenze dazu
diente, ,,Kleinbeträge" von der Solidaritätszuschlagpflicht auszunehmen
und sich dementsprechend als Instrument zur Entlastung der Geringver
diener nach dem Gebot der Belastungsgleichheit darstellte, bezweckt die
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mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung eine stärkere Be
lastung von Personengruppen mit einem bestimmten Einkommen zu
Zwecken der Verteilungsgerechtigkeit. Faktisch handelt es sich um zwei
völlig verschiedene steuerpolitische Instrumente. Dem Gesetzgeber ist
mithin vorzuhalten, dass er die einmal getroffene Belastungsentschei
dung nicht folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt hat.
188. Im Ergebnis verdeutlicht die fortgesetzte Belastung höherer Einkommen
mit dem streitgegenständlichen Zuschlag über den Wegfall des die Er
gänzungsabgabe legitimierenden Zwecks des Mehrbedarfs hinaus, dass
inzwischen die sozialpolitische Korrektur der allgemeinen einkommen
steuerrechtlichen Lastenverteilung vorrangiges Ziel des Gesetzgebers ist.
Der Bundesgesetzgeber hat hiermit im Ergebnis eine spezifische Tarifänderung bei der Einkommensteuer zulasten derjenigen Einkommensteuer
pflichtigen etabliert, deren Einkommen sich nicht im unteren oder mittleren Bereich bewegen. Das Vorgehen unterläuft allerdings das verfas
sungsrechtliche Normgefüge von Zustimmungs- und Ertragskompeten
zen. Der Bundesgesetzgeber übergeht seine lediglich subsidiäre Ertrags
kompetenz für den Fall eines anderweitig nicht behebbaren akuten Fehl
bedarfs im Bundeshaushalt. Den Solidaritätszuschlag zweckwidrig als
Mittel der Verteilungsgerechtigkeit einzusetzen, widerspricht dem allge
meinen Finanzierungszweck einer Ergänzungsabgabe und ist ein verfas
sungswidriger Formmissbrauch (vgl. Hoch, DStR 2018, 2410 <2414f.>;
Papier-Gutachten, S. 28).
dd) Keine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung hinsichtlich der Kapital
erträge
189. Auch die Ungleichbehandlung im Hinblick auf die Behandlung der Ka
pitalerträge lässt sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.
190. Durch die Anwendung des progressiven Tarifs auf das Gesamteinkom
men ( einschließlich Kapitaleinkünften) könnte die Freigrenze nach § 3
SolzG 1995 auch auf die Kapitaleinkünfte angewendet werden (Vorteil).
Gleichwohl kann der persönliche Steuersatz (genauer Differenzsteuer
satz) unter Anwendung des progressiven Tarifs höher ausfallen als die
Abgeltungssteuer von 25 % (Nachteil). Überwiegt der Nachteil den Vor
teil, so bleibt es bei der Anwendung der Abgeltungssteuer. In diesen Fäl
len unterliegen die Kapitaleinkünfte dem (vollen) Solidaritätszuschlag,
obwohl das Gesamteinkommen und die damit verbundene progressive
Einkommensteuer noch unter der Freigrenze von 16.956 Euro liegenkönnte. Die Effekte ergeben sich aus der allgemeinen Systematik der Be
steuerung von privaten Kapitaleinkünften. Die deutliche Erhöhung der
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Freigrenze bewirkt letztendlich, dass die beschriebenen Fallkonstellatio
nen künftig stärker auftreten können (vgl. Stellungnahme Hechtner 2019,
S. 10). Mithin liegt eine zweifache Ungleichbehandlung vor. So werden
die künftig greifenden Freigrenzen bei der Besteuerung von Kapitaler
trägen ( auch in relativer Anwendung) nicht berücksichtigt. Vielmehr
wird der Solidaritätszuschlag auf Kapitalerträge grundsätzlich unverän
dert erhoben.
191. Anzumerken ist zudem, dass ausländische (private) Kapitalanleger über
haupt keine Möglichkeit haben, dass die neue Freigrenze auf die Kapi
taleinkünfte zur Anwendung kommt. Die einbehaltene Kapitalertrag
steuer hat nach § 50 Abs. 2 Satz 1 EStG stets abgeltende Funktion. Eine
Möglichkeit zur Veranlagung unter Anwendung des progressiven Ein
kommensteuertarifs besteht nicht (vgl. Stellungnahme Hechtner 2019,
S. 10).
192. Ferner sind sowohl die Lohnsteuer als auch die Kapitalertragsteuer in ih
rer Erhebungsform als Abgeltungsteuer Abzugssteuern, so dass sich eine
Ungleichbehandlung trotz Einbettung in ein System der synthetischen
bzw. einer schedularen Einkommensbesteuerung nicht rechtfertigen
lässt.
IV. Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs 1 GG
193. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs
gesetzes verstößt auch gegen Art. 6 Abs. 1 GG sowie das Gebot horizon
taler Steuergerechtigkeit aus Art. 3 Abs. 1 GG.
1. Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs 1 GG
194. Art. 6 Abs. 1 GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der
staatlichen Ordnung (vgl. BVerfGE 114, 316 <333>). Das Gebot des
Schutzes von Ehe und Familie bezieht sich auf jede Ehe und Familie (vgl.
BVerfGE 6, 55 <82> ). Der Schutzgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG erstreckt
sich demnach auf die „Alleinverdienerehe" ebenso wie auf die „Doppel
verdienerehe" (vgl. BVerfGE 107, 27 <53>) und garantiert den Eheleu
ten, ihre Gemeinschaft in ehelicher und familiärer Verantwortlichkeit
und Rücksicht frei zu gestalten (vgl. BVerfGE 80, 81 <92>, 103, 89
<101 > ). Insbesondere muss den Ehepartnern die Entscheidungsfreiheit
verbleiben, zu welchen Teilen jeder Ehepartner zum gemeinsamen Ein
kommen beitragen soll (vgl. BVerfGE 6, 55 <81f.>). Daher verbietet es
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Art. 6 Abs. 1 GG, über die Ausgestaltung von Steuergesetzen eine be
stimmte Gestaltung der privaten Sphäre der Ehe zu erzwingen (vgl.
BVerfGE 6, 55 <82>).
195. Entsprechend muss der Gesetzgeber Regelungen vermeiden, die geeignet
sind, in die freie Entscheidung der Ehepartner über ihre Aufgabenvertei
lung in der Ehe einzugreifen (vgl. BVerfGE 107, 27 <53>). Ehen mit
gleichem Gesamteinkommen müssen deshalb unabhängig von den je
weiligen Beiträgen der Ehepartner hierzu steuerlich gleichbehandelt wer
den.
196. Auch fordert das aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitete Gebot horizontaler
Steuergerechtigkeit eine gleiche Besteuerung bei gleicher Leistungsfä
higkeit (vgl. BVerfGE 112, 268 <279>). Hierbei ist zu beachten, dass
Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe und Familie auch als Wirtschaftsgemeinschaft
schützt (vgl. BVerfGE 114,316 <333>), sodass auch die gleiche Besteu
erung von Ehepaaren mit gleicher gemeinsamer Leistungsfähigkeit ge
boten ist.
2. Missachtung der Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3
Abs 1 GG
197. Den dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben wird die Ausgestal
tung des Solidaritätszuschlags im SolzG 1995 in der Fassung des Solida
ritätszuschlag-Rückführungsgesetzes nicht gerecht.
a) Verstoß gegen das Gebot horizontaler Steuergerechtigkeit
aa) Ungleichbehandlung
198. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs
gesetzes verstößt gegen das Gebot horizontaler Steuergerechtigkeit.
Denn die Erhöhung der Freigrenze auf 16.956 Euro führt dazu, dass Ehe
paare als Wirtschaftsgemeinschaft mit identischer gemeinsamer Leis
tungsfähigkeit in Abhängigkeit der individuellen Beiträge der Ehepartner
zu den gemeinsamen Einkünften unterschiedlich besteuert werden. Diese
Ungleichbehandlung widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot
gleicher Steuer bei gleicher Leistungsfähigkeit (vgl. BVerfGE 112, 268
<279>).
199. Das ergibt sich aus folgenden Wirkungen: Die Erhöhung der Freibeträge
führt in bestimmten Einkommensregionen dazu, dass für Ehepaare ein
steuerlicher Anreiz entsteht, eine getrennte Veranlagung statt einer ge
meinsamen Veranlagung zu wählen. Bei einer getrennten Veranlagung
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ist die Höhe des Solidaritätszuschlags für Ehepaare mit gleichem zu ver
steuerndem gemeinsamen Einkommen jedoch nicht stets identisch, son
dern wird durch die jeweiligen Beiträge der Ehepartner zum identischen
zu versteuernden gemeinsamen Einkommen beeinflusst (vgl. Broer, Ver
fassungswidrige Ehegattenbesteuerung durch die Reform des Solidari
tätszuschlags, Wirtschaftsdienst 2019, S. 697, im Weiteren „Broer
Wirtschaftsdienst 2019"). Je höher der Anteil des Haupteinkommenbe
ziehers am gemeinsamen Einkommen ist, desto größere Einsparungen
können hinsichtlich des Solidaritätszuschlags erzielt werden. In der
Folge werden Ehepartner mit ungleicher Einkommensverteilung bei der
Höhe des Solidaritätszuschlags bevorzugt.
200. Der beschriebene Effekt gilt allgemein für Ehen, in denen bei getrennter
Veranlagung das auf jeden Ehepartner entfallende zu versteuernde Ein
kommen mit dem konstanten Grenzsteuersatz von 42 Prozent belastet
wird (nach dem Tarif2020 zwischen 57.052 Euro und 270.500 Euro) und
auch das gemeinsame zu versteuernde Einkommen mit 42 Prozent belas
tet wird. Denn bei diesen Ehepartnern hat das Ehegattensplitting keiner
lei Wirkung, sodass die Einkommenssteuerschuld unabhängig davon ist,
ob es zu einer getrennten oder gemeinsamen Veranlagung kommt (vgl.
Broer, Wirtschaftsdienst 2019, S. 700). Die Höhe des Solidaritätszu
schlags hängt bei getrennter Veranlagung hingegen von den jeweiligen
Beiträgen der Ehepartner zum gemeinsamen Gesamteinkommen ab, da
bei Individualbesteuerung für einen Ehepartner ggf. gar kein Solidaritäts
zuschlag anfällt oder die Milderungszone greift. Gegenüber Ehepaaren
mit paritätischer Einkommensverteilung kann es bei Ehepaaren mit un
gleicher Einkommensverteilung so zu erheblichen Minderbelastungen
von knapp 900 Euro pro Steuerjahr kommen (vgl. Broer, Wirtschafts
dienst 2019, S. 700).
201. Beispielhaft lässt sich der Effekt für ein Ehepaar mit einem gemeinsamen
zu versteuernden Einkommen von 200.000 Euro beschreiben. Setzt sich
das gemeinsame Einkommen aus einem Einkommen von 60.000 Euro
für Ehegatten 1 und 140.000 Euro für Ehegatten 2 zusammen, so beträgt
der Solidaritätszuschlag bei gemeinsamer Veranlagung rund 3.650 Euro
und bei getrennter Veranlagung rund 2.750 Euro. Setzt sich das gemein
same Einkommen hingegen paritätisch aus Einkommen von jeweils
100.000 Euro für Ehegatten 1 und 2 zusammen, so beträgt der Solidari
tätszuschlag sowohl bei gemeinsamer als auch bei getrennter Veranla
gung rund 3.650 Euro (vgl. Broer, Wirtschaftsdienst 2019, S. 700).
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202. Ehepaare mit gleichem Gesamteinkommen werden also steuerlich unter
schiedlich belastet, weil die Ehepartner mit unterschiedlichen Anteilen
zum Gesamteinkommen beitragen.
bb) Keine Rechtfertigung
203. Gründe, die die Ungleichbehandlung rechtfertigen können, sind nicht er
sichtlich. Zwischen den verschiedenen Ehepaaren bestehen in der Leis
tungsfähigkeit keinerlei Unterschiede. Unterschiede bestehen allein hin
sichtlich der jeweiligen Beiträge der Ehepartner zur gemeinsamen Leis
tungsfähigkeit. Das kann eine Ungleichbehandlung aber nicht rechtferti
gen. Auch der Unterschied in der Veranlagung als getrennt oder gemein
sam kann die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Denn die Mög
lichkeit einer gemeinsamen Veranlagung soll allein sicherstellen, dass
Ehepartner nicht schlechter gestellt werden als zwei unverheiratete Per
sonen bei Individualbesteuerung. Schließlich widerspricht die im Gleich
heitssatz von Art. 3 Abs. 2 GG garantierte Gleichstellung von Mann und
Frau der steuerlichen Begünstigung von Ehen mit ungleichen Anteilen
am gemeinsamen Einkommen.
b) Unzulässige Anreize zur ehelichen Aufgabenverteilung
204. Entgegen der verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 6 Abs 1 GG ist
das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs
gesetzes auch dazu geeignet, in die freie Entscheidung der Ehepartner
über ihre Aufgabenverteilung in der Ehe einzugreifen. Denn durch die
beschriebenen steuerlichen Vorteile gibt das angegriffene Gesetz An
reize, die Aufgabenverteilung in Richtung eines Zuverdienermodells
bzw. einer Hauptverdienerehe auszugestalten, d.h., dass beide Partner ei
ner Erwerbstätigkeit nachgehen, dabei aber ein Ehepartner einen deutlich
höheren Beitrag zum gemeinsamen Einkommen leistet.
205. Es ist mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht vereinbar, Ehen mit eigenen Einkünften
beider Ehepartner ohne besondere stichhaltige Gründe günstiger zu be
steuern als Ehen, in denen ein Ehepartner die gesamten Einkünfte be
zieht, der andere Ehepartner sich aber im Wirtschaftsleben nicht betäti
gen kann, etwa, weil er im Haushalt tätig ist und die Kinder erzieht (vgl.
BFH, Urt. v. 2. April 1957 I 335/56 U juris Rn. 11 ). Genauso kann es
andersherum ohne besondere stichhaltige Gründe nicht mit Art. 6 Abs. 1
GG vereinbar sein, Ehen, in denen ein Ehepartner den überwiegenden
Anteil an den gemeinsamen Einkünften erzielt, günstiger zu besteuern
als Ehen, in denen die Ehepartner gleiche Beiträge zu den Gesamtein-
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künften leisten, etwa, weil beide Partner eine gleichberechtigte Auftei
lung der Erziehungs- und Hausarbeit anstreben. Ein sachlicher Rechtfer
tigungsgrund für die steuerliche Bevorzugung von Ehen mit einem
Haupteinkommensbezieher ist jedoch nicht ersichtlich. Denn verfas
sungsrechtlich geschützt ist eine Ehe, in der die Ehepartner in gleichbe
rechtigter Partnerschaft zueinanderstehen (vgl. BVerfGE 103, 89
<101>). So wurde in familienrechtlicher Verwirklichung von Art. 6
Abs. 1 GG bereits mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Fa
milienrechts vom 14. Juni 1976 (BGBl. I 1421) das Leitbild der Haus
frauenehe aufgegeben (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Stand Februar
2020, Lfg. 90, Art. 6 Rn. 27). Auch die im besonderen Gleichheitssatz
von Art. 3 Abs. 2 GG garantierte Gleichstellung von Mann und Frau wi
derspricht der Bevorzugung von Ehen mit ungleichen Anteilen an den
gemeinsamen Einkünften.
206. Stattdessen hätte der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspiel
raums einen Mechanismus entwickeln müssen, der die steuerliche Be
vorzugung von Ehepartnern mit unterschiedlichen Beiträgen zum ge
meinsamen Einkommen gegenüber Ehepartnern mit paritätischen Beiträ
gen zum gemeinsamen Einkommen vermeidet. Das hat er indes mit dem
angegriffenen Gesetz versäumt.
E. Nichtigkeitserklärung
207. Die Verfassungswidrigkeit des SolzG 1995 in der Fassung des Solidari
tätszuschlag-Rückführungsgesetzes hat zu einer Nichtigkeitserklärung
gemäß § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG zu führen. Eine bloße Unvereinbar
keitserklärung, verbunden mit einer befristeten Fortgeltung der verfas
sungswidrigen Regelung, kommt vorliegend nicht in Betracht. Die Vo
raussetzungen hierfür sind nicht gegeben. Eine der vom Bundesverfas
sungsgericht entwickelten Fallgruppen liegt nicht vor.
208. Die Nichtigerklärung schränkt nicht die Gestaltungsfreiheit des Gesetz
gebers ein. Im Hinblick auf die über den 31. Dezember 2019 hinaus fort
dauernde Solidaritätszuschlagpflicht geht es nicht darum, einen gleich
heitswidrigen Begünstigungsausschluss zu korrigieren (vgl. BVerfGE
104, 74 <91>; 122, 210 <246>). Wie gezeigt (unter D I und II), verletzt
die unveränderte Erhebung der Abgabe die Beschwerdeführer in ihrer
Eigentumsgarantie und ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit. Die Verlet
zung des allgemeinen Gleichheitssatzes ( dazu D III) tritt „lediglich" ab
dem Jahr 2021 verstärkend hinzu. Der gleichheitswidrige Begünsti-
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gungsausschluss ist also nicht das die Verfassungswidrigkeit des ange
griffenen Gesetzes begründende Kriterium. Die Verfassungswidrigkeit
des SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungs
gesetzes folgt vielmehr bereits aus dem Wegfall des besonderen Finan
zierungsbedarfs des Bundes mit dem 31. Dezember 2019 und der diesen
Umstand missachtenden fortdauernden Erhebung des Solidaritätszu
schlags.
209. Die Nichtigerklärung des SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszu
schlag-Rückführungsgesetzes führt darüber hinaus nicht zu schwer er
träglichen Folgen. Der Nichtigkeitsausspruch hat kein „rechtliches Va
kuum" zu Folge, das noch weniger mit dem Grundgesetz vereinbar wäre
als die Neuregelung (vgl. BVerfGE 8, 1 <19f.>; 34, 9 <43f.>). Vor dem
Hintergrund, dass die Abschaffung des Solidaritätszuschlags schon jahr
zehntelang Gegenstand der politischen Diskussionen, wissenschaftlichen
Untersuchungen und gerichtlicher Verfahren war, ist kein Anhaltspunkt
dafür ersichtlich, dass die sofortige Ungültigkeit des SolzG 1995 in der
Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes dem Schutz
überragender Güter des Gemeinwohls die Grundlage entziehen würde.
210. Die Notwendigkeit einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung
steht einer Nichtigerklärung nicht entgegen. Sie kann nur Geltung bean
spruchen, wenn sich der Gesetzgeber auf seine Finanz- und Haushalts
planung verlassen durfte (vgl. BWV-Gutachten, Tz. 5.3; ferner Presse
mitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 42/2017 vom 7. Juni 2017
zur Kembrennstoffsteuer; siehe auch BVerfGE 145, 171 <229>; dazu
auch Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2017, BTDrucks 19/170,
S. 122ff., Nr. 2.2.3.). Auf einen solchen Vertrauensschutz kann sich der
Gesetzgeber angesichts der breit diskutierten verfassungsrechtlichen
Problematik eines Fortbestands des Solidaritätszuschlags über das Jahr
2019 hinaus hier nicht berufen. Nach der jahrelangen kritischen Debatte
um den Abbau des Solidaritätszuschlags können der Gesetzgeber und die
Bundesregierung nicht mehr guten Glaubens von der Rechtmäßigkeit der
im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorgehensweise ausgehen (vgl.
BWV-Gutachten, Tz. 5.3).
211. Der Eingriff in die betroffenen Grundrechte der Beschwerdeführer ist
auch nicht für eine Übergangszeit hinzunehmen (vgl. BVerfGE 33, 1
<13>; 51,268 <290 ff.>; 109, 190 <235f.>).
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F. Annahme der Verfassungsbeschwerde
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212. Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG zur Ent
scheidung anzunehmen. Die Voraussetzungen hierfür sind in beiden Al
ternativen gegeben. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich
unzulässig oder unbegründet, wie unter C und D dargelegt. Darüber hin
aus kommt der Verfassungsbeschwerde grundsätzliche Bedeutung zu (I).
Jedenfalls ist die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zur
Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführer angezeigt (II).
I. Grundsatzannahme
213. Der Verfassungsbeschwerde kommt gemäߧ 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG
grundsätzliche Bedeutung zu.
214. Eine grundsätzliche Bedeutung ist gegeben, wenn die Verfassungsbe
schwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne
weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und noch nicht durch
die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder die durch ver
änderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist (vgl. BVer
fGE 90, 22 <24f.>; 96, 245 <248>). Über die Beantwortung der verfas
sungsrechtlichen Frage müssen also ernsthafte Zweifel bestehen. An ih
rer Klärung muss zudem ein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse bestehen. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn sie für eine nicht
unerhebliche Anzahl von Fällen bedeutsam ist oder ein Problem von ei
nigem Gewicht betrifft, das in künftigen Fällen erneut Bedeutung erlan
gen kann (BVerfGE 90, 22 <24f.>).
215. Die hiesige Verfassungsbeschwerde lässt die Klärung grundsätzlicher
verfassungsrechtlicher Fragen erwarten, die weitreichende Auswirkun
gen auf eine Vielzahl von Fällen haben. Denn von der Frage der Verfas
sungsmäßigkeit des SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag
Rückführungsgesetzes sind nicht nur die Beschwerdeführer betroffen,
sondern mit 37,4 Mio. eine überaus große Zahl anderer Einkommensteu
erpflichtiger.
216. Unter anderem die Fragen,
- ob sich ein verfassungsrechtlicher Zwang zur Aufhebung einer
zeitlich unbefristet geregelten Ergänzungsabgabe ergeben würde,
wenn die Voraussetzungen für die Erhebung dieser Abgabe evident
entfielen,
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welche Anforderungen an die Änderung der Verhältnisse zu stellen
sind, die für die Einführung der Ergänzungsabgabe maßgebend wa
ren,
ob die Selektivität der Entlastung vom Solidaritätszuschlag mit
Blick auf ihre Begründung und ihre Auswirkungen in der Kumula
tion mit der Einkommensteuer verfassungsrechtlich haltbar und
die Freigrenze anstelle eines Freibetrags im Zusammenhang mit
der Entlastung vom Solidaritätszuschlag das zutreffende Instru
ment ist,
sind noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ge
klärt, insbesondere nicht durch die Entscheidung zur Ergänzungsabgabe
1968 (vgl. BVerfGE 32, 333) und auch nicht durch die Nichtannahmebeschlüsse betreffend das Solidaritätszuschlaggesetz von 1991 (Be
schluss vom 19. November 1999 2 BvR 1167/96) und das Solidaritäts
zuschlaggesetz 1995 im Veranlagungszeitraum 2002 (Beschluss vom
11. Februar 2008 2 BvR 1708/06). Die Fragen sind auch nicht durch
den Beschluss betreffend das Normenkontrollverfahren zum Solidaritäts
zuschlaggesetz 1995 im Veranlagungszeitraum 2007 (Beschluss vom
8. September 2010 - 2 BvL 3/10) geklärt. Das zweite Normenkontroll
verfahren (2 BvL 6/14) ist noch anhängig.
217. Die Fragen werden aber bereits seit einigen Jahren in Rechtsprechung
und Literatur kontrovers diskutiert. Diese Diskussion hat sich mit nahen
dem Ende des Solidarpakts II weiter intensiviert und ist Gegenstand zahl
reicher Fachbeiträge. Die Rezeption ist dabei (fast) ausschließlich kri
tisch. Die hier vorgetragenen Einwände werden vielfach geteilt und eine
Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht für notwendig erach
tet. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts würde die Zuläs
sigkeit der fortdauernden Erhebung des Solidaritätszuschlags über den
31. Dezember 2019 hinaus in sämtlichen betroffenen Fällen klären.
II. Durchsetzungsannahme
218. Die Verfassungsbeschwerde ist gemäߧ 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG auch
deshalb anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der
Beschwerdeführer angezeigt ist.
219. Das ist immer der Fall, wenn die geltend gemachte Verletzung von
Grundrechten besonderes Gewicht hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25f.>;
107, 395 <415>). Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung,die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet
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bzw. auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten
Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich
geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass
verletzt ( vgl. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge,
BVerfGG, Stand 59. EL 2020, § 93a Rn. 114ff.)).
220. Die angegriffenen Regelungen des SolzG 1995 in der Fassung des Soli
daritätszuschlag-Rückführungsgesetzes sind ein unverhältnismäßiger
Eingriff in den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit und der allgemeinen
Handlungsfreiheit der Beschwerdeführer sowie eine Verletzung des all
gemeinen Gleichheitssatzes. Ohne eine Entscheidung des Bundesverfas
sungsgerichts entstünde den Beschwerdeführern „ein besonders schwe
rer Nachteil", weil die geltend gemachte Verletzung ihrer Grundrechte
aus Art. 14 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG besonderes Ge
wicht hat. Die Grundrechtsverletzung durch die fortdauernde Erhebung
des Solidaritätszuschlags über den Wegfall des besonderen Finanzie
rungsbedarfs des Bundes hinaus deutet auf eine generelle Vernachlässi
gung der Grundrechte der einkommensteuerpflichtigen Personen ein
schließlich der Beschwerdeführer hin. Die Annahme der vorliegenden
Verfassungsbeschwerde ist insbesondere deshalb angezeigt, weil abseh
bar ist, dass die Grundrechtsrügen der Beschwerdeführer berechtigt und
die aus der fortdauernden Abgabenpflicht folgenden erheblichen wirt
schaftlichen Belastungen der Beschwerdeführer mangels entsprechender
Rückstellungen im Bundeshaushalt im Nachhinein nicht rückgängig zu
machen sind.
G. Zusammenfassung
1. Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Solidaritätszuschlaggesetz
1995, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Rückführung des Solida
ritätszuschlags 1995 vom 10. Dezember 2019. Auf Grundlage des
SolzG 1995 wird seit 1995 ein Solidaritätszuschlag als Ergänzungs
abgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer erhoben.
Die damalige Bundesregierung hielt ein solidarisches finanzielles
Opfer aller Bevölkerungsgruppen zur Finanzierung der Vollendung
der Einheit Deutschlands für unausweichlich und schlug deshalb ei
nen mittelfristig zu überprüfenden Zuschlag für alle Steuerpflichti
gen vor.
2. Am 31. Dezember 2019 ist der sogenannte Solidarpakt II zur Finan
zierung der Wiedervereinigung ausgelaufen. Der Gesetzgeber hat
sich mit dem Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetz gleichwohl
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entschieden, einkommensteuerpflichtige Personen über den 31. De
zember 2019 hinaus unverändert in voller Höhe der Solidaritätszu
schlagpflicht zu unterwerfen. Die Beschwerdeführer sind mit ihren
Einkünften, die sie als Mitglieder des Deutschen Bundestages erhal
ten, einkommensteuerpflichtig und zur Entrichtung des Solidaritäts
zuschlags über das Jahr 2019 hinaus verpflichtet. Neben den Be
schwerdeführern sind im Jahr 2020 rund 37,4 Mio. einkommensteu
erpflichtige Personen und rund 500.000 körperschaftsteuerpflichtige
Körperschaften von der angegriffenen Regelung und den mit der Ver
fassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen betroffen. Ab dem Jahr
2021 wird der Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer für einen
Teil der bisherigen Solidaritätszuschlagzahler abgeschafft und für ei
nen weiteren Teil der bisherigen Solidaritätszuschlagzahler im Ver
gleich zur heutigen Abgabepflicht reduziert.
3. Mit dem Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 kann die finanz
politische und finanzverfassungsrechtliche Sonderlage einer beson
deren Aufbauhilfe zugunsten der neuen Länder als beendet betrachtet
werden bzw. ist die Finanzierung der Deutschen Einheit über den
bundesstaatlichen Finanzausgleich abgeschlossen. Dem seit Beginn
des Jahres 2020 geltenden neuen Finanzausgleich liegt eine finanz
verfassungsrechtliche Normallage zugrunde. Der Solidaritätszu
schlag hat 25 Jahre nach seiner Einführung seine Finanzierungsauf
gabe die Mitfinanzierung der Wiedervereinigung erfüllt. Seine
Aufrechterhaltung würde ihn zu einem Fremdkörper innerhalb des
Steuersystems machen.
4. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Die ange
fochtene fortdauernde Abgabepflicht über den 31. Dezember 2019
hinaus verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus
Art. 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG und verstößt darüber hinaus ge
gen den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG sowie
gegen den Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG.
5. Die unmittelbare Verfassungsbeschwerde gegen die gesetzliche Neu
regelung ist zulässig. Die Erschöpfung des Rechtwegs ist nicht gebo
ten, um eine vorherige Klärung der tatsächlichen und rechtlichen Fra
gen durch die Fachgerichte zu gewährleisten. Denn es stellen sich
keine tatsächlichen Fragen, die einer Aufklärung durch die Finanz
gerichte bedürfen und zugänglich sind. Soweit tatsächliche oder
rechtliche Fragen von Bedeutung sind, betreffen sie die Entschei
dungsgrundlagen und die Einschätzung des parlamentarischen Ge-
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setzgebers, über die einzig das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden berufen ist. Im Übrigen wirft die Verfassungsbeschwerde ausschließlich verfassungsrechtliche Fragen auf. Weil sich der Bundesfinanzhof in den maßgebenden Fragen schon positioniert hat, wäre die Anrufung der Fachgerichte im Ergebnis sinnlos und würde die Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen bloß verzögern. Die Verzögerung würde nicht nur eine unzumutbare Belastung der Beschwerdeführer bedeuten, die Jahr für Jahr weiter mit dem Solidari
tätszuschlag belastet würde, was für sich genommen bereits die Verfassungsbeschwerde zum jetzigen Zeitpunkt rechtfertigt. Die Verzö
gerung hätte darüber hinaus zur Folge, dass Jahr für Jahr ein milliardenschwerer Betrag aus den Einnahmen der verfassungswidrigen Abgabe auflaufen würde, den der Bund nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der ohnehin schon angespannten Haushalts- und Finanzlage erstatten müsste.
6. Die Verfassungsbeschwerde ist von allgemeiner Bedeutung, dennvon der Frage der Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Gesetzessind nicht nur die Beschwerdeführer betroffen, sondern auch eineüberaus große Zahl anderer einkommensteuerpflichtiger Personen.
7. Die Jahresfrist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde ist gewahrt.Das gilt auch hinsichtlich der Regelungen des SolzG 1995, soweit sieGrundlage für die Erhebung des Solidaritätszuschlags im Veranlagungszeitraum 2020 sind. Denn der Bundesgesetzgeber hat die Regelungen in seinen Willen aufgenommen und im Dezember 2019 erneut eine politische Entscheidung über die Rechtfertigung der Ergänzungsabgabe getroffen. Darüber hinaus trifft den Gesetzgeber hinsichtlich des Veranlagungszeitraums 2020 (wie auch der folgendenVeranlagungszeiträume) ein echtes Unterlassen. Er hat es unterlassen, seine verfassungsrechtliche Pflicht zu erfüllen, die Rechtfertigung einer Ergänzungsabgabe stetig zu beobachten und bei einemWegfall der Rechtfertigung die Ergänzungsabgabe wieder abzuschaffen. Im Falle eines echten Unterlassens ist die Beschwerdefristnicht anzuwenden.
8. Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückführungsgesetzes stellt sich als verfassungswidrige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums und Verletzung derallgemeinen Handlungsfreiheit der Beschwerdeführer dar, weil esnicht mehr die Kompetenzordnung des Grundgesetzes wahrt. Seitdem 1. Januar 2020 ist das Gesetz nicht mehr mit den finanzverfas-
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sungsrechtlichen Regelungen vereinbar. Die Erhebung des ursprüng
lich verfassungsgemäß eingeführten Solidaritätszuschlags kann nicht
mehr auf eine verfassungsrechtliche Grundlage gestützt werden, weil
a) das Finanzverfassungsrecht des Grundgesetzes kein Steuerer
findungsrecht des Gesetzgebers kennt und sich der Bund nicht
nach politischer Opportunität an dem Katalog der Steuertypen
vorbei eine Einnahmequelle schaffen kann,
b) die auf Grundlage des SolzG 1995 erhobene Abgabe eine Er
gänzungsabgabe (nur) zur Finanzierung der deutschen Einheit
ist und nicht etwa einer allgemeinen Finanzierung des Bundes
haushalts dienen darf,
c) die die Einführung des Solidaritätszuschlags rechtfertigende fi
nanzverfassungsrechtliche Sonderlage für die Zeit ab 2020 von
einem neuen, nur an der Finanzkraft und nicht der örtlichen
Lage ausgerichteten Länderfinanzausgleich ohne spezifische
Regelungen für die ostdeutschen Bundesländer und damit einer
finanzverfassungsrechtlichen Normallage abgelöst wurde und
d) die Weiterführung des Solidaritätszuschlags außerhalb der
nicht fortbestehenden finanzverfassungsrechtlichen Sonder
lage als „zweite Säule" der allgemeinen Einkommensbesteue
rung das verfassungsrechtliche Normgefüge von Zustim
mungs- und Ertragszuständigkeiten unterläuft.
9. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückfüh
rungsgesetzes verstößt darüber hinaus gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz. Ein vernünftiger, aus der Sache oder sonst sachlich
einleuchtender Grund dafür, dass die Beschwerdeführer und ein Teil
der bisher abgabepflichtigen Personen weiterhin den Solidaritätszu
schlag zahlen müssen, während eine andere Gruppe der Einkommen
steuerpflichtigen hiervon befreit wurde, ist nicht ersichtlich. Von ei
nem „solidarischen finanziellen Opfer aller Bevölkerungsgruppen"
kann nicht mehr die Rede sein. Die fortdauernde Erhebung des Soli
daritätszuschlags wird zur dauerhaften Fixierung der Gesamtertrag
steuerbelastung einer bestimmten Gruppe von Einkommensbezie
hern außerhalb des Einkommensteuertarifs missbraucht.
10. Das SolzG 1995 in der Fassung des Solidaritätszuschlag-Rückfüh
rungsgesetzes verstößt auch gegen Art. 6 Abs. 1 GG sowie das Gebot
horizontaler Steuergerechtigkeit aus Art. 3 Abs. 1 GG. Denn die Er-
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höhung der Freigrenze führt dazu, dass Ehepaare als Wirtschaftsge
meinschaft mit identischer gemeinsamer Leistungsfähigkeit in Ab
hängigkeit der individuellen Beiträge der Ehepartner zu den gemein
samen Einkünften unterschiedlich besteuert werden. Diese Ungleich
behandlung widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot gleicher
Steuer bei gleicher Leistungsfähigkeit und ist nicht durch sachliche
Gründe gerechtfertigt. Entgegen der verfassungsrechtlichen Vorga
ben ist das angegriffene Gesetz auch dazu geeignet, in die freie Ent
scheidung der Ehepartner über ihre Aufgabenverteilung in der Ehe
einzugreifen.
11. Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG zur
Entscheidung anzunehmen, weil sie nicht offensichtlich unzulässig
oder unbegründet ist.
12. Der Verfassungsbeschwerde kommt grundsätzliche Bedeutung zu,
weil sie die Klärung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen
erwarten lässt, die weitreichende Auswirkungen haben und noch
nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt sind.
Von der Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelun
gen ist eine Vielzahl von Einkommensteuerpflichtigen betroffen.
Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts würde die Zuläs
sigkeit der Erhebung des Solidaritätszuschlags in sämtlichen be
troffenen Fällen klären und über den Fall der Beschwerdeführer hin
aus zahlreiche gleich gelagerte Fälle anderer einkommensteuer
pflichtigen Personen praktisch mitentschieden.
13. Die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ist auch zur
Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführer angezeigt.
Ohne eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entstünde
den Beschwerdeführern „ein besonders schwerer Nachteil". Die fort
dauernde Abgabenpflicht deutet auf eine generelle Vernachlässigung
der Grundrechte der Beschwerdeführer hin. Der Gesetzgeber hat die
grundrechtlichen Positionen der Beschwerdeführer und die Wirkun
gen seiner einseitig belastenden Maßnahmen grob verkannt und ist
gerade zu leichtfertig mit den grundrechtlich geschützten Positionen
umgegangen.
14. Die Annahme der vorliegenden Verfassungsbeschwerde ist schließ
lich insbesondere deshalb angezeigt, weil die aus der fortdauernden
Abgabepflicht folgenden erheblichen wirtschaftlichen Belastungen
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