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DIE ZUKUNFT IST GESCHICHTE Wie Russland die Freiheit gewann und verlor Suhrkamp MASHA GESSEN

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D I E Z U K U N F T I S T G E S C H I C H T E

Wie Russ land d ie Fre ihe i t gewann

und ver lor

Masha Gessen legt ihr Opus Magnum vor – ein Schlüsselwerk. Wer nicht glauben will, dass

Russland sich gegenwärtig in einen autoritären Staat mit partiell totalitären Zügen verwandelt,

sollte dieses Buch lesen.

»… faszinierend und tiefgründig.«Francis Fukuyama, The New York Times

»Gessens bestes Buch, eine umfassende Geistesgeschichte Russlands durch die

letzten vier Jahrzehnte, erzählt anhand einer Tolstoi’schen Galerie von Charakteren.«

Susan B. Glasser, The Washington Post

»Für jeden, der sich fragt, wie Russland in den Händen von Putin und seinen Freunden enden

konnte und was dies für uns alle bedeutet, zeichnet Masha Gessen ein so alarmierendes

wie überzeugendes Bild.« Ed Lucas, The Times

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€ 8,9

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www.suhrkamp.de

ISBN 978-3-518-42842-9

9 783518 428429

€ 26,00 [D

]€ 26,8

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Russland, 1980er Jahre bis in die Gegenwart: Ein Land, das sich öffnete, hat sich wieder ver-schlossen. Eine Gesellschaft, die zu Emanzipa-tion, Freiheit und Selbsterkenntnis aufgebro-chen war, leidet heute unter Bevormundung und Repression. Wie konnte es dazu kommen? Diese Frage hat die Bestsellerautorin Masha Gessen nicht los gelassen, und sie packt auch die Leser.

Im Zentrum stehen vier Menschen der Gene-ration 1984. Sie kamen in die Schule, als die Sowjetunion zerfiel, und wurden unter Präsi-dent Putin erwachsen. Junge Leute aus unter-schiedlichen sozialen und familiären Verhält-nissen: zum Beispiel Shanna, deren Vater Boris Nemzow, ein prominenter Reformer, mitten in Moskau erschossen wurde. Oder Ljoscha, der als schwuler Dozent seine Stelle an der Uni Perm verliert.

Die große Erzählung von Aufbrüchen und ge-scheiterten Hoffnungen dieser vier wird flan-kiert von den Bildungswegen des Soziologen Lew Gudkow, der Psychoanalytikerin Marina Arutjunjan und des rechtsnationalistischen Philosophen Alexander Dugin.

Masha Gessen hat ein Russland-Buch geschrie-ben, wie es noch keines gab: fesselnd wie ein Gesellschaftsroman, angetrieben von dem lei-denschaftlichen Wunsch zu verstehen, warum ein Land, das in einem ungeheuren Kraftakt seine lähmenden Machtstrukturen abschüt-teln konnte, zu einem autoritär geführten Staat mit neoimperialen Zügen geworden ist.

M a S H a G E S S E Ngeboren 1967 in Moskau, emigrierte 1981

mit ihrer Familie in die USA und kehrte 1994

nach Russland zurück. Sie schrieb für russi-

sche und amerikanische Printmedien. Wegen

der Homophobie-Gesetzgebung übersiedelte

sie 2013 mit ihrer Frau und den beiden Kin-

dern nach New York. Sie ist Mitarbeiterin von

The New Yorker und Autorin zahlreicher Bü-

cher, u. a. der Enthüllungsbiographie über

Wla di mir Putin Der Mann ohne Gesicht (2012).

Bei Suhrkamp erschien zuletzt Der Beweis des

Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des

Mathematikers Grigori Perelman (st 4257). Die

Zukunft ist Geschichte wurde in den USA 2017

mit dem National Book Award in der Katego-

rie Nonfiction ausgezeichnet.

U M S C H l a G G E S T a l T U N G : Rothfos & Gabler, Hamburg

U M S C H l a G F o T o : Dima Zverev

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MASHA GESSEN

DIE ZUKUNFT IST GESCHICHTEWie Russland die Freiheit gewann und verlor

Aus dem amerikanischen Englischvon Anselm Bühling

Suhrkamp

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Die Originalausgabe erschien unter dem TitelThe Future Is History. How Totalitarianism Reclaimed Russiabei Riverhead Books, New York

Erste Auflage © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin © Masha Gessen, Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in GermanyISBN ----

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INHALT

Personen Prolog

I BORN IN THE USSR

Jahrgang Lebensfragen Privilegien Homo Sovieticus

II REVOLUTION

Schwanensee Schüsse auf das Parlament Wer wird Millionär

III AUFLÖSUNG

Versperrte Trauer Alte Lieder Ende und Anfang

IV AUFERSTEHUNG

Leben nach dem Tod Die orange Gefahr Familienwerte

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V PROTEST

Die Zukunft ist Geschichte Buduschtschego njet Weiße Bänder Mascha – . Mai

VI ZERSCHLAGUNG

Serjosha – . Juli Ljoscha – . Juni Eine geteilte Nation Shanna – . Februar Krieg ohne Ende

Epilog Dank Anmerkungen Register

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PERSONEN

Dieses Buch hat sieben Hauptpersonen, die im Verlauf der Erzäh-lung immer wieder auftreten. Ich verwende für sie eine leicht abge-wandelte russische Namenskonvention. Wer schon einmal einenrussischen Roman gelesen hat, weiß: Russen haben viele Namen.Der offizielle Name besteht aus dem vollständigen Vornamen unddem Vatersnamen. Er wird heute jedoch in der Regel nur nochbei formellen Anlässen und zur Anrede älterer Personen gebraucht.Für diemeistenVornamengibt es zahlreiche abgewandelteDiminu-tivformen. Die meisten Russen haben einen Diminutivnamen, derihnen in der Kindheit gegebenwurde und den sie ihr Leben lang bei-behalten.Oft lässt sichder vollständigeName eindeutig aus demDi-minutiv erschließen. Ein Sascha heißt zum Beispiel immer Alexan-der, und eineMascha heißt meistMaria. Kinder werden fast nur imDiminutiv angesprochen.

Für alle Personen, die nochKinder sind,wenn sie erstmals in derGeschichte auftreten, gebrauche ich durchgängig dieDiminutivform,wieMaschaoderLjoscha.Personen,diebeimerstenAuftretenerwach-sen sind, werdenmit vollständigemVornamengenannt, etwa Borisoder Tatjana. Ältere Menschen werden durchgehend mit Vor- undVatersnamebezeichnet.Nachstehend folgt eineListe derHauptfigu-ren. Zahlreiche weitere Personen, die im Buch vorkommen, sindhier nicht aufgeführt, weil sie nur in einzelnen Episoden auftreten.

Shanna (geb. 1984)Boris Nemzow,VaterRaissa, MutterDmitri, EhemannDina Jakowlewna, Großmutter

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Mascha (geb. 1984)Tatjana, MutterGalina Wassiljewna, GroßmutterBoris Michailowitsch, GroßvaterSergei, EhemannSascha, Sohn

Serjosha (geb. 1982)Anatoli, VaterAlexander Nikolajewitsch Jakowlew, Großvater

Ljoscha (geb. 1985)Galina, MutterJuri, leiblicher VaterSergei, StiefvaterSerafima Adamowna, Großmutter

Marina Arutjunjan, PsychoanalytikerinMaja, MutterAnna Michailowna Pankratowa, Großmutter

Lew Gudkow, Soziologe

Alexander Dugin, Philosoph und politischer Aktivist

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PROLOG

Ich habe viele Geschichten über Russland erzählt bekommen undeinige selbst erzählt. Als ich elf oder zwölf war, in den spätener Jahren, erklärte mir meine Mutter, die UdSSR sei ein totali-tärer Staat. Sie verglich das sowjetische Regime mit dem national-sozialistischen – für eine Sowjetbürgerin ein unerhörter Gedanke.Meine Eltern erzählten mir, das Sowjetregime werde ewig währenund deshalb müssten wir das Land verlassen.

In den späten er Jahren – ich war inzwischen angehendeJournalistin – geriet das Regime ins Schwanken und sank schließ-lich zu einem Haufen Schutt zusammen. So lautete jedenfalls dieGeschichte, die damals erzählt wurde. Gemeinsam mit zahllosenanderen Reportern berichtete ich begeistert vom AufbruchmeinesLandes zu Freiheit und Demokratie.

Zwanzig Jahre lang habe ich dann den Tod einer russischen De-mokratie dokumentiert, die niewirklich lebensfähiggewordenwar.Verschiedene Leute erzählten dazu unterschiedliche Geschichten:Viele beharrten darauf, Russland habe nur einen Schritt zurück-gesetzt, nach zwei Schritten vorwärts in Richtung Demokratie. DieeinenmachtenWladimir Putin und den KGB für das Scheitern ver-antwortlich, andere die angeblicheVorliebe derRussen für die eiser-ne Hand und wieder andere den rücksichtslosen, anmaßendenWesten. Es kam ein Zeitpunkt, an dem ich mir sicher war, dass ichdie Geschichte vom Verfall und Untergang des Putin-Regimesschreiben würde. Bald darauf verließ ich Russland zum zweitenMal – diesmal als Erwachsenemittleren Altersmit Kindern.Wie zu-vormeineMuttermir, so erklärte jetzt ichmeinenKindern, warumwir nicht in unserem Land bleiben konnten.

Die Umstände sprachen für sich. Die russischen Bürger hatten

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seit fast zwei Jahrzehnten immermehr Rechte und Freiheiten einge-büßt. Im Jahr begann die Regierung Putin flächendeckend ge-gen politische Gegner vorzugehen. Sie führte Krieg gegen den inne-ren Feind und gegen Nachbarländer. Bereits war Russland inGeorgien eingefallen. folgten die Annexion der Krim und dieUnterstützung der sogenannten Separatisten in derOstukraine.Dierussische Führung entfesselte einen Informationskrieg gegen Ideeund Wirklichkeit der westlichen Demokratie. Es dauerte eine Wei-le, bis westliche Beobachter sich klargemacht hatten, was da ge-schah. Inzwischen ist es zur Gewohnheit geworden, Russland inderWeltpolitik als aggressivenAkteur wahrzunehmen. ImWeltbildder USA gilt das Land wieder als Reich des Bösen und als existen-zielle Bedrohung.

Die Repressionen, die Kriege, selbst der Rückfall Russlands indie alteRolle auf globaler Bühne – all dashat sich vormeinenAugenabgespielt.Von diesen Geschehnissen wollte ich berichten, aber zu-gleich auch von dem, was nicht geschehen ist: von der Freiheit, dienicht ergriffen wurde, und der Demokratie, die nicht erwünschtwar.Wie lässt sich eine solche Geschichte erzählen? Wo lassen sichGründe dafür festmachen, dass etwas nicht da ist? Wo beginnenund mit wem?

Es gibt grob gesagt zwei Arten von Büchern über Russland, diesich an ein breites Publikum richten: Die einen handeln von denMächtigen – den Zaren, Stalin, Putin und ihrem Umkreis. Sie wol-len erklären, wie das Land regiert wurde und bis heute regiert wird.Die anderen berichten von »normalen Menschen«, um zu zeigen,wie es ist, in diesem Land zu leben. Doch selbst die besten journa-listischen Bücher über Russland – vielleicht sogar gerade sie – ver-mitteln stets nur einen Teilaspekt, wie die sechs Blinden in der indi-schen Fabel, die einen Elefanten beschreiben sollen, aber jeweils nurvom Kopf oder nur von den Beinen berichten. Auch wenn in ande-renBüchern Schwanz, Rüssel undRumpf beschriebenwerden, gibtes kaum welche, die zu erklären versuchen, wie das Tier insgesamtaussieht oder um was für ein Tier es sich eigentlich handelt. In die-

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sem Buch habe ichmir zumZiel gesetzt, das ganze Tier zubeschrei-ben und zu erklären.

Ich beschloss, mit demNiedergang des Sowjetregimes zu begin-nen: Die Annahme, dass es »zusammengebrochen« sei, musste hin-terfragt werden. Des Weiteren beschloss ich, mich auf die Men-schen zu konzentrieren, für die das Ende der Sowjetunion zu denfrühesten prägenden Erinnerungen gehört: die Generation der An-fang bis Mitte der er Jahre geborenen Russen. Sie sind in dener Jahren aufgewachsen, dem vielleicht umstrittensten Jahr-zehnt der russischenGeschichte. Einigen ist es alsZeit derBefreiungimGedächtnis geblieben, andere verbinden damit Chaos und Leid.DieseGenerationhat ihr gesamtes Erwachsenenleben in einemRuss-land unter der Führung Wladimir Putins verbracht. Bei der Aus-wahl meiner Protagonisten habe ich auch nach Leuten gesucht, de-ren Leben sich durch die Repressionswelle im Jahr drastischverändert hat. Dank Ljoscha, Mascha, Serjosha und Shanna – vierjungen Leuten aus unterschiedlichen Städten, Familien, ja aus un-terschiedlichen sowjetischen Lebenswelten – konnte ich erzählen,wie es war, seine Kindheit in einem Land zu verbringen, das sichöffnete, und in einer Gesellschaft volljährig zu werden, die sich ver-schließt.

Bei der Recherche hielt ich Ausschau nach Gesprächspartnern,die »normal« waren – insofern ihre Erfahrungen beispielhaft fürMillionen andere stehen – und zugleich außergewöhnlich: intelli-gent, leidenschaftlich, zur Selbstbeobachtung fähig und in der La-ge, ihre Geschichten lebendig zu erzählen. Doch wer das eigeneDasein in der Welt als sinnvoll erfahren will, braucht Freiheit. DasSowjetregime hat denMenschen nicht nur die Möglichkeit genom-men, frei zu leben, sondern auch die Fähigkeit, wirklich zu verste-hen, was ihnen vorenthalten wurde und wie das geschah. Es wolltedie persönliche und historische Erinnerung ebenso auslöschen wiedie wissenschaftliche Erforschung der Gesellschaft. Der geballteKrieg gegendie Sozialwissenschaftenhatte zur Folge, dasswestlicheWissenschaftler jahrzehntelang besser in der Lage waren, Russland

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zu interpretieren, als die Russen selbst. Sie konnten das Defizit je-doch nicht ausgleichen, da sie als Außenstehende nur beschränktZugang zu Informationen hatten. Das alles schadete nicht nurder Wissenschaft, es war vor allem ein Angriff auf die humane Ver-fasstheit der russischenGesellschaft.Denndiesewurde dadurchderWerkzeuge und sogar der Sprache beraubt, die sie benötigte, umsich selbst zu verstehen. Die einzigen Geschichten, die Sowjetruss-land sich über sich selbst erzählte, stammten von sowjetischen Ideo-logen.Was kann einmodernes Land über sichwissen, wenn ihmwe-der Soziologen noch Psychologen, noch Philosophen zur Verfügungstehen? Und was können seine Bürger über sich wissen? Ich begriff,dass die einfache Handlung meiner Mutter – das Sowjetregime ineine Kategorie einzuordnen undmit einem anderen Regime zu ver-gleichen – ein außerordentliches Maß an Freiheit erfordert hatte.Diese Freiheit verdankte sich zumindest teilweise der bereits gefalle-nen Entscheidung zur Emigration.

Um die größere Tragödie zu schildern, den Verlust des Erkennt-nisinstrumentariums, suchte ich nach Gesprächspartnern, die inder sowjetischen und postsowjetischen Zeit versucht hatten, sichdieses Instrumentarium anzueignen. So wurde die Besetzung umeinen Soziologen, eine Psychoanalytikerin und einen Philosophenerweitert.Wenn jemand das nötige Handwerkszeug hat, um einenElefanten zu definieren, dann sie. Sie sind keine »normalen Men-schen« – die Geschichte ihres Kampfes um die Wiederbelebung ih-rer Disziplin ist nicht repräsentativ. Und ebenso wenig sind sie»Mächtige«. Sie sind diejenigen, die versuchen zu verstehen. In derPutin-Ära sind die Sozialwissenschaften mit neuen Methoden un-terworfen und herabgewürdigt worden, und meine Protagonistensahen sich vor völlig neue, unmögliche Entscheidungen gestellt.

Beim Zusammenfügen all dieser Geschichten habe ich mir vor-gestellt, ich arbeite an einem umfangreichen faktografischen rus-sischen Roman, der sowohl die individuellen Tragödien darstellensoll als auch die Ereignisse und Ideen, die sie geprägt haben. Ichwollte zeigen, wie es war, in den vergangenen dreißig Jahren in

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Russland zu leben – und zugleich erzählen, wie Russland selbst indieser Zeit gewesen ist und wie es wurde, was es heute ist. Ich hoffe,dass das vorliegende Buch diesem Anspruch gerecht wird. Undauch der Elefant hat seinen kurzen Auftritt (siehe S. ).

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IBORN IN THE USSR

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JAHRGANG 1984

MASCHA

Am siebzigsten Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberre-volution nahm die Großmutter, eine Raketenforscherin, Maschamit in die Kirche St. Johannes der Krieger im Zentrum Moskaus,um sie dort taufen zu lassen. Mascha war dreieinhalb – etwa dreiJahre älter als alle anderen Kinder, die an diesem Tag dort waren.Ihre Großmutter Galina Wassiljewna war fünfundfünfzig und da-mit etwa so alt wie die meisten anderen Erwachsenen. SowjetischeFrauen gingen mit fünfundfünfzig in Rente, und fast alle hatten indiesem Alter bereits Enkelkinder. Aber sie waren nicht alt genug,um sich an eine Zeit zu erinnern, in der die Religion in Russlandoffen und stolz praktiziert wurde. Galina Wassiljewna hatte bis vorkurzem nicht groß über Religion nachgedacht. Ihre eigene Mutterwar zur Kirche gegangen undhatte sie taufen lassen. Sie selbst hattePhysik studiert. Als sie ihren Abschluss machte, gab es an den so-wjetischen Hochschulen noch keinen Pflichtkurs über die »Grund-lagen des wissenschaftlichen Atheismus« – er wurde erst einige Jahrespäter flächendeckend eingeführt. Trotzdem hatte man ihr beige-bracht, dass Religion das Opium des Volkes sei.

Als Erwachsene hatte sie ihr Leben zum großen Teil damit ver-bracht, an Objekten zu arbeiten, die in direktem Gegensatz zur Re-ligion standen: Sie warenmateriell, kein bisschenmystisch, und sieflogen in denWeltraum. Zuletzt war sie bei der wissenschaftlichenProduktionsvereinigungMolnija (»Blitz«) tätig gewesen, wo die so-wjetische Raumfähre Buran (»Schneesturm«) entwickelt wurde. Siehatte die mechanische Vorrichtung entworfen, mit der die Besat-zung nach der Landung die Tür öffnen konnte. Die Arbeit an der

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Raumfähre war fast abgeschlossen. Ein Jahr später würde sie ihrenersten Flug antreten. Es war ein unbemannter Testflug, der erfolg-reich verlief. Aber der Buran sollte danach nie wieder fliegen. DieFinanzierung für das Projekt versiegte. Der Mechanismus, mitdem sich die Tür der Raumfähre nach der Landung von innen öff-nen ließ, wurde nie benötigt.

Galina Wassiljewna hatte schon immer ein feines Gespür fürsubtile Änderungen der Stimmungen und Erwartungen in ihrerUmgebung gehabt. In einem Land wie der Sowjetunion, wo Lebenoder Tod davon abhängen konnten, ob man wusste, woher derWind weht, war diese Fähigkeit äußerst nützlich. Obwohl in ihremBerufsleben alles bestens zu stehen schien – es war ein Jahr vor demFlug des Buran –, merkte sie, dass sich ein Riss im Fundament dereinzigen Welt zeigte, die sie kannte, der Welt, die auf dem Primatdes Materiellen beruhte. Um die entstandene Kluft zu füllen, be-durfte es anderer Ideen – oder, besser noch, eines anderen Funda-ments. Es war, als hätte sie geahnt, dass das handfeste und unmys-tische Objekt, an dem sie ihr Leben lang gearbeitet hatte, außerGebrauch kommen und eine metaphysische Leere hinterlassenwürde.

Man hatte ihr – wie dem ganzen Land und der ganzen Welt –erzählt, die Bolschewiki hätten die organisierte Religion besiegt.Doch Galina Wassiljewna wusste, dass das nicht ganz stimmte, im-merhin hatte sie mehr als fünfzig Jahre ihres Lebens in der Sowjet-union verbracht. In ihrer Kindheit, in den Dreißigern, hatten diemeisten Erwachsenennoch offen gesagt, dass sie an Gott glaubten.

Die neue Generation sollte völlig frei von Religion und anderenabergläubischen Vorstellungen aufwachsen – und auch das Leid,um dessentwillen Religion notwendig war, sollte es nicht mehr ge-ben. Als GalinaWassiljewna neun Jahre alt war, begann der ZweiteWeltkrieg. Die Deutschen rückten so schnell vor und die sowjeti-sche Führung wirkte so hilflos, dass außer Gott nichts mehr blieb,woran man glauben konnte. Sehr bald schon schien die Sowjet-regierung die russisch-orthodoxe Kirche zu akzeptieren. Von nun

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an kämpften Kommunisten und Kleriker gemeinsam gegen dieNazis. Nach dem Krieg wurde die Kirche wieder zu einer Institu-tion für die ältere Generation. Was blieb, war das Wissen darum,dass sie in Zeiten katastrophaler Ungewissheit eine Zuflucht seinkonnte.

DieGroßmutter erzählteMascha, weshalb sie zur Kirche gingen:Es lag an Vater Alexander Men – einem russisch-orthodoxen Pries-ter, der Menschen wie Galina Wassiljewna anzog. Seine Eltern wa-renNaturwissenschaftler gewesen, und er verstand sich darauf, mitLeuten zu sprechen, die ohne kirchlichen Bezug aufgewachsen wa-ren. Die russisch-orthodoxe Kirche, die seit dem Krieg in Dienstendes Kremls stand, hatte ihn ordiniert. Doch er lernte und lehrte aufseine eigene Weise, und das hatte ihn fast ins Gefängnis gebracht.

Jetzt, wo sich eine vorsichtige Öffnung andeutete, war Men im Be-griff, ungeheure Popularität zu erlangen. Er fand erst Tausende,dann Hunderttausende von Anhängern, auch wenn es noch einigeJahre dauern sollte, bis seine Schriften in der Sowjetunionveröffent-licht werdenkonnten.Mascha verstandnicht viel vondem,was ihreGroßmutter ihr vonVater Alexander oder demLicht in den LehrenJesu Christi erzählte. Aber sie hatte nichts gegen den Kirchenbe-such. Der . November war ihr Lieblingsfeiertag. Denn an diesemTag – dem Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolu-tion* – buk ihre Großmutter Kuchen, die ihr schmeckten, währendsie den Rest des Jahres über weder besonders gern noch besondersgut kochte.

»Scheiße, was soll das denn?«, fragteMaschasMutter, als sie ihreTochter abholte und das kleine Kreuz entdeckte, das sie um den

* Der Jahrestag der Oktoberrevolution fällt auf den . November, weil das zaris-tische Russland den julianischen Kalender beibehalten hatte, der keine Schalt-jahre kennt. Bis war der russische Kalender gegenüber dem westlichenumdreizehnTage inRückstand geraten.Nachdemdie Bolschewikidengre-gorianischen Kalender eingeführt hatten, fielen die letzten zehn Tage des Ok-tobers nun in den November.

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Hals trug. Doch damit war das Gespräch auch schon beendet.Tatja-na hatte fürWorte nicht viel übrig, sie war eine Frau der Tat. Als siefestgestellt hatte, dass sie schwanger war, hatte sie das Parteikomiteeihrer Graduiertenschule verständigt – in der Hoffnung, die Behör-den würden den Vater des ungeborenen Kindes, der noch mindes-tens eine weitere Freundin hatte, zwingen, sie zu heiraten. Es wardurchaus üblich, dass solche Anliegen beim Parteikomitee vorge-bracht wurden und die Genossen entsprechend intervenierten. InTatjanas Fall ging die Sache allerdings schief. Maschas Vater verlorseinen Platz in der Graduiertenschule und damit auch sein Aufent-haltsrecht inMoskau. Ermusste nachHause zurückkehren – in densowjetischen Fernen Osten, Tausende Kilometer entfernt von sei-nen Freundinnen.

Das war nicht die einzige unangenehme Überraschung für diejunge Mutter. Tatjana war wieder auf ihre Eltern angewiesen. In ih-rer Generation war es die Regel, die Kinder kostenlos von den eige-nen Eltern betreuen zu lassen. Die einzigen Alternativen warenstaatliche Bezirkskindergärten – eine Mischung aus BabygefängnisundVerwahranstalt –oder unbezahlbare privateKinderbetreuungs-dienste mit zweifelhaftem Rechtsstatus. Tatjana hatte sich eine un-gewöhnliche Unabhängigkeit von ihren Eltern erobert. Andersals die meisten ihrer Altersgenossen lebte sie getrennt von ihnen,in einer Kommunalka, einer Gemeinschaftswohnung, die sie nurmit einer einzigen Familie teilte.Durch das Baby war sie jedochwie-der an die Wohnung ihrer Eltern gebunden, die nur wenige Blocksentfernt lag. Galina Wassiljewna und Boris Michailowitsch hatteneine Zweizimmerwohnung mit Küche – Platz genug, um sich umdie kleine Mascha zu kümmern. Beide arbeiteten als ranghoheWis-senschaftler in der Raumfahrtindustrie und hatten mehr Zeit zurVerfügung als ihre Tochter, die sich im Graduiertenstudium be-fand. Tatjana kam zu dem Schluss, dass sie Geld verdienen und Be-ziehungen spielen lassenmusste, wenn sie sich endgültig von ihremElternhaus loseisenwollte. Keine ihrer Tätigkeitenwar im strengenSinn legal – das sowjetische Recht begrenzte jegliche Eigeninitiati-

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ve und verbot fast alle Arten von Unternehmertum. Doch in denmeisten Fällen wurden diese Tätigkeiten von den Behörden still-schweigend geduldet.

ImAlter von drei JahrenwurdeMascha in eine prestigeträchtigeVorschule aufgenommen. Hier einen Platz zu bekommen war ei-gentlich so gut wie unmöglich – es handelte sich um eine Vorschulefür die Kinder von Mitgliedern des Zentralkomitees der Kommu-nistischen Partei. (Als Mascha geborenwurde, lag das Durchschnitts-alter der ZK-Mitglieder bei knapp Jahren.Daher wurden in derSchule ihre Enkel und Urenkel unterrichtet – gemeinsam mit denKindern einiger außergewöhnlich zielstrebiger Sowjetbürger wieTatjana.) Eine Autorin aus einer früheren Schülergeneration be-schrieb die Vorschule so:

»ImKindergarten roch alles nachWohlstand und frisch gebacke-nen piroschki. Die Leninecke war besonders prachtvoll. Dortstand ein Strauß weißer Gladiolen, über dem Familienbilder derUljanows wie Ikonen auf einer purpurroten Pinnwand arran-giert waren. In Daunenschlafsäcke eingemummelt, schlummer-ten die Sprösslinge der Nomenklatura wie kleine Ferkel auf einerVeranda, die zum verwunschenenWald hinausging. Ich war wäh-rend der ›Toten Stunde‹ gekommen, der Zeit des sowjetischenNachmittagsschläfchens.›Wacht auf, zukünftige Kommunisten‹, rief die Erzieherin

und klatschte in die Hände. Sie lächelte verschlagen. ›Zeit fürdas Fischfett.‹ … [Eine] große, massige Erzieherin namens SojaPetrowna [kam]mit einem riesigen Löffel voller schwarzemKa-viar auf mich zu.«

AlsMascha aufgenommenwurde, hatte die Leninecke anGlanz ein-gebüßt, und die Lehrer legten mit ihren Parolen etwas mehr Zu-rückhaltung an den Tag. Sie brüllten ihren Schützlingen nur nochselten dasWort »Kommunisten« entgegen. Aber es gab immer nochdie täglichen Kaviarrationen, die nun in noch stärkerem Kontrast

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zur Außenwelt standen, wo Lebensmittelknappheit den Alltag be-stimmte. Und wie in allen sowjetischen Vorschulen gab es immernoch den unvermeidlichen Grießklumpen, den man senkrechtauf den Teller stellen konnte. Die Schule bot an Werktagen eineRund-um-die-Uhr-Betreuung an – ein einzigartiger sowjetischer Lu-xus. Die Wochenenden verbrachte Mascha in der Regel bei ihrenGroßeltern,wie so viele sowjetischeKinder.Tatjanawar siebenTagein der Woche damit beschäftigt, dieses Leben zu finanzieren.

Als Mascha vier Jahre alt war, brachte ihre Mutter ihr bei, wieman gefälschte Dollars von echten unterscheidet. Mit echter odergefälschterFremdwährungerwischt zuwerdenwargefährlich–nachsowjetischem Recht standen darauf bis zu fünfzehn Jahre Gefäng-nis.DochTatjana schienkeine Furcht zu kennen – jedenfalls sicher-te sie damit den Lebensunterhalt. Zudembetrieb sie eineNachhilfe-vermittlung. Erst hatte sie selbst Nachhilfe gegeben, doch bald sahsie ein, dass sie expandierenmusste, umwirklichGeld zu verdienen.Sie begann, ihre Kunden –meist Oberschüler, die für die nervenauf-reibendenHochschul-Zulassungsprüfungen büffelten – an Kommi-litonen zu vermitteln, die sie vorbereiten konnten. Für ihre eigeneNachhilfetätigkeit hatte sie sich ein äußerst rentables und seltenesSpezialgebiet erschlossen: Sie studierte mit ihren jungen KlientenAntworten auf die sogenannten Särge ein.

So hießen Fangfragen, die speziell für jüdische Bewerber gedachtwaren. Die meisten sowjetischen Hochschuleinrichtungen fielenunter zwei Kategorien: Es gab solche, die Juden gar nicht zum Stu-dium zuließen, und solche, die die Aufnahme jüdischer Bewerberstreng limitierten. Natürlich waren diese Bestimmungen nirgend-wo öffentlich zugänglich. Die Ablehnung wurde auf besonders sa-distische Weise gehandhabt. Jüdische Bewerber nahmen in der Re-gel mit allen anderen an den Aufnahmeprüfungen teil. Genau wiealle anderen zogen sie die Kartenmit Prüfungsfragen aus einem Be-stand. Dochwenn sie die zwei oder drei Fragen auf der Karte richtigbeantworteten, stellte man ihnen, während sie mit den Prüfern al-lein imRaumwaren, beiläufig eine weitere Frage, wie umnoch ein-

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mal nachzuhaken. Diese Frage war dann der »Sarg«. In der Mathe-matik handelte es sich meist um ein Problem, das nicht einfachnur schwer zu lösen, sondern unlösbar war. Der Bewerber gerietins Straucheln und scheiterte. Jetzt konnten die Prüfer den Sarg zu-nageln: Der jüdische Bewerber hatte nicht bestanden. Es sei denn,erhatte sich vonTatjana vorbereiten lassen. Sie übtemit ihrenKlien-ten nicht nur die Antworten auf konkrete »Särge« ein, die sie sichirgendwie hatte beschaffen können, sondern zeigte ihnen auch,wie esmöglich war, solche Fangfragen generell zu erkennen und ih-re Unlösbarkeit zu beweisen. Diese Blondine mit Pferdegebiss undPilotenbrille konnte sowjetischen Juden beibringen,wie sich die an-tisemitische Maschinerie austricksen ließ. So verdiente sie das GeldfürMaschas Kaviar und den ekligenGrießbrei in der ZK-Vorschule.

SHANNA

Wer auch nur annähernd gleiche Chancen haben wollte, durftenicht jüdisch sein.Die »Nationalität« –bei unswürdemanvon »eth-nischer Zugehörigkeit« sprechen – war in allen wichtigen Ausweis-dokumenten vermerkt, von der Geburtsurkunde über den Inlands-pass bis zur Heiratsurkunde und der Personalakte am Arbeitsplatzoder in der Schule. Eine einmal zugeteilte »Nationalität« konntepraktisch nicht mehr geändert werden und wurde von GenerationzuGeneration vererbt. Dank einemglücklichenUmstand – vermut-lich demWeitblick und der Initiative seiner Eltern – besaß ShannasVater Boris Dokumente, die ihn als ethnischen Russen auswiesen.Mit seinen dunkelbraunen Augen, dem dunklen, dicht gelocktenHaar und den erkennbar jüdischen Vornamen seiner Eltern –Dinaund Jefim – konnte er niemandemetwas vormachen.Wenn jemandnachfragte, gab er an, er sei »halb jüdisch«. Das war zwar nicht sehrplausibel, aber es genügte meist, um das Thema zu beenden. DankdieserGewandtheit, seinen »ethnisch korrekten«Dokumentenund

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exzellenten Schulnoten erlangte er die Zulassung zur Universität.Dabeiwar eingroßesHindernis zuüberwinden:Anders als die über-wältigendeMehrheit der sowjetischenOberschüler war Boris nichtMitglied imkommunistischen Jugendverband, demKomsomol, ge-wesen. Deshalb wurde er in seinen Abgangszeugnissen als »politischunzuverlässig« eingestuft. SeineMutter, Dina Jakowlewna, setzte al-les in Bewegung, damit die Schule die Formulierung änderte. Einscheinbar aussichtsloses Unterfangen, aber etwas anderes kam nichtinFrage.AlleFamilienmitgliederwarenentwederNaturwissenschaft-ler oder Ärzte, alle waren hochintelligent und Kapazitäten auf ih-rem Gebiet. Die Formulierung wurde geändert. Boris wurde zumStudium an der Fakultät für Strahlenphysik der Gorkier Staatsuni-versität zugelassen. Er schloss mit Auszeichnung ab und legte mitvierundzwanzig Jahren seineDissertationvor. SeineFamilie und sei-ne Freunde rechneten fest damit, dass er für seine Arbeit imBereichder Quantenphysik eines Tages den Nobelpreis erhalten würde.

Shanna kam zur Welt – in dem Jahr, als Boris seine Disser-tation fertigstellte. IhreMutter Raissa war Französischlehrerin. Nachsowjetischen Begriffen gehörte die Familie zur Bohème – russischbogema: Sie lebte nach Vorstellungen, die als westlich galten, undpflegte einen Bekanntenkreis, der sich ständig erweiterte. Andersals Boris’ ältere Schwester, diemit ihremKindbeiDina Jakowlewnalebte, wie es üblich war, mieteten die Nemzows ein eigenes Haus –ein altes Holzhaus im verfallenen Stadtzentrum, das weder Bade-wanne noch Dusche hatte, sondern nur eine Toilette. Sie machtenWasser auf dem Herd warm und wuschen sich am Waschbecken,oder sie duschten bei Freunden – so verwestlicht, dass sie täglicheine Dusche gebraucht hätten, waren sie nicht. Aber immerhinwestlich genug, umTennis zu spielen, eine Sportart, die als so exklu-siv galt, dass die Lokalzeitungder Familie eine Fotostreckewidmete,als Shanna im Kleinkindalter war. Auf den Fotos sind drei dunkel-haarigeMenschen zu sehen, die über das ganzeGesicht lächeln unddabei strahlend weiße Zähne zeigen. Sie fielen auf in ihrer grauenStadt.

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Die Stadt hieß Gorki – auf Deutsch »bitter«. Sie war nach demrussischen Schriftsteller Maxim Gorki benannt, der eigentlich Ale-xei Peschkowhieß und sich ein rührseliges Pseudonymzugelegt hat-te, wie es in revolutionären KreisenModewar. Als Shanna ihre Um-gebung bewusst wahrzunehmen begann, ahnte sie nichts von einemSchriftsteller namens Gorki. Sie hielt den Namen einfach für eineBeschreibung ihrer Heimatstadt. Auch die sowjetische Regierungschien das so zu sehen.Vier Jahre vor Shannas Geburt hatte sie Gor-ki zumVerbannungsort des PhysikersAndreiDmitrijewitsch Sacha-row bestimmt. Sacharow hatte den Friedensnobelpreis erhal-ten und war der bekannteste Dissident des Landes. An der Art,wie ihr Vater seinen Namen aussprach, merkte sie, dass ihm etwasMagisches anhaftete. Vergeblich bat sie ihn darum, sie mitzuneh-men, wenn er zu »Sacharows Haus« ging. Sie dachte, er würde denberühmten Mann tatsächlich besuchen; in Wirklichkeit hielt er ge-legentliche Mahnwachen vor dem Haus ab. Shanna taufte ihr Kätz-chen auf den Namen Andrei Dmitrijewitsch Sacharow.

Im Frühjahr – Shanna war noch nicht ganz drei Jahre alt –beschrieb Sacharows Frau Jelena Bonner die Stadt Gorki so:

»Es ist Ende April, aber das Wetter erinnert eher an den Spät-herbst oder Winteranfang. […] Ich sehe, wie die Passanten dieFüße aus den Pfützen ziehen und pfundschwereDreckklumpenan ihren Schuhenhaften bleiben.DerWind beugt die Baumwip-fel. Vom trüben Himmel fällt Schneeregen herab und bildetschmutzig weiße Flecken auf der Oberfläche, die man nichtals ›Erde‹ bezeichnen möchte.«

Shannas Heimatstadt war die schlimmste Stadt derWelt, da war siesich ziemlich sicher. Und der Name »Bitter« beschrieb das LebenderMenschen, die dort wohnenmussten – besonders das ihrerMut-ter. Raissa verbrachte die meiste Zeit mit der Jagd nach Lebensmit-teln. Manchmal nahm sie den Nachtzug nach Moskau, stand dortden ganzen Tag Schlange und kammit dem nächsten Nachtzug zu-

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rück. Sie brachte vor allem Fleischproduktemit, die in Gorki schonseit Jahren nicht mehr gesichtet worden waren. Auch in Moskauherrschte kein Überfluss, auch dort waren manche Lebensmittelknapp. Aber verglichen mit Gorki, wo es im Laden manchmalnichts gab als undefinierbaren dunklen Saft in Drei-Liter-Gläsernmit Zinndeckeln, kam ihr die Hauptstadt wie das Gelobte Landvor. Einmal brachte Raissa eine durchsichtige Plastiktüte voll lieb-los eingewickelter, graubrauner, zylinderförmiger Bonbons vondort mit. Sie bestanden aus Soja mit Zucker und gehackten Erdnüs-sen und waren mit Kakaopulver bestreut. Shanna fand, dass sienoch nie in ihrem Leben etwas Köstlicheres probiert hatte. Ein an-dermal kam eine Freundin von Raissa mit einem Turnbeutel vollerBananen zurück. Sie warengrün undhart. Raissa, die imGegensatzzu ihrer Tochter schon einmal Bananen gesehen hatte, wusste, dasssie in einem dunklen Schrank aufbewahrt werden mussten, umdort zu reifen. Boris beteiligte sichnicht ander täglichenLebensmit-telbeschaffung. Aber manchmal hatte er seinen großen Auftritt,wenn er an schwer aufzutreibende Produkte »herangekommen«war – so der gängige Ausdruck. Shanna dachte, dass ihr Vater anDinge »herankommen« konnte, weil er so groß war. Für sie warer der Superheld.

Shanna hatte keine feste Schlafenszeit. Und weil das Haus im-mer voller Gäste war und man am Tisch saß und redete, blieb siebis Mitternacht oder noch länger auf. Ihr Vater, der nicht an be-stimmte Arbeitszeiten gebunden war, brachte sie auf dem WegzumLabor in der Vorschule desWohnbezirks vorbei.Meist beganndort gerade die ›Tote Stunde‹ – die nachmittägliche Schlafenszeit.So konnte sie den fehlenden Schlaf nachholen.

Als Shanna etwa drei Jahre alt war, begannen die Gespräche amTisch im alten Holzhaus sich zu verändern. Man sprach jetzt nichtmehr über den anomalen Dopplereffekt oder andere theoretischeFragen, die Boris gerade beschäftigten, sondern darüber, dass inGorki ein nuklear betriebenes Heizwerk gebaut werden sollte. DieArbeiten waren schon im Gang. Erst ein Jahr zuvor war es zu

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der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl gekommen.Die Regierung hatte versucht, Informationen über das Unglück un-ter Verschluss zu halten, aber sie hatte deren Ausbreitung nur hin-auszögern können. Inzwischen war durchgesickert, wie groß dasAusmaß des Schadens und der Gefahr war. Dina Jakowlewna, vonBeruf Kinderärztin, lag ihrem Sohn in den Ohren: »Wie kannstdu als Physiker untätig zusehen, wenn so etwas mitten in der Stadtgebaut wird?«

Dass Sowjetbürger untätig zusehen, während die Regierung ihrLeben vorsätzlich gefährdet, war die Regel gewesen, solange Raissa,Boris und selbstDina Jakowlewnadenkenkonnten.Aber inzwischenhatte sich etwas geändert. hatte der neue Generalsekretär derKommunistischenPartei, zugleich Staatsoberhaupt der Sowjetunion,einen »neuen Kurs« verkündet. Auch frühere Generalsekretäre hat-ten dieseWorte imMund geführt, sogar dasWort Perestroika, das soviel wie »Umbau« bedeutet. Doch diesmal tat sich wirklich etwas.Dina Jakowlewna nahm an einer Protestkundgebung gegen das ge-planteAtomkraftwerk teil.Noch ein Jahr zuvorhätte eine nicht vonder Partei abgesegnete Kundgebung unweigerlich die VerhaftungundVerurteilungderTeilnehmernach sich gezogen. Sacharowdurf-te Gorki nach sieben Jahren verlassen und nach Moskau zurück-kehren. Der Physiker, der als »Vater der sowjetischen Wasserstoff-bombe« galt, war schon seit langem ein vehementer Verfechter dernuklearen Sicherheit. Boris besuchte ihn in seiner Moskauer Woh-nung und führte ein Interview, in dem Sacharow sich gegen dasatomare Heizkraftwerk aussprach. Das Interview erschien in einerLokalzeitung von Gorki. Der berühmte Dissident schloss mit denWorten: »Ich hoffe, es gelingt Ihnen, den Gang der Ereignisse zu än-dern. Ich bin voll und ganz auf Ihrer Seite.«

Die Pläne für das Heizkraftwerk wurden schließlich begraben.UndBorishatte etwas entdeckt, das ihnmindestens so sehr faszinier-te wie die Physik. Am Küchentisch war das Wort jetzt immer öfterzuhören – politika.Dannkam einweiteres hinzu: vybory –Wahlen.

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Die Sowjetunion, das Geburtsland von Mascha und Shanna, warder langlebigste totalitäre Staat der Welt. Das Geburtsjahr der bei-den,,wurde imWestenzumSymboldesTotalitarismus.Orwellsgleichnamiges Buch konnte in einer Gesellschaft, die der darin be-schriebenen so sehr glich, nicht erscheinen.Deshalbhatte die breitesowjetische Leserschaft erst die Möglichkeit, es kennenzuler-nen. Zu diesemZeitpunkt waren dieZensurbestimmungen soweitgelockert worden, dass die führende Literaturzeitschrift des Landeseine Übersetzung drucken konnte. Bereits hatte der Journa-list Andrei Amalrik einen Langessay mit dem Titel Kann die Sowjet-union das Jahr erleben? verfasst, den er als vervielfältigtes Typo-skript anFreundeweiterverteilte. Er vertrat darindieThese, dass dasRegime auf die Implosion zusteuere. Amalrik, der bereits zuvoraus politischen Gründen inhaftiert gewesenwar, wurde erneut fest-genommen, zusammen mit einem Mann, der beschuldigt wurde,das Buch verbreitet zu haben. Beide erhielten Gefängnisstrafen. Inseiner Schlusserklärung vor Gericht sagte Amalrik: »Mir ist klar,dass Verfahrenwie dieses viele Leute abschrecken sollen – und vielewerden sich abschrecken lassen. Trotzdem glaube ich, dass ein Pro-zess der Befreiung des Denkens begonnen hat, der nicht mehr um-kehrbar ist.« Er verbrachte mehr als drei Jahre hinter Gittern, dreiweitere Jahre in der Verbannung undmusste schließlich die Sowjet-union verlassen. starb er bei einem Autounfall in Spanien aufdemWeg zu einer Menschenrechtskonferenz. Das Sowjetregimelebte fort und überdauerte auch das Jahr .

Doch schon im folgenden Jahr traten die ersten Risse auf.Wur-den sie von dem neuen Generalsekretär Michail Gorbatschow ver-ursacht, als er Veränderungen forderte undGlasnost und Perestroikaverkündete? Oder verschaffte er damit nur der Entwicklung Gehör,die Amalrik fünfzehn Jahre zuvor zu beschreiben versucht hatte?Die marxistische Ideologie, so Amalrik, habe das Land niemals festim Griff gehabt, und die russisch-orthodoxe Kirche habe ihre Auto-rität eingebüßt. Ohne ein zentrales, einheitsstiftendes Glaubens-system jedoch werde die Sowjetunion sich letztlich selbst zerstö-

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ren – auseinandergerissen von verschiedenen gesellschaftlichenGruppen mit unvereinbaren Zielen.

Amalrik gehörte zu den verschwindend wenigen Sowjetbür-gern, die das System als im Kern instabil betrachteten. Die meistennahmen an, es werde ewig währen – eine in Stein, oder sowjetischenStahlbeton, gemeißelte Ordnung. In dem Jahr, als Amalrik vor Ge-richt stand, schrieb ein anderer Dissident, der Schriftsteller und Lie-dermacher Alexander Galitsch, ein Lied, das davon handelt, wieeine kleine Gruppe von Freunden Aufnahmen von ihm anhört. Ei-ner derZuhörermeint, der Sänger gehemit seinen antisowjetischenWitzen ein zu großes Risiko ein. Die Gastgeberin erwidert: »DerAutor hat nichts zu befürchten. Er ist seit hundert Jahren tot.«

(Galitsch musste emigrieren und kam drei Jahre später inseiner Pariser Wohnung durch einen Stromschlag ums Leben.)

Theoretiker, die sichmit der Sowjetunion beschäftigten – ob imIn- oder Ausland –, waren mit zwei Handicaps konfrontiert: Siemussten ihre Schlussfolgerungen auf fragmentarisches Wissen stüt-zen und sie in einer Sprache formulieren, die der Aufgabe nicht an-gemessen war. Das Land verbarg alle wesentlichen und unwesent-lichen Informationen hinter einer Mauer aus Geheimnissen undLügen. Und damit nicht genug: Es führte jahrzehntelang Krieg ge-gen das Wissen als solches. Die symbolträchtigste – wenn auch beiweitem nicht die grausamste – Schlacht in diesem Krieg wurde imJahre geschlagen. Damals ordnete Lenin die Abschiebung von(je nach Schätzung) zweihundert odermehr Intellektuellen ins Aus-land an – darunter Ärzte, Ökonomen und Philosophen. Diese Ak-tion wurde unter dem Namen »Philosophenschiff« bekannt (tat-sächlich handelte es sich ummehrere Schiffe). Die Abschiebungenwurden als einehumaneAlternative zur Todesstrafe dargestellt. Spä-tere Intellektuellengenerationen hatten weniger Glück: Wer gegen-über dem Regime als illoyal galt, wurde verhaftet, oft hingerichtetund fast immer daran gehindert, in seiner Fachdisziplin tätig zusein. Mit zunehmender Etablierung des Regimes wurden die Ein-schränkungen für die Sozialwissenschaften weiter verschärft und

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zeigten – allein schon aufgrund ihrer Dauer – immer tiefere Wir-kung. Während die exakten Wissenschaften und Technologien in-folge des Wettrüstens erneuert und vorangetrieben wurden, gabes nichts – oder fast nichts –, was das Sowjetregime dazu bewegenkonnte, die Entwicklung der Philosophie, der Geschichte und derSozialwissenschaften zu fördern. Diese Disziplinen verkümmertenderart, dass – so formulierte es ein führender russischerWirtschafts-wissenschaftler im Jahr – die wichtigsten sowjetischen Ökono-men in den er Jahren nichtmehr in der Lage waren, die Arbeitzu verstehen, die ihre Vorgänger ein halbes Jahrhundert zuvor ge-leistet hatten.

In den er Jahren fehlte es den Sozialwissenschaftlern in derSowjetunion nicht nur an Informationen, sondern auch an der nö-tigen Kompetenz, dem theoretischen Wissen und der Begrifflich-keit, um ihre eigene Gesellschaft zu verstehen. Sehr wenige habenes dennoch versucht, allen Widrigkeiten und Hindernissen zumTrotz. Sie mussten sich im Dunkeln vorantasten.

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