Wir brauchen keine Schuldenbremse

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Schuldenbremse Wir brauchen keine Für einen solidarischen Sozialstaat!

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Seminarkonzeption des DGB-Bildungswerks Hessen

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SchuldenbremseWir brauchen keine

Für einen solidarischen Sozialstaat!

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DGB-­Bildungswerk  Hessen  (Hg.)  

Wir brauchen keine

Schuldenbremse

Für einen solidarischen Sozialstaat

Materialien  für  ReferentInnen  in  der  gewerkschaftlichen  Bildungsarbeit  

 

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                                                                 Impressum  Konzept  und  Erarbeitung  der  Bildungsmaterialien:  Eberhard  Beck,  Horst  Mathes,  Jörg  Sommer    Satz  und  Gestaltung:  Jörg  Sommer    Verantwortlich:  Eberhard  Beck,  Leiter  DGB-­‐Bildungswerk  Hessen  e.V.    DGB-­‐Bildungswerk  Hessen  e.V.  Wilhelm-­‐Leuschner-­‐Straße  69-­‐77  60329  Frankfurt/Main  Telefon  (0  69)  27  30  05  60  Fax  (0  69  )  27  30  05  66  E-­‐Mail  info@dgb-­‐bildungswerk-­‐hessen.de  www.dgb-­‐bildungswerk-­‐hessen.de  

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Inhaltsverzeichnis Vorwort.......................................................................................6  

Hinweise  zur  Gestaltung  der  Diskurse..........................................8  Die  Rahmenbedingungen........................................................................................................................................8  Der  Diskurs  und  das  didaktische  Konzept ......................................................................................................9  Die  TeilnehmerInnen  können  … ..........................................................................................................................9  Materialien  für  ReferentInnen..............................................................................................................................9  Materialien  für  die  TeilnehmerInnen ................................................................................................................9  Weniger  ist  mehr!....................................................................................................................................................10  Bildung  braucht  Zeit! .............................................................................................................................................10  Subjektorientierung  … ..........................................................................................................................................10  Lust  auf  mehr  Diskurse  fördern........................................................................................................................10  

Thema  1:  Die  Schuldenbremse...................................................11  

Leitfaden  für  ReferentInnen ........................................................................12  

Diskurs  1.1:  Was  sagt  mir  das?.....................................................................15  Ausgepresst  wie  eine  Zitrone.............................................................................................................................15  Den  Kommunen  steht  das  Wasser  bis  zum  Hals........................................................................................15  Die  schwarze  Null....................................................................................................................................................16  

Diskurs  1.2:  Was  soll  das  sein,  was  steckt  dahinter?.....................................17  Schuldenbremse:  Definition ...............................................................................................................................17  Die  vier  Elemente  der  Schuldenbremse ........................................................................................................17  Roland  Koch  zur  Schuldenbremse ...................................................................................................................18  Noch  einmal  Koch:  „Eine  historische  Weichenstellung“ ........................................................................18  Ein  Schlussstrich......................................................................................................................................................18  Schuldenbremse  oder  Staatsbankrott............................................................................................................19  Steinbrück  zur  Schuldenbremse.......................................................................................................................19  Die  kluge  Hausfrau..................................................................................................................................................19  Guttenberg  zur  Schuldenbremse......................................................................................................................20  Struck  zur  Schuldenbremse................................................................................................................................20  ver.di  Vorsitzender  Frank  Bsirske  zur  Schuldenbremse .......................................................................20  

Diskurs  1.3:  Was  interessiert  uns,  was  müssen  wir  wissen? .........................21  Warum  gerade  jetzt?..............................................................................................................................................21  Wir  brauchen  eine  „gewisse  Härte“.................................................................................................................21  Politik  ist  doch  ganz  einfach ...............................................................................................................................21  Zwei  Paar  Schuhe ....................................................................................................................................................21  Wer  will  schon  Schulden?....................................................................................................................................22  Der  Staatshaushalt  ist  keine  Familienkasse.................................................................................................22  Wirtschaftsweiser  gegen  Schuldenbremse..................................................................................................23  Alle  sprechen  von  Staatsschulden.  Wer  spricht  von  den  privaten? ..................................................24  

Thema  2:  Argumente,  Interessen  und  Ideologien.......................25  

Leitfaden  für  ReferentInnen ........................................................................26  

Diskurs  2.1:  Pro  und  contra  in  der  Debatte ..................................................28  CDU  zur  Staatsverschuldung ..............................................................................................................................28  FDP  zur  Staatsverschuldung...............................................................................................................................28  Von  armen  und  reichen  Bürgern ......................................................................................................................28  

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Diskurs  2.2:  Schulden  sind  böse,  Vermögen  gut?..........................................30  Der  Schuldenverrechner ......................................................................................................................................30  Über  den  volkswirtschaftlichen  Begriff  der  „Verschuldung“................................................................32  Zur  ökonomischen  Funktion  der  öffentlichen  Kreditaufnahme .........................................................33  Geldnot  der  Bundesländer  -­‐  die  Schuld  der  Schuldenbremse..............................................................33  Schuldenbremse  erhöht  die  Risiken  der  Finanzwirtschaft ...................................................................34  Denkfehler:  Wir  werden  immer  älter.  Der  Generationenvertrag  trägt  nicht  mehr....................34  Sachzwang  Demografie?.......................................................................................................................................35  Die  unsoziale  Verteilungswirkung  der  Staatsverschuldung.................................................................36  Westerwelle:  An  die  deutsche  Mittelschicht  denkt  niemand ...............................................................36  Schäuble:  Die  Bürger  auf  Kürzungen  vorbereiten.....................................................................................37  Löhne  müssen  die  Existenz  sichern  können................................................................................................38  Drei  Konzeptionen  vom  Wohlfahrtsstatt ......................................................................................................39  Das  solidarische  Rentensystem  ist  besser  als  sein  Ruf ...........................................................................39  Umfrage:  Schuldenberg  sorgt  Bürger  am  meisten....................................................................................40  Mehrheit  der  Deutschen  gegen  neue  Staatsschulden ..............................................................................41  Die  Schuldenbremse  ist  unrealistisch.............................................................................................................41  Wer  steckt  hinter  dem  Bund  der  Steuerzahler?.........................................................................................41  

Diskurs  2.3:    Positionsbestimmung:  Solidarität  versus  Eigenverantwortung .43  Wieso  die  Schuldenbremse  Wahnsinn  ist.....................................................................................................43  Steuersenkungspläne  sind  unverantwortlich .............................................................................................44  

Thema  3:  Der  solidarische  Sozialstaat ....................................... 47  

Leitfaden  für  ReferentInnen.........................................................................48  

Diskurs  3.1:  Unser  Bild  vom  Staat?  Was  leistet  er  wirklich?..........................50  Die  Staatsaufgaben..................................................................................................................................................50  Die  solidarischen  Grundwerte ...........................................................................................................................50  Die  Kirche  über  den  Staat ....................................................................................................................................51  Der  Sozialstaat  als  Schicksalskorrektor.........................................................................................................51  Wie  viel  Privatisierung  verträgt  der  Staat? ..................................................................................................52  

Diskurs  3.2:  Einen  armen  Staat  können  sich  nur  Reiche  leisten ....................54  Ökonomen  preisen  die  Putzfrauen ..................................................................................................................54  Kommunen  chronisch  unterfinanziert...........................................................................................................55  Was  bedeutet  die  Schuldenbremse  für  die  Kommunen? .......................................................................55  FDP:  Der  liberale  Sozialstaat ..............................................................................................................................56  DGB  Grundsatzprogramm ...................................................................................................................................56  Zukunftsinvestitionen  statt  kaputtsparen!...................................................................................................57  Den  Reichtum  gerecht  verteilen........................................................................................................................57  Privatisierung  ist  keine  Lösung.........................................................................................................................58  Folgen  von  Privatisierungen...............................................................................................................................58  Der  Staat  ist  kein  Zaungast..................................................................................................................................59  Wirtschaftsweiser  Bofinger:  Für  einen  aktiveren  Staat..........................................................................60  DGB-­‐Empfehlungen  zur  Bildungspolitik .......................................................................................................61  Öffentlicher  Beteiligungsfonds ..........................................................................................................................61  Der  Staat  wird  schlanker......................................................................................................................................63  Für  die  Ausweitung  öffentlicher  Investitionen...........................................................................................64  

Diskurs  3.3:  Wer  (k)einen  Staat  braucht,  soll  sich  melden ............................65  Dimensionen  der  sozialen  Gerechtigkeit ......................................................................................................65  Soziale  Irrwege .........................................................................................................................................................65  Soziale  Alternativen................................................................................................................................................66  

Thema  4:  Gerechte  Finanzierungskonzepte ............................... 67  

Leitfaden  für  ReferentInnen.........................................................................68  

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Diskurs  4.1:  Wer  soll  das  bezahlen? .............................................................70  Kurt  Tucholsky:  Kurzer  Abriss  der  Nationalökonomie ..........................................................................70  CDU  zur  Steuerpolitik............................................................................................................................................71  SPD  zur  Steuerpolitik.............................................................................................................................................71  FDP  zur  Steuerpolitik ............................................................................................................................................72  GRÜNE  zur  Steuerpolitik......................................................................................................................................72  LINKE  zur  Steuerpolitik........................................................................................................................................73  

Diskurs  4.2:  Die  Legende  vom  „Leistungsträger“ ..........................................74  Guttenberg  will  Leistungsträger  entlasten ..................................................................................................74  Perspektive  der  Leistungsträger  kommt  zu  kurz......................................................................................74  Was  sind  eigentlich  Leistungsträger?.............................................................................................................75  Ein  ungerechtes  Steuersystem ..........................................................................................................................76  Steuersenkungen  als  Haupthindernis  für  Haushaltskonsolidierung................................................76  Deutschlands  Geldbeschaffer  -­‐  die  BRD  Finanzagentur  GmbH...........................................................78  Denkfehler:  Der  Staat  ist  zu  fett  geworden ..................................................................................................78  Staatsausgaben  –  wer  finanziert,  wer  profitiert? ......................................................................................80  Investitionen  in  Bildung .......................................................................................................................................81  

Diskurs  4.3:  Schulden-­‐  und  Zukunftsbremse  oder  …? ...................................82  Bekommen  wir  die  Verschuldung  überhaupt  noch  in  den  Griff? .......................................................82  Staatsschuldenstand  im  Verhältnis  zum  Bruttoinlandsprodukt ........................................................82  Liste  der  sinnvollen  Möglichkeiten  zur  Einnahmeverbesserung .......................................................84  ver.di:  Antikrisenpolitik  und  Profiteure  zur  Kasse...................................................................................85  Eigentum  verpflichtet............................................................................................................................................85  Gewerkschaftliche  Eckpunkte  der  Steuerpolitik .......................................................................................86  Der  Finanzierungs-­‐Mix  des  Sozialstaates .....................................................................................................86  Steuern  statt  Schulden ..........................................................................................................................................87  Wirtschaftsweiser  Bofinger:  Die  Staatsquote  heben ...............................................................................87  Eingriffe  in  ökonomische  Machtstrukturen.................................................................................................88  ver.di  und  attac:  Die  Solidarische  Einfachsteuer  (SES)...........................................................................88  

Thema  5:  Treffen  zum  Abschluss  und  für  die  Fortsetzung...........91  

Leitfaden  für  ReferentInnen ........................................................................92  

Glossar ......................................................................................94  

Literaturverzeichnis ...................................................................99  

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Vorwort

Der  Deutsche  Bundestag  hat  im  Früh-­‐jahr  2009  eine  Verfassungsänderung  beschlossen:  Bund,  Länder  und  Ge-­‐meinden  dürfen  ab  dem  Jahre  2020  keine  Kredite  aufnehmen.    

Diese  Regelung  wird  in  der  allgemei-­‐nen  Diskussion  als  Schuldenbremse  bezeichnet.  

Vorausgegangen  sind  jahrelange  Dis-­‐kussionen  darüber,  dass  durch  eine  hohe  Staatsverschuldung  die  heutige  Generation  auf  Kosten  ihrer  Enkel  le-­‐be:  

• Wir  können  nur  so  viel  ausgeben  wie  wir  einnehmen!  

• Was  für  den  privaten  Haushalt  gilt  kann  für  den  Staat  nicht  falsch  sein!  

Das  leuchtet  jedem  ein,  stimmt  aber  nicht  mit  der  Realität  überein.    

Der  Häuslebauer  nimmt  Kredit  auf,  um  zukünftig  keine  Miete  zahlen  zu  müs-­‐sen,  der  Unternehmer  finanziert  durch  Kredite  Neuinvestitionen,  die  seine  Produktivität  verbessern  oder  seine  Marktposition  stärken.  

Dieses  Verhalten  ist  ökonomisch  sinn-­‐voll.  Es  handelt  sich  um  Investitionen  in  die  Zukunft,  die  sich  über  eine  zu-­‐künftige  Rendite  finanzieren.  

„Der  Staat  ...  kann  Verschuldung  in  Kauf  nehmen,  wenn  damit  öffentliche  Investitionen  getätigt  werden,  die  in  der  Zukunft  Erträge  bringen.  Er  hat  auch  eine  hohe  Verantwortung  für  die  Ökonomie  und  muss  dafür  sorgen,  dass  konjunkturelle  Dellen  abgefedert  werden  ...  

Auch  richtig  ist  ...  dass  in  der  Vergan-­‐genheit  häufig  im  Namen  antizykli-­‐scher  Politik  Defizite  gemacht  wurden,  in  guten  Zeiten  aber  nicht  dem  Kon-­‐zept  entsprechend  Defizite  abgebaut  wurden.    

Die  Lehre  daraus  sollte  sein,  im  kon-­‐junkturellen  Aufschwung  auf  Steuer-­‐senkungen  weitgehend  zu  verzichten.  Sonst  fehlen  diese  Einnahmen  im  Ab-­‐schwung.“    

(Torsten  Niechoj,  DGB  Hessen,  WISO-­Info  2/2008  )  

Der  Staat  muss  Investitionen  in  die  Zukunft  tätigen:  

• Kreditaufnahme  für  Bildung  si-­‐chert  den  Erhalt  von  Kompetenzen.  

• Kreditaufnahme  für  Infrastruk-­‐turmaßnahmen  sind  wichtig  für  den  Wirtschaftsstandort.  

• Kreditaufnahme  für  den  Ausbau  der  Jugendarbeit  verringert  Folge-­‐kosten  im  sozialen  Bereich  z.B.  aufgrund  der  Jugendkriminalität.  

Die  Haushalte  von  Bund  und  Ländern  sind  grund-­‐sätzlich  ohne  Einnahmen  aus  Krediten  auszuglei-­‐chen.  Bund  und  Länder  

können  Regelungen  zur  im  Auf-­‐  und  Abschwung  sym-­‐metrischen  Berücksichti-­‐gung  der  Auswirkungen  

einer  von  der  Normallage  abweichenden  konjunktu-­‐rellen  Entwicklung  sowie  eine  Ausnahmeregelung  für  Naturkatastrophen  oder  außergewöhnliche  

Notsituationen,  die  sich  der  Kontrolle  des  Staates  ent-­‐ziehen  und  die  staatliche  

Finanzlage  erheblich  beein-­‐trächtigen,  vorsehen.  Für  die  Ausnahmeregelung  ist  

eine  entsprechende  Til-­‐gungsregelung  

vorzusehen.  

Grundgesetz,  Artikel  109,  „Schuldenbremse“    

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• Kreditaufnahme  zur  Finanzierung  des  Sozialstaats  erhält  den  sozialen  Frieden  und  sichert  das  solidari-­‐sche  Miteinander.  

• Kreditaufnahme  zur  Finanzierung  von  Bildung  verringert  die  Arbeits-­‐losigkeit  und  damit  die  Belastun-­‐gen  des  Sozialsystems.  

Dies  sind  einige  Beispiele,  die  zeigen:  Nicht  die  Verschuldung  gefährdet  die  Zukunft  unserer  Kinder  und  Enkel  sondern  das  Unterlassen  von  Zukunfts-­‐investitionen.  

Der  Staat  muss  daher  bei  seinen  Aus-­‐gaben  –  auch  wenn  sie  kreditfinanziert  sind  –  immer  bewerten:  

• Handelt  es  sich  um  Investitionen  in  die  Zukunft?  

• Wird  die  soziale  Balance  gewähr-­‐leistet  oder  gefährdet?  

Mit  der  Entscheidung,  im  Grundgesetz  eine  „Schuldenbremse“  einzuführen,  beraubt  sich  der  Staat  jeglicher  Gestal-­‐tungsmöglichkeit.  Dies  wird  zur  Folge  haben,  dass  Bund,  Länder  und  Ge-­‐meinden  derzeitige  Leistungen  wie  z.B.  Kinderbetreuung  und  Bildung  reduzie-­‐

ren  müssen  oder  nur  noch  in  gleichem  Maße  anbieten  können,  in  dem  Gebüh-­‐ren  eingeführt  werden.  

Damit  wird  der  Weg  in  den  Gebühren-­‐staat  beschritten.  

Staatliche  Leistungen  können  sich  so  in  Zukunft  nur  diejenigen  leisten,  die  über  ein  entsprechendes  Einkommen  verfügen.  

Die  Aussage  „Nur  die  Reichen  können  sich  einen  armen  Staat  leisten“  wird  bestätigt.  

Das  DGB  Bildungswerk  Hessen  e.V.  leistet  mit  den  Bildungsmaterialien  „Schuldenbremse“  einen  Beitrag  zur  kritischen  Auseinandersetzung  mit  der  aktuellen  Politik.

 

Eberhard  Beck  Leiter  DGB-­Bildungswerk  Hessen  e.V.  

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Hinweise zur Gestaltung der DiskurseOb  und  warum,  für  was  und  in  welcher  Größenordnung  „der  Staat“  (noch  mehr)  Schulden  machen  darf,  wer  die  „Zeche“  dann  (wirklich)  zahlen  muss  und  was  das  für  staatliches  Handeln  und  Arbeiten  und  Leben  in  Deutsch-­‐land  bedeutet,  das  ist  zur  Zeit  ein  zen-­‐trales  Thema  in  der  Politik,  wie  auch  im  Alltagsdiskurs.  

Der  mediale  Mainstream  und  viele  politische  Akteure  favorisieren  eine  „Schuldenbremse“,  die  reglementie-­‐rend  in  das  Handeln  der  Regierungen  auf  Landes-­‐  und  Bundesebene  eingrei-­‐fen  soll.  

Wer  eine  eigene  Position  zum  pro  und  contra  der  Thematik  „Schuldenbrem-­‐se“  finden  will,  muss  die  dahinter  lie-­‐genden  Themen  und  Fragen  und  deren  pro  und  contra  ebenfalls  beachten  und  bearbeiten.  

Politische  Bildung  im  Allgemeinen  und  gewerkschaftliche  Bildungsarbeit  im  Besonderen  sind  somit  aufgefordert,  Hilfestellungen  zur  Durchdringung  der  Themen  anzubieten.  Diskurse  zu  orga-­‐nisieren,  die  demokratisches  Handeln  erleichtern  und  so  verhindern  helfen,  dass  das  neoliberale  Wirtschafts-­‐  und  Staatsverständnis  (weiter)  dominiert.  

Die  vorliegenden  Bildungsmaterialien  sollen  Hilfestellung  bei  der  Gestaltung  betriebsnaher  und  örtlicher  Diskurse  zu  diesem  Thema  leisten.  

Ziel  der  Bildungsangebote  zum  Thema  ist  die  Auseinandersetzung  mit  den  pro-­‐  und  contra–Argumenten,  die  Er-­‐arbeitung  von  Fakten,  die  Findung  einer  eigenen  Position  und  damit  die  Chance,  sich  in  die  politische  Debatte  auch  einbringen  zu  können;  also  schlichtweg  auch  argumentationssi-­‐cherer  zu  werden.  

Unsere  demokratischen  Möglichkeiten  beginnen  und  enden  nicht  an  der  Wahlurne.    

Wir  müssen  unseren  Argumenten  Ge-­‐hör  verschaffen  und  Widerstand  orga-­‐

nisieren,  gegen  den  weiteren  Sozialab-­‐bau,  gegen  die  Privatisierung  staatli-­‐cher  Aufgaben  und  damit  die  zuneh-­‐mende  Spaltung  der  Gesellschaft.  Wir  müssen  Alternativen  denken  und  er-­‐folgreich  dafür  mobilisieren,  für  Ge-­‐rechtigkeit  bei  der  Finanzierung  und  den  Ausgaben  des  Staates.  

Die  Bildungsmaterialien  sind  Arbeits-­‐hilfen  für  ReferentenInnen,  die  zu  die-­‐sem  Thema  ein  Bildungsangebot  ge-­‐stalten  wollen.  

Wir  konzentrieren  uns  bei  den  Anre-­‐gungen  auf  das  Angebot  einer  abendli-­‐chen  Diskursreihe,  von  insgesamt  4  Diskursen  zu  je  3  Stunden  Zeit.  Ein  5.  Diskurs  soll  die  Möglichkeiten  der  Eva-­‐luation  und  der  Vereinbarung  von  wei-­‐teren  Diskursen  dienen.  

Wenn  (geübte)  Teams  diese  Diskurse  an  einem  Wochenende  (2  Tage  á  6  Stunden)  oder  in  einem  Wochensemi-­‐nar  (Bildungsurlaub)  anbieten  und  durchführen  wollen,  helfen  wir  gerne  bei  den  Beratungen  für  ein  geeignetes  didaktisches  Konzept.  

Die Rahmenbedingungen Diskurse,  die  wir  abends  und  damit  nach  einem  Arbeitstag  anbieten,  haben  einen  Zeitrahmen  von  2  bis  3  Stunden  (maximal).  

Der  Diskursort  soll  angenehm  gestaltet  sein  und  so  eine  „gute  Atmosphäre“  herstellen  helfen.  

Bei  Bedarf  können  technische  Hilfsmit-­‐tel  (wie  Beamer)  für  die  Präsentation  von  Fakten  genutzt  werden.  

Zur  sinnvollen  Ausstattung  und  damit  zur  Unterstützung  bestimmter  Arbeits-­‐formen  sollten  die  gängigen  Arbeits-­‐mittel  zur  Verfügung  stehen:    

• Flipchart,  

• 3  Pinwände  

• Kärtchen,  

• Papier  und  Stifte.  

„Es  gibt  in  Deutschland  kein  Thema,  das  so  irratio-­‐

nal  und  so  angstbesetzt  diskutiert  wird  wie  die  Staatsverschuldung  (…)  

Bürger,  die  Angst  haben,  lassen  sich  leicht  ins  Bocks-­‐horn  jagen.  Und  so  wird  die  

Staatsverschuldung  von  Lobbyisten  und  Politikern  

seit  Jahren  sehr  gezielt  und  erfolgreich  

instrumentalisiert.“  

Peter  Bofinger,  Ist  der  Markt  noch  zu  retten?  

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Ob  Wandzeitungen  abfotografiert  werden  sollen,  somit  als  Foto-­‐Dokumentation  genutzt  werden  kön-­‐nen,  bleibt  dem  Team  vorbehalten.  Der  Wert  von  Foto-­‐Protokollen  ist  umstrit-­‐ten.  Wenn  es  nicht  unbedingt  für  die  weitere  Arbeit  gebraucht  wird,  kann  das  Team  darauf  verzichten.  

Wir  verweisen  darauf,  dass  wir  keine  (klassischen)  Seminare  organisieren,  sondern  Diskurse.  

Der Diskurs und das didaktische Konzept Wir  beschreiben  hier  ein  „idealtypi-­‐sches  Konzept“  für  die  Diskursreihe,  das  nie  1  zu  1  in  die  Praxis  umgesetzt  wird  -­‐  aber  es  dient  der  Orientierung  für  die  Vorbereitungen  des  Teams.  

Wir  haben  uns  auf  den  Begriff  „Dis-­‐kurs“  geeinigt,  weil  wir  darin  die  ge-­‐eignete  Veranstaltungsform  für  Abendveranstaltungen  sehen.  

Damit  haben  wir  auch  unseren  An-­‐spruch  auf  Methodenvielfalt  reduziert  und  uns  auf  ein  Grundschema  geeinigt,  welches  für  die  knappe  Zeit  und  den  Anspruch  der  Orientierung  auf  die  diskutierenden  Subjekte  angemessen  erscheint.  

Wir  schlagen  eine  Struktur  vor,  die  durchgängig  durch  alle  Themen  und  Diskurse  anwendbar  ist:  

• Es  gibt  4  Themenschwerpunkte    

• Jede  Abendveranstaltung  hat  ein  Thema,  mit  jeweils  drei  Diskursen  

• Es  gibt  zwei  Arbeitsformen:    

• Die  vom  Team  moderierte  Diskussion,  

• Einzelarbeit  bzw.  Nachbarschafts-­‐Beratung  

Die TeilnehmerInnen können … • ihre  Erfahrungen  /  Meinungen  

einbringen  

• sich  mit  anderen  Erfahrungen  /  Meinungen  austauschen  

• sich  Fakten  aneignen  

• eigene,  gemeinsame  Positionen  herausarbeiten  

• ihre  Argumentationsfähigkeit  wei-­‐ter  entwickeln  

• und  sich  geeignete  Vorgehenswei-­‐sen  in  ihrem  gewerkschaftlichen,  beruflichen  und  privaten  Alltag  er-­‐arbeiten.  

Es  gibt  ausgewählte  TN-­‐Materialien  zur  Unterstützung  von  Input  und  für  das  Weiterlesen  zu  Hause.  

Natürlich  können  sie  die  Materialien  dann  auch  für  eigene  Diskurse  nutzen.  

Materialien für ReferentInnen Zu  den  4  Themen  gibt  es  Hinweise  für  Referenten-­‐Teams  und  einen  Leitfaden  (ZIM-­‐Papier),  wie  die  Diskurse  gestal-­‐tet  werden  können.  

Für  die  Referenten-­‐Teams  stellen  wir  für  jedes  Thema  weitere  Materialien  zur  Verfügung.  

Dabei  verstehen  sich  unsere  Hinweise  und  Materialien  ausdrücklich  nicht  als  1:1  kopierbares  didaktisches  Konzept.  Das  Thema  ist  zu  komplex,  die  verge-­‐lichsweise  offene  Form  des  Diskures  stellt  zudem  hohe  Anforderungen  an  die  Flexibilität  und  thematische  Kom-­‐petenz  der  ReferentInnen.    

Deshalb  sollten  sich  die  Referenten-­‐Teams  die  einzelnen  Themenblöcke  anhand  des  ihnen  zur  Verfügung  ge-­‐stellten  Materials  zuvor  selbständig  erarbeiten.  

Materialien für die TeilnehmerInnen Die  Teilnehmermaterialien,  die  wir  ausgewählt  haben,  können  natürlich  aktualisiert  bzw.  ergänzt  werden.  Vor  allem,  wenn  es  geeignete  Beispiele  und  Texte  aus  der  Region  oder  zu  tagesak-­‐tuellen  politischen  Debatten  gibt.  

Um  sie  im  Diskurs  jeweils  rasch  auf-­‐finden  zu  können,  sind  die  Teilneh-­‐mermaterialien  durchnummeriert.  

Sie  sind  so  gestaltet,  dass  die  nicht  besprochenen  Texte  und  Aufgaben  auch  zu  Hause  von  den  Teilnehmern  selbständig  bearbeitet  werden  können.  Vorschläge  dazu  finden  sich  in  den  ZIM-­‐Papieren.  

Begleit-­‐CD  Auf  der  Begleit-­‐CD  zu  die-­‐sen  Bildungsmaterialien  finden  die  ReferentInnen  unterstützende  Dokumen-­‐te:  

Alle  Teilnehmermaterialien  als  druckfähige  PDF-­‐Dateien.  

Alle  Diagramme  und  Schaubilder  als  PDF-­‐Dokumente  zur  Erstellung  eigener  Folien  und  Präsen-­‐tationen.  

Die  Studie  „Auswirkungen  der  Schuldenbremse  auf  die  hessischen  Landesfinan-­‐zen“  des  IMK  in  voller  Länge.  

 

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Weniger ist mehr! Sowohl  die  Themen,  als  auch  die  All-­‐tagserfahrungen  und  Meinungen  sind  sehr  vielschichtig  und  komplex.  

Wir  müssen  exemplarisch  arbeiten,  damit  wir  wirklich  Zeit  für  Diskussio-­‐nen,  für  Reflexionen,  also  für  Lernpro-­‐zesse  haben.    

Das  Team  wird  deshalb  darauf  achten,  dass  der  „Rahmen“  eingehalten  wird.    

Es  ist  hilfreich,  wenn  das  Team  von  Beginn  an  mit  einem  (zusätzlichen)  „Themenspeicher“  arbeitet.  

Im  Themenspeicher  können  wichtige  Themen,  die  jetzt  leider  nicht  behan-­‐delt  werden  können,  festgehalten  wer-­‐den.  Damit  entlasten  wir  den  laufen-­‐den  Diskurs  und  ermöglichen  eine  konzentrierte  Diskussion.  

Auch  die  Begrenzung  der  Zahl  der  TeilnehmerInnen  soll  individuelles  und  gemeinsames  Lernen  ermöglichen.  In  der  Regel  können  solche  Abende  mit  9  bis  15  TeilnehmerInnen  organisiert  werden.  

Bildung braucht Zeit! Teams  müssen  auf  die  Binnendifferen-­‐zierungen  in  der  Teilnehmergruppe  achten.  Subjektorientiertes  Lernen  zu  ermöglichen,  fordert  die  Beachtung  unterschiedlicher  Lernzeiten  bei  den  Teilnehmenden.  

Die  Diskursabende  sollen  deshalb  nicht  zu  straff  gestaltet  sein.  Es  muss  eine  gute  Balance  zwischen  Einstieg  bzw.  Meinungssammlung  zum  Thema  und  Input  bzw.  Erarbeitung  von  Fak-­‐ten  sowie  Reflexionen  von  (neuen)  Erkenntnissen  und  Handlungsmög-­‐lichkeiten  hergestellt  werden.  

Subjektorientierung … Meint  hier:  

Die  Alltagserfahrungen  und  Meinun-­‐gen  der  Teilnehmer  sind  Ausgangs-­‐punkt  und  Gegenstand  der  Diskussio-­‐nen.  

Es  gibt  ein  Angebot  an  (neuen)  Fakten  für  die  Diskussionsthemen,  die  sich  die  Teilnehmenden  selbst  erarbeiten  oder  vom  Team  präsentiert  werden.  

Kontroversen  sind  keine  „Störungen“!  

Es  gibt  Raum  für  Übungen,  wie  Lesen,  Texte  interpretieren,  pro-­‐  und  contra-­‐Debatte,  Präsentationsformen  usw.  

Es  muss  Raum  geben  für  Reflexionen  der  „Lernfortschritte“,  die  jeder  für  sich  erfahren  will  und  kann.  

Es  muss  immer  auch  eine  Möglichkei-­‐ten  geben,  darüber  zu  reden,  was  wir  denn  jetzt  mit  den  (neuen)  Erkennt-­‐nissen  und  guten  Argumenten  anfan-­‐gen  wollen.  

Lust auf mehr Diskurse fördern Die  Komplexität  des  Themas  und  der  enge  Zeitrahmen  zwingen  uns  zur  Konzentration  auf  einige  wesentliche  Aspekte  des  Themas.  

Weitere  Themen,  die  im  Laufe  der  Dis-­‐kussionen  als  relevant  erachtet  wer-­‐den,  können  gesammelt  und  später  dann  neue  Diskussionsveranstaltun-­‐gen  begründen  und  organisieren  hel-­‐fen.  

Wir  empfehlen  deshalb  nach  Abschluss  der  Diskursreihe  die  Teilnehmer  noch  mal  einzuladen,  die  Diskursreihe  noch  mal  zu  reflektieren  und  weitere  The-­‐menangebote  für  die  Fortsetzung  der  Diskurse  zu  beraten  (vgl.  Thema  5).    

Die  Diskursreihe  kann  dann  eine  stabi-­‐le  „Marke“  im  örtlichen  Bildungsange-­‐bot  der  Gewerkschaften  werden.  

Vorausgesetzt  es  gelingt  uns,  mit  sol-­‐chen  Bildungsangeboten  auch  die  Lust  auf  politische  Bildung,  auf  Politik  und  politisches  Handeln  zu  steigern.  

Damit  dieses  allgegenwärtige  generelle  Ziel  gewerkschaftspolitischer  Bil-­‐dungsangebote  auch  erreicht  wird,  wollen  wir  die  Arbeit  der  Referenten-­‐Teams  mit  diesen  Bildungsmaterialien  unterstützen.  

Wir  wünschen  allen  Referenten-­‐Teams,  dass  ihnen  eine  erfolgreiche  Gestaltung  der  Lehr-­‐  und  Lernprozesse  gelingt  und  freuen  uns  auf  Anregungen  zur  Weiterentwicklung  der  Bildungs-­‐materialien  des  DGB-­‐Bildungswerk  Hessen  e.V.  

Page 13: Wir brauchen keine Schuldenbremse

11  

Thema 1: Die Schuldenbremse Mit  dem  Themenschwerpunkt  „Schuldenbremse“  steigen  wir  in  einen  Dis-­‐kurs  ein,  mit  dem  wir  uns  den  weiteren  Themen,  Fragen  und  Antworten  zu  den  Aufgaben  des  Staates  und  deren  notwendigen  und  gerechten  Finan-­‐zierung  der  Staatsausgaben  nähern.  Hierzu  wollen  wir  im  ersten  Diskurs  die  bisherigen  Erfahrungen  der  Teilnehmer  sammeln.  Dazu  stellen  wir  uns  die  Frage    

• Wie ist mir das Thema Schuldenbremse bisher begegnet? und  tauschen  die  bisherigen  Kenntnisse  und  Meinungen  aus,  sortieren  diese  zunächst  –  ohne  sie  bereits  zu  bewerten.  So  erarbeiten  wir  uns  in  Einzel-­‐,  Partner-­‐  und  Gruppenarbeit  einen  ersten  Überblick  über  das  Thema  und  die  Teilnehmervoraussetzungen.  Im  zweiten  Diskurs  lernen  wir  die  Fakten  und  Argumente  der  Befürwor-­‐ter  und  Gegner  kennen,  indem  wir  über  die  Fragen  

• Was versteht man unter Schuldenbremse? • Wie argumentieren Befürworter? • Wie argumentieren Gegner?

in  der  Gruppe  diskutieren.  Hier  ist  es  Aufgabe  der  Teamer,  auf  Basis  der  Referentenmaterialien  einen  kurzen,  einleitenden  Vortrag  zu  erarbeiten,  der  die  zentralen  Fakten  zunächst  einmal  sachlich  darstellt  ohne  diese  bereits  für  die  Teilnehmer  zu  instruktiv  einzuordnen.  Die  Bewertung  der  vorgestellten  Fakten  sollte  in  der  Gruppe  (kann  aber  auch  in  Einzelarbeit)  geleistet  werden.  Wichtige  Materialien  für  spätere  Diskurse  sind  auch  noch  einmal  in  den  Teilnehmermaterialien  enthalten.  Im  dritten  Diskurs  beraten  wir  gemeinsam  die  Fragen:  

• Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer Schuldenbremse?

• Welche positiven / negativen Erwartungen habe ich? Wir  formulieren  erste  (vorläufige)  Einschätzungen  zu  Konsequenzen  und  eigenen  Erwartungen  zu  den  Wirkungen  einer  Schuldenbremse.  Gemein-­‐sam  entwickeln  wir  einen  Themenspeicher,  indem  wir  die  Frage  beant-­‐worten:  

• Was müssen wir noch wissen, um genauer unsere eigene Position bestimmen und unsere Argumentationsfähigkeit zu verbessern?

Das  Thema  schließt  mit  einer  gemeinsamen  (kurzen)  Reflexion  über  Inhalt  und  Methoden  der  bisherigen  Diskurse  und  einem  Hinweis  auf  die  „Hausaufgabe“,  die  die  Teilnehmer  bis  zum  nächsten  Termin  selbständig  bearbeiten  sollten.    

Page 14: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 

 

Zeit  

    10  

  05  

    10  

                    10  

                        (40)  

 

Material  

    M2  

  A1  

                                          „Hausaufgabe“  

  M1,  M3  

Methoden  

    Team

 /  siehe  Einladung  

  TN-­‐Einzelarbeit  /  Kärtchen  

dann    

  Partnerarbeit  

  Ergebnisse  /sortierte  Zettel  für  Präsen-­‐

tation  an  die  Wandtafel  pinnen  

              Team

-­‐Moderation  

TN-­‐Präsentation    

  und  Einschätzungen  zum

 Gesam

tbild  

bzw.  zu  pro/contra  

Inhalte  

Disk

urs 1

.1: W

as sa

gt m

ir da

s?

  Begrüßung,  kurze  Einführung  in  die  Dis-­‐

kursreihe  

  Frage:  Wie  ist  mir  bisher  das  Them

a  „Schuldenbremse  begegnet?  

  Austausch  mit  (1-­‐2)  Nachbarn  

Informieren,  auswerten,  sortieren  nach  

positiven  (pro)  /  negativen  (contra)  In-­‐

halten  

Präsentation  vorbereiten  

          Präsentationen  der  sortierten    

Sammlungen  

  Blick  auf  das  „Gesam

tbild“    

Leitf

aden

für R

efer

entIn

nen

Ziele  

    Es  gelingt,  Beispiele  zu  sammeln,  was  

wir  zum

 Thema  bisher  erfahren  haben.  

      Wir  tauschen  unsere  bisherigen  Kennt-­‐

nisse  und  unsere  Meinungen  aus  und  

gewichten,  sortieren  die  Ergebnisse  

nach  pro/contra.  

    Wir  haben  einen  ersten  Überblick  über  

das  Thema.  

Page 15: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 Zeit  

        40  

                  (40)    

10  

      30  

                15  

     

Material  

      M4  

      M5  –  M9  

  A2  

    „Hausaufgabe“  

M10  

A3  

 

        M14  –  M15  

    A4  

           

Methoden  

      Team

-­‐Vortrag  zu  den  3  Fragen  

Moderation  

 

 

      Frage  an  TN  

Diskussion  mit  NachbarIn  

  Beratungen  zu  Konsequenzen….  

  anschließend  Diskussion  

      Team

-­‐Moderation  

Einschätzungen  werden  an  der    

Wandtafel  festgehalten  

   

Inhalte  

Disk

urs 1

.2: W

as so

ll das

sein

, was

stec

kt da

hint

er?

  Input  und  Diskussion:    

„Was  versteht  m

an  unter  Schulden-­‐

brem

se?“  

„Wie  argum

entieren  Befürworter?“  

„Wie  argum

entieren  Gegner?“  

 

Disk

urs 1

.3: W

as in

tere

ssie

rt un

s, wa

s müs

sen w

ir wi

ssen

?   Wir  diskutieren  vorläufige  Erkenntnisse:  

  Welche  Konsequenzen  ergeben  sich  aus  

einer  Schuldenbremse?  

  Welche  positiven  /  negativen  Erwartun-­‐

gen  habe  ich?  

    Zusammenfassung  der  Erwartungen  

sortiert  nach  pro  /contra  

 

Ziele  

      Wir  lernen  Fakten  und  Argumente  der  

Befürworter  und  Gegner  kennen.  

                Pause  

      Wir  sind  in  der  Lage  erste  (vorläufige)  

Einschätzungen  zu  Konsequenzen  und    

eigenen  Erwartungen  zu  den  Wirkungen  

einer  Schuldenbremse  zu  

artikulieren.  

         

Page 16: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 

 Zeit  

                    20  

                  15  

                    (80)  

  (170)    

 

Material  

                                                          „Hausaufgabe“  

  M16  –  M17  

A6  

Methode  

Team

 ergänzt  und  zitiert  nach  der  

Sammlung  der  TN-­‐Einschätzungen  ei-­‐

nige  exemplarische  pro/contra-­‐

Aussagen  zu  Konsequenzen  

              Team

-­‐Moderation  

und    

Them

enspeicher,    

sowie  Hinweis,  was  an  den  nächsten  

Abenden  „auf  dem

 Program

m“  steht.  

          Abschlussfragen:  

„Welche  Erwartungen  sind  (nicht)  ein-­‐

gelöst  worden?“  

„Was  war  mir  wichtig?“  

„Was  müssen  wir  beim  nächsten  Mal  

Berücksichtigen?  

 

Inhalte  

            Zusammenfassung:    

vorläufige  Bewertung  der  Schulden-­‐

brem

se  

  Erarbeitung  eines  Themenspeichers:  

„Was  müssen  wir  noch  wissen,  um  

genauer  unsere  eigene  Position  

bestimmen  und  unsere  Argumenta-­

tionsfähigkeit  zu  verbessern?“  

          Abschluss:    

Kurze  Reflexion    

Hinweise  auf  Lesestoff  („bis  zum

 näch-­‐

sten  Mal“)  und  Termin  für  das  2.  Thema  

 

Ziele  

Wir  haben  ein  vorläufiges  Bild  vom

 pro  

und  contra  zur  Schuldenbremse  

    Wir  können  uns  über  Themen  verstän-­‐

digen,  die  unsere  Erkenntnisse  und  Ar-­‐

gumentationsfähigkeiten  stabilisieren    

 

Page 17: Wir brauchen keine Schuldenbremse

15  

Diskurs 1.1: Was sagt mir das?Ausgepresst wie eine Zitrone "Wir  sind  ausgepresst  wie  eine  Zitro-­‐ne",  umschrieb  Norbert  Bude,  Vorsit-­‐zender  des  Städtetags  und  Oberbür-­‐germeister  von  Mönchengladbach,  die  deprimierende  Finanzschieflage  der  Kommunen.  Vor  diesem  Hintergrund  appellieren  die  NRW-­‐Städte  an  Bund  und  Land,  trotz  der  gegenwärtigen  Krise  Auswege  zu  suchen,  um  eine  Finanzierung  der  Städte  sicherzustel-­‐len.  Lösungen  für  die  riesigen  struktu-­‐rellen  Probleme  einzelner  Kommunen  könnten  dabei  nur  in  Kooperation  mit  dem  Land  entwickelt  werden.  "Es  wäre  eine  große  Hilfe,  wenn  ein  Konsolidie-­‐rungspakt  zwischen  dem  Land  und  diesen  Städten  gelingen  würde",  so  Bude.  Die  Krise  der  Kommunen  zeigt  sich  laut  Städtetag  in  weiter  auftür-­‐menden  Schulden,  in  zerfallender  öf-­‐fentlicher  Infrastruktur  und  in  den  immer  größeren  Schwierigkeiten,  ein  Mindestangebot  öffentlicher  Dienstlei-­‐stungen  zu  gewährleisten."  

In  vielen  Städten  wird  seit  Jahren  der  Mangel  verwaltet",  beklagt  Bude.  Schnelle  Besserung  ist  derzeit  nicht  in  Sicht,  im  Gegenteil.  Nach  der  jüngsten  Steuerschätzung  spitzen  sich  die  Fol-­‐gen  der  Wirtschafts-­‐  und  Finanzkrise  für  die  Kommunen  weiter  zu.  

(WDR-­Hörfunk-­Beitrag,  23.11.09)  

Den Kommunen steht das Wasser bis zum Hals Die  Stadt  Bochum  will  die  Wassertem-­‐peratur  in  den  Hallenbädern  um  ein  Grad  absenken,  Dortmund  verordnet  seiner  Stadtverwaltung  14  Tage  Zwangsferien,  und  in  Oberhausen  soll  man  sogar  darüber  nachgedacht  ha-­‐ben,  eine  Zwangsabgabe  für  Prostitu-­‐ierte  einzuführen:  Wenn  in  diesen  Ta-­‐gen  die  Stadt-­‐  und  Gemeinderäte  in  NRW  über  ihre  Haushalte  für  das  kommende  Jahr  beraten,  dürfte  es  kaum  einen  Sparvorschlag  geben,  der  zu  abwegig  erscheint.  Denn  den  Kom-­‐munen  in  NRW  steht  das  Wasser  bis  zum  Hals.  

 

 

Page 18: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

16  

 

 

Mit  fast  16  Milliarden  Euro  stehen  sie  derzeit  in  der  Kreide,  und  aktuellen  Prognosen  zufolge  werden  es  aufgrund  der  Wirtschaftskrise  in  zwei  Jahren  schon  an  die  20  Milliarden  Euro  sein.  

(WDR-­Hörfunk-­Beitrag,  18.12.09)  

Die schwarze Null Niemand  soll  mehr  ausgeben,  als  er  hat.  Sicher  doch.  Und  dass  ein  Milliar-­‐den-­‐Defizit  nicht  gerade  eine  Zierde  des  hessischen  Haushalts  ist,  ist  eben-­‐so  klar.    

Das  so  harmlos  Schuldenbremse  ge-­‐nannte  Instrument  allerdings  könnte  sich  verheerend  auf  Hessen  und  die  Kommunen  auswirken.  Wenn  beide  auf  dem  Weg  zur  schwarzen  Null  im-­‐mer  weniger  investieren  können,  geht  die  soziale  Schere  nur  noch  weiter  auf.  

(Karikatur:  Bernd  A.  Skott)  

 Beispiel  Schule:  Steht  es  um  die  öffentlichen  Schulen  schon  jetzt  schlecht,  weil  es  hinten  und  vorne  fehlt,  wäre  ein  weiterer  Abbau  die  Ka-­‐tastrophe.  Sicher:  Eltern,  die  es  sich  leisten  können,  schicken  ihre  Kinder  dann  eben  noch  öfter  auf  Privatschu-­‐len.  

Wer  also  die  angestrebte  Schulden-­‐freiheit  als  Generationengerechtigkeit  deklariert,  um  Kindern  keine  Schul-­‐denberge  zu  hinterlassen,  ist  bigott.  Denn  Kindern  aus  Familien,  die  es  sich  nicht  leisten  können,  eine  Privatschule  zu  bezahlen,  bleibt  die  Chance  auf  gute  Bildung  verwehrt.  Statt  bis  zur  Hand-­‐lungsunfähigkeit  zu  sparen,  sollte  der  Staat  investieren  und  etwa  mit  der  Vermögensteuer  die  Kasse  füllen.  Hes-­‐sen  ist  kein  armes  Land.  Aber  wenn  es  nicht  mehr  handeln  kann,  ist  es  ganz  arm  dran.  

(Petra  Mies,  Frankfurter  Rundschau,  01.12.09)  

Page 19: Wir brauchen keine Schuldenbremse

17  

Diskurs 1.2: Was soll das sein, was steckt dahinter?Schuldenbremse: Definition „Als  Schuldenbremse  wird  in  Deutsch-­‐land  eine  Regelung  bezeichnet,  die  die  Föderalismuskommission  Anfang  2009  beschlossen  hat.    

Nach  dieser  Regelung  soll  die  struktu-­‐relle,  also  nicht  konjunkturbedingte  Nettokreditaufnahme  des  Bundes  ma-­‐ximal  0,35  Prozent  des  Bruttoinlands-­‐produktes  betragen.  Ausnahmen  sind  bei  Naturkatastrophen  oder  schweren  Rezessionen  gestattet.  ...(D)ie  Einhal-­‐tung  der  Vorgabe  des  ausgeglichenen  Haushalts  ist  für  den  Bund  ab  dem  Jahr  2016  zwingend  vorgesehen,  für  die  Länder  ab  dem  Jahr  2020."  

(Wikipedia:  Zugriff  am  01.07.09)  

Die vier Elemente der Schuldenbremse Die  seit  Sommer  2009  im  Grundgesetz  verankerte  Schuldenbremse  weist  vier  wesentliche  Elemente  auf:  

Eine  Strukturkomponente,  die  mit  Blick  auf  die  Gerechtigkeit  zwischen  den  Generationen  eine  strukturelle  Verschuldung  nur  noch  in  sehr  engen  Grenzen  zulässt.  Der  Bund  darf  sich  

nur  noch  mit  0,35  %  des  BIP  pro  Jahr  neu  verschulden,  die  Länder  dürfen  sich  gar  nicht  mehr  verschulden.  

Eine  Konjunkturkomponente,  die  die  Verschuldungsmöglichkeiten  je  nach  Konjunkturlage  über  die  strukturelle  Komponente  hinaus  vergrößert  oder  einschränkt.  

Eine  (strenge)  Ausnahmeklausel,  die  eine  Überschreitung  der  zulässigen  Verschuldung  nur  bei  Vorliegen  au-­‐ßergewöhnlicher  Ereignisse  und  dann  auch  nur  mit  der  absoluten  Mehrheit  aller  Mitglieder  des  Bundestags  er-­‐möglicht.  

Ein  Ausgleichskonto,  das  die  Einhal-­‐tung  der  Schuldenbremse  nicht  nur  bei  Haushaltsaufstellung,  sondern  auch  im  Haushaltsvollzug  sicherstellen  soll.  

Zusätzlich  ist  eine  Übergangsregelung,  nach  der  die  Grenzen  für  die  struktu-­‐relle  Verschuldung  erst  ab  dem  Jahr  2016  (Bund)  bzw.  2020  (Länder)  ein-­‐gehalten  werden  müssen,  festge-­‐schrieben  worden.  (Auswirkungen  der  Schuldenbremse  auf  die  hessischen  Landesfinanzen.  Ergebnisse  von  

Simulationsrechnungen,  Hans-­Böckler-­Stiftung,  November  2009)  

 

Page 20: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

18  

Roland Koch zur Schuldenbremse „Auf  Dauer  geht  es  nicht  ohne  dieses  Instrument.  Denn  so  hat  der  Bürger  stets  abzuwägen,  ob  er  bereit  ist,  für  zusätzliche  staatliche  Leistung  auch  zusätzlich  Steuern  zu  zahlen.  Die  Schuldenbremse  ist  der  eine  Teil,  und  der  andere  ist,  um  im  Bild  zu  bleiben,  das  Steuer-­‐Gaspedal.  Die  Schweiz  macht  vor,  dass  es  funktionieren  kann.  Dort  wird  in  den  Kommunen  darüber  abgestimmt,  ob  man  sich  ein  neues  Schwimmbad  leisten  will.  Wenn  ja,  kostet  es  eben  mehr  Steuern.  ...  Deut-­‐lich  wird  dann  auch:  Wir  können  nicht  mehr  Bildung,  mehr  Straßen,  mehr  Freizeit  auf  Kosten  der  nächsten  Gene-­‐ration  finanzieren,  sondern  müssen  direkt  dafür  zahlen,  wenn  wir  uns  das  wirklich  leisten  wollen.“  

 (Ministerpräsident  Roland  Koch  im  FAZ-­Interview  vom  29.06.08)  

Noch einmal Koch: „Eine historische Weichenstellung“ „Und,  um  das  noch  zu  sagen,  denn  das  wird  uns  viel  beschäftigen:  Wir  wer-­‐den  über  die  finanzielle  Nachhaltigkeit  unseres  Wirkens  zu  reden  haben.  Nicht  in  der  Frage  der  Kreditaufnahme  mit-­‐ten  in  einer  Krise  –  was  zurzeit  ge-­‐schieht,  ist  eine  atypische  Entwicklung.  

Nein,  sondern  in  der  Frage  der  struk-­‐turellen  Anforderungen,  die  dazu  ge-­‐führt  haben,  dass  wir  Jahr  für  Jahr  mehr  ausgeben,  als  wir  einnehmen.  Ich  habe  bereits  über  die  Begehrlichkeiten  und  Wünsche  im  Bereich  der  Hoch-­‐schulen  gesprochen  –  hinzu  kommen  ja  noch  die  vielen  weiteren  Aufgaben  und  Anforderungen  bei  Lehrerinnen  und  Lehrern,  bei  Polizeibeamten,  im  Ausbau  der  Infrastruktur;  von  Kultur,  Kunst,  Denkmalschutz  und  anderen  Fragen  gar  nicht  zu  reden.  Dadurch  ist  die  Tatsache  entstanden,  dass  die  Steuerzahler  sich  sehr  hoch  belastet  fühlen  und  gleichzeitig  gar  nicht  be-­‐merken,  dass  sie  so  hohe  Erwartungen  an  den  Staat  haben  –  dass  das,  was  sie  dafür  bezahlen,  obwohl  sie  es  bereits  als  unangemessen  hoch  empfinden,  noch  nicht  einmal  reicht,  sondern  wir  einen  Teil  der  Rechnungen  an  die  Kin-­‐der  weitergeben.  

Das,  was  jetzt  auf  der  nationalen  Ebene  unter  dem  Stichwort  „Schuldenbrem-­‐se“  beschlossen  worden  ist,  ist  eine  wichtige,  eine  historische  Weichenstel-­‐lung.  Aber  die  Länder  müssen  sie  um-­‐setzen.  Und  wir  Hessen  stehen  da  vor  einer  besonderen  Herausforderung:  Wir  haben  uns  vorgenommen,  dies  nicht  im  geheimen  Kämmerlein  zu  tun.  Die  Änderung  unserer  hessischen  Ver-­‐fassung  wird  Gegenstand  einer  Volks-­‐abstimmung  sein.  Wenn  man  eine  Mil-­‐liarde  Euro  als  strukturelles  Defizit  hat  und  der  Verfassungsgeber  auf  Vor-­‐schlag  von  Regierung  und  Parlament  beschließt,  dass  es  das  nicht  mehr  ge-­‐ben  darf,  dann  hat  dies  eine  Folge.  

Wir  müssen  deshalb  als  Union  die  Bür-­‐ger  damit  konfrontieren:  Wie  wollen  wir  leben?  Wie  viel  Geld  wollen  wir  wo  ausgeben?  Für  die  Schweizer  ist  so  etwas  selbstverständlich.  Die  be-­‐schließen  in  vielen  Gemeinden:  Schwimmbaderweiterung  gegen  Erhö-­‐hung  der  Gemeindesteuer.  Wir  kennen  so  etwas  nicht.    

Wir  werden  es  auch  nicht  vergleichbar  einführen  können.  Aber,  wogegen  ich  mit  allem  Nachdruck  bin,  ist,  dass  wir  –  es  läuft  ja  darauf  hinaus,  dass  man  die  Volksabstimmung  über  die  Verfas-­‐sungsänderung  gemeinsam  mit  der  Kommunalwahl  durchführt  –  die  näch-­‐sten  zwei  Jahre  darüber  reden,  wie  toll  wir  sind,  dass  wir  eine  Schuldenbrem-­‐se  einführen,  ohne  gleichzeitig  eine  anständige  Diskussion  darüber  zu  be-­‐ginnen,  was  dies  an  Einschränkungen  im  Haushalt  bedeutet,  wenn  man  nicht  zu  Steuererhöhungen  kommen  will.“    

(Ministerpräsident  Roland  Koch  auf  dem  CDU-­Landesparteitag  am  14.03.09)  

Ein Schlussstrich Im  Kern  geht  es  darum,  einen  verbind-­‐lichen  Schlussstrich  zu  ziehen  und  eine  Struktur  zu  schaffen,  mit  der  in  Zu-­‐kunft  keine  neuen  Schulden  hinzu-­‐kommen.  Dadurch  soll  die  Möglichkeit  geschaffen  werden,  die  Last  der  Ver-­‐gangenheit  so  zu  verteilen,  dass  kom-­‐menden  Generationen  nicht  jeglicher  Gestaltungsspielraum  abgeschnitten  wird.  

(Roland  Koch:  HNA-­Interview  06.05.08)  

Page 21: Wir brauchen keine Schuldenbremse

19  

Schuldenbremse oder Staatsbankrott Ohne  die  Schuldenbremse  würde  der  Staat  angesichts  gigantischer  Verbind-­‐lichkeiten  schlicht  handlungsunfähig.  Die  Entscheidung  sei  deshalb  "von  historischer  Tragweite",  betont  der  Finanzminister:    

"Wir  sind  in  einem  Schraubstock  der  Verschuldung."  Geboten  sei  jetzt  ein  Paradigmenwechsel:  "Wir  müssen  den  Finanzmärkten  auch  ein  Signal  geben,  dass  mit  dem  Haushalt  in  Deutschland  solide  umgegangen  wird."    

Das  Argument  der  Kritiker,  nachfol-­‐genden  Generationen  würde  per  Ver-­‐fassung  verboten,  Konjunkturimpulse  zu  setzen,  sei  falsch.  "Die  Schulden-­‐bremse  behindert  nicht  Investitionen  in  die  Zukunft",  ruft  Steinbrück.  

(Spiegel  online  29.05.09)  

Steinbrück zur Schuldenbremse Wer  zukünftig  einen  handlungsfähigen  Staat  will,  wer  die  Gestaltungsfähigkeit  der  Politik  und  nachfolgender  Parla-­‐mentariergenerationen  erhöhen  will,  der  muss  dafür  sorgen,  dass  Schul-­‐denstand  und  Zinslast  reduziert  wer-­‐den.  Ein  handlungsfähiger  Staat  braucht  langfristig  tragfähige  öffentli-­‐che  Finanzen.  Langfristig  tragfähige  Finanzen  sind  nur  dann  gewährleistet,  wenn  die  Verschuldung  dauerhaft  langsamer  wächst  als  das  Bruttoin-­‐landsprodukt.    

Genau  das  ist  Kern  dieser  Schuldenre-­‐gelung.  Das  ist  die  Basis  der  neuen  Regelung.    

In  meinen  Augen  ist  das  auch  die  Basis  einer  verantwortungsvollen,  generati-­‐onsgerechten  Politik.  Deshalb  müssen  wir  mit  unserer  heutigen  Entscheidung  endlich  die  Konsequenz  ziehen  aus  den  vielen  Reden,  in  denen  wir  auf  die  Be-­‐lastung  nachfolgender  Generationen,  unserer  Kinder  und  Enkelkinder,  hin-­‐weisen.    (Steinbrück  Rede  im  Bundestag  29.05.09)

Die kluge Hausfrau  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Es  ist  doch  nur  normal,  dass  sich  die  kluge  Hausfrau  von  Zeit  zu  Zeit  eine  frische  Bibel  ins  oberste  Schrankfach  legt!“  

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Guttenberg zur Schuldenbremse "Nachfolgende  Generationen  dürfen  wir  nicht  aus  den  Augen  verlieren,  daher  ist  die  Schuldenbremse  im  Grundgesetz  richtig",  betonte  Gutten-­‐berg.    

(Regierung  online  02/2009)  

Struck zur Schuldenbremse Trotzdem  tragen  wir  auch  Verantwor-­‐tung  für  die  Zukunft,  und  heute  ange-­‐häufte  Schuldenlast  liegt  immer  auf  den  Schultern  künftiger  Generationen.    (Peter  Struck.  SPD  Fraktionsvorsitzender,  

13.02.09)  

ver.di Vorsitzender Frank Bsirske zur Schuldenbremse Wie  unterschiedlich  auch  immer  der  Zugang,  so  eindeutig  der  Befund  der  Sachverständigen:  Was  da  als  Schul-­‐denbremse  angekündigt  wird,  ent-­‐puppt  sich  beim  näheren  Hinsehen  als  Investitions-­‐  und  Wachstumsbremse.    

Nicht  von  Schuldenbremse  sollte  des-­‐halb  die  Rede  sein,  sondern  treffender  von  einer  Zukunftsbremse.    

Schon  heute  befindet  sich  Deutschland,  was  den  Anteil  der  öffentlichen  Inve-­‐stitionen  am  Bruttoinlandsprodukt  

betrifft,  an  vorletzter  Stelle  aller  OECD-­‐  Staaten,  weit  unterhalb  des  Durch-­‐schnitts.  Bei  den  Bildungsausgaben  liegt  Deutschland  –  gemessen  am  Brut-­‐toinlandsprodukt  –  auf  dem  drittletz-­‐ten  Platz  der  Europäischen  Union.    

Nur  die  Slowakei  und  Griechenland  geben  –  gemessen  am  Bruttoinlands-­‐produkt  –noch  weniger  für  Bildung  aus  als  die  Bundesrepublik.  Zwei  Beispiele  für  die  enormen  Handlungsdefizite.    

Und  das  trotz  einer  zunehmenden  Ver-­‐schuldung  der  öffentlichen  Haushalte,  die  sich  über  Jahre  in  unserem  Lande  aufgebaut  hat,  wobei  sich  das  Ausmaß  der  Verschuldung  freilich  international  immer  noch  im  Mittelfeld  bewegt.    

Faktisch  ist  der  bundesdeutsche  Staat  chronisch  unterfinanziert  –  Folge  ins-­‐besondere  einer  Steuer-­‐  und  Abgaben-­‐politik,  die  gegenüber  dem  Jahr  2000  auf  Einnahmen  in  der  Größenordnung  von  500  Milliarden  Euro  insbesondere  zugunsten  der  Kapitalbesitzer  und  Spitzenverdiener  verzichtet  hat  und  dabei  Defizite  in  der  Aufgabenwahr-­‐nehmung  bei  zugleich  wachsender  Verschuldung  hinnahm.  

(Investitionen  in  die  Zukunft  statt  Schul-­denbremse.  Was  ist  zu  tun?  ver.di  Informa-­

tionsbroschüre,  2009)

 

 

Page 23: Wir brauchen keine Schuldenbremse

21  

Diskurs 1.3: Was interessiert uns, was müssen wir wissen?Warum gerade jetzt? Die  Diskussion  um  staatliche  Schul-­‐denbremsen  wurde  entfacht  als  erst-­‐mals  seit  fast  zwei  Jahrzehnten  die  öffentlichen  Kassen  mit  Überschüssen  abschließen  konnten.  Dies  erstaunt.    

Die  Entwicklung  seit  2005  ist  ein-­‐drücklicher  Beleg  dafür,  dass  eine  Sta-­‐bilisierung  oder  gar  Rückführung  der  staatlichen  Schuldenquote  nur  möglich  (und  aus  gesamtwirtschaftlicher  Sicht  sinnvoll)  ist,  wenn  die  Wirtschaft  hin-­‐reichend,  also  mit  einer  Rate  von  2  oder  3  %,  wächst.  Umgekehrt  sind  ho-­‐he  Defizite  stets  die  Folge  schwachen  Wirtschaftswachstums,  einer  Rezessi-­‐on  oder  gar  Depression.    

Dies  gehört  eigentlich  zu  den  wirt-­‐schaftspolitischen  Binsenweisheiten  –  nicht  so  jedoch  in  Deutschland.  Hier  wird  sich  ja  noch  nicht  einmal  mit  den  Gründen  der  gestiegenen  Staatsschuld  -­‐  Wiedervereinigung,  riesige  Steuer-­‐entlastungen,  die  verpufften,  und  wirt-­‐schaftliche  Stagnation  –  in  politisch  ansprechender  Weise  auseinanderge-­‐setzt.  

(ver.di  Tagung  zur  „Schuldenbremse“  am  16.04.09  in  Berlin.  Referat  von  

Dr.  Dieter  Vesper)  

Wir brauchen eine „gewisse Härte“ „Mit  der  Schuldenbremse  in  der  Ver-­‐fassung  werde  es  einen  heilsamen  Zwang  zu  schmerzhaften  Einschnitten  geben“,  hofft  Weimar.  „Es  gehört  eine  gewisse  Härte  dazu,  die  wir  uns  jetzt  gemeinsam  auferlegen.“  

(Tagesspiegel  vom  27.5.09  )  

Politik ist doch ganz einfach Die  neue  Schuldenregel  räumt  auf  mit  der  Illusion,  dass  es  zwei  Arten  von  Mathematik  gebe  -­‐  eine  für  den  Haus-­‐gebrauch  und  eine  für  die  Politik.  Als  Privatperson  weiß  jeder  Abgeordnete,  dass  seine  Kreditwürdigkeit  von  sei-­‐

nem  regulären  Einkommen  abhängt.  In  den  Parlamenten  von  Bund  und  Län-­‐dern  taten  unsere  Volksvertreter  aber  über  Jahrzehnte  so,  als  gälten  für  den  Staat  andere  Gesetze.  

(Kommentar  von  S.  Dietrich,  FAZ.NET  29.05.09)  

Zwei Paar Schuhe Illusion  nennt  er  das,  was  unter  ernst-­‐zunehmenden  Ökonomen  als  zwei  Paar  Schuhe  verkauft  wird.  Daran  lässt  sich  der  Attacke-­‐Geist  journalistischer  Machart  erkennen.    

Man  hinterfragt  nicht,  man  nennt  das  Totzuschreibende  einfach  Illusion,  Märchen,  Erfindung,  romantisches  Gesülze.    

Er  hat  sich  möglicherweise  keine  Ge-­‐danken  darüber  gemacht,  dass  es  et-­‐was  anderes  ist,  wenn  ein  Unterneh-­‐mer  Sparmaßnahmen  einleitet  -­‐  oder  auch,  wenn  ein  Privatmann  spart  -­‐,  oder  ob  der  Staat  Gelder  zurückhält,  um  damit  den  Schuldenstand  zu  redu-­‐zieren.    

Wenn  sich  eine  Familie  eine  Anschaf-­‐fung  leisten  will  und  dafür  strikt  spart,  bei  diversen  Ausgaben  geizt,  kann  sie  ihr  Ziel  durchaus  erreichen;  wenn  der  Staat  aber  Renten  kürzt,  Arbeitslosen-­‐gelder  beschneidet,  damit  längerfristig  gesehen  auch  dem  Lohndumping  die  Tore  öffnet,  nur  um  damit  irgendein  vages  Sparziel  zu  erreichen,  dann  wird  die  Nachfrage  abgewürgt.    

Die  Volkswirtschaft  ist  eben  kein  hier-­‐archisch  gegliedertes  Unternehmen,  in  dem  Profit  als  oberste  Maxime  festge-­‐schrieben  ist,  sie  ist  (oder  vielmehr:  soll)  ein  Umverteilungsmarkt  (sein).  Ökonomen  mögen  dies  alles  fachge-­‐rechter  umschreiben,  aber  mit  einfa-­‐chen  Worten  ist  das  Prinzip  sicherlich  dennoch  verständlich  zu  machen.  (Blogeintrag  von  ad-­sinistram  zum  F.A.Z.-­

Kommentar  von  S.  Dietrich,  02.06.09)

 

Page 24: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

22  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wer will schon Schulden? Die  Idee,  Voraussetzung  einer  soliden  Haushaltspolitik  sei  ein  ausgeglichenes  Budget  ohne  Verschuldung,  bezieht  ihre  Attraktivität  aus  der  Analogie  zum  Privathaushalt:  Wer  will  schon  gerne  Schulden  mit  sich  herumschleppen  und  sich  mühsam  die  Zinseszinsen  wieder  absparen?  Nun  ist  der  Staat  aber  kein  Privathaushalt,  er  kann  Ver-­‐schuldung  in  Kauf  nehmen,  wenn  da-­‐mit  öffentliche  Investitionen  getätigt  werden,  die  in  der  Zukunft  Erträge  bringen.    

Er  hat  auch  eine  hohe  Verantwortung  für  die  Ökonomie  und  muss  dafür  sor-­‐gen,  dass  konjunkturelle  Dellen  abge-­‐federt  werden.  Und  er  kann,  wenn  das  Wirtschaftswachstum  über  dem  Schuldenzuwachs  liegt,  sogar  den  Schuldenstand  senken,  obwohl  er  Schulden  macht.    

Auch  richtig  ist  aber,  dass  in  der  Ver-­‐gangenheit  häufig  im  Namen  antizykli-­‐scher  Politik  Defizite  gemacht  wurden,  in  guten  Zeiten  aber  nicht  dem  Kon-­‐zept  entsprechend  Defizite  abgebaut  wurden.  Die  Lehre  daraus  sollte  sein,  im  konjunkturellen  Aufschwung  auf  Steuersenkungen  weitgehend  zu  ver-­‐zichten.  Sonst  fehlen  diese  Einnahmen  im  Abschwung.    

Nicht  unerwähnt  bleiben  sollte  aber  auch  noch,  dass  die  Erfolge  anderer  Länder  nicht  allein  auf  eine  andere  Fiskalpolitik  zurückzuführen  sind.  Auch  die  anderen  Politiken  müssen  stimmen.  

(Torsten  Niechoj,  DGB  Hessen:  WISO-­Info  Ausgabe  2/2008)  

Der Staatshaushalt ist keine Familienkasse ...  Erfahrungen  bestätigen,  dass  die  Wirkungszusammenhänge  in  einer  Volkswirtschaft  anders  verlaufen  als  in  einer  Familie.  Wenn  eine  Familie  mit  durchschnittlichem  Einkommen  be-­‐schließt,  im  nächsten  Jahr  1000  Euro  zu  sparen,  dann  schafft  sie  das  in  der  Regel.  Sie  fährt  nicht  in  Ferien,  sie  geht  nicht  mehr  aus,  sie  kauft  sich  keine  neuen  Kleider.  Wenn  hingegen  der  Bundesfinanzminister  beschließt,  30  Milliarden  Euro  weniger  Schulden  zu  machen,  dann  schafft  er  es  in  diesen  konjunkturell  schlechten  Zeiten  nicht,  wie  man  schon  mehrmals  sehen  konn-­‐te.  Er  macht,  wenn  er  in  einer  Depres-­‐sion  sparen  will,  mit  seiner  Sparab-­‐sicht  den  Sparerfolg  zunichte,  weil  weniger  Steuern  und  Arbeitslosenbei-­‐träge  eingenommen  werden  und  höhe-­‐re  Zuschüsse  des  Bundes  zu  den  

Page 25: Wir brauchen keine Schuldenbremse

23  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Arbeitslosenversicherungen  fällig  werden.  Daraus  folgt:  Wer  als  Finanz-­‐minister  in  einer  Krisenlage  mehr  aus-­‐gibt  und  weniger  zu  sparen  beabsich-­‐tigt,  spart  am  Ende  vielleicht  mehr  und  macht  weniger  Schulden.    (Albrecht  Müller:  Elf  Mythen,  den  Komplex  

Schulden,  Staatsquote  und  Sozialstaat  betreffend,  2004)  

Wirtschaftsweiser gegen Schuldenbremse Interview  der  TAZ  mit  dem  Wirt-­‐schaftsweisen  Peter  Bofinger:  

taz:  Herr  Bofinger,  der  Staat  soll  künftig  kaum  noch  Schulden  machen  dürfen.  Sie  haben  eine  Unterschriftenkampagne  gegen  diese  Schuldenbremse  initiiert.  Warum?    

Peter  Bofinger:  Das  Anliegen  der  spar-­‐samen,  nachhaltigen  Finanzpolitik  ist  durchaus  richtig.  Aber  man  darf  die  Zukunftsvorsorge  nicht  eindimensio-­‐nal  betrachten  und  sich  nur  auf  die  passive  Vorsorge  beschränken.  Es  ist  genauso  wichtig,  aktiv  zu  handeln,  also  in  die  Bildung,  die  Infrastruktur  und  den  Umweltschutz  zu  investieren.  Sonst  gefährdet  man  die  Zukunft  unse-­‐rer  Kinder.  Wer  sich  so  etwas  aus-­‐denkt,  hat  von  Volkswirtschaft  keine  Ahnung.    

SPD-­Fraktionschef  Peter  Struck,  sein  CDU-­Kollege  Volker  Kauder  und  Baden-­Württembergs  Ministerpräsident  Gün-­

ther  Oettinger  haben  von  Wirtschaft  keine  Ahnung?    

Die  Idee  der  Schuldenbremse  ist  an  ökonomischer  Biederkeit  nicht  zu  übertreffen.  Sie  fällt  hinter  das  Denken  der  klassischen  Ökonomie  zurück,  die  es  für  völlig  vernünftig  hielt,  dass  der  Staat  Zukunftsinvestitionen  über  Kre-­‐dite  finanziert.    

Auch  mit  der  Schuldenbremse  dürfte  der  Bund  noch  mindestens  neun  Milliarden  Euro  neue  Schulden  pro  Jahr  machen.  Reicht  das  nicht  aus?    

Nein,  gerade  für  die  Bildung  sind  die  Bundesländer  verantwortlich.  Und  denen  will  man  jegliche  Neuverschul-­‐dung  verbieten.    

Brandenburgs  Ministerpräsident  Mat-­thias  Platzeck  plädiert  dafür,  das  Schul-­denverbot  der  Länder  zu  lockern.    

Platzeck  schlägt  vor,  dass  Länder  und  Gemeinden  pro  Jahr  knapp  vier  Milli-­‐arden  Euro  Kredite  aufnehmen  dürfen.  Aber  auch  das  ist  viel  zu  wenig.  Wir  brauchen  in  den  nächsten  Jahren  eine  große  Bildungs-­‐  und  Qualifizierungsof-­‐fensive,  damit  Hunderttausende  Ju-­‐gendliche  einen  besseren  Bildungsab-­‐schluss  machen.  Tun  sie  das  nicht,  werden  sie  in  den  kommenden  Jahren  zu  den  Arbeitslosen  gehören.  Mit  einer  Schuldenbremse  wäre  eine  solche  In-­‐itiative  jedoch  nicht  zu  finanzieren.    

Page 26: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

24  

Die  Koalition  will  in  Ausnahmefällen  eine  höhere  Verschuldung  ermöglichen.  Wo  ist  dann  das  Problem?    

Die  Befürworter  der  Schuldenbremse  sind  auf  die  irrwitzige  Idee  gekommen,  die  in  einer  besonderen  Krise  entstan-­‐denen  zusätzlichen  Schulden  innerhalb  einer  überschaubaren  Frist  zurückzu-­‐bezahlen.  Nach  dem  Fall  der  Mauer  hätte  Deutschland  also  die  Kosten  der  Wiedervereinigung  innerhalb  dieses  Jahrzehnts  abstottern  müssen.  Höhere  Abgaben  oder  deutlich  niedrigere  Staatsausgaben  hätten  Deutschland  in  den  Ruin  getrieben.    

Bundesfinanzminister  Steinbrück  gibt  dieses  Jahr  etwa  44  Milliarden  Euro  für  Zinsen  und  Tilgung  aus.  Dieses  Geld  fehlt  für  die  Investitionen,  die  Sie  for-­dern.    

Das  stimmt.  Jeder  wird  sagen:  Weniger  Schulden  sind  besser  als  mehr  Schul-­‐den.  In  der  praktischen  Politik  kommt  es  aber  nicht  auf  solche  Plattitüden  an,  sondern  auf  die  realistische  Balance  zwischen  den  zwei  Zielen  der  nachhal-­‐tigen  Staatsfinanzen  und  der  Investi-­‐tionen  in  die  Zukunft.    

(TAZ  vom  28.05.09)  

Alle sprechen von Staatsschulden. Wer spricht von den privaten? In  Deutschland  ist  es  besonders  schwer,  rational  über  Staatsverschul-­‐dung  zu  diskutieren.  Obwohl  der  Kre-­‐dit  am  Anfang  aller  wirtschaftlichen    

Entwicklungen  steht,  und  die  Wirt-­‐schaft  allgemein  und  insbesondere  privatwirtschaftliche  Unternehmen  ohne  Kredit  nicht  existieren  könnten,  soll  der  Staat,  so  jedenfalls  die  neolibe-­‐rale  Meinung  in  Wissenschaft,  Wirt-­‐schaft,  Politik  und  Medien,  so  gut  wie  keine  Schulden  machen.    

Man  verbindet  mit  Staatsschulden  zu  viel  öffentlichen  Einfluss  auf  die  priva-­‐te  Profitwirtschaft  in  Form  einer  stei-­‐genden  Staatsquote  und  in  deren  Folge  allseits  unbeliebte  Steuererhöhungen.    

So  reduziert  man  den  Staat  in  neolibe-­‐raler  Diktion  auf  die  Rolle  als  „Kost-­‐gänger“  der  Privatwirtschaft.    

Dagegen  wird  das  in  letzter  Zeit  stark  ansteigende  Schuldenmachen  privater  Haushalte,  häufig  aus  blanker  Not  we-­‐gen  vorliegender  Arbeitslosigkeit,  so  gut  wie  überhaupt  nicht  kritisiert,  al-­‐lenfalls  bedauert.  (Prof.  Dr.  rer.  pol.  Heinz-­J.  Bontrup,  FH  Gel-­

senkirchen,  Sprecher  der  Arbeitsgruppe  Alternative  Wirtschaftspolitik:  Schriftliche  Stellungnahme  zur  Übertragung  der  vom  Bundestag  und  Bundesrat  beschlossenen  

und  grundgesetzlich  verankerten  Schulden-­regel  auf  das  Land  Nordrhein-­Westfalen)  

 

 

Page 27: Wir brauchen keine Schuldenbremse

25  

Thema 2: Argumente, Interessen und Ideologien Wir  setzen  uns  mit  gängigen  pro-­‐  und  contra  Argumenten  auseinander  und  fragen  nach  den  erkennbaren  Interessen  und  Ideologien,  sowie  nach  Erfahrungen  mit  Meinungsbildungsprozessen.  Im  ersten  Diskurs  knüpfen  wir  an  das  vergangene  Thema  an  und  erarbei-­‐teten  uns  einige  wichtige  Argumente  zu  pro  und  contra  von  „Schulden-­‐bremse“  und  „Schulden“.  Auf  dieser  Basis  sammeln  wir  Einschätzungen  zu  der  Frage:  

• Welche Interessen stecken hinter den Argumenten? Diese  Einschätzungen  sammeln  wir  an  einer  Wandzeitung,  die  uns  in  den  kommenden  Diskursen  begleiten  wird.  Der  zweite  Diskurs  widmet  sich  den  Interessen  und  Ideologien,  die  hinter  den  Forderungen  und  Argumenten  stecken.  Dabei  konzentrieren  wir  uns  auf  drei  Schwerpunkte  (bzw.  Schlagwörter),  die  die  öffentliche  Debatte  bestimmen:  

• Schuldenfalle: Schulden sind böse, Vermögen gut? • Generationengerechtigkeit: Sparen für die Enkel? • Eigenverantwortung: Selbst ist der Mann, die Frau, das Kind?

In  Arbeitsgruppen  bearbeiten  wir  jeweils  ein  Thema  und  präsentieren  es  im  Anschluß  im  Plenum.  Dort  diskutieren  wir  auch  über  die  Wirkung  die-­‐ser  Argumentationen  und  stellen  Analogien  zum  Alltagsdenken  der  Men-­‐schen  her.  Diese  Diskussion  führen  wir  weiter  zu  einer  Analyse  der  Me-­‐thoden,  mit  denen  die  Befürworter  einer  Schuldenbremse  ihre  Argumente  mehrheitsfähig  machen  wollen.  Dazu  betrachten  wird  folgende  Aspekte:  

• Mit welchen Mitteln und Methoden wird Meinungsbildung betrieben?

• Wer sind die Meinungsbildner… • …und wie erfolgreich sind sie (bisher)?

Im  dritten  Diskurs  bestimmen  wir  unsere  eigene  Position  im  Spannungs-­‐feld  zwischen  Solidarität  und  Eigenverantwortung  und  erarbeiten  uns  gu-­‐te  Argumente  zu  dieser  Debatte.  In  der  Abschlussdiskussion  sprechen  wir  über  konkrete  Beispiele,  wie  wir  unsere  Positionen  und  guten  Argumente  in  unserer  Umgebung  „platzie-­‐ren“  können.  Auch  am  Ende  dieses  Themas  gibt  es  einen  Hinweis  auf  Lesestoff  für  die  Zeit  bis  zum  nächsten  Treffen.  

Page 28: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 

 

Zeit  

    10  

      20  

    (30)  

  05  

                  20  

          10  

 

Material  

    M18-­‐20  

      A7  

                      M21-­‐22  

M23-­‐24  

M25-­‐26  

Methoden  

    Team

 eröffnet  mit  Beispielen  aus  der  

bisherigen  Diskussion.  

    Team

 moderiert  die  kurze  Diskussion  

und  sammelt  einige  Einschätzungen  an  

der  W

andzeitung.  

          Einleitung  durch  Team:  

Hinweise  auf  Arbeitsfragen  und  

exem

plarische  Argumente  bzw.  

auch  Material.  

    2er  oder  3er  Arbeitsgruppen  

AG-­Phase  

        Plenum

 

Inhalte  

Disk

urs 2

.1: P

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tra in

der D

ebat

te

  Wir  knüpfen  an  den  1.  Diskurs  an,  indem  

wir  uns  noch  einm

al  einige  pro  und  con-­‐

tra-­‐Argumente  vergegenw

ärtigen.  

  Frage:  Welche  Interessen  stecken  hinter  

den  Argumenten?  

Disk

urs 2

.2: S

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Enke

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die F

rau,

das K

ind?

  Wir  gehen  der  Frage  nach,  welche  Inter-­‐

essen  und  Ideologie  in  den  gängigen  

Argumenten  für/gegen  Schulden  er-­‐

kennbar  sind.  

    Arbeitsgruppen.  Frage:  

Welche  Interessen  sind  in  der  Argum

en-­‐

tation  erkennbar?  

Wie  schätzen  wir  die  Wirkungen  solcher  

Argumente  ein?  

  Kurze  Berichte/Präsentationen  der  AGs  

zu  ihren  Antworten  

Leitf

aden

für R

efer

entIn

nen

Ziele  

    Wir  haben  einige  wichtige  Argumente  zu  

pro  und  contra  von  „Schuldenbremse“  

und  „Schulden“  erarbeitet,  sowie  erste  

Einschätzungen  zu  den  Interessen  ge-­‐

sammelt.    

          Wir  sind  in  der  Lage,  die  pro-­‐  und  con-­‐

tra-­‐Debatte  zu  „Schulden“  zu  bewerten,  

indem  wir  Interessen  und  Ideologien  

zuordnen  können.  

    Wir  haben  beispielhafte  

Wirkungen  der  Argum

ente  und  Ideolo-­‐

gien  untersucht.  

 

Page 29: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 Zeit  

40  

                (75)    

10  

    05  

    40  

                    20  

  (75)  

  (180)  

Material  

          M28-­‐29  

 

          M30  

A8  

                  „Hausaufgabe“  

M27  

+  nicht  bearb.  

Materialien  

 

Methoden  

Team

 nimmt  Beispiele  aus  den  

Präsentationen  auf  und  moderiert  .  

      Team

 bringt  w

eitere  

Materialien  ein,  mit  denen  die  

Fragen  diskutiert  werden  können.  

   

    Team

 macht  die  Zusam

menfassung  als  

Einstieg  in  den  Diskurs  2.3.  

  TN  erhalten  ausgewählte  Positionen  und  

Argumente.  

Sie  bearbeiten  diese  in  Einzelarbeit  und  

präsentieren  ihre  Bewertung  anschlie-­‐

ßend  den  anderen  TN  

            Team

 moderiert  die  Abschlussdiskussi-­‐

on  und  verweist  auf  „Lesestoff  für  zu  

Hause“.  

 

Inhalte  

Diskussion  über  Interessen  und  Ideolo-­‐

gie,  „ideologische  Apparate“  und  die  

Meinungsbildung  zum  Thema  „Schul-­‐

den  und  Schuldenbrem

se“.  

  Fragen:  

Mit  welchen  Mitteln  und  Methoden  wird  

Meinungsbildung  betrieben  .  W

er  sind  die  

Meinungsbildner…  

…und  wie  erfolgreich  sind  sie  (bisher)?      

Disk

urs 2

.3: S

olid

aritä

t ver

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Eigen

vera

ntwo

rtung

Kurze  Zusammenfassung  wichtiger  Er-­‐

kenntnisse  aus  dem

 Diskurs  2.2.  

  Wir  erarbeiten  uns  „gute  Argum

ente“  

zum  Thema  Schulden/Sparen  und  der  

Debatte  um

 „Solidarität  oder  Eigenver-­‐

antwortung“  

Frage:  

Welche  Argumente  mache  ich  mir  zu  

eigen?  

Von  welchen  Argum

enten  verspreche  

ich  mir  eine  positive  Wirkung  in  meiner  

Umgebung?    

  Abschlussdiskussion:  

Gemeinsam

e  Beratung  von  Beispielen,  

wie  wir  unsere  Positionen  und  guten  

Argumente  in  unserer  Umgebung  „plat-­‐

zieren“  können  

Ziele  

      Wir  haben  uns  einen  ersten  Überblick  

über  „ideologische  Apparate“  und  die  

von  ihnen  gesteuerten  Meinungsbil-­‐

dungsprozesse  verschafft.  

          Pause  

    Wir  sind  in  der  Lage  erste  (vorläufige)  

Einschätzungen  zu  Konsequenzen  und    

eigenen  Erwartungen  zu  den  Wirkungen  

einer  Schuldenbremse  zu  

artikulieren  

         

Page 30: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

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Diskurs 2.1: Pro und contra in der Debatte  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

CDU zur Staatsverschuldung Wir  beenden  den  verhängnisvollen  Marsch  in  den  Schuldenstaat.  Wir  wer-­‐den  eine  ehrliche,  nachhaltige  Haus-­‐haltspolitik  betreiben,  die  uns,  unseren  Kindern  und  Enkeln  wieder  Chancen  für  eine  gute  Zukunft  sichert,  dem  Staat  seine  Handlungsfähigkeit  zurück  gibt  und  Raum  für  Zukunftsinvestitio-­‐nen  schafft.  Die  Ausgaben  des  Staates  müssen  sich  deshalb  wieder  nach  den  Einnahmen  richten  und  nicht  umge-­‐kehrt.  Die  Erfahrung  und  der  interna-­‐tionale  Vergleich  lehren:  Solide  Finan-­‐zen  sind  eine  dauerhafte  Grundlage  für  Arbeitsplätze  und  Wohlstand.  

(CDU/CSU:  Regierungsprogramm  2005-­2009,  Berlin,  11.07.05)  

FDP zur Staatsverschuldung Die  Konsolidierung  muss  von  der  Aus-­‐gabenseite  her  vorgenommen  werden.  Solide  Staatsfinanzen  sind  unabding-­‐bare  Voraussetzung  für  Geldwertstabi-­‐lität  und  wirtschaftliches  Wachstum.“    

(Beschluss  des  Präsidiums  der  FDP  2005:  10  Punkte  zur  Erneuerung  der  Sozialen  

Marktwirtschaft)  

Von armen und reichen Bürgern Der  SPD-­‐Fraktionschef  Klaus  Oester-­‐ling  ist  richtig  aufgebracht.  Als  "Pa-­‐nikmache"  und  "durchsichtigen  Bür-­‐gerverdummungsversuch"  hat  der  Vorsitzende  und  Finanzexperte  seiner  Römer-­‐Fraktion  die  derzeitige  Aktion  des  Bundes  der  Steuerzahler  in  Hessen  gegeißelt.  

Die  Lobby  der  Steuerzahler  tourt  näm-­‐lich  gerade  durch  Hessen,  um  den  Bür-­‐gern  ihre  so  genannte  Schuldenuhr  vorzuführen.  Auf  dieser  ist  abzulesen,  wie  hoch  die  Pro-­‐Kopf-­‐Verschuldung  auf  Bundes-­‐,  Landes-­‐  und  eben  auch  auf  kommunaler  Ebene  ist.  

Zwar  macht  der  Bund  erst  am  14.  Au-­‐gust  in  Frankfurt  Station.  Vorab  aber  hat  er  schon  mal  mitgeteilt,  dass  jeder  Frankfurter  mit  4430  Euro  enorm  hoch  verschuldet  sei.  Zugrunde  gelegt  wurden  dabei  offenbar  nicht  nur  die  direkten  Schulden  der  Stadt  (1,1  Milli-­‐arden  Euro),  sondern  auch  die  von  städtischen  Gesellschaften  und  Beteili-­‐gungen.  

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Bei  670.000  Einwohnern  kommt  der  Bund  dann  auf  einen  Gesamtschul-­‐denstand  von  rund  2,97  Milliarden  Euro.  Was  aber,  wie  nicht  nur  Oester-­‐ling  findet,  ganz  schön  unsinnig  sei.  So  habe  die  Stadt  derzeit  liquide  Mittel  von  mehr  als  einer  Milliarde.  Und  aus  dem  so  genannten  Sachanlagevermö-­‐gen  -­‐  Grundstücke,  Gebäude  sowie  Beteiligungen  an  Unternehmen  wie  Mainova,  Fraport,  Messe  und  andere  -­‐  erwächst  ein  Vermögen  von  niedrig  gerechnet  rund  zwölf  Milliarden  Euro.  

Jeder  Bürger  also  verfüge  nach  dem  Prinzip  des  Steuerzahlerbundes  über  ein  Pro-­‐Kopf-­‐Vermögen  von  18.000  Euro,  sagt  die  SPD.  

Leider  nur  theoretisch.  Dagegen  mach-­‐ten  sich  die  -­‐  ebenso  theoretischen  -­‐  Schulden  von  4430  Euro  gar  nicht  so  schlecht.  

(Frankfurter  Rundschau  vom  10.08.09)  

 

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Diskurs 2.2: Schulden sind böse, Vermögen gut?Der Schuldenverrechner Für  Fernsehjournalisten  ist  das  Ding  unbezahlbar.  Wann  immer  sie  eine  reißerische  Reportage  über  Alterung  und  die  Bürden  derselben  unter  die  Menschen  bringen  wollen,  schicken  sie  schnell  eine  Kamera  zum  Büro  des  Bundes  der  Steuerzahler  in  Berlin,  die  dort  ein  paar  Sekunden  lang  filmt,  wie  der  Schuldenrechner  der  öffentlichen  Hand  in  unglaublichem  Tempo  vor  sich  hin  rennt  und  das  ganze  Volk  früher  oder  später  ins  Verderben  stürzt.  Das  ZDF,  das  sich  in  wirtschaftlichen  Din-­‐gen  mit  dem  Tempo  des  Schulden-­‐rechners  der  Seriosität  der  Zeitung  mit  den  großen  Buchstaben  annähert,  hat  sich  mit  dieser  Art  der  Panikmache  in  den  letzten  Wochen  besonders  her-­‐vorgetan.    

Ja,  es  ist  wahr,  die  Schulden  des  Staates  in  Deutschland  steigen.  Betrachtet  man  nur  eine  Zeitlang  die  ganz  kleinen  Zah-­‐len  am  Ende  der  vielen  Milliarden,  die  sich  die  deutschen  Bürger  via  Staat  selbst  schulden,  dann  kann  einem  in  der  Tat  schwindelig  werden.  In  den  letzten  Jahren  stieg  die  Verschuldung  immer  in  einer  Größenordnung  von  

mindestens  50  Milliarden  jährlich,  macht  also  etwa  eine  Milliarde  pro  Woche,  den  Rest  erledigt  jeder  Ta-­‐schenrechner.    

Doch  ob  das  irgendeine  ökonomische  Bedeutung  hat,  fragt  niemand.  Wer  hat  dem  Staat  eigentlich  das  Geld  gegeben,  mit  Hilfe  dessen  er  sich  verschuldet?  Steigen  in  Deutschland  vielleicht  auch  die  Einkommen  von  Menschen,  die  so  hohe  Einkommen  haben,  dass  sie  zwanzig  Prozent  oder  mehr  ihres  lau-­‐fenden  Einkommens  sparen?  Müssten  nicht  diejenigen,  die  so  gerne  den  Schuldenrechner  zeigen,  fordern,  die  Gruppen  der  Gesellschaft,  die  enorm  hohe  Ersparnisse  haben,  so  zu  besteu-­‐ern,  dass  sie  einen  größeren  Teil  der  allgemeinen  Lasten  tragen,  statt  genau  für  diese  Gruppe,  wie  in  den  letzten  Jahren  in  großem  Stil  geschehen,  dau-­‐ernd  die  Steuern  zu  senken?    

Deutschland  hatte  im  vergangenen  Jahr  die  niedrigste  Steuerquote  aller  Zeiten.  Warum  wird  gerade  da  der  Schuldenrechner  so  häufig  bemüht,  statt  zu  sagen,  es  könne  etwas  im  Lan-­‐de  nicht  in  Ordnung  sein,  wenn  der  Staat  so  große  Aufgaben  hat,  sich  aber  

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ausgerechnet  die  Wohlhabenden  im  Land  nicht  mehr  an  deren  Finanzie-­‐rung  beteiligen  wollen.    

Perfide  wird  die  Sache  aber  dadurch,  dass  man  die  einzige  Art  und  Weise,  wie  der  Staat  das  Geld  auf  Zeit  von  denen  zurückholen  kann,  auf  das  er  durch  seine  Steuersenkung  verzichtet  hat,  mit  Mitteln  wie  der  Schuldenuhr  verteufelt.  Dann  bleibt  „natürlich“  nur  die  Lösung,  die  kleinen  Leute  via  Kür-­‐zung  des  Sozialhaushalts  dafür  sorgen  zu  lassen,  dass  der  Staat  die  zukünfti-­‐gen  Generationen  nicht  belastet  wer-­‐den.    

Die  Schuldenrechnerei  ist  auch  deswe-­‐gen  besonders  dümmlich,  weil  man  ja  nur  eine  Uhr  daneben  stellen  müsste,  die  die  Einkommen  zählt,  die  dem  Staat  in  den  letzten  Jahren  durch  seine  unverantwortliche  Steuersenkungspo-­‐litik  entgangen  sind,  und  schon  würde  das  Tempo  der  Uhr  erheblich  relati-­‐viert.  Man  könnte  sich  auch  eine  Uhr  denken,  die  zählt  wie  viel  Geld  der  Staat  in  die  Vereinigung  mit  Ost-­‐deutschland  gesteckt  hat  und  das  zum  größten  Teil  deswegen  nicht  über  Steuereinnahmen  finanziert  wurde,  weil  die  damals  und  heute  herrschen-­‐de  Oberschicht  sich  mit  Händen  und    

Füßen  und  schlimmeren  Instrumenten  dagegen  gewehrt  hat,  auch  nur  über  höhere  Steuern  für  die  Solidarität  mit  Ostdeutschland  nachzudenken.    

Das  Beste  wäre  aber,  neben  die  Schul-­‐denuhr  eine  Uhr  zu  stellen,  die  den  Vermögenszuwachs  in  jeder  Sekunde  in  Deutschland  misst.  Unsere  Topma-­‐nager  wissen  doch  sonst  so  genau,  dass  man  die  Höhe  von  Schulden  im-­‐mer  bewerten  muss  vor  dem  Hinter-­‐grund  der  vorhandenen  Vermögens-­‐werte.    

Dann  würden  die  staunenden  Fern-­‐sehzuschauer  oder  die  staunenden  Touristen  vor  dem  Büro  des  Steuer-­‐zahlerbundes  in  Berlin  aber  sehen,  dass  die  Vermögensuhr  viel  schneller  läuft  als  die  Schuldenuhr  und  würden  sich  vielleicht  fragen,  wieso  das  bei  ihnen  persönlich  eigentlich  nicht  der  Fall  ist.    

Dann  würden  die  Leute  vielleicht  auch  fragen,  was  denn  mit  den  Vermögen  geschieht  und  warum  die  berühmten  „Leistungsträger“,  die  den  Staat  über  Jahre  gedrängt  haben,  Steuern  für  sie  zu  senken,  damit  sie  mehr  leisten  kön-­‐nen,  nun  dem  Staat  das  Geld  in  Form  von  Staatsanleihen  zurückgeben.    

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Viele  von  denjenigen,  die  vom  Staat  in  den  vergangenen  Jahren  so  großzügig  bedacht  wurden,  haben  offenbar  gar  nicht  gewusst,  was  sie  mit  dem  Geld  machen  sollen,  das  da  so  unverhofft  in  ihre  Taschen  gespült  wurde.    

(Heiner  Flassbeck  in  der  FR  v.  17.02.07)  

Über den volkswirtschaftlichen Begriff der „Verschuldung“ 1.  Staatsverschuldung  ist  seit  langem  in  der  Wirtschaftswissenschaft  ein  strittiges  Thema.  Trotz  der  allgemei-­‐nen  Bedeutung  des  Kredits  für  die  Wirtschaft  und  ihre  Entwicklung.    

2.  Ohne  die  Staatsschuld  hätten  die  privaten  Haushalte  nicht  die  in  der  Vergangenheit  realisierten  Finanzie-­‐rungs-­‐  und  Vermögensüberschüsse  erzielen  können.    

3.  Ursache  der  Staatsverschuldung  ist  grundsätzlich  eine  instabile  Wirtschaft,  die  auf  dem  Konkurrenz-­‐  und  Profit-­‐prinzip  basiert  und  Arbeitslosigkeit  verursacht.  Hinzu  kommt  der  Sonder-­‐fall  der  deutschen  Wiedervereinigung  aber  auch  ein  tendenziell  nachlassen-­‐des  Wirtschaftswachstum  in  Verbin-­‐dung  mit  einer  falschen  staatlichen  Einnahmen-­‐  und  Ausgabenpolitik.    

4.  Absolute  staatliche  Verschuldungs-­‐grenzen  existieren  für  Volkswirtschaf-­‐ten  nicht  und  auch  ein  Verschuldungs-­‐optimum  lässt  sich  nicht  exakt  definie-­‐ren.    

5.  Die  relativen  Verschuldungsgrößen  haben  sowohl  in  Deutschland  als  auch  in  NRW  zugenommen.  Von  einem  dramatischen  Anstieg  kann  allerdings  nicht  gesprochen  werden.  Problema-­‐tisch  sind  aber  die  beträchtlich  hohen  Zinszahlungen,  weil  sie  den  politischen  Handlungsspielraum  für  konsumtive  und  investive  Ausgaben  des  Staates  einschränken.    

6.  Die  staatlichen  Zinsbelastungen  ha-­‐ben  nicht  nur  einen  Opportunitätscha-­‐rakter,  sondern  implizieren  auch  Um-­‐verteilungen  von  unten  nach  oben.  Hierfür  ist  aber  nicht  die  Staatsver-­‐schuldung  verantwortlich,  sondern  die  ungleiche  primäre  und  sekundäre  Ein-­‐kommens-­‐  und  Vermögensverteilung.  

7.  Auch  künftige  Generationen  sind  Nutznießer  von  heute  kreditfinanzier-­‐ten  staatlichen  Investitionen.  Eine  an  der  „Goldenen  Verschuldungsregel“  ausgerichtete  Kreditaufnahme  mit  einem  erweiterten  Investitionsbegriff  hinsichtlich  staatlicher  Bildungsausga-­‐ben  ist  daher  sinnvoll.  

8.  Durch  die  auf  die  EZB  übergegange-­‐ne  Geldpolitik  sind  die  wirtschaftspoli-­‐tischen  Möglichkeiten  eingeengt  wor-­‐den,  um  auf  marktwirtschaftlich  im-­‐manente  Wirtschaftskrisen  zu  reagie-­‐ren.  Die  „Schuldenbremse“  schwächt  zusätzlich  die  fiskalpolitischen  Mög-­‐lichkeiten  des  Staates.  Antizyklische  Fiskalpolitik  ist  so  kaum  noch  möglich  und  endet  womöglich  in  einer  pro-­‐zyklischen  Krisenverschärfung  mit  noch  weiterer  Verschuldung.  

9.  Auch  kommt  es  durch  die  „Schul-­‐denbremse“  zu  einer  Finanzierung  ausländischer  Staaten  durch  inländi-­‐sche  Sparer.  Dies  führt  bei  eskalieren-­‐den  Exportüberschüssen  zu  schärferen  internationalen  Widersprüchen.  Ande-­‐rerseits  ist  der  Staat  nicht  nur  bei  in-­‐ländischen  Gläubigern,  sondern  auch  im  Ausland  verschuldet.  

10.  Die  weltweite  Finanz-­‐  und  Wirt-­‐schaftskrise  wird  die  Staatsverschul-­‐dung  in  Deutschland  noch  einmal  kräf-­‐tig  ansteigen  lassen.  Zu  diesem  Schul-­‐denanstieg  gibt  es  aber  keine  Alterna-­‐tive,  weil  es  ansonsten  zu  einer  ver-­‐heerenden  krisenverschärfenden  (pro-­‐zyklischen)  Wirkung  kommen  würde.  

11.  Bei  Umsetzung  der  „Schulden-­‐bremse“  sind  drastische  Steuererhö-­‐hungen  unvermeidbar.  Käme  es  dage-­‐gen  zu  Staatsausgabensenkungen  würde  unser  Land  großen  Schaden  nehmen.  (Prof.  Dr.  rer.  pol.  Heinz-­J.  Bontrup,  FH  Gel-­

senkirchen,  Sprecher  der  Arbeitsgruppe  Alternative  Wirtschaftspolitik:  Schriftliche  Stellungnahme  zur  Übertragung  der  vom  Bundestag  und  Bundesrat  beschlossenen  

und  grundgesetzlich  verankerten  Schulden-­regel  auf  das  Land  Nordrhein-­Westfalen.  Anhörung  im  Haushalts-­  und  Finanzaus-­

schuss  am  17.09.09  in  Düsseldorf)  

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Zur ökonomischen Funktion der öffentlichen Kreditaufnahme (1)  Während  die  Geldvermögensbil-­‐dung  der  privaten  Haushalte  auch  in  der  aktuellen  Krise  ansteigt,  jedoch  die  Unternehmen  diese  nicht  durch  aus-­‐reichende  Aufnahme  von  Krediten  abschöpfen,  muss  der  Staat  als  Lüc-­‐kenbüßer  dafür  sorgen,  über  schulden-­‐finanzierte  Ausgaben  effektive  Nach-­‐frage  für  die  Wirtschaft  zu  schaffen.  Dieser  Logik  folgt  ansatzweise  die  Bundesregierung  mit  ihrem  Konjunk-­‐turprogramm  II.  Entscheidend  ist  je-­‐doch,  dass  damit  das  Wirtschaftswach-­‐stum  auch  steigt  und  schließlich  die  Steuereinnahmen  zunehmen  (Selbstfi-­‐nanzierungseffekt).    

(2)  Fluch  oder  Segen  der  Staatsver-­‐schuldung  entscheidet  sich  mit  der  Art,  wofür  diese  geliehenen  Finanzmittel  verwendet  werden.  Wenn  beispiels-­‐weise  Investitionen  in  Bildung  und  die  ökologische  Infrastruktur  finanziert  werden,  profitieren  künftige  Genera-­‐tionen  von  besseren  Lebens-­‐  und  Pro-­‐duktionsbedingungen.  Da  ist  doch  die  Frage  erlaubt,  ob  künftige  Generatio-­‐nen  über  die  Zahlung  von  Zinsen  an  der  Finanzierung  beteiligt  werden  soll-­‐ten.  Schließlich  werden  nicht  nur  die  Schulden,  sondern  Vermögen  etwa  in  Form  von  Staatsanleihen  im  Eigentum  von  privaten  Haushalten  vererbt.    (Rudolf  Hickel,  Tagesspiegel  vom  14.06.09)  

Geldnot der Bundesländer - die Schuld der Schuldenbremse Angela  Merkel  gegen  Peter  Harry  Car-­‐stensen,  Guido  Westerwelle  kontra  Wolfgang  Kubicki,  Union  gegen  Union,  FDP  gegen  FDP:  Man  kann  den  Steuer-­‐konflikt  zwischen  Bund  und  Ländern  als  einen  peinlichen  Familienstreit  beschreiben,  der  nach  außen  getragen  wird.  Aber  bei  dem  Gezerre  geht  es  um  mehr  als  Gezänk.  Die  Härte  der  Aus-­‐einandersetzung  lässt  sich  nur  verste-­‐hen,  wenn  man  die  Nöte  der  Bundes-­‐länder  in  den  Blick  nimmt.  

Die  Kompromisslosigkeit  des  freundli-­‐chen  Christdemokraten  Carstensen,  die  Renitenz  der  Sachsen-­‐CDU  und  das  Grummeln  der  anderen  erklärt  sich  durch  die  Zwänge  der  Schuldenbrem-­‐

se,  die  Union  und  SPD  im  Frühsommer  ins  Grundgesetz  hineingeschrieben  haben.  Diese  neue  Defizitgrenze,  von  vielen  sträflich  unterschätzt,  bestimmt  schon  heute  die  politische  Auseinan-­‐dersetzung.  

Formal  lässt  sie  den  Ländern  bis  2020  Zeit,  die  Haushalte  auszugleichen.  Erst  dann  dürfen  sie  nur  noch  im  Ab-­‐schwung  Kredite  aufnehmen.  Erst  dann  müssen  strukturelle  Defizite,  die  unabhängig  von  der  Konjunktur  auf-­‐treten,  verschwunden  sein.  Der  Weg  dorthin  ist  jedoch  so  weit  und  schwer,  dass  jede  Landesregierung  jetzt  star-­‐ten  muss.  Was  die  Schuldenbremse  in  der  Praxis  bedeutet,  hat  das  Düssel-­‐dorfer  Institut  für  Makroökonomie  und  Konjunkturforschung  am  Beispiel  zweier  Länder  durchgerechnet.  Dem-­‐nach  plagt  Schleswig-­‐Holstein  ein  strukturelles  Defizit  von  rund  1,5  Mil-­‐liarden  Euro,  das  in  der  nächsten  De-­‐kade  verschwinden  muss.  Bei  einem  Haushaltsvolumen  von  zwölf  Milliar-­‐den  Euro  folge  daraus  ein  "giganti-­‐scher  Konsolidierungsbedarf",  so  das  IMK.  Strukturell  heißt,  dass  die  Lücke  auch  im  Aufschwung  nicht  kleiner  wird.  Vielmehr  muss  Kiel  selbst  dann  bei  Lehrern  und  Polizei  sparen,  wenn  die  Wirtschaft  wieder  ins  Laufen  kommen  sollte.  Zwischen  1990  und  2008  erhöhte  das  Land  die  Ausgaben  im  Schnitt  um  2,1  Prozent  pro  Jahr.  Selbst  bei  guter  Konjunktur  müssten  künftige  Regierungen  den  Anstieg  mehr  als  halbieren  auf  1,0  Prozent  pro  Jahr.  Im  Verhältnis  zum  Bruttoin-­‐landsprodukt  müsste  der  Staatssektor  deutlich  schrumpfen.  

Kaum  besser  sieht  es  an  Rhein  und  Ruhr  aus.  Düsseldorf  müsste  laut  IMK  rund  fünf  Milliarden  aus  einem  Haus-­‐halt  von  53  Milliarden  herausschnei-­‐den,  um  2020  auf  die  Null  zu  kommen.  Auch  in  Nordrhein-­‐Westfalen  müsste  der  Staatsanteil  an  der  Wirtschaftslei-­‐stung  daher  zurückgehen.  

Zwischen  den  Ländern  sind  die  Unter-­‐schiede  groß.  Im  Süden  und  Westen  mit  starker  Wirtschaftskraft  geht  es  besser  als  im  Norden  und  Osten  mit  geringem  Steueraufkommen.  Aber  die  Geldnot  ist  flächendeckend.  Überall  stecken  die  Länder  in  der  Klemme  mit  

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Haushaltslöchern  und  steigenden  An-­‐forderungen  etwa  im  Bildungssektor  auf  der  einen  und  der  Schuldenbremse  auf  der  anderen  Seite.  Sie  haben  früh  gewarnt.  In  einer  Erklärung  während  der  Koalitionsverhandlungen  appel-­‐lierten  alle  haushalts-­‐  und  finanzpoliti-­‐schen  Sprecher  der  Union  in  den  Län-­‐dern  an  "die  Verantwortung  des  Bun-­‐des,  die  Konsolidierungsbemühungen  in  den  Ländern  nicht  durch  zusätzliche  Einnahmeausfälle  zu  erschweren".  Der  Aufruf  verhallte  ungehört.  Dafür  ist  der  Aufschrei  jetzt  nicht  mehr  zu  überhö-­‐ren.  

(Markus  Sievers,  Frankfurter  Rundschau,  15.12.09)  

Schuldenbremse erhöht die Risiken der Finanzwirtschaft Würde  die  Schuldenbremse  in  der  ge-­‐genwärtigen  Form  langfristig  erfolg-­‐reich  angewendet,  sänke  die  Staatsver-­‐schuldung  bei  einem  angenommenen  durchschnittlichen  Wachstum  des  no-­‐minalen  BIP  von  3  %  pro  Jahr  im  Durchschnitt  der  Jahre  auf  gerade  einmal  11,7  %.  Damit  fiele  der  Staat  als  sog.  bester  Schuldner  weitgehend  aus.  Dies  hätte  weit  reichende  Konsequen-­‐zen  für  Kapitalanleger,  die  wie  z.B.  Lebens-­‐  oder  Kapital  gedeckte  Renten  

versicherungen  einen  hohen  Anteil  sicherer  Anlagen  in  ihrem  Portefeuille  benötigen.  Ihre  Nachfrage  könnte  auf  dem  nationalen  Markt  nicht  mehr  be-­‐friedigt  werden,  sie  wären  gezwungen  entweder  in  Anleihen  anderer  Staaten  zu  investieren  oder,  wenn  diese  die  gleiche  Strategie  wie  die  Bundesrepu-­‐blik  verfolgten,  in  riskantere  Anlagen.  Damit  würde  aber  das  Renditerisiko  von  Lebens-­‐  und  Kapital  gedeckten  Rentenversicherungen  merklich  stei-­‐gen.  

(ver.di  Tagung  zur  „Schuldenbremse“  am  16.04.09  in  Berlin.  Referat  von  Prof.  Dr.  

Gustav  Horn)  

Denkfehler: Wir werden immer älter. Der Generationenvertrag trägt nicht mehr. Macht  es  Sinn,  von  Überalterung  oder  gar  von  Vergreisung  zu  sprechen?  Wir  haben  auch  in  der  Vergangenheit  Alte-­‐rungsprozesse  erlebt,  ohne  dass  das  Land  darunter  zu  leiden  hatte:  1950  betrug  der  Anteil  der  unter  Zwanzig-­‐jährigen  30,5  Prozent  der  gesamten  Bevölkerung.  1995  stellte  diese  Alters-­‐gruppe  nur  noch  21,6  Prozent.  In  die-­‐sen  45  Jahren  hat  also  eine  dramati-­‐sche  »Vergreisung«  stattgefunden.  Hat  das  jemand  gemerkt?

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...  Das  Zahlenverhältnis  von  älterer  zu  mittlerer  Generation  hat  sich  im  Zeit-­‐ablauf  sehr  verändert.  ...  Unser  Land  erlebte  demnach  einen  ständigen  Alte-­‐rungsprozess  mit  besonderer  Talfahrt  bis  1960.  Im  Jahr  1900  kamen  auf  ei-­‐nen  alten  Menschen  12,4  Personen  mittleren  Alters.  Im  Jahr  1960  waren  es  weniger  als  die  Hälfte:  nur  noch  5,8.  Eine  dramatische  Entwicklung.  Hat  sich  damals  jemand  aufgeregt?  Und  ist  die  neueste  Entwicklung  angesichts  dieser  Geschichte  wirklich  so  ein-­‐schneidend?  

...  Heute  redet  man  von  einem  Verlust  von  Dynamik,  nur  weil  der  Anteil  der  Älteren  steigt.  So  zu  empfinden  und  daraus  auch  noch  ein  Thema  von  an-­‐geblicher  politischer  Relevanz  zu  ma-­‐chen,  lässt  tief  blicken.  In  den  Reihen  unserer  Meinungsführer  herrscht  eine  eigenartige  Lust  auf  Hysterie.  Oder  dient  ein  solcher  dramatisierender  Sprachgebrauch  nur  der  Entschuldi-­‐gung  und  der  Abschiebung  von  Ver-­‐antwortung  nach  dem  Motto:  Was  kann  die  Politik  schon  dafür,  wenn  die  Menschen  keine  Kinder  mehr  bekom-­‐men?  Wer  sich  angesichts  von  über  4  Millionen  Arbeitslosen  mit  solchen  Fragen  beschäftigt,  der  ist  unterbe-­‐schäftigt  oder  weiß  zumindest  nicht,  Prioritäten  zu  setzen.  

...  Um  die  Dramatik  so  richtig  anzu-­‐schärfen,  wird  in  die  Debatte  meist  das  Verhältnis  von  arbeitsfähiger  Genera-­‐tion  zur  Rentnergeneration  eingeführt  –  der  Altenquotient,  populär  gesagt:  die  Alterslast.  Diese  Relation  verände-­‐re  sich  dramatisch.  Auf  100  Menschen  mittleren  Alters,  also  zwischen  zwan-­‐zig  und  sechzig  Jahren,  die  man  für  die  arbeitsfähige  Generation  hält,  kommen  nach  der  Prognose  des  Statistischen  Bundesamts  im  Jahre  2001  44  Ältere  und  im  Jahre  2050  78  ältere  Menschen  im  Rentenalter.  Man  tut  so,  als  ändere  sich  in  diesem  langen  Zeitraum  sonst  nichts  und  als  sei  eine  Berechnung,  die  sich  allein  auf  die  Älteren  bezieht,  aus-­‐sagekräftig.  Das  ist  nicht  der  Fall.  Wenn  man  die  Belastung  der  Arbeits-­‐fähigen  korrekt  erahnen  will,  darf  man  nicht  nur  die  auszuhaltende  Rentner-­‐generation  in  Rechnung  stellen,  son-­‐dern  muss  auch  mit  einbeziehen,  wie  

viele  Jugendliche  und  Kinder  zu  ver-­‐sorgen  sind.  Auskunft  darüber  gibt  der  sogenannte  Jugendquotient.  Wenn  man  die  Entwicklung  beider  Bela-­‐stungsfaktoren  zusammen  im  Zeitab-­‐lauf  betrachtet,  wird  selbst  unter  den  für  die  Prognose  angenommenen  Be-­‐dingungen  (also  unter  der  Annahme,  dass  sich  weder  Geburtenrate  noch  Ruhestandseintrittsalter  ändert)  bis  zum  Jahr  2050  die  Dramatik  enorm  entschärft:  Während  der  Altenquotient  um  77  Prozent  steigt,  ergibt  sich  für  den  Gesamtquotienten  ein  Plus  von  37  Prozent.  (Auszug  aus  „Die  Reformlüge.  40  Denkfeh-­

ler,  Mythen  und  Legenden,  mit  denen  Politik  und  Wirtschaft  Deutschland  ruinieren“,  

München  2004)  

Sachzwang Demografie? Richtig  ist  zunächst  einmal,  dass  der  Anteil  der  älteren  Menschen  an  der  Gesamtbevölkerung  aufgrund  einer  steigenden  Lebenserwartung  und  sin-­‐kender  Geburtenraten  in  den  letzten  Jahrzehnten  stark  gewachsen  ist.  Geht  man  davon  aus,  dass  eine  ähnliche  Entwicklung  auch  in  den  nächsten  Jahrzehnten  anhalten  wird,  dann  wer-­‐den  auf  100  Menschen  mittleren  Alters  (Personen  im  Alter  zwischen  15  und  65)  etwa  51  statt  heute  26  Ältere  (Per-­‐sonen  im  Alter  ab  65  Jahren)  kommen.  Allerdings  sind  ältere  Menschen  nicht  die  einzigen,  die  auf  die  gesellschaftli-­‐che  Unterstützung  angewiesen  sind,  denn  auch  Kinder  und  Jugendliche  müssen  von  der  Gesellschaft  versorgt  werden.  Eine  seriöse  Analyse  der  de-­‐mografischen  Entwicklung  muss  auch  diese  Menschen  als  gesellschaftliche  „Belastungsfaktoren“  einbeziehen.  Das  Statistische  Bundesamt  geht  davon  aus,  dass  die  Zahl  der  Kinder  und  Ju-­‐gendlichen  (Personen  im  Alter  bis  15  Jahren)  von  heute  22  pro  100  Men-­‐schen  mittleren  Alters  bis  2050  auf  20  sinkt  (so  genannter  Jugendquotient).  Berücksichtigt  man  diese  Werte,  so  relativieren  sich  die  obigen  Zahlen:  Auf  100  Menschen  mittleren  Alters  kom-­‐men  im  Jahr  2050  zwar  71  zu  versor-­‐gende  ältere  und  jüngere  Menschen,  heute  sind  es  allerdings  auch  schon  48.  

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Die  Zahl  der  zu  versorgenden  Perso-­‐nen  –  ältere  und  junge  –  wächst  also  bei  Weitem  nicht  so  schnell,  wie  dies  suggeriert  wird,  wenn  ausschließlich  die  Versorgungslasten  für  ältere  Men-­‐schen  zu  Grunde  gelegt  werden.  (Kai  Eicker-­Wolf:  DGB-­Argumentationshilfe,  

2009)  

Die unsoziale Verteilungswirkung der Staatsverschuldung Die  Staatsverschuldung  ist  Folge  so-­‐wohl  der  unsachgemäßen  Steuersen-­‐kungen  als  auch  der  durch  die  Arbeits-­‐losigkeit  bedingten  Einnahmeausfälle  einerseits  und  höherer  Transferausga-­‐ben  andererseits.    

Die  popularisierte  Meinung,  die  Staatsverschuldung  belaste  die  kom-­‐mende  Generation  ist  irreführend.  Erstens  kommt  es  auf  die  Verwendung  der  Kredite  an.  Wenn  sie  für  Infra-­‐struktur  (Schulen,  Universitäten,  Stra-­‐ßen  etc.)  ausgegeben  werden,  so  wächst  der  der  kommenden  Generati-­‐on  vererbte  Kapitalstock,  d.  h.  sie  übernimmt  ein  entsprechend  wertvol-­‐leres  Realvermögen.  

Zweitens  stellt  die  Staatsschuld  eine  Verschuldung  der  Gesellschaft  an  sich  selbst  dar.  Die  Schuldtitel  werden  an  die  nächste  Generation  vererbt,  d.  h.  dem  Schuldner  Staat  stehen  die  priva-­‐

ten  Gläubiger  gegenüber,  die  von  ihren  Eltern  Wertpapiere  geerbt  haben.  Drit-­‐tens  sind  die  realen  Produktionslei-­‐stungen,  die  von  den  öffentlichen  Hän-­‐den  (aus  Steuern  oder  Krediten  finan-­‐ziert)  heute  nachgefragt  werden,  auch  von  den  heute  lebenden  Arbeitskräften  zu  produzieren.  

Sollte  etwa  darauf  verzichtet  werden,  Straßen  zu  bauen  und  statt  dessen  noch  mehr  Bauarbeiter  arbeitslos  zu  lassen?  Viertens  liegt  die  Problematik  der  Staatsverschuldung  nicht  in  einer  unfairen  Belastung  der  künftigen  Ge-­‐neration,  sondern  in  der  unsozialen  Verteilungswirkung:  die  Zinsen  gehen  an  relativ  wenige,  die  in  der  Lage  sind,  staatliche  Schuldtitel  zu  erwerben,  aber  bezahlt  werden  die  Zinsen  aus  dem  allgemeinen  Steueraufkommen,  also  von  Arm  und  Reich  zugleich.  (Das  Leiden  an  der  Ökonomie  ohne  Mensch-­

lichkeit  –  Mythos  und  Krise:  warum  die  reiche  Gesellschaft  Armut  und  Arbeitslosig-­

keit  produziert  und  was  dagegen  zu  tun  wäre.  Karl  Georg  Zinn,  2005)  

Westerwelle: An die deutsche Mittelschicht denkt niemand Die  Diskussion  nach  der  Karlsruher  Hartz-­‐IV-­‐Entscheidung  hat  sozialisti-­‐sche  Züge.  Debattiert  wird  die  Frage:  Wer  bekommt  mehr?  „Staatliche  Lei-­‐stungen“  nennt  man  diese  Zahlungen.  

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Dabei  sind  es  Leistungen  des  Steuer-­‐zahlers,  die  der  Staat  verteilt.  Wie  in  einem  pawlowschen  Reflex  wird  geru-­‐fen,  jetzt  könne  es  erst  recht  keine  Ent-­‐lastung  der  Bürger  mehr  geben,  das  Geld  brauche  man  für  höhere  Hartz-­‐IV-­‐Sätze.  

Es  scheint  in  Deutschland  nur  noch  Bezieher  von  Steuergeld  zu  geben,  aber  niemanden,  der  das  alles  erarbei-­‐tet.  Empfänger  sind  in  aller  Munde,  doch  die,  die  alles  bezahlen,  finden  kaum  Beachtung.    

Die  Mittelschicht  in  Deutschland  ist  in  den  vergangenen  zehn  Jahren  von  zwei  Dritteln  auf  noch  gut  die  Hälfte  der  Gesellschaft  geschrumpft.  Damit  bröc-­‐kelt  die  Brücke  zwischen  Arm  und  Reich.  ...  

Zu  lange  haben  wir  in  Deutschland  die  Verteilung  optimiert  und  darüber  ver-­‐gessen,  wo  Wohlstand  herkommt.  Lei-­‐stungsgerechtigkeit  ist  mehr  als  Steu-­‐ertechnik  –  Leistungsgerechtigkeit  ist  ein  Gesellschaftsbild.    

Bei  fairen  Steuern  genau  wie  bei  Auf-­‐stiegschancen  durch  ein  durchlässiges  Bildungssystem  muss  die  Mitte  unse-­‐rer  Gesellschaft  wieder  in  den  Mittel-­‐punkt  der  Politik  rücken.  

Dieses  Umsteuern  ist  für  mich  der  Kern  der  geistig-­‐politischen  Wende,  die  ich  nach  der  Diskussion  über  die  Karlsruher  Entscheidung  für  nötiger  halte  denn  je.  

(Guido  Westerwelle  am  11.02.10  in  der  Tageszeitung  „Die  Welt“)  

Schäuble: Die Bürger auf Kürzungen vorbereiten Wir  befinden  uns  im  Jahre  2010  immer  noch  in  der  schwierigsten  Wirtschafts-­‐krise  der  Nachkriegszeit.    

Deshalb  war  und  ist  es  richtig,  in  die-­‐sem  Jahr  nicht  in  die  Krise  hinein  zu  sparen,  sondern  zu  investieren  und  die  steuerlichen  Belastungen  zu  senken,  um  Wachstumsimpulse  zu  setzen.  Wenn  wir  aus  der  Krise  herauskom-­‐men  wollen,  dann  müssen  wir  in  die-­‐sem  Jahr  ein  schmerzhaft  hohes  Defizit  von  86  Milliarden  Euro  hinnehmen.    

Sobald  die  Krise  allerdings  vorüber  ist,  müssen  wir  ab  2011  mit  der  Rückfüh-­‐rung  dieses  Defizits  beginnen.    

Das  allein  wird  schwierige  Sparmaß-­‐nahmen  zur  Folge  haben,  für  die  wir  Akzeptanz  in  der  Bevölkerung  schaffen  müssen.    

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Jeder  muss  wissen,  dass  wir  darüber  hinaus  2011  weitere  Impulse  für  mehr  Wachstum  durch  Steuersenkungen  nur  dann  setzen  können,  wenn  wir  auf  der  Ausgabenseite  entsprechend  einspa-­‐ren.    (Interview  mit  Wolfgang  Schäuble,  Bundes-­finanzminister,  Tagesspiegel  vom  10.01.10)  

Löhne müssen die Existenz sichern können Aus  einem  Interview  mit  Dr.  Hans-­‐Jürgen  Urban,  geschäftsführendes  Vor-­‐standsmitglied  der  IG  Metall:  

Was  hältst  Du  vom  neuen  Sozialstaats-­papier  der  FDP?    

...  Zum  einen  stimmt  die  Richtung  nicht.  Die  FDP  geht  nach  wie  vor  davon  aus,  dass  die  Arbeitslosen-­‐  und  nicht  die  Arbeitslosigkeit  das  Problem  ist.  Wer,  wie  Lindner,  der  Agenda  2010  einen  Erneuerungsimpuls  zuspricht  ,  und  nun  einen  zweiten  Anlauf  fordert,  beschleunigt  den  Weg  in  die  Sackgas-­‐se.  Zum  anderen:  Wer  eine  Neuord-­‐nung  der  Grundsicherung  fordert,  aber  nicht  deutlich  macht,  wie  hoch  die  Re-­‐gelsätze  und  wie  hoch  die  zu  pauscha-­‐lierenden  Kosten  der  Unterkunft  sein  sollen,  drückt  sich  um  die  Kernfragen  zur  Grundsicherung  herum.  Wenn  alle  Veränderungen  letztlich  kostenneutral  

sein  sollen,    stellt  sich  zudem  die  Frage,  in  welchen  Bereichen  die  FDP  kürzen  will.  Auch  hierzu  fehlen  klare  Äuße-­‐rungen.      

Im  Papier  wird  unter  anderem  eine  Anhebung  der  Hinzuverdienstgrenzen  für  Hartz  IV-­  Empfänger  gefordert.  Auf  den  ersten  Blick  erscheint  das  vorteil-­haft.  Warum  sollte  das  nicht  so  sein?    

Die  geltenden  Hinzuverdienst-­‐Regelungen  führen  dazu,  dass  Hartz  IV-­‐Empfänger  oftmals  nur  einen  klei-­‐nen  Teil  ihres  Hinzuverdienten  behal-­‐ten  können.  Eine  Anhebung  der  Hinzu-­‐verdienstgrenzen  scheint  daher  auf  den  ersten  Blick  für  betroffene  Alg  II-­‐Bezieherinnen  und  -­‐Bezieher  in  der  Tat  attraktiv.  Die  FDP-­‐Vorschläge  beinhalten  aber  nicht  die  Perspektive,  die  Menschen  in  existenzsichernde  Beschäftigung  zu  vermitteln.  Arbeitge-­‐ber  werden  zudem  davon  entbunden,  existenzsichernde  Löhne  zu  zahlen.  Niedriglöhne  -­‐  gerade  auch  im  Voll-­‐zeitbereich  -­‐  werden  so  dauerhaft  auf  Kosten  der  Öffentlichen  Hand  subven-­‐tioniert  und  Arbeitgeber  werden  ent-­‐lastet.      

Die  FDP  sieht  auch  die  Schwarzarbeit  kritisch  und  will  sie  bekämpfen.  Welche  Vorschläge  werden  gemacht  und  wie  steht  die  IG  Metall  dazu?    

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Dieses  Ziel  wird  von  der  IG  Metall  un-­‐terstützt.  Die  FDP  unterschlägt  aber,  dass  ihre  Politik  der  Lohnspreizung  und  des  Niedriglohns  dazu  geführt  hat,  dass  immer  mehr  Menschen  Schwarz-­‐arbeit  verrichten,  weil  sie  keinen  exi-­‐stenzsichernden  Lohn  mehr  erhalten.  Überdies  müsste  eine  wirksame  Politik  gegen  Schwarzarbeit  die  Arbeitgeber  ins  Visier  nehmen,  die  systematisch  und  in  krimineller  Weise  Schwarzar-­‐beit  gefördert  und  betrieben  haben.      

Als  weiteren  Punkt  hat  das  Papier  die  Verbesserung  der  Vermittlung  von  Ar-­beitslosen  zum  Gegenstand.  Dabei  wird  der  Grundsatz  "Keine  Leistung  ohne  Gegenleistung"  angeführt.  Warum  reicht  das  nicht  aus?    

Die  IG  Metall  wendet  sich  keineswegs  gegen  die  Verbesserung  der  Vermitt-­‐lung.  Aber  uns  das  Motto  "Keine  Lei-­‐stung  ohne  Gegenleistung"  als  Maß-­‐nahme  zur  besseren  Vermitttlung  zu  verkaufen,  ist  zynisch.  Es  geht  gerade  darum,  Menschen  im  Falle  der  Bedürf-­‐tigkeit  Unterstützung  zu  gewähren,  ohne  sie  als  Lohndrücker  zu  mißbrau-­‐chen.  

Drei Konzeptionen vom Wohlfahrtsstatt Bereits  vor  20  Jahren  unterschied  der  dänische  Sozialwissenschaftler  Gösta  Esping-­‐-­‐Andersen  Three  Worlds  of  Welfare  Capitalism  –  dreierlei  Wohl-­‐fahrtsstaat.  Der  erste  –  der  -­‐anglo-­‐amerikanische  –  ist  marktradikal.  Wohlgemerkt:  Auch  er  firmiert  als  Wohlfahrtsstaat,  er  hat  den  Anspruch,  das  allgemeine  Beste  durch  Konkur-­‐renz  herauszumitteln.    

Zweiter  Typ  ist  der  korporatistische:  Der  Staat  stabilisiert  Ungleichheit,  in-­‐dem  er  sie  durch  Zugeständnisse  an  die  Unterklassen  abfedert.  Typisch  dafür  sind  West-­‐  und  Mitteleuropa,  auch  die  Bundesrepublik.    

Drittens  gibt  es  die  egalitärste  Form  des  Wohlfahrtsstaates:  in  Skandinavi-­‐en.  Hier  greift  der  Staat  zur  Herstel-­‐lung  und  Sicherung  von  Gleichheit  auf  hohem  Niveau  ein.  Etwas  sarkastisch  gesagt:  dieser  Typ  des  egalitären  Wel-­‐fare  Capitalism  enthält  so  viel  Sozia-­‐

lismus,  wie  es  mit  dem  Kapitalismus  gerade  noch  vereinbar  ist.  

Heftig  umkämpft  ist  zur  Zeit  der  zweite  Typus:  der  korporatistische.  Wester-­‐welle  will  ihn  durch  die  marktradikale  Form  ersetzen.  Es  ist  im  Interesse  der  Exportwirtschaft  und  der  Finanz-­‐dienstleistungsbranche  ökonomisch  rational.  Der  Erfolg  einer  solchen  Rosskur  ist  aber  nicht  verbürgt.  Sen-­‐kung  der  Lohnstück-­‐Kosten  forciert  die  Ausfuhr  und  riskiert  den  Einbruch  der  Konjunktur,  wenn  die  importie-­‐renden  Länder  durch  eine  Beggar-­‐my-­‐neighbour-­‐Politik  (mach’  Deinen  kon-­‐kurrierenden  Nachbarn  arm)  in  den  Ruin  getrieben  werden  und  als  Ab-­‐nehmer  ausscheiden.  Dann  fallen  Ar-­‐beitsplätze  weg  und  mehr  Ausgaben  für  Hartz  IV  an.  Westerwelles  Auf-­‐schrei  richtet  sich  somit  gegen  die  Fol-­‐gen  der  von  seiner  Partei  mit  verur-­‐sachten  Politik.    

(Georg  Fülberth:  „Zwei  wirklich  nette    Schwestern“,  Freitag,  02.03.10)  

Das solidarische Rentensystem ist besser als sein Ruf Wenn  es  das  Umlageverfahren  [in  der  Rentenversicherung]  nicht  schon  gäbe,  müsste  man  es  erfinden.  Es  ist  preis-­‐wert,  es  arbeitet  einfach,  es  ist  den  meisten  Menschen  zugänglich  und  für  sie  verstehbar.    

Es  wäre  das  beste  für  unser  Land  und  für  die  Mehrheit  der  Menschen,  wenn  wir  zu  diesem  Verfahren  zurückkehren  würden.    

Das  wäre  auch  gut  für  unsere  Volks-­‐wirtschaft,  weil  wir  ihr  eine  unnötige  Belastung  ersparen  –  einen  aufgebla-­‐senen,  ressourcenverzehrenden  Sektor  Altersversorgung.  In  anderen  Ländern  wie  den  USA  oder  Großbritannien  trägt  dieser  Sektor  übrigens  mit  dazu  bei,  den  Dienstleistungssektor  aufzu-­‐blasen.    Genau  diese  Vergrößerung  des  Dienstleistungsbereiches  wollen  uns  die  besonders  Schlauen  unter  den  Re-­‐formern  als  modern  verkaufen.  Doch  was  sie  nicht  begriffen  haben  ist,  wie  unproduktiv  ein  aufgeblasener  Wirt-­‐schaftszweig  ist.  

Warum  die  politischen  Eliten  die  Ero-­‐sion  der  staatlichen  Rente  und  sogar  

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ihren  Ruin  zulassen,  kann  ich  nicht  verstehen.  Es  ist  sachlich  nicht  erklär-­‐bar,  dass  man  in  Deutschland  nach  den  ersten  Erfahrungen  mit  der  Riester-­‐rente,  die  2001  mit  dem  Versprechen  eingeführt  worden  war,  jetzt  sei  für  dreißig  Jahre  Ruhe,  auf  dem  gleichen  Weg  fortfahren  kann.    

Es  ist  nicht  erklärbar,  dass  die  verant-­‐wortliche  Ministerin  vor  dem  Deut-­‐schen  Bundestag  explizit  für  private  Vorsorge  wirbt  und  sich  damit  sozusa-­‐gen  als  oberste  Werbeinstanz  für  die  Versicherungswirtschaft  hergibt.  

Die  Finanzindustrie  will  den  Durch-­‐bruch  für  ihre  Produkte  erzielen,  in-­‐dem  sie  das  Vertrauen  in  die  gesetzli-­‐che  Rente  untergräbt.  Millionen  Men-­‐schen  brauchen  diese  Rente  aber  noch,  sie  brauchen  auch  die  Bereitschaft  der  Beitragszahler,  weiterhin  ihren  Obolus  zu  entrichten.  In  diesem  Kontext  darf  ein  verantwortlicher  Politiker  nichts  tun  und  sagen,  was  das  Vertrauen  wei-­‐ter  zerstört.  Es  gibt  keinen  Grund,  das  Umlageverfahren  und  die  gesetzliche  Rentenversicherung  der  Erosion  preis-­‐zugeben,  wie  das  zur  Zeit  geschieht.  

Warum  passiert  das  dennoch?  Warum  wird  in  einer  nahezu  gleichgeschalte-­‐ten  Öffentlichkeit  die  immer  gleiche  Botschaft  verkündet:  »Jetzt  hilft  nur  noch  die  private  Vorsorge,  die  staatli-­‐che  Rente  bringt  es  nicht  mehr«?    

Die  Erklärung  ist  einfach  und  in  der  modernen  Mediengesellschaft  auch  schlüssig:  Den  organisierten  Wirt-­‐schaftsinteressen,  der  Finanzindustrie,  den  Banken  und  Versicherungen  ist  es  gelungen,  mit  einer  professionellen  Strategie  das  Nachdenken  über  die  Frage  der  besten  Altersvorsorge  nahe-­‐zu  total  zu  bestimmen.  Das  konnte  nur  gelingen,  weil  in  einer  großen  PR-­‐Aktion  sowohl  die  entscheidenden  Teile  der  Wissenschaft  wie  auch  der  Publizistik  »gekeilt«  wurden.    (Auszug  aus  „Die  Reformlüge.  40  Denkfeh-­

ler,  Mythen  und  Legenden,  mit  denen  Politik  und  Wirtschaft  Deutschland  ruinieren“,  

München  2004)  

Umfrage: Schuldenberg sorgt Bürger am meisten Die  Deutschen  bedrückt  einer  Umfrage  zufolge  am  meisten  der  Milliarden-­‐Schuldenberg  des  Staates  und  die  Sor-­‐ge  um  die  Ausbildung  ihrer  Kinder.  

Die  Mehrheit  der  Bürger  (62  Prozent)  fürchtet,  dass  die  wachsende  Staats-­‐verschuldung  eines  Tages  nicht  mehr  bezahlbar  sein  wird,  ergab  eine  Forsa-­‐Umfrage  für  das  neue  «Sorgenbarome-­‐ter»  des  Magazins  «Stern».  61  Prozent  erklärten  zudem,  sie  hätten  «große  oder  sehr  große  Angst»,  dass  die  Kin-­‐der  in  Deutschland  keine  vernünftige  Ausbildung  erhalten.  

Die  Angst  um  den  eigenen  Arbeitsplatz  hingegen  ist  zurückgegangen.  Rechne-­‐ten  beim  vorangegangenen  Sorgenba-­‐rometer  Ende  2009  noch  26  Prozent  der  Berufstätigen  mit  einem  Jobver-­‐lust,  sind  es  nun  nur  noch  19  Prozent.    

Dennoch  liegt  die  Furcht  vor  steigen-­‐der  Arbeitslosigkeit  auf  Platz  drei  der  Sorgenskala:  59  Prozent  gehen  davon  aus,  dass  es  bald  deutlich  mehr  Entlas-­‐sungen  geben  wird.  Auch  die  Sorge  um  unsichere  Renten  treibt  die  Deutschen  um:  Gut  die  Hälfte  (56  Prozent)  rech-­‐net  mit  einer  sich  verschlechternden  Altersversorgung.  

Deutlich  gestiegen  ist  die  Furcht,  dass  die  Politiker  ihren  Aufgaben  nicht  ge-­‐wachsen  sind.    

Äußerten  bei  der  vorherigen  Umfrage  im  November  2009  noch  44  Prozent  diese  Befürchtung,  sind  es  nun  nach  den  ersten  100  Tagen  der  schwarz-­‐gelben  Regierung  schon  55  Prozent.  Weitere  Sorgen  der  Deutschen  sind,  dass  sich  der  Zustand  der  Umwelt  ver-­‐schlechtert  (54  Prozent),  die  Angst  vor  Inflation  (44  Prozent)  und  vor  einem  Einbrechen  der  Konjunktur  (41  Pro-­‐zent).  Eher  gering  ist  die  Furcht  vor  Spannungen  mit  Ausländern  (39  Pro-­‐zent)  oder  Kriegen  mit  deutscher  Be-­‐teiligung  (36  Prozent).  

(dpa-­Meldung,  10.02.10)  

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Mehrheit der Deutschen gegen neue Staatsschulden Die  Schulden  wachsen  in  den  Himmel.  Laut  des  EU-­‐Frühjahrsgutachtens  wird  Deutschland  mit  einem  Haushaltsdefi-­‐zit  von  3,9  Prozent  deutlich  gegen  den  EU-­‐Stabilitätspakt  verstoßen.    

Zwar  ist  die  Bundesrepublik  noch  weit  von  einem  Staatsbankrott  entfernt,  aber  die  Bürger  machen  sich  dennoch  Sorgen  über  weitere  Milliardenschul-­‐den.  Die  Mehrheit  der  Deutschen  spricht  sich  gegen  eine  weitere  Ver-­‐schuldung  des  Staates  aus.  In  einer  Umfrage  des  Meinungsforschungsinsti-­‐tuts  Forsa  für  den  stern  waren  68  Pro-­‐zent  der  Bundesbürger  dagegen,  dass  der  Staat  weitere  Schulden  machen  soll,  um  die  Wirtschaft  zu  stützen.  

Besonders  Anhänger  von  SPD  (73  Pro-­‐zent),  Linkspartei  (70  Prozent)  und  Grünen  (77  Prozent)  stehen  auf  der  Schuldenbremse.  Bei  den  Christdemo-­‐kraten  wollen  62  Prozent  keine  neuen  Staatskredite  zugunsten  der  Wirt-­‐schaft.  Im  Lager  der  Unionsanhänger  befürworten  immerhin  31  Prozent  neue  Staatschulden.  Im  Durchschnitt  stimmte  hingegen  nur  knapp  ein  Vier-­‐tel  (24  Prozent)  der  Befragten  einer  Neuverschuldung  zu.  

Bund,  Länder  und  Gemeinden  werden  sich  in  diesem  Jahr  laut  Schätzungen  mit  rund  89  Milliarden  Euro  neu  ver-­‐schulden.  Insgesamt  beträgt  der  Schuldenberg  dann  über  1,6  Billionen  Euro.  

(Stern,  06.09.09)  

Die Schuldenbremse ist unrealistisch Ich  glaube,  dass  hier  wieder  einem  theoretischen  Konstrukt  aufgesessen  wird,  nach  dem  es  in  den  Ohren  der  Bürger  natürlich  schön  klingt,  nie  mehr  Schulden  zu  machen.  Praktisch  wäre  es  schon,  wenn  wir  Autos  bar  bezahlen  oder  Häuser  ohne  Schulden  bauen  könnten.  Aber  wer  arbeitet  schon  in  einem  Unternehmen,  das  oh-­‐ne  Kredite  auskommt!  Genauso  und  erst  recht  absurd  ist  das  für  einen  Staat,  der  für  Bildung  und  innere  Si-­‐cherheit,  für  Kinderbetreuung  und  Verkehrsinfrastruktur  verantwortlich  ist.  

Sinnvoll  ist  eher  eine  Orientierung  daran,  ob  ich  die  Zinsen  zahlen  kann,  eine  Orientierung  an  dem  Verhältnis  von  Verschuldung  zum  Bruttoinlands-­‐produkt.  

(ver.di  Tagung  zur  „Schuldenbremse“  am  16.04.09  in  Berlin.  Referat  von  

Dr.  Ralf  Stegner)  

Wer steckt hinter dem Bund der Steuerzahler? Der  Bund  der  Steuerzahler  erreicht  durch  medienwirksame,  oft  symbo-­‐lisch  inszenierte  Kritik  am  Steuersy-­‐stem,  am  staatlichen  Ausgabenverhal-­‐ten  und  an  der  Finanzierung  von  Par-­‐teien  und  Parlamenten  erhebliche  öf-­‐fentliche  Aufmerksamkeit.    

Der  "Steuerzahler-­‐Gedenktag",  die  "Schuldenuhr"  und  die  Vorstellung  des  "Schwarzbuches"  finden  Resonanz.  In  den  vergangenen  Jahren  hat  die  Wir-­‐kung  des  Verbandes  aber  trotz  konse-­‐quenter  Ausrichtung  an  den  Bedürf-­‐nissen  reichweitenstarker  Medien  nachgelassen.  Das  sind  zentrale  Er-­‐gebnisse  einer  neuen  Untersuchung  des  Politikwissenschaftlers  Dr.  Rudolf  Speth.    

Für  die  Politik  sei  der  Steuerzahler-­‐bund  nur  bedingt  Ansprechpartner,  in  der  Wissenschaft  spiele  das  verbands-­‐eigene  Karl  Bräuer  Institut  kaum  eine  Rolle,  konstatiert  der  Privatdozent  an  der  Freien  Universität  Berlin  in  einer  von  der  Hans-­‐Böckler-­‐Stiftung  geför-­‐derten  Studie.    

Zudem  seien  Strukturen  und  manche  Arbeitsweisen  des  Verbandes  wenig  transparent.    

Die  Konzentration  auf  medial  leicht  vermittelbare  "Aufregerthemen"  gehe  auf  Kosten  der  Reputation  unter  Ex-­‐perten.    

So  habe  der  Verbandsvorsitzende  Dr.  Karl-­‐Heinz  Däke  vom  Steuerzahler-­‐bund  veröffentlichte  plakative  und  scheinbar  exakte  Zahlen  über  eine  angebliche  "Steuerverschwendung"  in  Höhe  von  30  Milliarden  Euro  pro  Jahr  wiederholt  relativieren  müssen.  Mitt-­‐lerweile  erkläre  der  Steuerzahlerbund,  den  Umfang  von  "Steuerverschwen-­‐dung"  nicht  beziffern  zu  können.    

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"Die  Idee  einer  zivilgesellschaftlichen  Kontrolle  der  staatlichen  Ausgabenpo-­‐litik  und  der  Politikfinanzierung  ist  sehr  wertvoll.  Aber  der  Steuerzahler-­‐bund  setzt  diese  Idee  verkürzt  und  oft  einseitig  um",  resümiert  der  Wissen-­‐schaftler.  So  setze  sich  die  Organisati-­‐on  beispielsweise  kaum  mit  dem  Wert  öffentlicher  Güter  und  öffentlicher  Aufgaben  oder  mit  den  Gründen  für  Steuerflucht  auseinander.  "  

Die  Grundsatzbotschaft  lautet  schlicht:  Der  Staat  soll  schlank  sein.  Die  Politik  muss  sparen",  so  Speth.  Dafür  würden  weitere  Privatisierungen,  auch  bei  der  sozialen  Sicherung,  Stellenabbau  im  öffentlichen  Dienst  und  vor  allem  Steuersenkungen  gefordert:    

"Niedrige  Steuersätze  gelten  als  All-­‐heilmittel:  Sie  würden  die  Leistungs-­‐bereitschaft  fördern  und  auch  helfen,  

das  Problem  der  Steuerflucht  zu  lö-­‐sen",  beschreibt  der  Forscher  die  Ar-­‐gumentation  des  Steuerzahlerbundes.  

Ziele  und  Strukturen  des  Verbandes  seien  in  wichtigen  Bereichen  wenig  transparent,  so  der  Wissenschaftler.  Beispielsweise  nehme  der  Bund  der  Steuerzahler  für  sich  in  Anspruch,  für  alle  Steuerzahler  zu  sprechen.  Seine  Mitgliedschaft  bestehe  aber  zu  etwa  60  Prozent  aus  Unternehmern  und  Unter-­‐nehmen,  die  meist  aus  dem  gewerbli-­‐chen  Mittelstand  stammen.  Weitere  15  Prozent  der  Mitglieder  seien  Freiberuf-­‐ler.  "Diesen  Gruppen  gilt  auch  das  Hauptaugenmerk  der  politischen  For-­‐derungen",  analysiert  der  Forscher.  Arbeitnehmer  machten  lediglich  etwa  zehn  Prozent  der  Mitglieder  aus,  wobei  leitende  Angestellte  dominierten.  (Hans-­Böckler-­Stiftung,  Vorstellung  einer  

Studie  von  Prof.  Dr.  Rudolf  Speth,  01.07.08)  

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Diskurs 2.3: Positionsbestimmung: Solidarität versus EigenverantwortungWieso die Schuldenbremse Wahnsinn ist ...  Erschreckend  ist  dabei,  wie  wenig  ökonomischer  Sachverstand  in  die  Debatte  oder  die  Kommentierung  ein-­‐geflossen  ist.  Tatsächlich  nämlich  ist  die  Schuldenbremse  nicht  nur  ge-­‐samtwirtschaftlich  fragwürdig.  Selbst  aus  einzelwirtschaftlicher  Sicht  ist  nicht  nachzuvollziehen,  wie  man  sol-­‐che  Regeln  festschreiben  kann.  

Einmal  mehr  zeigt  sich,  dass  in  Deutschland  Politik  gerne  dem  Bauch-­‐gefühl  folgt.  Schulden  sind  demnach  grundsätzlich  schlecht.  Jeder  aber,  der  schon  einmal  in  der  Wirtschaft  eine  Führungsposition  innehatte,  weiß,  dass  dieses  Gefühl  trügt.  Kaum  ein  erfolgreiches  Unternehmen  expandiert  ohne  Kredite.    

Tatsächlich  ist  es  sogar  für  Firmen  sinnvoll  und  im  Sinne  der  Eigentümer,  dass  ein  Betrieb  für  neue  Investitionen  Kredite  aufnimmt.  Nämlich  dann,  wenn  er  mit  den  Neuanschaffungen  mehr  Geld  erwirtschaften  kann,  als  er  für  den  Zinsdienst  aufwenden  muss.  Ein  Manager,  der  dauernd  erfolgver-­‐sprechende  Projekte  mit  Renditen  von  zehn  Prozent  streicht,  wenn  er  sich  für  fünf  Prozent  Zinsen  Geld  von  der  Bank  leihen  kann,  wird  sehr  bald  von  den  Aktionären  abgesetzt.  Und  das  zu  Recht.  

Auch  für  Privathaushalte  sind  Schul-­‐den  nicht  unbedingt  gefährlich.  Wenn  eine  Familie  feststellt,  dass  sie  sich  mit  einer  monatlichen  Hypothekenrate  von  1000  Euro  ein  Haus  leisten  kann,  für  das  sie  sonst  1500  Euro  Miete  zah-­‐len  müsste,  kann  es  durchaus  sinnvoll  sein,  einen  Kredit  über  mehrere  Hun-­‐dertausend  Euro  aufzunehmen.  Auch  wenn  das  ein  Vielfaches  des  Jahresein-­‐kommens  ausmachen  kann.  

Die  Schuldenbremse  soll  aber  nun  ge-­‐rade  dem  Staat  das  verbieten,  was  für  Unternehmen  und  Privathaushalte  

vernünftig  ist:  Die  Bundesländer  sollen  grundsätzlich  gar  keine  Schulden  mehr  machen.  Für  den  Bund  gilt  die  0,35-­‐Prozent-­‐Hürde.  Dabei  differenziert  die  Regel  nicht  danach,  ob  das  Geld  vom  Staat  verschwendet  oder  investiert  wird.  

Was  für  ein  fragwürdiges  Unterfangen  das  ist,  erkennt  man  leicht,  wenn  man  es  auf  den  Privathaushalt  überträgt:  Eine  analoge  Regel  für  eine  Durch-­‐schnittsfamilie  mit  einem  Jahresein-­‐kommen  von  60.000  Euro  würde  er-­‐lauben,  jedes  Jahr  210  Euro  Schulden  für  ein  üppiges  Weihnachtsessen  zu  machen.  Gleichzeitig  aber  verbietet  die  Vorgabe,  150.000  Euro  für  den  Bau  eines  Einfamilienhauses  oder  10.000  Euro  für  das  Studium  der  Tochter  zu  leihen.  

Für  den  Staat  ist  das  besonders  drama-­‐tisch,  weil  es  durchaus  eine  Vielzahl  potentieller  öffentlicher  Ausgaben  gibt,  die  eine  gesamtwirtschaftliche  Rendite  weit  über  den  Zinskosten  erreichen.  Berechnungen  zu  Bildungsinvestitio-­‐nen  deuten  oft  auf  Renditen  von  zehn  Prozent  und  mehr  hin,  während  der  Staat  derzeit  nur  knapp  mehr  als  drei  Prozent  Zinsen  auf  seine  Schulden  zah-­‐len  muss.  Selbst  der  Bau  von  Schienen  oder  Autobahnen  kann  enorme  ge-­‐samtwirtschaftliche  Renditen  bringen,  weil  die  Bürger  enorme  Zeitgewinne  haben  und  bessere  Straßen  die  Abnut-­‐zung  der  Autos  senken.  

Die  Schuldenaufnahme  für  solche  Pro-­‐jekte  zu  begrenzen,  hat  nichts  mit  Ge-­‐nerationengerechtigkeit  zu  tun:  Genau  wie  ein  Unternehmenserbe  nichts  da-­‐von  hat,  wenn  er  ein  schuldenfreies  Unternehmen  erbt,  das  aus  Angst  vor  Verschuldung  nicht  mehr  in  neue  Technologien  und  Produkte  investiert  hat,  erweisen  wir  unseren  Kindern  und  Enkeln  einen  Bärendienst,  wenn  wir  öffentliche  Investitionen  unterlassen,  die  mehr  Nutzen  bringen,  als  die  Schulden  kosten.  

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Besonders  unverständlich  ist  aller-­‐dings,  dass  SPD  und  Union  die  Schul-­‐denbremse  auch  noch  ins  Grundgesetz  schreiben  wollen.  Die  Finanzkrise  der  vergangenen  Monate  hätte  den  Politi-­‐kern  vor  Augen  führen  müssen,  wie  kurz  die  Halbwertszeit  von  wirt-­‐schaftspolitischen  Glaubenssätzen  ist.    

Noch  vor  einem  Jahr  hätte  in  Deutsch-­‐land  kaum  jemand  etwas  von  der  Ver-­‐staatlichung  von  Banken  wissen  wol-­‐len.  Jetzt  wird  eigentlich  nur  noch  de-­‐battiert,  unter  welchen  Bedingungen  ein  solcher  Schritt  sinnvoll  ist  und  wann  nicht.    

Nur  zur  Erinnerung:  In  einem  der  er-­‐sten  Entwürfe  für  die  Schuldenbremse  aus  dem  Finanzministerium  aus  dem  Januar  2008  stand,  angesichts  der  ho-­‐hen  internationalen  Verflechtung  der  deutschen  Wirtschaft  sei  die  Möglich-­‐keit  geschwunden,  Finanzpolitik  zur  Konjunktursteuerung  einzusetzen.    

Gerade  einmal  ein  Jahr  später  be-­‐schloss  die  Große  Koalition  unter  Zu-­‐stimmung  der  führenden  deutschen  Volkswirte  ein  Konjunkturpaket  in  Höhe  von  50  Milliarden  Euro  -­‐  und  hofft,  dass  ihr  die  zuvor  abgelehnte  Konjunktursteuerung  gelingt.  

Doch  statt  aus  den  Entwicklungen  der  vergangenen  Jahre  zu  lernen,  dass  selbst  vermeintliche  Wahrheiten  oft  nicht  für  ewig  gelten,  wollen  die  Politi-­‐ker  der  Großen  Koalition  ihr  Bauchge-­‐fühl  für  immer  im  Grundgesetz  fest-­‐schreiben.    

Peer  Steinbrück  wird  damit  nicht  nur  als  jener  Finanzminister  in  die  Ge-­‐schichte  eingehen,  der  die  bisher  größ-­‐te  Neuverschuldung  der  Bundesrepu-­‐blik  verantwortet  hat.    

Wenn  die  Schuldenbremse  tatsächlich  wie  geplant  verabschiedet  wird,  hat  er  es  auch  noch  geschafft,  dass  Deutsch-­‐land  unter  den  großen  OECD-­‐Ländern  die  kurioseste  Schuldenregel  in  der  Verfassung  stehen  hat.  

(Sebastian  Dullien,  Spiegel  Online  09.02.09)  

Steuersenkungspläne sind unverantwortlich vorwärts:  Herr  Professor  Bofinger,  Sie  lehnen  die  Steuersenkungen  der  Bun-­desregierung  als  unverantwortlich  ab.  Warum?    Peter  Bofinger:  Weil  wir  be-­reits  ohne  Steuersenkungen  mittelfristig  ein  Defizit  von  mindestens  70  Milliarden  Euro  in  den  öffentlichen  Kassen  haben  werden.  Merkel  und  Westerwelle  han-­deln  wie  ein  Paar,  das  kein  Geld  hat,  um  das  defekte  Dach  des  Eigenheims  zu  reparieren,  stattdessen  aber  erstmal  eine  Weltreise  unternimmt.  Das  nenne  ich  unverantwortlich!  

Die  Bundesregierung  sagt  aber  –  und  wir  haben  das  auch  viele  Jahre  von  den  führenden  Wirtschaftsexperten  gehört  –  Steuersenkungen  seien  gut  für  die  Kon-­junktur.  

Von  mir  haben  Sie  das  nicht  gehört.  Steuersenkungen  sind  zur  Konjunk-­‐turbelebung  wesentlich  schlechter  geeignet  als  höhere  staatliche  Investi-­‐tionen.  Zudem  sollten  Maßnahmen  zur  Konjunkturbelebung  immer  zeitlich  begrenzt  sein  und  das  ist  beim  Wach-­‐stumsbeschleunigungsgesetz  nicht  der  Fall.    

Ist  das  Ihre  persönliche  Meinung  oder  ist  das  Common  Sense  unter  den  Wirt-­schaftsexperten?  

Das  ist  Common  Sense.  Alle  meine  Kol-­‐legen  im  Sachverständigenrat  lehnen  die  Steuersenkungen  von  Schwarz-­‐Gelb  ab,  obwohl  wir  sonst  durchaus  auch  unterschiedliche  Positionen  ha-­‐ben.  Leider  ist  es  von  vielen  Medien  –  aus  welchen  Gründen  auch  immer  –  kaum  wahrgenommen  worden,  ob-­‐wohl  es  ein  außerordentlicher  Vorgang  war:  Der  Sachverständigenrat  hat  be-­‐reits  vor  Abgabe  seines  Jahresgutach-­‐tens  und  damit  vor  Fertigstellung  des  Koalitionsvertrags  öffentlich  gewarnt,  wie  gefährlich  Steuersenkungen  sind.  

Die  FDP  behauptet  aber  weiter  das  Ge-­genteil.  

Man  fragt  sich,  wie  es  um  die  wirt-­‐schaftspolitische  Kompetenz  der  FDP  bestellt  ist.  Die  Verantwortlichen  müs-­‐sen  doch  sehen:  Was  passiert,  wenn  ich  dem  Staat  seine  Einnahmenbasis  in  

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einer  Zeit  schwäche,  wo  er  eindeutig  mehr  und  nicht  weniger  Mittel  benö-­‐tigt.  Was  die  FDP  macht,  ist  schlicht  verantwortungslos.  

Ist  das  die  von  der  FDP  geforderte  „gei-­stig-­politische  Wende“?  Guido  Wester-­welle  definiert  zum  Beispiel  Steuern  jetzt  so:  „Der  Steuerzahler  schenkt  dem  Staat  Geld.“  

Eine  äußerst  naive  Sicht.  So  als  ob  ein  Hotelgast  sagt,  mit  meinem  Zimmer-­‐preis  schenke  ich  dem  Hotel  Geld.  Wenn  ich  im  Hotel  bin,  zahle  ich  mit  der  Rechnung  für  die  Leistungen,  die  mir  das  Hotel  bietet.  Und  mit  meinen  Steuern  zahle  ich  als  Bürger  dieses  Staates  für  die  Leistungen,  die  mir  die-­‐ses  Gemeinwesen  bietet.  Es  ist  gefähr-­‐lich  für  den  Zusammenhalt  einer  Ge-­‐sellschaft,  wenn  Politiker  solche  ab-­‐surden  Sichtweisen  vertreten.  

Steckt  hinter  dieser  Sichtweise  der  Ver-­such,  die  Koordinaten  der  Republik  in  Richtung  Neoliberalismus  zu  verschie-­ben?  

Das  ist  zu  vermuten.  Die  Steuerstrate-­‐gie  der  FDP  macht  nur  Sinn,  wenn  man  den  Staat  eindampfen  will.  Maximale  Steuersenkungen  zusammen  mit  der  Schuldenbremse  führen  dazu,  dass  in  den  Folgejahren  härteste  Einsparun-­‐gen  vorgenommen  werden  müssen.  Ich  fürchte,  hinterher  werden  wir  un-­‐seren  Sozialstaat  nicht  wiedererken-­‐nen.  

Laut  ARD-­DeutschlandTrend  lehnen  58  Prozent  der  Bundesbürger  die  Steu-­er-­senkungspläne  der  Regierung  ab.  Sind  die  Bürger  klüger  als  ihre  Regie-­rung?  

Die  neoliberale  Steuersenkungsideolo-­‐gie  ist  so  fadenscheinig,  dass  auch  den  meisten  Bürgern  mittlerweile  klar  ist:  Damit  kann  man  keinen  Blumentopf  gewinnen.  

Dennoch  nennt  die  Bundesregierung  ihr  Steuersenkungsgesetz  „Wachstumsbe-­schleunigungsgesetz“.  

Ich  weiß  nicht,  wie  man  das  Wachstum  dadurch  beschleunigt,  dass  man  weni-­‐ger  Mehrwertsteuer  auf  Hotelüber-­‐nachtungen  verlangt.  Mehr  Wachstum  erzeugt  man  durch  mehr  Investitionen  

in  Sachanlagen  und  in  Bildung.  Er-­‐staunlicherweise  hat  die  angeblich  so  wirtschaftskompetente  neue  Bundes-­‐regierung  keinerlei  Anreize  für  Investi-­‐tionen  im  Koalitionsvertrag  vereinbart.  

Vermutlich  wurde  deshalb  selbst  in  der  konservativ-­liberalen  Presse  das  „Wach-­stumsbeschleunigungsgesetz“  als  Klien-­telpolitik  kritisiert.  

Das  ist  auch  völlig  richtig.  Es  handelt  sich  um  einen  Geldregen  auf  Pump  für  Unternehmen,  für  Erben,  für  die  Hotels  und  natürlich  auch  für  Gutverdiener,  denn  die  Erhöhung  des  Kindergeldes  kommt  ja  denjenigen,  die  gut  verdie-­‐nen,  sehr  viel  mehr  zugute  als  solchen  mit  geringen  Einkommen.  Um  Wirt-­‐schaftswachstum  geht  es  gar  nicht.  Stattdessen  werden,  um  Vermögende  zu  beglücken,  zusätzliche  Schulden  angehäuft.  

Diesem  Vorwurf  tritt  die  Koalition  ent-­gegen,  indem  sie  von  „sich  selbst  finan-­zierenden  Steuersenkungen“  spricht.  

Es  wäre  schön,  wenn  es  die  gäbe.  Mit  der  wirtschaftlichen  Realität  hat  das  nichts  zu  tun.  Schauen  wir  uns  die  Steuersenkungen  der  letzten  Jahre  an,  etwa  die  größte  in  der  Geschichte  der  Republik  aus  dem  Jahr  2000:  Sie  hat  über  Jahre  riesige  Löcher  in  die  öffent-­‐lichen  Haushalte  gerissen.  

Die  Bundesregierung  macht  Rekord-­schulden,  als  gäbe  es  die  Schuldenbrem-­se  im  Grundgesetz  gar  nicht.  Wie  lange  kann  sie  das  so  weiter  machen?  

Genau  bis  zum  Jahr  2011.  Ab  dann  muss  die  Verschuldung  des  Bundes  abgebaut  werden,  Jahr  für  Jahr  in  gleich  großen  Schritten.  Und  dann  wird  es  einen  brutalen  Sparkurs  geben,  der  das  Brecheisen  an  die  staatlichen  Aufgaben  ansetzen  wird.  

Eine  überaus  beunruhigende  Prognose.  Wie  begründen  Sie  diese?  

Dass  enorm  schmerzhafte  Anpassun-­‐gen  anstehen,  ergibt  sich  zum  einen  aus  der  extremen  Höhe  der  Neuver-­‐schuldung.  Aber  auch  dadurch,  dass  die  Bundesregierung  nicht  sagt,  wo  sie  sparen  will.  Wenn  es  unproblemati-­‐sche  Sparbereiche  gäbe,  hätte  die  Re-­‐gierung  doch  längst  ein  Wort  darüber  

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verloren.  Das  zeigt,  wie  schwer  diese  Aufgabe  sein  wird.  

Will  die  Koalition  bis  zur  Landtagswahl  in  NRW  im  Mai  die  Sparpläne  unter  der  Decke  halten  und  erst  dann  die  Katze  aus  dem  Sack  lassen?  

Ich  bin  kein  Politologe,  aber  es  ist  na-­‐heliegend,  dass  man  versuchen  wird,  die  Wahrheit  so  lange  zu  verheimli-­‐chen,  wie  es  geht.  

Die  wirtschaftlichen  Daten  sind  ja  be-­kannt.  Ist  es  glaubwürdig,  wenn  die  Regierung  sagt:  Wir  haben  gar  keine  Ahnung,  wie  die  Staatsfinanzen  sind,  wir  müssen  erst  mal  die  Steuerschät-­zung  im  Mai  abwarten?  

Das  ist  es  natürlich  nicht.  Die  Höhe  der  voraussichtlichen  mittelfristigen    Defi-­‐zite  von  rund  70  Milliarden  Euro  ist  so  riesig,  dass  man  natürlich  schon  jetzt  die  wichtigsten  Felder  benennen  könn-­‐te,  in  denen  man  sparen  will.  Da  spielt  es  keine  Rolle,  ob  das  Volumen  am  Ende  bei  60  oder  eher  bei  80  Milliar-­‐den  Euro  und  darüber  liegt.    

Die  Regierung  sollte  jetzt  die  Karten  auf  den  Tisch  legen.  Die  Bürger  haben  einen  Anspruch  auf  Wahrheit  und  Klarheit  über  die  Staatsfinanzen.  

(Interview  mit  Prof.  Peter  Bofinger    im  Vorwärts  02/2010)

 

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Thema 3: Der solidarische Sozialstaat Wir  verschaffen  uns  einen  Überblick  über  die  (tatsächlichen)  „Leistungen“  des  Staates  und  die  Defizite  und  erarbeiten  uns  gute  Argumente  für  einen  solidarischen  Sozialstaat.  Im  ersten  Diskurs  tauschen  wir  unsere  Bilder  von  den  Aufgaben  und  Lei-­‐stungen  des  Staates  aus,  indem  wir  zunächst  in  Partnerarbeit  Antworten  auf  die  Frage:  

• Was sind wichtige Aufgaben und Leistungen des Staates? sammeln  und  auf  dieser  Basis  dann  im  Plenum  eine  (vorläufige)  Prioritä-­‐tenliste  besonders  wichtiger  Ziele,  Aufgaben  und  Leistungen  des  Staates  entwickeln.  Im  zweiten  Diskurs  sprechen  wir  über  die  gängigen  Argumente  zur  Rolle  und  zu  den  Aufgaben  des  Staates  und  entwickeln  eigene  Prioritäten  für  wichtige  staatliche  Leistungen.  Diese  Argumente  sammeln  wir  zunächst  in  Einzelarbeit  an  einschlägigen  Texten  und  gewichten  sie  dann  gemeinsam  im  Plenum.  Leitfrage  ist  dabei:  

• Wie wichtig sind welche Leistungen des Staates für eine solidarische Gesellschaft?

In  Partnerarbeit  stellen  wir  anschließend  eine  Liste  der  wichtigsten  Staatsaufgaben  zusammen,  die  nur  zum  Teil  gesetzlich  definiert  sind  –  zu  einem  anderen  Teil  aus  dem  Konzept  von  Solidarität  ergeben,  für  das  sich  die  Gewerkschaften  seit  ihrer  Gründung  einsetzen.  Im  dritten  Diskurs  des  Themas  fassen  wir  unsere  Erkenntnisse  zusam-­‐men  und  haben  am  Ende  eine  gemeinsame,  nach  Prioritäten  strukturierte  Liste  von  

• Zielen, • Aufgaben • und Leistungen eines solidarischen Sozialstaates.

Das  Teilnehmermaterial  des  dritten  Diskurses  dient  zugleich  als  „Hausauf-­‐gabe“.  Es  ermuntert  die  Teilnehmer,  sich  selbständig  mit  den  Dimensionen  der  sozialen  Gerechtigkeit,  den  Irrwegen  und  Alternativen  in  der  Sozialpo-­‐litik  auseinanderzusetzen.    

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Zeit  

      15  

          25  

        (40)  

        20  

          20  

 

Material  

      M31-­‐33  

A9  

        M35-­‐44  

Methoden  

      Je  zwei  TN  tauschen  Meinungen  aus  und  

einigen  sich  auf  Vorschläge  für  eine  Liste  

besonders  w

ichtiger  Aufgaben  des  Staa-­‐

tes  

    TN  präsentieren  ihre  Bilder  

Team

-­‐Moderation:  

Erarbeitung  einer  (ersten,  vorläufigen)  

Prioritätenliste  

      Einzelarbeit:  

TN  erhalten  Texte,  mit  Aussagen  zur  

Rolle  des  Staates,  lesen  und  stellen  die  

Argumente  vor  

  Team

-­‐Moderation  

Gewichtung  wird  an  der  Wandzeitung  

festgehalten  

 

Inhalte  

Disk

urs 3

.1: U

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vom

Staa

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istet

er

wirk

lich?

  Wir  erarbeiten  uns  „Bilder“  von  den  

Aufgaben  und  Leistungen  des  Staates.  

Frage:  „  Was  sind  wichtige  Aufgaben  

und  Leistungen  des  Staates?“  

    Wir  erarbeiten  eine  (vorläufige)  Priori-­

tätenliste  besonders  w

ichtiger  Ziele,  

Aufgaben  und  Leistungen  des  Staates.  

  Disk

urs 3

.2: E

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  Diskussion  ausgewählter  Argum

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Rolle  und  zu  den  Aufgaben  des  Staa-­

tes.  

    Anschließende  Bewertung  der  Aussagen  

und  persönliche  Gew

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Ziele  

      Wir  haben  unsere  Bilder  von  den  Auf-­

gaben  und  Leistungen  des  Staates  

ausgetauscht.  

          Wir  haben  die  gängigen  Argumente  zur  

Rolle  und  zu  den  Aufgaben  des  Staates  

diskutiert  und  eigene  Prioritäten  für  

wichtige  staatliche  Leistungen  erarbei-­‐

tet.  

Page 51: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 Zeit  

    40  

                    (80)    

  10  

        50  

                (180)  

 

Material  

  M45-­‐49  

   

                      „Hausaugabe“  

M34  

M50-­‐51  

 

Methoden  

  Partnerarbeit:  

Arbeitsteilige  Bearbeitung  von  Texten  zu  

wichtigen  Aufgaben  und  Leistungen  des  

Staates  und  anschließende  Präsentation  

und  Diskussion  

 

        Team

-­‐Moderation  

Wandzeitung    

 

Inhalte  

  Erarbeitung  wichtiger  Ziele,  Aufgaben  

und  Leistungen  des  Sozialstaates  

  Daten  und  Fakten  zu  wichtigen  Aufga-­‐

ben  und  Leistungen  des  Sozialstaates  

 

 

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    Zusammenfassung  der  Erkenntnisse  und  

Priorisierung  der  Ziele,  Aufgaben  und  

Leistungen  des  solidarischen  Sozialstaa-­‐

tes  

Ziele  

          Pause  

        Wir  haben  uns  die  wichtigsten  Aufgaben  

und  Leistungen  eines  solidarischen  

Sozialstaates  erarbeitet.  

     

Page 52: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

50  

Diskurs 3.1: Unser Bild vom Staat? Was leistet er wirklich? Die Staatsaufgaben Folgende  Kernpunkte  für  Staatsaufga-­‐ben  lassen  sich  aus  dem  Grundgesetz  festlegen:  

• Einhaltung  der  Grundrechte  (Rech-­‐te,  aber  auch  Pflichten,  z.B.  „Eigen-­‐tum  verpflichtet“)  

• Sicherstellung  der  Freiheitlich-­‐Demokratischen  Grundordnung  

• Gewährleistung  des  Rechtsstaats-­‐prinzips  

• Gewährleistung  des  Sozialstaats-­‐prinzips  

• Gewährleistung  der  Gewaltentei-­‐lung    

• Sicherung  des  Bundesstaates  

• Sicherung  der  Sozialen  Marktwirt-­‐schaft  

Staatsziele  sind  darüber  hinaus:  Ver-­‐bot  eines  Angriffskrieges,  gesamtwirt-­‐schaftliches  Gleichgewicht,  Gleichbe-­‐rechtigung,  Behindertenschutz,  Um-­‐weltschutz  und  ein  Vereinigtes  Europa  mit  Einhaltung  des  Subsidiaritätsprin-­‐zips.  

Eine  hieraus  abgeleitete  Auflistung  von  definitiven  und  abgrenzbaren  Staatsaufgaben  ist  nicht  dauerhaft  er-­‐stellbar.  Sie  ist  im  Rahmen  der  Vorga-­‐ben  durch  das  Grundgesetz  veränder-­‐bar  und  obliegt  ständig  einem  Wandel,  beeinflusst  durch  aktuelle  Bedarfe  und  die  Finanzsituation  des  öffentlichen  Sektors.  

Weitgehend  unumstritten  sind  somit  z.B.  folgende  Staatsaufgaben:  

• Legislative,  Exekutive,  Judikative,  

• Äußere  Sicherheit  /  Verteidigung  der  Bundesrepublik  Deutschland,  

• Innere  Sicherheit  /  Polizei,  Verfas-­‐sungsschutz,  Staatsanwaltschaft,    

• Steuerverwaltung    

• Soziale  Sicherung,  

Umstritten  ist  z.B.:  

• inwieweit  diese  Aufgaben  in  der  Umsetzung  durch  private  Dienstleister  ergänzt  werden  können  (Strafvollzug,  Hilfspoli-­‐zei),  

• inwieweit  Infrastrukturen  auch  durch  den  Privatsektor  ge-­‐währleistet  werden  können  (Straßen,  Energie,  Wasser,  Ab-­‐wasser),  

• inwieweit  Forschung,  Wissen-­‐schaft  und  Bildung  auch  vom  Privatsektor  übernommen  werden  kann,  

• inwieweit  sich  der  Staat  wirt-­‐schaftlich  betätigen  darf,  

Unumstritten  wiederum  ist,  dass  z.B.:  

• der  Privatsektor  viele  Aufga-­‐ben  effizienter  erfüllen  kann,  

• dass  der  Staat  sich  auf  seine  Kernaufgaben  beschränken  muss,  

• Privatisierungspotenziale  in  Bund,  Ländern  und  Kommunen  genutzt  werden  müssen.  

(Prof.  Dr.  Norbert  Konegen,  Universität  Münster,  Vorlesung  „Aufgaben  des  Staates“,  

2005)

Die solidarischen Grundwerte Unsere  Grundwerte  sind  Solidarität  und  soziale  Gerechtigkeit.  Beide  schaf-­‐fen  gleichzeitig  die  Voraussetzungen  für  die  Freiheit  der  Einzelnen.  Mit  die-­‐ser  Grundüberzeugung  haben  Gewerk-­‐schaften  für  die  Menschen  große  Er-­‐folge  erreicht  und  entscheidend  zum  Auf-­‐  und  Ausbau  des  Sozialstaats  bei-­‐getragen.  Dabei  ist  das  umfassende  Ziel  stets  die  gesellschaftliche  Emanzi-­‐pation  aller  Arbeitnehmerinnen  und  Arbeitnehmer.  

Unsere  Grundwerte  bleiben  aktuell.  Sie  sind  gültig  –  besonders  in  einer  Zeit  sozialer  Gefährdungen  und  neuer  Her-­‐ausforderungen.  Wir  müssen  wachsam  sein  und  dafür  eintreten,  dass  Solidari-­‐tät  sich  nicht  auf  die  Fürsorge  von  Ar-­‐men  beschränkt,  Gerechtigkeit  nicht  nur  formal  rechtsstaatlich  ausgelegt  

Page 53: Wir brauchen keine Schuldenbremse

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wird  und  Freiheit  weiterhin  viel  mehr  ist  als  die  Freiheit  des  Marktes.  

Zu  Beginn  des  21.  Jahrhunderts  zeigen  sich  in  Deutschland  alarmierende  Entwicklungen  und  Tatbestände  einer  neuen  sozialen  Ungleichheit.  Die  Merkmale  sind  andauernde  Langzeit-­‐arbeitslosigkeit,  eine  große  Zahl  junger  Menschen,  darunter  besonders  viele  Kinder  aus  Einwandererfamilien,  ohne  ausreichende  schulische  und  berufli-­‐che  Qualifikation.  Parallel  zu  wachsen-­‐dem  privaten  Reichtum  entwickelt  sich  gesellschaftliche  Armut.  Auch  die  Real-­‐einkommen  der  Arbeitnehmerinnen  und  Arbeitnehmer  stagnieren  oder  sind  gar  rückläufig  –  manchmal  sogar  bis  hin  zum  Lohndumping.  

Verhältnisse,  die  dazu  führen,  dass  immer  mehr  junge  Menschen  ohne  Perspektiven  auf  Arbeit  und  Einkom-­‐men  zurückgelassen  werden,  sind  in-­‐human,  sie  bergen  Sprengkraft  für  die  Demokratie.  Sie  schwächen  die  auf  Wissen  und  Qualifikation  basierende  Wettbewerbslage  der  Volkswirtschaft.  

(Vorwort  zum  Programm  „Offensive:  Bildung“  2009)  

Die Kirche über den Staat Der  Staat  hat  die  Aufgabe,  "nach  dem  Maß  menschlicher  Einsicht  und  menschlichen  Vermögens  unter  An-­‐drohung  und  Ausübung  von  Gewalt  für  Recht  und  Frieden  zu  sorgen".  

Mit  der  Barmer  Theologischen  Erklä-­‐rung  erkennt  die  Kirche  "in  Dank  und  Ehrfurcht  gegen  Gott  die  Wohltat  die-­‐ser  seiner  Anordnung  an"  und  erinnert  an  die  gemeinsame  Verantwortung  von  Regierenden  und  Regierten.  

Heute  leben  wir  in  einem  demokrati-­‐schen  Rechts-­‐  und  Sozialstaat,  der  durch  eine  globalisierte  Ökonomie  herausgefordert  ist.  Die  Politik  der  Liberalisierung,  Deregulierung  und  Privatisierung  der  Wirtschaft  hat  ord-­‐nungspolitische  Leerräume  geschaffen.  

Angesichts  dieser  Situation  ist  es  staat-­‐liche  Aufgabe,  einen  Ordnungsrahmen  zu  schaffen,  der  das  Risiko  einer  Öko-­‐nomie  vermindert,  die  zum  Selbst-­‐zweck  wird.  Der  Staat  hat  als  Sozial-­‐staat  auch  die  Aufgabe,  Wohlfahrts-­‐

funktionen  zu  übernehmen  und  dabei  die  Beteiligungsgerechtigkeit  zu  för-­‐dern  und  für  künftige  Generationen  menschenwürdige  Lebensbedingun-­‐gen  sicherzustellen.  

(Erklärung  der  Ev.  Kirche  von  Westfalen,  2009)  

Der Sozialstaat als Schicksalskorrektor Es  ist  nämlich  so:  Das  Leben  beginnt  ungerecht  und  es  endet  ungerecht,  und  dazwischen  ist  es  nicht  viel  besser.  Der  eine  wird  mit  dem  silbernen  Löffel  im  Mund  geboren,  der  andere  in  der  Gos-­‐se.  Der  eine  zieht  bei  der  Lotterie  der  Natur  das  große  Los,  der  andere  zieht  die  Niete.  Der  eine  erbt  Talent  und  Durchsetzungskraft,  der  andere  Krankheit  und  Antriebsschwäche.  Der  eine  kriegt  einen  klugen  Kopf,  der  an-­‐dere  ein  schwaches  Herz.  Der  eine  ist  sein  Leben  lang  gesund,  der  andere  wird  mit  einer  schweren  Behinderung  geboren.  Die  Natur  ist  ein  Gerechtig-­‐keitsrisiko.Bei  der  einen  folgt  einer  behüteten  Kindheit  eine  erfolgreiche  Karriere.  Den  anderen  führt  sein  Weg  aus  dem  Ghetto  direkt  ins  Gefängnis.  Der  eine  wächst  auf  mit  Büchern,  der  andere  mit  Drogen.  Der  eine  kommt  in  eine  Schule,  die  ihn  starkmacht,  der  andere  in  eine,  die  ihn  kaputtmacht.  Der  eine  ist  gescheit,  aber  es  fördert  ihn  keiner.  Der  andere  ist  doof,  aber  man  trichtert  ihm  das  Wissen  ein.  Die  besseren  Gene  hat  sich  niemand  erar-­‐beitet,  die  bessere  Familie  auch  nicht.  Das  Schicksal  hat  sie  ihm  zugeteilt.  Der  eine  bekommt  eine  Arbeit,  die  ihn  reich  macht,  der  andere  eine,  die  ihn  kaputtmacht;  der  Nächste  kriegt  gleich  gar  keine  Arbeit.  Nicht  immer  hat  das  mit  persönlicher  Leistung  zu  tun,  nicht  immer  mit  persönlicher  Schuld.  

Das  Schicksal  teilt  ungerecht  aus;  und  es  gleicht  die  Ungerechtigkeiten  nicht  immer  aus.  Hier  hat  der  Sozialstaat  seine  Aufgabe.  Er  sorgt  dafür,  dass  der  Mensch  reale,  nicht  nur  formale  Chan-­‐cen  hat.  Es  genügt  ihm  nicht,  dass  der  Staat  Kindergärten,  Schulen  und  Hoch-­‐schulen  bereitstellt  mit  formal  gleichen  Zugangschancen  für  Vermögende  und  Nichtvermögende;  der  Sozialstaat  sorgt  auch  für  die  materiellen  Voraus-­‐

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setzungen,  die  den  Nichtvermögenden  in  die  Lage  versetzen,  diese  formale  Chance  tatsächlich  zu  nutzen.  Der  So-­‐zialstaat  ist  also,  mit  Maß  und  Ziel,  Schicksalskorrektor.  (Heribert  Prantl:  Korrektur  des  Schicksals.  Westerwelle,  Hartz-­IV-­Urteil  und  die  Fol-­

gen:  Warum  der  Sozialstaat  verteidigt  wer-­den  muss.  Ein  Plädoyer.  SZ-­Magazin,  

20.02.10)  

Wie viel Privatisierung verträgt der Staat? Vielleicht  erinnert  sich  der  ein  oder  andere  von  Ihnen  noch  an  das  Pro-­‐gramm  zur  Staatsmodernisierung,  das  es  Mitte  der  90er  Jahre  in  Deutschland  gab.  Ganz  im  Trend  der  damaligen  Pri-­‐vatisierungseuphorie  war  das  Leitbild  damals  der  „Schlanke  Staat“.  Nun  ist  das  mit  der  Schlankheit  so  eine  Sache.  Manchmal  tut  eine  Diät  Körper  und  Gesundheit  durchaus  gut.  Man  kann  es  damit  aber  auch  gefährlich  übertrei-­‐ben.  Im  Extremfall  zerstört  man  damit  genau  das,  was  man  eigentlich  verbes-­‐sern  will.  Wenn  wir  heute  manche  Er-­‐scheinungen  und  Folgen  von  Privati-­‐sierungen  betrachten,  dann  muss  man  eines  sehr  deutlich  sagen:  Schlank-­‐heitswahn  ist  nicht  nur  ein  Problem  junger  Frauen,  sondern  auch  von  poli-­‐tischen  Ideologen.  

Die  Auswüchse,  Übertreibungen  und  enttäuschten  Erwartungen  von  Priva-­‐tisierungen  sind  allseits  bekannt,  in  Deutschland  und  weltweit:  

Wir  hören  etwa  von  Krisengebieten,  in  denen  sich  westliche  Regierungen  durch  private  Sicherheitsfirmen  ver-­‐treten  lassen.  Firmen,  deren  Söldner  offenbar  Immunität  genießen,  üben  dort  Gewalt  aus,  und  zwar  frei  von  rechtsstaatlichen  Bindungen.  

Wir  alle  kennen  auch  die  Fälle  in  Euro-­‐pa,  in  denen  Infrastrukturleistungen,  die  einst  der  Staat  erbracht  hat,  priva-­‐tisiert  und  die  Märkte  liberalisiert  worden  sind.  Manchmal  war  das  Er-­‐gebnis  ein  ziemliches  Desaster.  Da  sind  etwa  Eisenbahnen  privatisiert  worden,  und  die  Folgen  waren  ein  marodes  Streckennetz,  Sicherheitsmängel  und  weniger  Service.  

Und  hier  in  Deutschland  erleben  wir  tagtäglich  ein  Marktversagen  im  Ener-­‐giebereich.  Wir  spüren,  wie  die  fakti-­‐schen  Gebietsmonopole  der  Strom-­‐konzerne  dazu  führen,  dass  Gas-­‐  und  Strompreise  ständig  steigen  ...  

Wer  die  Frage  nach  den  Grenzen  der  Privatisierung  beantworten  will,  muss  beim  Staat  und  seinen  Aufgaben  be-­‐ginnen.  Was  der  deutsche  Staat  heute  nicht  ist,  das  ist  wohl  klar:  Er  ist  weder  ein  höheres  Wesen,  für  das  sich  der  Einzelne  aufopfern  muss,  noch  ein  bloßer  Zwangsapparat.  Und  er  ist  na-­‐türlich  auch  nicht  die  Summe  seiner  Politiker  oder  Beamten.  Wer  von  uns  das  glaubt,  der  neigt  zur  Selbstüber-­‐schätzung.  Stattdessen  ist  der  Staat  eine  notwendige  Institution.  Er  ist  notwendig,  weil  eben  durch  die  Pri-­‐vatwirtschaft  oder  mit  Hilfe  von  bür-­‐gerschaftlichem  Engagement  nicht  alle  Aufgaben  sinnvoll  erfüllt  werden  kön-­‐nen,  die  in  einem  ausdifferenzierten  Gemeinwesen  anfallen.  

Entstanden  ist  der  Staat  als  Inhaber  des  Gewaltmonopols,  um  für  Frieden  und  Sicherheit  zu  sorgen.  Er  ist  dann  zum  Rechtsstaat  geworden,  weil  er  den  Menschen  auch  ein  Höchstmaß  an  Freiheit  und  Selbstbestimmung  ver-­‐schaffen  soll.  Und  schließlich  ist  er  zum  Leistungs-­‐  und  Sozialstaat  gewor-­‐den,  weil  eine  moderne  Gesellschaft  Daseinsvorsorge,  gute  Infrastruktur  und  sozialen  Ausgleich  braucht,  wenn  Wohlstand  entstehen  und  Freiheit  verwirklicht  werden  soll.  

Über  diesen  Kreis  der  Staatsaufgaben  ging  und  geht  die  öffentliche  Hand  aber  teilweise  weit  hinaus,  insbeson-­‐dere  mit  ihren  zahlreichen  Wirt-­‐schaftsunternehmen.  Mit  Fug  und  Recht  wird  man  fragen  dürfen,  ob  der  Staat  Brauereien  und  Bergwerke,  Weingüter  und  Wohnungsgesellschaf-­‐ten,  Gestüte  oder  Porzellanmanufaktu-­‐ren  bewirtschaften  muss.  All  diese  Unternehmen  konkurrieren  im  Markt  mit  privaten  Anbietern  und  deshalb  ist  die  Frage  berechtigt:  warum  muss  der  Staat  so  etwas  machen?  Ordnungspoli-­‐tisch  kann  man  sagen,  das  soll  doch  besser  in  privater  Regie  erfolgen.  Und  betriebswirtschaftlich  lässt  sich  

Page 55: Wir brauchen keine Schuldenbremse

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durchaus  vermuten:  Ein  öffentliches  Unternehmen,  das  nicht  dem  Risiko  der  Marktbereinigung  ausgesetzt  ist,  das  faktisch  nicht  pleite  gehen  kann,  wird  wohl  kaum  so  effektiv  arbeiten,  wie  eines,  das  sich  dem  Wettbewerb  mit  all  seinen  Unwägbarkeiten  stellen  muss.  Es  war  deshalb  richtig,  dass  sich  der  Staat  in  den  letzten  Jahrzehnten  von  vielen  Wirtschaftsunternehmen  und  Beteiligungen  getrennt  hat.  Sol-­‐chen  Trennungen  lag  allerdings  in  der  Regel  keine  gründliche  Bestimmung  der  Staatsaufgaben  zu  Grunde.  Allzu  häufig  geschah  dies  allein  unter  dem  Druck  einer  schlechten  Haushaltslage.  Das  war  jedoch  keine  gute  Ausgangs-­‐position.  Wer  finanziell  schwach  ist,  kann  kein  starker  Verhandlungspart-­‐ner  sein.  Ökonomisch  hat  sich  daher  manche  Unternehmensprivatisierung  in  der  Rückschau  als  schlechtes  Ge-­‐schäft  herausgestellt.  

Wo  wir  es  allerdings,  anders  als  in  den  eben  genannten  Beispielen,  tatsächlich  mit  Staatsaufgaben  zu  tun  haben,  da  stellt  sich  die  nächste  Frage:  Wie  soll  der  Staat  seine  Aufgabe  wahrnehmen?  Lange  Zeit  hat  er  stets  direkt  durch  Behörden,  Beamte  oder  staatliche  Ein-­‐richtungen  gehandelt.  Heute  wissen  wir,  dass  es  auch  andere  Möglichkeiten  für  die  öffentliche  Hand  gibt,  ihrer  Verantwortung  für  eine  bestimmte  Aufgabe  gerecht  zu  werden.  Deshalb  unterscheiden  wir  heute  zwischen  der  Gewährleistungsverantwortung  und  der  Erfüllungsverantwortung.  Der  Staat  muss  gewährleisten,  dass  be-­‐stimmte  Aufgaben  wahrgenommen  werden.  Manchmal  tut  er  dies  selbst  in  eigener  Regie,  dann  fallen  die  Gewähr-­‐leistungs-­‐  und  die  Erfüllungsverant-­‐wortung  zusammen.  In  anderen  Fällen  dagegen  beschränkt  er  sich  darauf,  zu  gewährleisten,  dass  eine  Aufgabe  wahrgenommen  wird.  Ihre  konkrete  Ausführung  kann  er  dann  Privaten  übertragen.  Der  Staat  hat  dann  eher  die  Rolle  des  Schiedsrichters:  Er  beo-­‐bachtet  und  überwacht,  ob  die  Spielre-­‐geln  eingehalten  werden  und  greift  nur  dann  ein,  wenn  gegen  die  Regeln  ver-­‐stoßen  wird.  Das  heißt,  er  muss  auch  dafür  sorgen,  dass  das  Spiel  läuft  ...  

Aber  was  heißt  es,  wenn  etwa  eine  Kommune  ihre  Abfallentsorgung  nicht  mehr  in  öffentlicher  Regie  verrichten  lässt,  sondern  sie  alle  7  oder  10  Jahre  neu  ausschreibt  und  einem  privaten  Anbieter  den  Zuschlag  erteilt?  Was  sind  die  Folgen  eines  solchen  Vorge-­‐hens?  Für  die  Beschäftigten  bedeutet  dies  häufig  eine  Verschlechterung  ih-­‐rer  Arbeitsverhältnisse.    

Schließlich  will  der  private  Anbieter  Gewinne  machen  und  bei  arbeitsinten-­‐siven  Tätigkeiten  geht  das  vor  allem  über  die  Senkung  der  Lohnkosten.  Die  privaten  Unternehmen  werden  außer-­‐dem  langfristige  Investitionen  meiden.    

Sie  müssen  ihr  Geschäft  in  den  7  oder  10  Jahren  des  Ausschreibungszeit-­‐raums  machen  und  werden  ihre  Preise  entsprechend  kalkulieren.  Danach  kann  schon  wieder  der  nächste  Anbie-­‐ter  den  Zuschlag  bekommen.    

Dies  ist  nicht  nur  ein  Damoklesschwert  für  die  Beschäftigten,  sondern  –  vor  allen  bei  Mittelständlern  –  im  Zweifel  für  das  gesamte  Unternehmen.  Kom-­‐men  sie  bei  der  erneuten  Ausschrei-­‐bung  nicht  mehr  zum  Zug,  kann  das  die  Existenz  gefährden.  Marktfähig  sind  daher  vor  allem  die  Großkonzerne.  Aber  sie  gefährden  wieder  die  doch  eigentlich  erwünschte  Vielfalt  und  die  erhofften  Privatisierungsvorteile.  Wir  sehen  das  etwa  bei  den  Wasserpreisen.  Der  Städte-­‐  und  Gemeindebund  hat  gerade  ermittelt,  dass  die  Preise  häufig  in  solchen  Regionen  am  günstigsten  sind,  in  denen  nicht  große  Konzerne,  sondern  viele  kleine  Wasserbetriebe  arbeiten  ...  

Bei  Privatisierungen  hat  es  in  der  Ver-­‐gangenheit  viel  Blauäugigkeit,  viel  Übereifer  und  viele  Enttäuschungen  gegeben.  Ich  habe  den  Eindruck,  mit  der  Privatisierungseuphorie  ist  es  nun  vorbei.    (Rede  der  Bundesministerin  der  Justiz,  Bri-­gitte  Zypries  MdB,  bei  der  Gewerkschaftspo-­

litischen  Arbeitstagung  des  dbb  am  08.01.08  in  Köln)  

Page 56: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

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Diskurs 3.2: Einen armen Staat können sich nur Reiche leisten  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ökonomen preisen die Putzfrauen Die  Boni-­‐Banker  in  der  Londoner  City  haben  einen  schweren  Stand:  Erst  ha-­‐ben  sie  mit  ihren  Spekulationen  das  Land  in  eine  Krise  gestürzt  und  den  Zorn  der  Briten  auf  sich  gezogen.  Zur  Strafe  will  die  Regierung  jetzt  die  Hälf-­‐te  ihrer  Bonuszahlungen  kassieren  -­‐  was  in  der  Branche  als  unfair  und  voll-­‐kommen  überzogen  empfunden  wird.  Und  nun  zeigt  eine  neue  Studie  (PDF)  auch  noch,  dass  die  Arbeit  der  Banker  verzichtbar  wäre.  Eine  Reinigungskraft  in  einem  Krankenhaus  leistet  demnach  mehr  für  die  Gesellschaft  als  ein  Spit-­‐zenbanker  im  Finanzdistrikt.  

Die  Fragestellung  der  Analyse  hat  es  in  sich:  Experten  der  New  Economics  Foundation  (NEF)  wollten  wissen,  welche  Jobs  mehr  zum  Wohlstand  der  Gesellschaft  beitragen.  Im  Falle  der  Banker  verglichen  sie  deren  Einkom-­‐men  mit  der  Wirtschaftsleistung  der  Finanzexperten,  also  mit  ihren  Steuer-­‐zahlungen  und  der  Anzahl  der  geschaf-­‐fenen  Jobs.  Das  Ergebnis  fällt  negativ  aus:  Für  jedes  Pfund,  das  die  Spitzen-­‐

banker  verdienen,  zahlt  die  Gesell-­‐schaft  sieben  Pfund  drauf.  

Noch  verheerender  fällt  die  Bilanz  bei  Steuerberatern  aus:  47  Pfund  kostet  es  die  Gesellschaft,  wenn  einer  der  Steu-­‐erspargehilfen  ein  Pfund  verdient.  Der  "Guardian"  wird  in  seiner  Analyse  der  Studie  noch  etwas  deutlicher:  Die  Füh-­‐rungskräfte  von  Werbeagenturen  "zer-­‐stören"  mit  jedem  verdienten  Pfund  Werte  der  Gesellschaft  in  Höhe  von  elf  Pfund.  

Bei  vielen  Jobs  im  Niedriglohnsektor  fällt  die  Rechnung  ganz  anders  aus,  nämlich  positiv.  So  liege  das  Verhältnis  zwischen  Einkommen  und  gesell-­‐schaftlicher  Wertschöpfung  bei  Müll-­‐männern  bei  eins  zu  zwölf.  Müllmän-­‐ner  helfen  demnach,  durch  Recycling  CO2-­‐Emissionen  einzusparen  und  Rohstoffverbrauch  zu  verringern.  Die  hochbezahlten  Banker  hingegen  hätten  mit  fehlgeschlagenen  Spekulationen  hohen  volkswirtschaftlichen  Schaden  angerichtet.  

In  der  Kinderbetreuung  steht  einem  Pfund  Einkommen  ein  zusätzlicher  

Page 57: Wir brauchen keine Schuldenbremse

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Gewinn  zwischen  7,00  und  9,50  Pfund  gegenüber  -­‐  unter  anderem,  weil  El-­‐tern  weiterhin  arbeiten  können,  weil  Kinder  bei  guter  Betreuung  zusätzliche  Lernanreize  erhalten  und  so  in  ihrer  Entwicklung  gefördert  werden.  

Selbst  Reinigungskräfte  in  einem  Krankenhaus  tragen  laut  der  Studie  mehr  zum  Wohl  der  Gesellschaft  bei  als  die  geschmähten  Banker.  "Für  jedes  Pfund,  das  wir  ihnen  zahlen,  generie-­‐ren  sie  mehr  als  zehn  Pfund  an  gesell-­‐schaftlichem  Wert",  schreiben  die  Au-­‐toren.  Die  gesellschaftliche  Anerken-­‐nung  für  ihre  Leistungen  bliebe  den  Putzkräften  aber  verwehrt,  die  Löhne  extrem  niedrig.  

Es  sei  daher  schlicht  falsch,  von  einer  hohen  Bezahlung  auf  die  gesellschaftli-­‐che  Leistung  zu  schließen.  Der  oftmals  angenommene  Zusammenhang  zwi-­‐schen  hohen  finanziellen  Anreizen  und  Beiträge  zum  Allgemeinwohl  müsse  vielmehr  in  Frage  gestellt  werden,  schreiben  die  Autoren.  Sie  argumentie-­‐ren,  dass  gerade  diejenigen  Wirt-­‐schaftszweige  mit  den  höchsten  Ein-­‐kommen  sich  nicht  an  den  Kosten  be-­‐teiligen,  die  der  Gesellschaft  tatsäch-­‐lich  durch  sie  entstehen.  

(SPIEGEL  Online,  14.12.09)  

Kommunen chronisch unterfinanziert Das  zweite  Konjunkturpaket  hilft  den  Städten  und  Gemeinden,  lange  aufge-­‐schobene  Investitionen  endlich  zu  rea-­‐lisieren.  Doch  Sonderprogramme  sind  keine  Dauerlösung:  Langfristig  bräuch-­‐ten  die  Kommunen  mehr  Geld  für  den  normalen  Haushalt.  

Den  Verfall  der  öffentlichen  Infrastruk-­‐tur  konnten  Städte  und  Gemeinden  2007  nicht  aufhalten.  Ihre  Ausgaben  reichten  nur,  um  ihn  zu  bremsen.  Technisch  ausgedrückt:  Die  Abschrei-­‐bungen  auf  das  Anlagevermögen  der  Kommunen  überstiegen  ihre  Investi-­‐tionen.  Dabei  wären  nicht  nur  Repara-­‐turen  an  bestehenden  Schulen  oder  Straßen  nötig,  sondern  auch  Neuinve-­‐stitionen,  die  die  Infrastruktur  an  die  Bevölkerungs-­‐,  Verkehrs-­‐  und  Wirt-­‐schaftsentwicklung  anpassen.  Der  Fi-­‐nanzspezialist  Michael  Reidenbach,  bis  vor  kurzem  beim  Deutschen  Institut  

für  Urbanistik  tätig,  hat  ermittelt,  wie  hoch  der  kommunale  Finanzbedarf  in  den  kommenden  Jahren  ist.  Auch  die  nötigen  Mittel  für  Zweckverbände  und  Kommunalunternehmen  sind  in  seiner  Rechnung  enthalten.  

Die  notwendige  Investitionssumme  für  die  Zeit  bis  2020  beträgt  dem  Experten  zufolge  gut  700  Milliarden  Euro.  Davon  entfallen  allein  70  Milliarden  auf  den  Nachholbedarf,  der  sich  aus  dem  „In-­‐vestitionsstau“  der  vergangenen  Jahre  ergibt.  Gut  410  Milliarden  Euro  kostet  die  laufende  Instandhaltung  der  beste-­‐henden  Infrastruktur.  Knapp  220  Mil-­‐liarden  sind  für  Erweiterungen  erfor-­‐derlich.  

Den  größten  Einzelposten  bilden  die  nötigen  Ausgaben  für  Straßen,  Brüc-­‐ken,  Fahrradwege,  Verkehrsleitsyste-­‐me:  160  Milliarden  Euro,  von  denen  etwas  mehr  als  die  Hälfte  für  Neubau-­‐ten,  der  Rest  für  Reparaturen  aufge-­‐wendet  werden  müssten.  Ebenfalls  sehr  großer  Finanzbedarf  besteht  bei  den  Schulen.  Sie  müssen  veränderten  technischen,  ökologischen  und  päd-­‐agogischen  Anforderungen  angepasst  werden:  energetische  Sanierung,  Com-­‐puterräume,  zusätzlicher  Raumbedarf  durch  verdichtete  Stundenpläne  und  Ganztagsbetrieb.  So  kommen  trotz  sinkender  Schülerzahlen  73  Milliarden  Euro  zusammen.  

Die  9,6  Milliarden  Euro,  die  das  zweite  Konjunkturpaket  der  Bundesregierung  für  kommunale  Investitionen  vorsieht,  seien  „ein  erfreulicher  und  unerwarte-­‐ter  Geldsegen“  für  Städte  und  Gemein-­‐den,  schreibt  Reidenbach.  Es  müsse  auf  längere  Sicht  aber  gelingen,  die  für  das  Funktionieren  der  kommunalen  Infra-­‐struktur  notwendigen  Mittel  aus  den  regulären  Haushalten  zu  generieren.

(Böckler  impuls,  Ausgabe  08/2009)  

Was bedeutet die Schuldenbremse für die Kommunen? Bei  der  Höhe  des  Anteiles  der  Investi-­‐tionen  der  öffentlichen  Hand  am  Brut-­‐toinlandsprodukt  steht  Deutschland  mit  1,5  %  unter  den  OECD-­‐Ländern  bekanntlich  an  vorletzter  Stelle.  In  den  70’er  Jahren  lag  er  noch  bei  über  7  %.  Dieser  drastische  Rückgang  ging  na-­‐

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türlich  nicht  an  den  Kommunen  vorbei.  Tätigten  die  deutschen  Kommunen  1992  noch  Investitionen  in  Höhe  von  34  Mrd.  Euro,  so  fielen  diese  kontinu-­‐ierlich  bis  2004  auf  19  Mrd.  Euro.  Im  Konjunkturaufschwung  2005  bis  2008  stiegen  sie  nur  auf  21  Mrd.  Euro  wie-­‐der  leicht  an.  Dies  liegt  weder  am  feh-­‐lenden  Bedarf  an  kommunalen  Investi-­‐tionen  noch  am  fehlenden  Willen  der  Kommunalparlamente.  

Eine  DIfU-­‐Studie  kommt  zum  Ergebnis,  dass  der  Bedarf  an  kommunalen  Inve-­‐stitionen  für  den  Zeitraum  2006  bis  2020  704  Mrd.  Euro  beträgt.  Im  Ver-­‐gleich  zu  diesem  Bedarf  investieren  die  Kommunen  jährlich  6  bis  7  Mrd.  Euro  zu  wenig.  Viele  Kommunen  können  wegen  ihrer  strukturellen  Finanz-­‐schwäche  kaum  noch  investieren  und  können  sich  nur  mit  Kassenkrediten,  die  von  1  Mrd.  Euro  1992  auf  29  Mrd.  Euro  2007  stiegen,  über  Wasser  hal-­‐ten.  Die  Sozialausgaben  der  deutschen  Kommunen  sind  v.a.  als  Folge  der  strukturellen  und  konjunkturellen  Massenarbeitslosigkeit  von  26,1  Mrd.  Euro  1998  auf  37,6  Mrd.  Euro  2007  gestiegen.  Die  Personalausgaben  stie-­‐gen  in  diesem  Zeitraum  nur  wenig  von  38,7  Mrd.  Euro  auf  40,5  Mrd.  Euro.  Die  meisten  Kommunen  müssen  sich  we-­‐gen  ihrer  strukturellen  Finanzschwä-­‐che  oder  wegen  stark  weg  brechender  Steuereinnahmen  in  Abschwungpha-­‐sen  in  ihrer  Investitionspolitik  pro-­‐zyklisch  verhalten.  

(ver.di  Tagung  zur  „Schuldenbremse“  am  16.04.09  in  Berlin.  Referat  von  Dr.  Ernst  

Wolowicz)  

FDP: Der liberale Sozialstaat Jeder  Mensch  hat  das  Recht  auf  ein  menschenwürdiges  Leben.  Freiheit  braucht  eine  materielle  Grundlage.  Die  Liberalen  wissen,  dass  auch  bei  wach-­‐sendem  Bürgersinn  und  wachsender  Verantwortung  für  den  Nächsten  eine  staatliche  Absicherung  des  Existenz-­‐minimums  notwendig  ist.  Dem  dienen  derzeit  für  die  große  Mehrheit  der  Bevölkerung  die  gesetzlichen  Pflicht-­‐systeme  der  beitragsfinanzierten  Sozi-­‐alversicherung,  nachrangig  die  steuer-­‐finanzierte  Sozialhilfe.  

Die  Leistungen  der  Sozialversicherung  sind  heute  grundsätzlich  lohnbezogen.  Damit  ist  sie  in  besonderer  Weise  von  der  Entwicklung  der  Beschäftigung  und  der  Löhne  abhängig.  Wegen  der  Umbrüche  auf  dem  Arbeitsmarkt  und  der  demographischen  Entwicklung  muss  gerade  auch  die  Rentenversiche-­‐rung  ihre  Leistungen  den  veränderten  Gegebenheiten  anpassen.  Eine  voll-­‐ständige  Absicherung  des  Lebensstan-­‐dards  kann  die  Sozialversicherung  künftig  nicht  mehr  leisten;  hier bedarf es ergänzender Vorsorge in Eigenver-antwortung. Bürgern, die sich nicht aus eigener Kraft absichern können, gewähr-leistet Steuerfinanzierung auch künftig das Existenzminimum.

Der  liberale  Sozialstaat  konzentriert  seine  Hilfe  wirksam  auf  die  wirklich  Bedürftigen.  Der  sozialdemokratische  Wohlfahrtsstaat  verteilt  an  alle  ein  wenig.  (Wiesbadener  Grundsätze  für  die  liberale  

Bürgergesellschaft,  beschlossen  auf  dem  Bundesparteitag  der  F.D.P.  am  24.05.97)  

DGB Grundsatzprogramm Unser  Ziel  ist,  den  Menschen  mehr  persönliche  Freiheit  und  individuelle  Wahlmöglichkeiten  zu  sichern.  Darum  bekämpfen  die  Gewerkschaften  vehe-­‐ment  alle  Vorstellungen  von  einem  Minimalstaat,  der  sich  auf  vermeintli-­‐che  Kernaufgaben  oder  Hoheitsfunk-­‐tionen  zurückziehen  soll.  Der  Markt  schafft  aus  sich  selbst  heraus  weder  soziale  Gerechtigkeit  noch  soziale  Si-­‐cherheit;  er  garantiert  weder  ausrei-­‐chend  Erwerbsarbeit  noch  Bildungs-­‐chancen  für  alle  oder  eine  gerechte  Vermögensverteilung.  Deshalb  fordern  die  Gewerkschaften  die  staatliche  Ver-­‐antwortung  für  gesellschaftlich  akzep-­‐tierte  Lösungen.  Wir  wollen  staatliche  Initiativen  für  Innovationen  und  staat-­‐liche  Regulierungen,  die  möglichst  in  der  gesamten  Europäischen  Union  gelten.  

Obwohl  die  Gewerkschaften  eine  um-­‐fassende  Privatisierung  und  Deregulie-­‐rung  ablehnen,  vertreten  wir  nicht  die  Vorstellung,  der  Staat  müsse  alles  re-­‐geln.  Die  Gewerkschaften  plädieren  vielmehr  für  staatliche  und  gesell-­‐

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schaftliche  Verantwortung,  die  Märkte  reguliert,  die  selbstverantwortliche  Entfaltung  der  Individuen  stärkt,  Stan-­‐dards  für  öffentliche  und  private  Dien-­‐ste  vorgibt  und  kontrolliert,  sowie  den  Erhalt  und  den  Ausbau  sozialer  Siche-­‐rungssysteme  garantiert.  

(DGB-­Grundsatzprogramm  "Die  Zukunft  gestalten",  1996)  

Zukunftsinvestitionen statt kaputtsparen! Die  Forderung  nach  einem  öffentlichen  Investitionsprogramm  und  nach  mehr  Beschäftigung  im  öffentlichen  Dienst  ist  in  den  letzten  Jahren  von  den  Ge-­‐werkschaften  immer  wieder  erhoben  worden.  Eine  längerfristige  Erhöhung  der  öffentlichen  Ausgaben  würde  da-­‐bei  nicht  nur  als  „Strohfeuer“  wirken,  sondern  nachhaltig  für  Wachstum  und  Beschäftigung  sorgen.  

In  Deutschland  wird  von  der  öffentli-­‐chen  Hand  deutlich  zu  wenig  in  den  Bereichen  öffentliche  Infrastruktur  und  Bildung  ausgegeben.  Nach  den  neuesten  Zahlen  betragen  die  öffentli-­‐chen  Investitionen  als  Anteil  am  Brut-­‐toinlandsprodukt  nur  noch  1,4  Prozent  –  das  sind  mehr  als  ein  Prozent  weni-­‐ger  als  im  Durchschnitt  der  EU-­‐25.  Und  auch  im  Bildungsbereich  fallen  die  deutschen  Ausgaben  unterdurch-­‐schnittlich  aus,  obwohl  hier  unbestrit-­‐ten  ein  hoher  Bedarf  besteht.  

Nach  einer  Faustformel  erhöhen  öf-­‐fentliche  Investitionen  in  Höhe  von  1  Milliarden  Euro  die  Beschäftigung  um  20.000  bis  25.000  Personen.  Ein  öf-­‐fentliches  Investitionsprogramm  mit  einem  Volumen  von  20  Milliarden  Eu-­‐ro  würde  mithin  400.000  bis  500.000  zusätzliche  Arbeitsplätze  bringen.  

Dabei  kämen  auch  sogenannte  Selbst-­‐finanzierungseffekte  zum  Tragen.  Das  Institut  für  Arbeitsmarkt-­‐  und  Berufs-­‐forschung  beziffert  die  sogenannten  gesamtfiskalischen  Kosten  der  Arbeits-­‐losigkeit  in  Deutschland  auf  durch-­‐schnittlich  19.600  Euro  pro  Arbeitslo-­‐sen.  Die  gesamtfiskalischen  Kosten  erfassen  die  –  zum  Teil  hypothetischen  –  Kosten  der  Arbeitslosigkeit:  Ausga-­‐ben  für  Arbeitslosengeld  und  sonstige  Sozialleistungen,  aber  auch  Minder-­‐

einnahmen  bei  den  Steuern  und  den  Sozialbeiträgen,  die  eben  im  Falle  der  Arbeitslosigkeit  nicht  anfallen.  Ausge-­‐hend  vom  Durchschnittswert  (19.600  Euro)  würde  ein  um  400.000  bis  500.000  Personen  höherer  Beschäfti-­‐gungsstand  damit  rund  8  bis  10  Milli-­‐arden  Euro  an  höheren  Einnahmen  (Steuern  und  Sozialbeiträge)  bzw.  Minderausgaben  (Sozialtransfers  wie  Arbeitslosengeld)  mit  sich  bringen.  Darüber  hinaus  kann  die  Konjunktur  mit  einem  solchen  Programm  belebt  werden,  d.h.  konkret  werden  die  Un-­‐ternehmen  aufgrund  des  Anstiegs  der  gesamtwirtschaftlichen  Nachfrage  und  besser  ausgelasteten  Kapazitäten  ihre  Investitionen  erhöhen.  Dies  wird  den  Beschäftigungsstand  sowie  den  Kon-­‐sum  steigern  und  so  weitere  Steuer-­‐einnahmen  und  Beitragszahlungen  nach  sich  ziehen;  außerdem  werden  die  Sozialtransfers  weiter  sinken.  

(IG  Metall  Abteilung  Wirtschaft-­Technik-­Umwelt:  „Konjunktur  ankurbeln  –  Zukunft  sichern:  Infrastruktur-­Offensive  für  Wach-­

stum  und  Beschäftigung  starten!“  Frankfurt  2002)  

Den Reichtum gerecht verteilen Die  Verteilung  von  Einkommen  und  Vermögen  wird  immer  ungerechter.  Während  die  Lohneinkommen  kaum  steigen,  haben  sich  die  Gewinne  kräftig  erhöht.  Auch  bei  den  Vermögen  klafft  die  Schere  immer  weiter  auseinander.  Die  Steuerpolitik  der  vergangenen  Jahre  hat  zur  ungerechter  werdenden  Verteilung  beigetragen.  Entlastet  wur-­‐den  vor  allem  hohe  Einkommen  und  Unternehmen.  

Neben  der  wachsenden  Ungleichver-­‐teilung  führte  die  Steuerpolitik  zu  ge-­‐waltigen  Einnahmeausfällen  in  den  öffentlichen  Haushalten.  Wo  die  Ein-­‐nahmen  fehlten,  wurden  die  Ausgaben  gekürzt:  Der  Sparpolitik  der  hessi-­‐schen  Landesregierung  sind  steuerpo-­‐litisch  bedingte  Ausfälle  vorausgegan-­‐gen.  Die  Haushaltspolitik  orientiert  sich  insbesondere  an  den  Interessen  der  Wirtschaft,  und  trotz  drastischer  Sparmaßnahmen  wurden  höchst  frag-­‐würdige  Prestigeprojekte  wie  der  Kauf  des  Erbacher  Schlosses  und  der  Um-­‐bau  des  Staatsweingutes  finanziert.  

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Die  verringerten  Einnahmen  der  öf-­‐fentlichen  Hand  hatten  viel  zu  geringe  öffentliche  Investitionen  zur  Folge.  Damit  das  Land  seinen  Aufgaben  nach-­‐kommen  kann,  sind  zusätzliche  finan-­‐zielle  Mittel  erforderlich.  Die  hessische  Landesregierung  muss  sich  deshalb  dafür  einsetzen,  dass  die  Vermögens-­‐teuer  in  Deutschland  wieder  erhoben  wird.  Das  Bundesverfassungsgericht  hat  festgestellt,  dass  der  Staat  hohe  Einkommen  und  Vermögen  auch  hoch  belasten  darf.  

Die  Vermögensteuer  fließt  komplett  den  Bundesländern  zu.  Durch  eine  Vermögensteuer  mit  einem  Steuersatz  in  Höhe  von  einem  Prozent  und  einem  Freibetrag  von  500.000,-­‐  Euro  würde  allein  das  Bundesland  Hessen  mehr  als  eine  Milliarde  Euro  erhalten.  Die  Wie-­‐dererhebung  der  Vermögensteuer  wä-­‐re  auch  ein  wichtiger  Schritt  in  Rich-­‐tung  Verteilungsgerechtigkeit.  ...  

Neben  der  Aufgabe  der  Einkommens-­‐sicherung  hat  der  Sozialstaat  für  die  Finanzierung  und  Bereitstellung  sozia-­‐ler  Einrichtungen  und  Dienste  zu  sor-­‐gen.  Diese  sind  entsprechend  der  sich  verändernden  Lebensbedingungen  aus-­‐  und  umzubauen.  Der  DGB  Hessen  fordert,  dass  soziale  Dienstleistungen  in  Form  regulärer  sozialversiche-­‐rungspflichtiger  Arbeitsverhältnisse  zu  erbringen  sind.  

(aus:  Forderungen  des  DGB  Hessen  zur  Landtagswahl  2008)  

Privatisierung ist keine Lösung Einige  Kritiker  der  hohen  Schulden  raten  dazu,  dass  der  Staat  staatliche  Vermögen  privatisieren  solle,  um  seine  Schulden  abzubauen.  Das  kann  man  machen,  es  kann  aber  auch  ein  »Schuss  in  den  Ofen«  sein.  Niemand  käme  im  Privatleben  auf  die  Idee,  es  sei  in  je-­‐dem  Fall  gut,  das  eigene  Haus  zu  ver-­‐kaufen,  um  Schulden  zu  tilgen.  Wenn  das  Vermögen  wertvoll  ist  und  not-­‐wendig  für  das  Wohlergehen  einer  Familie,  wird  man  es  nicht  verkaufen,  auch  wenn  man  damit  Schulden  zu-­‐rückzahlen  könnte.  Auf  keinen  Fall  wird  man  ohne  Zwang  verkaufen,  wenn  man  einen  schlechten  Preis  für  das  Haus  erzielt.  Nicht  viel  anderes  gilt  

für  öffentliches  Vermögen:  Wenn  man  zum  Beispiel  Anteile  an  der  Deutschen  Telekom  oder  an  der  Post  AG  zu  einem  schlechten  Kurs  verkauft,  machen  das  Volk  insgesamt  und  die  Volkswirt-­‐schaft  kein  gutes  Geschäft.  Dann  wird  Vermögen  verschleudert.  Das  ist  kein  gutes  Geschäft  für  den,  der  verkauft,  es  ist  aber  meist  ein  gutes  Geschäft  für  den,  der  kauft.  Sinnigerweise  raten  oft  diejenigen  zur  Privatisierung,  die  bei  solchen  Privatisierungsvorgängen  viel  Geld  verdienen,  weil  sie  billig  einkau-­‐fen  oder  weil  sie  an  den  Provisionen  kräftig  verdienen  oder  weil  sie  einen  der  hochdotierten  Posten  ergattern  wollen,  die  mit  der  Privatisierung  oder  Teilprivatisierung  von  Staatsunter-­‐nehmen  geschaffen  werden.  So  ist  es  bei  der  Privatisierung  von  Post  und  Telekom  und  bei  der  Umwandlung  der  Bahn  in  eine  Aktiengesellschaft  ge-­‐schehen.  Hochdotierte  Jobs  –  auch  für  Spezis.  Um  den  Abbau  der  Staatsschul-­‐den  geht  es  dabei  nur  in  zweiter  Linie.  (Auszug  aus  „Die  Reformlüge.  40  Denkfeh-­

ler,  Mythen  und  Legenden,  mit  denen  Politik  und  Wirtschaft  Deutschland  ruinieren“,  

München  2004)  

Folgen von Privatisierungen Aus  Sicht  der  Beschäftigten  führten  Privatisierungen  im  Bereich  der  Stadtwerke  in  den  1990er  Jahren  in  verschiedenen  Fällen  nachweislich  zu  einer  Verschlechterung  der  tariflich  geregelten  Vergütungs-­‐,  Arbeitszeit-­‐  und  sonstigen  Beschäftigungsbedin-­‐gungen.  Darüber  ob  –  und  ggf.  inwie-­‐weit  –  durch  Privatisierungen  Arbeits-­‐plätze  im  kommunalen  Energiesektor  langfristig  gesichert  oder  neu  geschaf-­‐fen  werden  konnten,  liegen  bisher  kei-­‐ne  systematischen  Untersuchungen  vor.  Für  kleine  und  mittelständische  Unternehmen,  die  von  Stadtwerken  Leistungen  beziehen  oder  Aufträge  erhalten,  fehlen  entsprechende  Analy-­‐sen  der  wirtschaftlichen  und  qualitäts-­‐bezogenen  Folgen  von  Privatisierun-­‐gen  bisher  ebenfalls.  Einige  Autoren  haben  in  den  letzten  Jahren  darüber  hinaus  vermehrt  darauf  hinge-­‐  wiesen,  dass  aufgrund  des  wenig  entwickelten  Beteiligungsmanagements  die  politi-­‐sche  Steuerung  und  Kontrolle  privati-­‐

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sierter  öffentlicher  Unternehmen  und  Betriebe  bzw.  öffentlich-­‐privater  Ge-­‐sellschaften  in  deutschen  Kommunen  häufig  nicht  ausreichend  ist.  

(Wolfgang  Gerstlberger:  Zwei  Jahrzehnte  Privatisierung  in  deutschen  Kommunen  –  

Herausforderungen  und  Argumente  für  den  Erhalt  der  Stadtwerke)  

Der Staat ist kein Zaungast Wenn  Ökonomen  vor  Jahrzehnten  ei-­‐nen  Blick  ins  zweite  Jahrtausend  war-­‐fen,  prophezeiten  sie  den  Industriena-­‐tionen  eine  Zukunft  als  Dienstlei-­‐stungsgesellschaften.  Doch  Vorhersa-­‐gen  sind  ungewiss.  In  Deutschland  hängt  noch  immer  jeder  zweite  Ar-­‐beitsplatz  vom  verarbeitenden  Gewer-­‐be  ab.  Auch  die  Dienstleistungen  könn-­‐ten  ohne  Industrie  nicht  leben.  Denn  50  Prozent  ihres  Geschäfts  machen  sie  mit  der  Industrie.  Die  industrielle  Pro-­‐duktion  bleibt  auch  im  21.  Jahrhundert  der  Kern  der  deutschen  Wirtschaft.  Sie  hat  in  Deutschland  immer  wieder  »Leitmärkte«  geschaffen  –  wie  zurzeit  die  Umwelttechnologie.  Typisch  für  einen  Leitmarkt:  Er  setzt  weltweit  Maßstäbe,  ist  sehr  innovativ  und  er  muss  eine  gewisse  Größe  erreichen.  Dies  trifft  in  Deutschland  nicht  nur  auf  die  Umwelttechnologie  zu.  Es  gilt  auch  für  andere  Produkte  wie  technische  Textilien  und  für  den  Maschinenbau.  

Doch  auch  Leitmärkte  sind  in  der  Krise  bedroht.  Sollte  sie  länger  andauern,  werden  innovative  Unternehmen  Ka-­‐pazitäten  abbauen  müssen.  Eine  Ge-­‐fahr  für  den  Industriestandort.  In  je-­‐dem  Unternehmen  gibt  es  »implizites  Wissen«.  Wissen,  das  oft  nirgendwo  niedergeschrieben  ist  oder  das  nur  im  Zusammenspiel  der  Beschäftigten  funktioniert.  Werden  Belegschaften  auseinandergerissen,  geht  dieses  Wis-­‐sen  verloren.  Damit  können  auch  Marktanteile  wegbrechen.  Anteile,  die  die  Unternehmen  nach  der  Krise  nicht  einfach  zurückerobern  können.  

Wenn  wichtige  Industrien  in  der  Krise  nicht  wegbrechen  sollen,  brauchen  sie  staatliche  Unterstützung.  Dabei  stellt  sich  die  Frage  eigentlich  gar  nicht,  ob  der  Staat  in  den  Markt  eingreifen  darf.  Denn  egal,  wie  er  sich  verhält,  es  hat  immer  Auswirkungen  auf  den  Markt.  

Mit  der  Verlängerung  des  Kurzarbei-­‐tergeldes  hat  die  Bundesregierung  bereits  die  Industrie  gestützt.  Hätte  sie  die  Krise  einfach  laufen  lassen,  gäbe  es  längst  Massenentlassungen.  

Doch  um  die  industrielle  Basis  zu  si-­‐chern,  braucht  es  neben  kurzfristigen  staatlichen  Unterstützungen  auch  eine  langfristige  Industriepolitik,  die  Leit-­‐märkte  fördert.  Eine  wichtige  Voraus-­‐setzung  hierfür  ist  eine  staatliche  Vor-­‐auswirtschaft  durch  Investitionen  in  Bildung,  Infrastruktur  und  Entwick-­‐lung  und  Forschung.  Doch  gerade  hier  hinkt  Deutschland  noch  in  vielen  Be-­‐reichen  international  hinterher.  

So  zählt  etwa  Fachkräfteausbildung  nicht  zur  Industriepolitik.  Sie  gilt  in  Deutschland  noch  immer  als  Sozialpo-­‐litik  für  unversorgte  Jugendliche.  Dabei  muss  sich  die  deutsche  Wirtschaft  we-­‐niger  vor  den  niedrigen  Löhnen  in  Asi-­‐en  fürchten,  als  vielmehr  vor  den  ho-­‐hen  Bildungsinvestitionen  dieser  Län-­‐der.  

In  der  Forschungspolitik  richtet  die  Politik  den  Blick  zu  sehr  auf  High-­‐Tech-­‐Industrien  mit  einem  hohen  An-­‐teil  an  Forschung  und  Entwicklung,  auch  F&E  genannt.  Der  Anteil  muss  über  sieben  Prozent  des  Umsatzes  liegen.  

Die  größten  Exportüberschüsse  erzie-­‐len  jedoch  Unternehmen  mit  einem  F&E-­‐Anteil  zwischen  2,5  und  7  Pro-­‐zent.  

Politisch  eingreifen  heißt  aber  nicht,  Wirtschaftsinteressen  einfach  nach-­‐zugeben.  Manchmal  muss  der  Staat  auch  gegen  den  Widerstand  von  Un-­‐ternehmen  durch  Rahmensetzung  Entwicklung  vorantreiben.  Was  pas-­‐siert,  wenn  er  Lobbyinteressen  nach-­‐gibt,  zeigt  das  Beispiel  der  amerikani-­‐schen  Autoindustrie.  Bis  in  die  60er-­‐Jahre  war  sie  der  Leitmarkt.  Doch  sie  setzte  im  Bündnis  mit  der  Politik  jah-­‐relang  nur  auf  billigen  Sprit,  verpasste  den  Anschluss  an  moderne  Techniken  und  kämpft  heute  ums  Überleben.  

Experten  gehen  davon  aus,  dass  die  USA  ein  großes  umwelttechnisches  Potenzial  entwickeln  könnte,  wenn  die  Politik  den  Hebel  in  Sachen  Umwelt-­‐

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schutz  umlegt.  Das  heißt  umgekehrt:  Politik  kann  Entwicklung  verhindern,  wenn  sie  keinen  Rahmen  setzt.  (Prof.  Gerhard  Bosch,  Professor  für  Soziolo-­gie  an  der  Universität  Duisburg-­Essen,  Me-­

tallzeitung  8/2009)  

Wirtschaftsweiser Bofinger: Für einen aktiveren Staat Wie  könnte  ein  Kurswechsel  ausse-­‐hen?  Wenn  der  Staat  eine  aktivere  Rolle  wahrnehmen  soll,  benötigt  er  finanzielle  Ressourcen  und  Hand-­‐lungskompetenzen.  Der  in  diesem  Jahrzehnt  lange  Zeit  vorherrschende  Prozess  der  Entstaatlichung  muss  da-­‐her  so  schnell  wie  möglich  gestoppt  werden.  Dies  erfordert  vor  allem,  dass  von  weiteren  Steuersenkungen  Ab-­‐stand  genommen  wird.  In  Relation  zur  Wirtschaftsleistung  erzielt  der  deut-­‐sche  Staat  schon  heute  deutlich  weni-­‐ger  Steuereinnahmen  als  die  meisten  anderen  vergleichbaren  Länder.  Ohne  eine  angemessene  Finanzausstattung  wird  es  dem  Staat  nicht  möglich  sein,  die  Zukunft  des  Landes  aktiv  zu  gestal-­‐ten.  Die  für  die  Wettbewerbsfähigkeit  der  deutschen  Wirtschaft  und  den  Zu-­‐sammenhalt  unserer  Gesellschaft  glei-­‐

chermaßen  erforderlichen  Bildungsin-­‐vestitionen  können  nur  vom  Staat  ge-­‐leistet  werden.  Dies  gilt  auch  für  Zu-­‐kunftsinvestitionen  im  Bereich  der  Infrastruktur  sowie  für  Forschung  und  Entwicklung.  Deutschland  liegt  bei  den  Zukunftsinvestitionen  weit  unter  dem  Durchschnitt  der  EU-­‐Länder.  

Die  Defizite  in  diesen  Feldern  verdeut-­‐lichen  zugleich,  wie  gefährlich  es  ist,  den  Staat  seiner  Handlungskompeten-­‐zen  zu  berauben.  Mit  der  Schulden-­‐bremse  will  die  große  Koalition  im  Grundgesetz  ein  Verschuldungsverbot  für  die  Länder  und  eine  maximale  Neuverschuldung  des  Bundes  von  0,35  Prozent  des  Bruttoinlandsprodukts  festschreiben.  Damit  versperrt  sie  dem  Staat  die  Möglichkeit,  kreditfinanzierte  Investitionen  für  zukünftige  Genera-­‐tionen  vorzunehmen.  Aus  der  Perspek-­‐tive  einer  schwäbischen  Hausfrau  mag  das  eine  gute  Politik  sein,  eine  schwä-­‐bischen  Unternehmerin  aber  würde  kaum  auf  eine  rentable  Investition  verzichten,  nur  weil  sie  dafür  einen  Kredit  aufnehmen  muss.  

(Peter  Bofinger:  Neue  Balance  von  Staat  und  Markt,  Frankfurter  Rundschau,  

06.04.09)  

 

 

 

 

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61  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DGB-Empfehlungen zur Bildungspolitik Erhebliche  Bedeutung  wird  dem  Aus-­‐bau  an  Betreuungsplätzen  für  Kinder  im  zweiten  und  dritten  Lebensjahr  beigemessen.  Kurzfristiges  Ziel  muss  sein,  dass  in  allen  Regionen  eine  Be-­‐treuungsquote  von  35  %  bis  zum  Jahre  2013  realisiert  wird,  wie  es  auch  in  dem  Kindertagesstättenausbaugesetz  (TAG)  aus  dem  Jahre  2004  vorgesehen  ist.  Langfristig  muss  das  Ziel  aber  sein,  für  mindestens  70  %  der  zwei-­‐  bis  dreijährigen  Kinder  Betreuungsange-­‐bote  vorzuhalten.  

Ein  weiterer  wichtiger  Reformbedarf  betrifft  die  Tageseinrichtungen  für  Kinder  von  drei  Jahren  bis  zum  Schul-­‐eintritt.  Während  die  Versorgungsquo-­‐te  insgesamt  mittlerweile  als  befriedi-­‐gend  angesehen  werden  kann  –  sie  liegt  in  allen  Bundesländern  bei  über  90  %  –  besteht  das  Problem  vor  allem  in  der  Bereitstellung  von  ausreichen-­‐den  Ganztagsplätzen.  Ziel  muss  sein,  eine  Betreuungsquote  von  60  %  in  allen  Bundesländern  zu  realisieren.  Auch  für  diese  Kindertagesstätten  gilt,  dass  das  Unterrichtspersonal  eine  ad-­‐äquate  pädagogische  Ausbildung  er-­‐hält  und  entsprechend  vergütet  wird.  

In  Deutschland  bestehen  beim  Perso-­‐nalschlüssel  in  Kindertageseinrichtun-­‐gen  erhebliche  Differenzen  zum  inter-­‐nationalen  europäischen  Standard.  Wir  schlagen  vor,  die  Empfehlungen  der  EU  für  einen  sinnvollen  Personalschlüssel  umzusetzen.  Diese  sehen  ein  Verhält-­‐nis  von  1  zu  3  bzw.  1  zu  5  für  Kinder  bis  zum  3.  Lebensjahr  vor  und  für  Kin-­‐der  im  Kindergartenalter  von  1zu5  bzw.  1zu8.  

Um  die  Bedeutung  von  Kinderta-­‐geseinrichtungen  als  Bildungseinrich-­‐tungen  deutlich  hervorzuheben  ist  es  erforderlich,  ihnen  den  Status  öffentli-­‐cher  Bildungseinrichtungen  zuzuer-­‐kennen.  Als  Bildungseinrichtungen  sind  sie  für  die  Nutzer  bzw.  deren  El-­‐tern  gebührenfrei  auszugestalten.  (Gemeinsame  Broschüre  von  IG  Metall  und  ver.di:  Berufs-­  und  Bildungsperspektiven  

2009.  Bildungsprivilegien  für  alle!)  

Öffentlicher Beteiligungsfonds Wir  fordern,  einen  öffentlichen  Beteili-­‐gungsfonds  einzurichten,  der  einen  wirksamen  Schutzschirm  für  Unter-­‐nehmen  aufspannt  und  Arbeitsplätze  sichert.  Über  die  Bewilligung  der  Mittel  muss  unter  Beteiligung  der  Sozialpart-­‐ner  entschieden  werden.  Vorrausset-­‐zung  für  die  Mittelvergabe  sind  u.a.  ein  tragfähiges  Unternehmenskonzept,  ein  

Page 64: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

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substantieller  Eigenbeitrag  der  Eigen-­‐tümer,  der  Erhalt  der  Arbeitsplätze  sowie  ein  klares  Bekenntnis  zu  Mitbe-­‐stimmung  und  Tarifstandards.  

Wir  fordern  eine  nachhaltige  Indu-­‐striepolitik  anstelle  unregulierter  Märkte.  Notwendiger  Strukturwandel  muss  im  Rahmen  einer  nachhaltigen  Industriepolitik  bewältigt  werden.    

Ökonomische  Effizienz,  soziale  Ausge-­‐wogenheit  -­‐  d.  h.  Bewältigung  des  Strukturwandels  ohne  Brüche  bei  Ein-­‐kommen  und  Beschäftigung  -­‐  und  die  Schonung  der  natürlichen  Ressourcen  sind  Eckpunkte  einer  solchen  Strate-­‐gie.    

Mit  einer  ökologischen  Modernisie-­‐rung  der  Industrie  gestalten  wir  heute  die  Arbeits-­‐  und  Lebensperspektiven  zukünftiger  Generationen.  

Wir  fordern  gute  Arbeit  und  einen  re-­‐gulierten  Arbeitsmarkt.  Im  nächsten  Aufschwung  darf  es  keine  Explosion  der  Leiharbeit  und  anderer  unge-­‐schützter  Arbeitsverhältnisse  geben.    

Die  Prekarisierung  von  Arbeit  torpe-­‐diert  das  Ziel  einer  notwendigen  indu-­‐striepolitischen  Neuorientierung.  Sie  untergräbt  die  hohe  Qualifikationsba-­‐sis,  schwächt  die  Innovationsfähigkeit  der  Industrie  und  gefährdet  eine  ge-­‐rechte  Verteilung  des  wirtschaftlichen  Wohlstandes.  

Wir  fordern  eine  koordinierte  Indu-­‐striepolitik  in  Europa,  die  die  indus-­‐trielle  Kernkompetenz  und  Wach-­‐stumsbasis  erhält.    

Das  Gewicht  der  industriellen  Wert-­‐schöpfung  und  guter  Arbeit  darf  nicht  länger  ignoriert  werden.    

Die  neue  EU-­‐Kommission  muss  ihren  einseitigen  Deregulierungs-­‐  und  Libe-­‐ralisierungskurs  ändern  und  den  Rah-­‐men  für  einen  Gestaltungswettbewerb  um  die  besten  Lösungen  schaffen.  (Gemeinsame  Erklärung  von  IG  Metall  und  

IG  BCE  zur  Industriepolitik,  26.06.09)  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Page 65: Wir brauchen keine Schuldenbremse

63  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Staat wird schlanker Der  seit  den  1990er  Jahren  anhaltende  Stellenabbau  im  Öffentlichen  Dienst  setzt  sich  weiter  fort.  Im  vergangenen  Jahr  rund  vier  Prozent  weniger  Stellen  als  2006:  Innerhalb  eines  Jahres  sind  in  Deutschland  135.000  Stellen  im  Öffentlichen  Dienst  abgebaut  worden.  

Im  Vergleich  zu  1991  sind  heute  1,6  Millionen  weniger  Menschen  bei  Bund,  Ländern  und  Kommunen  beschäftigt  –  das  entspricht  30  Prozent!  Vorreiter  bei  der  Verschlankung  der  öffentlichen  Verwaltung  sind  die  Kommunen,  ge-­‐folgt  vom  Bund  und  den  Ländern.  

Umgerechnet  auf  die  Bevölkerung  heißt  das:  In  Ostdeutschland  kommen  in  den  Ländern  22  Beschäftigte  auf  1.000  Bürger  (1991  waren  es  noch  39  Beschäftigte),  in  Westdeutschland  20  auf  1.000  Bürger  (1991  waren  es  27).  Die  früher  erheblichen  Unterschiede  zwischen  Ost  und  West  sind  mittler-­‐weile  also  nahezu  ausgeglichen.  

Besonders  wichtig:  Der  Stellenabbau  im  öffentlichen  Dienst  erfolgte  und  erfolgte  nicht  durch  Kündigungen.  Frei  werdende  Stellen  wurden  nicht  wie-­‐derbesetzt,  komplette  Verwaltung  durch  Neuorganisationen,  Zusammen-­‐legung  und  technologische  Moderni-­‐

sierung  effizienter  und  bürgerfreundli-­‐cher  gemacht.  Gewinner  ist  und  bleibt  der  Bürger.  

Im  europäischen  Vergleich  schneidet  Deutschland  hinsichtlich  der  Beschäf-­‐tigten  im  Staatsdienst  gut  ab:  Wie  die  International  Labour  Organisation  ermittelte,  beträgt  der  Anteil  der  Be-­‐schäftigten  in  den  Bereichen  „Öffentli-­‐che  Verwaltung,  Verteidigung,  Sozial-­‐versicherung“  in  Deutschland  nur  etwa  13,4  Prozent,  in  Großbritannien  dage-­‐gen  sind  es  14,1  Prozent  und  in  Frank-­‐reich  sogar  16,7  Prozent.  Selbst  in  den  USA  arbeiten  mehr  Beschäftigte  beim  Staat  als  in  Deutschland,  nämlich  15,4  Prozent  aller  Beschäftigten.  

Die  deutsche  Staatsquote,  also  der  An-­‐teil  der  staatlichen  Ausgaben  an  der  gesamten  volkswirtschaftlichen  Lei-­‐stung,  liegt  mit  43,8  Prozent  so  niedrig  wie  seit  30  Jahren  nicht  mehr.  Die  Staatsquote  soll  noch  weiter  sinken.  Auch  deshalb  sollen  die  Ausgaben  des  Bundes  weiter  heruntergefahren  wer-­‐den.  Das  ist  ein  wichtiger  Beitrag  zu  soliden  Staatsfinanzen  und  die  ent-­‐scheidende  Voraussetzung  für  einen  auch  künftig  handlungsfähigen  Staat,  der  alte  Schulden  abbaut  und  neue  Chancen  schafft.  

Page 66: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

64  

Drei  Gründe  für  den  Stellenabbau  

Was  sind  die  Gründe  für  den  anhalten-­‐den  Stellenabbau?    

Zum  einen  spielen  Ausgliederungen  von  den  Kernhaushalten  in  so  genann-­‐te  Extrahaushalte  eine  wichtige  Rolle.  Zum  zweiten  haben  viele  Kommunen  seit  Jahren  keine  Neueinstellungen  vorgenommen.  

Und  drittens  ist  der  Stellenabbau  bei  der  Bundeswehr  eine  Folge  der  Wie-­‐dervereinigung,  nachdem  die  ehemali-­‐gen  Soldaten  der  „Nationalen  Volks-­‐armee“  der  DDR  zunächst  integriert  wurden  und  die  Stellenzahl  dann  Schritt  für  Schritt  abgeschmolzen  wurde.  (Pressemitteilung  des  BUndesfinanzmini-­

sters,  16.09.08)  

Für die Ausweitung öffentlicher Investitionen sueddeutsche.de:  In  der  Union  gibt  es  Vorschläge,  den  Schuldenberg  mit  Steu-­ererhöhungen  abzutragen.  Wie  sieht  es  hier  mit  der  Gerechtigkeit  aus?  

Hengsbach:  Die  Diskussion  der  Union  über  Erhöhungen  der  Mehrwertsteuer  und  Entlastungen  bei  der  Einkom-­‐mensteuer  halte  ich  für  fehlgeleitet.  Steuersenkungen  lösen  nicht  das  ein,  was  sie  wirtschaftspolitisch  verspre-­‐chen.  Was  nottut,  ist  eine  Offensive  öffentlicher  Investitionen,  die  private  Aufträge  nach  sich  zieht.  

sueddeutsche.de:  Ist  das  Ihr  Ernst?  Wie  soll  der  Bundeshaushalt  durch  höhere  Ausgaben  konsolidiert  werden?  

Hengsbach:  Bei  der  realwirtschaftli-­‐chen  Belebung  geht  es  nicht  zuerst  darum,  in  den  Kitas  die  Wände  und  Decken  zu  renovieren.    

Qualifizierte  Personen  sollen  einen  Arbeitsplatz  finden,  mit  ihrem  Ein-­‐kommen  die  Binnennachfrage  stärken  und  dann  auch  Steuern  zahlen.    

Ein  gerechtes  Konsolidieren  der  öf-­‐fentlichen  Haushalte  gelingt  eher,  in-­‐dem  der  Wohlstand  gesteigert  und  die  Bedürfnisse  der  Menschen  befriedigt  werden,  als  durch  öffentliches  Sparen.  

(Friedhelm  Hengsbach,  Jesuit  und  Sozial-­ethiker,  im  Interview,  SZ  v.  13.07.09)

                   

 

Page 67: Wir brauchen keine Schuldenbremse

65  

Diskurs 3.3: Wer (k)einen Staat braucht, soll sich meldenDimensionen der sozialen Gerechtigkeit 1.  Wir  treten  für  Bedarfsgerechtig-­keit  ein.  Die  Menschen  dürfen  bei  exi-­‐stenziellen  Risiken  nicht  ins  Bodenlose  fallen  und  ins  soziale  Abseits  geraten.  Im  Gegenzug  sollen  sie  sich  bemühen,  aus  ihrer  Situation  der  Abhängigkeit  herauszukommen.  Bedarfsgerechtig-­‐keit  ist  die  Grundlage  für  die  Versor-­‐gung  der  Menschen  mit  sozialstaatli-­‐chen  Leistungen.  Für  Menschen  in  glei-­‐chen  Lebenslagen  wird  die  gleiche  Versorgung  sichergestellt.  Das  erfor-­‐dert  z.  B.  in  der  gesetzlichen  Kranken-­‐versicherung  einen  einheitlichen  Lei-­‐stungskatalog  und  die  Beibehaltung  des  Sachleistungsprinzips,  der  allen  Menschen  wohnortnah  zur  Verfügung  steht.  Eine  Privatisierung  von  Gesund-­‐heitsausgaben,  die  Barrieren  für  Ge-­‐ringverdiener  im  Zugang  zu  Gesund-­‐heitsleistungen  aufbaut,  gefährdet  die-­‐ses  Prinzip.  Der  Sozialausgleich  wird  durch  den  Einkommensausgleich,  den  Risikoausgleich,  den  Generationen-­‐  sowie  den  Familienlastenausgleich  sichergestellt.  

2.  Wir  engagieren  uns  für  Vertei-­lungsgerechtigkeit  auf  der  Grundlage  von  Leistung  und  Leistungsfähigkeit.  Leistung  soll  mit  einem  angemessenen  Einkommen  vergütet  werden,  die  Bei-­‐träge  zum  Sozialstaat  sollen  einkom-­‐mens-­‐  und  leistungsabhängig  sein.  Verteilungsgerechtigkeit  orientiert  sich  grundsätzlich  an  Leistung  und  Leistungsfähigkeit.  Das  gilt  für  die  pro-­‐gressive  Besteuerung  von  Einkommen.  Die  Tarifpolitik  der  IG  BCE  strebt  da-­‐nach,  die  Einkommen  gerecht  nach  Qualifikation  und  Leistung  zu  vertei-­‐len.  An  diesem  Grundsatz  orientieren  sich  auch  die  Beiträge  zur  Sozialversi-­‐cherung.  Bezieher  höherer  Er-­‐werbseinkommen  tragen  bis  zur  Bei-­‐tragsbemessungsgrenze  einen  höheren  Teil  zur  Finanzierung  der  sozialen  Si-­‐cherungssysteme  bei.  Prägend  für  die  deutsche  Sozialversicherung  ist  eine  Kombination  aus  Versicherungsprinzip  und  sozialem  Ausgleich.  

3.  Wir  setzen  uns  für  Zugangsgerech-­tigkeit  ein.  Die  Menschen  sollen  Zu-­‐gänge  zu  Bildung  und  zu  sozialstaatli-­‐chen  Leistungen  erhalten.  Es  ist  aber  auch  legitim  zu  erwarten,  dass  die  Menschen  in  ihre  Zukunft  investieren.  Zugangsgerechtigkeit  richtet  sich  auf  Förderung  und  Chancen.  Im  Bildungs-­‐sektor  bedeutet  dies,  dass  der  Zugang  zu  Bildung,  Ausbildung  und  Weiterbil-­‐dung  sich  zunehmend  wichtiger  er-­‐weist  für  die  Qualität  von  Beschäfti-­‐gung,  Einkommen  und  eine  berufliche  Karriere.  Im  Gesundheitswesen  ist  die  Zugangsgerechtigkeit  in  Frage  gestellt,  wenn  in  der  Versorgung  seltener  oder  schwerer  Erkrankungen  es  privat  Ver-­‐sicherten  deutlich  leichter  fällt,  zeitnah  Zugang  zu  Experten  und  Spezialisten  in  Krankenhäusern  oder  Universitäts-­‐kliniken  zu  erhalten.  

Sozial  gerecht  handeln  heißt,  sich  für  alle  drei  Dimensionen  der  sozialen  Gerechtigkeit  zu  engagieren.  Wer  nur  für  eines  dieser  Ziele  eintritt,  ist  poli-­‐tisch  nicht  glaubwürdig.  Denn  Arbeit-­‐nehmerinnen  und  Arbeitnehmer  wol-­‐len,  dass  denjenigen,  die  sich  nicht  alleine  durchsetzen  und  die  ihre  Inter-­‐essen  nicht  vertreten  können,  geholfen  wird.  Die  Menschen  halten  es  aber  auch  für  gerecht,  dass  Menschen,  die  viel  leisten,  gut  verdienen  müssen.  Die  Menschen  erwarten  aber  auch,  dass  Menschen  Hilfe  zur  Selbsthilfe  erhal-­‐ten,  damit  sie  besser  mit  ihrem  Leben  umgehen  können.  

(Beschluss  des  3.  Ordentlichen  Gewerk-­schaftskongresses  der  IG  BCE,  2005)  

Soziale Irrwege Arbeit  billiger  machen.  Zum  Beispiel;  Senkung  der  Lohnko-­‐sten;  Betriebliche  Bündnisse  statt  Flä-­‐chentarifverträge;  Leiharbeit  /  PSA;  Arbeitszeitverlängerung    

Arbeitslose  aktivieren  Zum  Beispiel:  Kürzung  der  Bezugsdau-­‐er  von  Arbeitslosengeld;  Arbeitslosen-­‐geld  II  auf  Sozialhilfeniveau;  Ausbau  von  Niedriglohnsektoren    

Page 68: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

66  

Belastungen  der  Leistungsträger  senken  Zum  Beispiel:  Senken  von  Spitzensteu-­‐ersatz  und  Unternehmenssteuern;  (Teil-­‐)  Privatisierung  der  sozialen  Si-­‐cherungssysteme    

Umbau  zum  schlanken  Staat  Zum  Beispiel:  Senkung  der  Staatsquo-­‐te;  Haushaltskonsolidierung;  Privati-­‐sierungen;  Restriktive  Geldpolitik    

Soziale Alternativen Binnennachfrage  sichern  und  stär-­ken  Zum  Beispiel:  Flächentarife  sichern  und  erhöhen;  Keine  Leistungskürzun-­‐gen  bei  Lohnersatzleistungen;  Mittlere  und  untere  Einkommen  steuerlich  entlasten;  Paritätische  Finanzierung  der  Sozialversicherungen;  Begrenzung  und  Verkürzung  der  Arbeitszeiten    

Arbeit  statt  Arbeitslosigkeit  finan-­zieren  Zum  Beispiel:  Öffentliches  Investiti-­‐onsprogramm  in  sozialökologischen  Bedarfsfeldern;  Aktive  Arbeitsmarkt-­‐politik  (ABM);  Investitionen  in  Bil-­‐dung,  berufliche  Aus-­‐  und  Weiterbil-­‐dung;  Gesetzliche  Umlagefinanzierung  für  Ausbildungsplätze    

Fairteilen-­Umverteilungspolitik!  Zum  Beispiel:  Solidarische  Einfach-­‐steuer  (gerechte  Steuertarife,  Vermö-­‐genssteuer,  Devisentransaktionssteu-­‐er,  Anhebung  des  Spitzensteuersatzes,  Abschaffung  des  Ehegattensplittings;  Europäische  Mindeststeuersätze  für  Unternehmen)  

Für  einen  demokratischen  Sozial-­staat  Zum  Beispiel:  Sicherung  der  sozialen  Daseinsvorsorge;  Solidarische  Bürger-­‐versicherung;  Stärkung  von  Selbsthilfe  und  Engagement;  Expansive  Geldpoli-­‐tik  

Page 69: Wir brauchen keine Schuldenbremse

67  

Thema 4: Gerechte Finanzierungskonzepte Wir  setzen  uns  mit  gängigen  Argumentationen  zur  Wirklichkeit  bzw.  Ge-­‐rechtigkeit  von  Einnahmen  und  Ausgaben  auseinander,  informieren  uns  über  Alternativen  und  gerechte  Finanzierungskonzepte  und  begründen  damit  auch,  warum  wir  keine  Schuldenbremse  brauchen.  Im  ersten  Diskurs  verschaffen  wir  uns  einen  ersten  Überblick  zu  den  gängigen  Argumenten  (und  Fragen):  

• Können wir uns den Sozialstaat (noch) leisten? • Woher hat der Staat (bisher) das Geld?

Wir  sammeln  gängige  Aussagen  zur  Finanzierung  des  Sozialstaates  (pro  und  contra),  fassen  sie  zusammen  und  beantworten  die  Frage:  

• Welchen Argumenten schließe ich mich an? Im  zweiten  Diskurs  gehen  der  Legende  vom  „Leistungsträger“  auf  den  Grund  und  erarbeiten  uns  Kenntnisse  und  Argumente  zur  bislang  (un-­‐)gerechten  Finanzierung  des  Sozialstaates,  indem  wir  die  folgenden  Fragen  beantworten:  

• Wer sind die Leistungsträger? • Wie sind die Lasten verteilt? • Wie sind die Leistungen verteilt?

Am  Ende  diskutieren  und  beantworten  wir  die  Frage:  

• Wird der solidarische Sozialstaat auch solidarisch finanziert? Im  dritten  Diskurs  begründen  wir  schließlich  die  Forderung  nach  gerech-­‐ter  (Um-­‐)Verteilung  der  Lasten  und  Leistungen  und  entwickeln  gute  Ar-­‐gumente  zu  den  Alternativen  zur  „Schuldenbremse“.    Am  Ende  können  wir  überzeugende  Antworten  auf  die  beiden  zentralen  Themen  der  Diskussion  über  den  solidarischen  Sozialstaat  geben:  

• Wie können die Lasten und Leistungen gerecht (um)verteilt werden?

• Warum die Schuldenbremse eine Zukunftsbremse ist und welche Alternativen wir dazu haben.

 

Page 70: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 

 

Zeit  

    05  

            20  

        20  

        10  

                    (55)  

 

Material  

                            M53-­‐57  

 

Methoden  

    Einstieg  /  Teammoderation  

Siehe  Prioritäten  der  Aufgaben  und  Lei-­‐

stungen  des  Staates  

        Partnerarbeit  

Ergebnisse  werden  an  der  WZ  festgehal-­‐

ten  

    Team

 ergänzt  /  erläutert  anhand  von  

Texten  weitere  Beispiele  von  pro  und  

contra  

    Team

moderation  und  Wertung  durch  

Punkten  

 

Inhalte  

Disk

urs 4

.1: W

er so

ll das

beza

hlen

?   Wir  knüpfen  an  die  Diskussion  zum

 Them

a  3  (wichtige  Aufgaben  des  

Sozialstaates)  an  und  fragen:  „Wer  soll  

das  bezahlen?“  

      Wir  sammeln  gängige  Aussagen  zur  Fi-­‐

nanzierung  des  Sozialstaates  (pro  und  

contra)  

Frage:  Welche  Argumente  kennen  

wir?  

          Zusammenfassung  der  Argum

ente  pro  

und  contra  und  erste  (vorläufige)  Wer-­‐

tung.  

Frage:  Welchen  Argumenten  schließe  

ich  mich  an?  

 

Leitf

aden

für R

efer

entIn

nen

Ziele  

    Wir  verschaffen  uns  einen  ersten  Über-­‐

blick  zu  den  gängigen  Argumenten  (und  

Fragen):  

Ob  wir  uns  den  Sozialstaat  

(noch)  leisten  können…  

…und  woher  der  Staat    

(bisher)  das  Geld  hat.  

 

Page 71: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 Zeit  

        30  

  10  

    10  

    (50)  

10  

      30  

          30  

          05  

  (65)  

(180)  

Material  

        M58-­‐60  

M61-­‐64  

M65-­‐69  

 

 

      M70-­‐74  

          M75-­‐79  

          „Hausaufgabe“  

M52  

Methoden  

      3  Arbeitsgruppen,  

die  arbeitsteilig  die  Fragen  bearbeiten.  

und  anschließend  ihre  Ergebnisse  

präsentieren.  

  Team

-­‐Moderation  

   

      Team

 verteilt  Texte  mit  Vorschlägen,  die  

in  Partnerarbeit  (arbeitsteilig)  diskutiert  

werden.  

Anschließend  kurze  Präsentation  und  

Diskussion  der  Antworten  

  Team

 legt  ausgewählte  Texte  vor,  deren  

Kernaussagen  bewertet  w

erden.  

Bewertung  durch  die  TN:  W

elche  Argu-­‐

mente  finde  ich  besonders  gut?  

(mit  kurzer  Begründung)  

  Hinweis:  Evaluation  erst  beim  Treffen  

zur  Nachbetrachtung.  

   

Inhalte  

Disk

urs 4

.2: D

ie Le

gend

e vom

„Lei

stun

gsträ

ger“

  Wir  erarbeiten  uns  Fakten:  

+  Wer  sind  die  Leistungsträger?  

+  Wie  sind  die  Lasten  verteilt?  

+  Wie  sind  die  Leistungen  verteilt?  

  Diskussion  und  Zusam

menfassung  mit  

Beantwortung  der  Frage:    

Wird  der  solidarische  Sozialstaat  auch  

solidarisch  finanziert?  

 

Disk

urs 4

.3: S

chul

den-

und Z

ukun

ftsbr

emse

od

er…

?   Wir  erarbeiten  Antworten  auf  die  Frage:  

+  Wie  können  die  Lasten  und  Leistungen  

gerecht  (um

)verteilt  werden?  

  +  Warum

 die  „Schuldenbremse  eine  Zu-­‐

kunftsbrem

se  „  ist  und  welche  Alternati-­‐

ven  wir  sehen  

        Abschluss  /  Termin  für  N

achbetrachtung  

und  Weiterarbeit  

 

Ziele  

    Wir  erarbeiten  uns  Kenntnisse  und  Ar-­‐

gumente  zur  (un-­‐)gerechten  Finanzie-­‐

rung  des  Sozialstaates…  

          Pause  

      Wir  können  die  Forderung  nach  gerech-­‐

ter  (um

-­‐)Verteilung  der  Lasten  und  Lei-­‐

stungen  begründen.  

  Und  wir  haben  gute  Argumente  zu  den  

Alternativen  zur  „Schuldenbremse“.  

   

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Diskurs 4.1: Wer soll das bezahlen?Kurt Tucholsky: Kurzer Abriss der Nationalökonomie Nationalökonomie  ist,  wenn  die  Leute  sich  wundern,  warum  sie  kein  Geld  haben.  Das  hat  mehrere  Gründe,  die  feinsten  sind  die  wissenschaftlichen  Gründe,  doch  können  solche  durch  eine  Notverordnung  aufgehoben  wer-­‐den.  

Über  die  ältere  Nationalökonomie  kann  man  ja  nur  lachen  und  dürfen  wir  selbe  daher  mit  Stillschweigen  übergehn.  Sie  regierte  von  715  vor  Christo  bis  zum  Jahre  nach  Marx.  Seit-­‐dem  ist  die  Frage  völlig  gelöst:  die  Leu-­‐te  haben  zwar  immer  noch  kein  Geld,  wissen  aber  wenigstens,  warum.  

Die  Grundlage  aller  Nationalökonomie  ist  das  sog.  ›Geld‹.  

Geld  ist  weder  ein  Zahlungsmittel  noch  ein  Tauschmittel,  auch  ist  es  keine  Fik-­‐tion,  vor  allem  aber  ist  es  kein  Geld.  Für  Geld  kann  man  Waren  kaufen,  weil  es  Geld  ist,  und  es  ist  Geld,  weil  man  dafür  Waren  kaufen  kann.  Doch  ist  diese  Theorie  inzwischen  fallen  gelas-­‐sen  worden.  Woher  das  Geld  kommt,  ist  unbekannt.  Es  ist  eben  da  bzw.  nicht  da  –  meist  nicht  da.  Das  im  Umlauf  befindliche  Papiergeld  ist  durch  den  Staat  garantiert;  dieses  vollzieht  sich  derart,  dass  jeder  Papiergeldbesitzer  zur  Reichsbank  gehn  und  dort  für  sein  Papier  Gold  einfordern  kann.  Das  kann  er.  Die  obern  Staatsbankbeamten  sind  gesetzlich  verpflichtet,  Goldplomben  zu  tragen,  die  für  das  Papiergeld  haf-­‐ten.  Dieses  nennt  man  Golddeckung.  

Der  Wohlstand  eines  Landes  beruht  auf  seiner  aktiven  und  passiven  Han-­‐delsbilanz,  auf  seinen  innern  und  äußern  Anleihen  sowie  auf  dem  Unter-­‐schied  zwischen  dem  Giro  des  Wechse-­‐lagios  und  dem  Zinsfuß  der  Lombard-­‐kredite;  bei  Regenwetter  ist  das  umge-­‐kehrt.  Jeden  Morgen  wird  in  den  Staatsbanken  der  sog.  ›Diskont‹  aus-­‐gewürfelt;  es  ist  den  Deutschen  neulich  gelungen,  mit  drei  Würfeln  20  zu  tru-­‐deln.  

Was  die  Weltwirtschaft  angeht,  so  ist  sie  verflochten.  

Wenn  die  Ware  den  Unternehmer  durch  Verkauf  verlassen  hat,  so  ist  sie  nichts  mehr  wert,  sondern  ein  Pofel  (=unbrauchbare  Ware),  dafür  hat  aber  der  Unternehmer  das  Geld,  welches  Mehrwert  genannt  wird,  obgleich  es  immer  weniger  wert  ist.  Wenn  ein  Un-­‐ternehmer  sich  langweilt,  dann  ruft  er  die  andern  und  dann  bilden  sie  einen  Trust,  das  heißt,  sie  verpflichten  sich,  keinesfalls  mehr  zu  produzieren,  als  sie  produzieren  können  sowie  ihre  Waren  nicht  unter  Selbstkostenver-­‐dienst  abzugeben.  Dass  der  Arbeiter  für  seine  Arbeit  auch  einen  Lohn  ha-­‐ben  muss,  ist  eine  Theorie,  die  heute  allgemein  fallen  gelassen  worden  ist.  

Eine  wichtige  Rolle  im  Handel  spielt  der  Export,  Export  ist,  wenn  die  an-­‐dern  kaufen  sollen,  was  wir  nicht  kau-­‐fen  können;  auch  ist  es  unpatriotisch,  fremde  Waren  zu  kaufen,  daher  muss  das  Ausland  einheimische,  also  deut-­‐sche  Waren  konsumieren,  weil  wir  sonst  nicht  konkurrenzfähig  sind.  Wenn  der  Export  andersrum  geht,  heißt  er  Import,  welches  im  Plural  eine  Zigarre  ist.  Weil  billiger  Weizen  unge-­‐sund  und  lange  nicht  so  bekömmlich  ist  wie  teurer  Roggen,  haben  wir  den  Schutzzoll,  der  den  Zoll  schützt  sowie  auch  die  deutsche  Landwirtschaft.  Die  deutsche  Landwirtschaft  wohnt  seit  fünfundzwanzig  Jahren  am  Rande  des  Abgrunds  und  fühlt  sich  dort  ziemlich  wohl.  Sie  ist  verschuldet,  weil  die  Schwerindustrie  ihr  nichts  übrig  lässt,  und  die  Schwerindustrie  ist  nicht  auf  der  Höhe,  weil  die  Landwirtschaft  ihr  zu  viel  fortnimmt.  Dieses  nennt  man  den  Ausgleich  der  Interessen.  Von  bei-­‐den  Institutionen  werden  hohe  Steu-­‐ern  gefordert,  und  muss  der  Konsu-­‐ment  sie  auch  bezahlen.  

Jede  Wirtschaft  beruht  auf  dem  Kredit-­‐system,  das  heißt  auf  der  irrtümlichen  Annahme,  der  andre  werde  gepumptes  Geld  zurückzahlen.  Tut  er  das  nicht,  so  erfolgt  eine  sog.  ›Stützungsaktion‹,  bei  

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der  alle,  bis  auf  den  Staat,  gut  verdie-­‐nen.  Solche  Pleite  erkennt  man  daran,  dass  die  Bevölkerung  aufgefordert  wird,  Vertrauen  zu  haben.  Weiter  hat  sie  ja  dann  auch  meist  nichts  mehr.  

Wenn  die  Unternehmer  alles  Geld  im  Ausland  untergebracht  haben,  nennt  man  dieses  den  Ernst  der  Lage.  Geord-­‐nete  Staatswesen  werden  mit  einer  solchen  Lage  leicht  fertig;  das  ist  bei  ihnen  nicht  so  wie  in  den  kleinen  Raubstaaten,  wo  Scharen  von  Brigan-­‐ten  die  notleidende  Bevölkerung  aus-­‐saugen.  Auch  die  Aktiengesellschaften  sind  ein  wichtiger  Bestandteil  der  Na-­‐tionalökonomie.  Der  Aktionär  hat  zweierlei  wichtige  Rechte:  er  ist  der,  wo  das  Geld  gibt,  und  er  darf  bei  der  Generalversammlung  in  die  Opposition  gehn  und  etwas  zu  Protokoll  geben,  woraus  sich  der  Vorstand  einen  sog.  Sonnabend  macht.  Die  Aktiengesell-­‐schaften  sind  für  das  Wirtschaftsleben  unerlässlich:  stellen  sie  doch  die  Vor-­‐zugsaktien  und  die  Aufsichtsratsstellen  her.  Denn  jede  Aktiengesellschaft  hat  einen  Aufsichtsrat,  der  rät,  was  er  ei-­‐gentlich  beaufsichtigen  soll.  Die  Akti-­‐engesellschaft  haftet  dem  Aufsichtsrat  für  pünktliche  Zahlung  der  Tantiemen.  Diejenigen  Ausreden,  in  denen  gesagt  ist,  warum  die  AG  keine  Steuern  bezah-­‐len  kann,  werden  in  einer  sogenannten  ›Bilanz‹  zusammengestellt.  

Die  Wirtschaft  wäre  keine  Wirtschaft,  wenn  wir  die  Börse  nicht  hätten.  Die  Börse  dient  dazu,  einer  Reihe  aufge-­‐regter  Herren  den  Spielklub  und  das  Restaurant  zu  ersetzen;  die  frommem  gehn  außerdem  noch  in  die  Synagoge.  Die  Börse  sieht  jeden  Mittag  die  Welt-­‐lage  an:  dies  richtet  sich  nach  dem  Weitblick  der  Bankdirektoren,  welche  jedoch  meist  nur  bis  zu  ihrer  Nasen-­‐spitze  sehn,  was  allerdings  mitunter  ein  weiter  Weg  ist.  Schreien  die  Leute  auf  der  Börse  außergewöhnlich  viel,  so  nennt  man  das:  die  Börse  ist  fest.  In  diesem  Fall  kommt  –  am  nächsten  Ta-­‐ge  –  das  Publikum  gelaufen  und  enga-­‐giert  sich,  nachdem  bereits  das  Beste  wegverdient  ist.  Ist  die  Börse  schwach,  so  ist  das  Publikum  allemal  dabei.  Die-­‐ses  nennt  man  Dienst  am  Kunden.  Die  Börse  erfüllt  eine  wirtschaftliche  Funk-­‐

tion:  ohne  sie  verbreiteten  sich  neue  Witze  wesentlich  langsamer.  

In  der  Wirtschaft  gibt  es  auch  noch  kleinere  Angestellte  und  Arbeiter,  doch  sind  solche  von  der  neuen  Theorie  längst  fallen  gelassen  worden.  

Zusammenfassend  kann  gesagt  wer-­‐den:  die  Nationalökonomie  ist  die  Me-­‐taphysik  des  Pokerspielers.  

Ich  hoffe,  Ihnen  mit  diesen  Angaben  gedient  zu  haben,  und  füge  noch  hinzu,  dass  sie  so  gegeben  sind  wie  alle  Wa-­‐ren,  Verträge,  Zahlungen,  Wechselun-­‐terschriften  und  sämtliche  andern  Handelsverpflichtungen  –:  also  ohne  jedes  Obligo.  

(Kurt  Tucholsky,  Glossen  und  Essays,  Die  Weltbühne,  15.09.1931,  Nr.  37,  S.  393)    

CDU zur Steuerpolitik „Bei  der  Lohn-­‐  und  Einkommensteuer  senken  wir  den  Eingangsteuersatz  auf  12%  und  den  Spitzensteuersatz  auf  39%.  Das  sind  die  niedrigsten  Steuer-­‐sätze  in  der  Geschichte  der  Bundesre-­‐publik  Deutschland.  Im  Gegenzug  wer-­‐den  im  gleichem  Umfang  eine  Vielzahl  von  Steuerbefreiungen,  Steuervergün-­‐stigungen  und  Ausnahmetatbeständen  gestrichen  oder  eingeschränkt.  Dazu  gehören  die  Reduzierung  der  Pendler-­‐pauschale  auf  eine  angemessene  Höhe  von  25  Cent  bis  max.  50  Entfernungs-­‐kilometer  und  der  gleichmäßige  Abbau  der  Steuerfreiheit  von  Sonn-­‐,  Feier-­‐tags-­‐  und  Nachtzuschlägen  innerhalb  von  sechs  Jahren.  

...  Als  weiteren  Schritt  zu  einer  umfas-­‐senden  Unternehmensteuerreform  senken  wir  die  Körperschaftsteuer  auf  22%,  gegenfinanziert  im  unternehme-­‐rischen  Bereich.“    (CDU/CSU:  Deutschlands  Chancen  nutzen.  Wachstum.  Arbeit.  Sicherheit.  Regierungs-­programm  2005-­2009,  Berlin,  11.07.05)  

SPD zur Steuerpolitik Eine  solide  Finanzpolitik  heißt  für  uns,  dass  wir  heute  nicht  auf  Kosten  zu-­‐künftiger  Generationen  leben.  Aller-­‐dings  darf  die  Konsolidierung  der  öf-­‐fentlichen  Haushalte  nicht  dazu  füh-­‐ren,  dass  wir  der  kommenden  Genera-­‐tion  eine  marode  Infrastruktur  hinter-­‐

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lassen.  Unsere  Verpflichtung  gegen-­‐über  kommenden  Generationen  be-­‐deutet:  Wir  müssen  die  Verschuldung  der  öffentlichen  Haushalte  senken  und  gleichzeitig  mehr  Geld  in  Bildung,  For-­‐schung  und  Infrastruktur  investieren.  

An  der  Finanzierung  der  staatlichen  Aufgaben  müssen  sich  Unternehmen  und  Privathaushalte  entsprechend  ihrer  Leistungsfähigkeit  beteiligen.  Das  bedeutet:  Wir  bekennen  uns  zur  be-­‐währten  progressiven  Einkommen-­‐  steuer.  Wir  wollen  eine  gerechte  Be-­‐steuerung  von  großen  Vermögen  und  Erbschaften.  

Wir  wollen  die  sozialen  Sicherungssy-­‐steme  stärker  durch  Steuern  auf  alle  Einkunftsarten  und  weniger  durch  Beiträge  finanzieren.  

(Hamburger  Programm.  Grundsatzpro-­gramm  der  Sozialdemokratischen  Partei  

Deutschlands,  2007)  

FDP zur Steuerpolitik Unser  Ziel  für  die  nächste  Legislatur-­‐periode  ist  ein  dreistufiges  Steuersy-­‐stem  mit  den  Sätzen  15,  25  und  35  Prozent.  Dazu  gehören  ...  eine  Unter-­‐nehmenssteuerreform  mit  dem  Weg-­‐fall  der  Gewerbesteuer  und  einem  Höchstsatz  von  25  Prozent.  Aus  ord-­‐nungspolitischen  und  steuersystemati-­‐schen  Gründen  streben  wir  langfristig  

einen  Einstufentarif  (Flat  Tax)  für  alle  Einkunftsarten  an.  

...  Nur  eine  Absenkung  der  Steuerbela-­‐stung  setzt  finanzielle  Spielräume  frei,  so  dass  wieder  investiert  werden  kann  und  Arbeitsplätze  entstehen.    (Beschluss  des  Präsidiums  der  FDP,  Berlin  04.07.05:  Wettbewerb,  Mittelstand,  Arbeits-­plätze.  10  Punkte  zur  Erneuerung  der  Sozia-­

len  Marktwirtschaft)  

GRÜNE zur Steuerpolitik Grüne  Haushalts-­‐  und  Steuerpolitik  orientiert  sich  am  Leitbild  der  Nach-­‐haltigkeit.  Damit  der  Staat  die  notwen-­‐digen  Zukunftsinvestitionen  tätigen  kann,  müssen  wir  die  Verschuldung  abbauen  und  einen  langfristig  ausge-­‐glichenen  Haushalt  erreichen.    

Deshalb  brauchen  wir  eine  Stabilisie-­‐rung  der  Steuereinnahmen.  Steuersen-­‐kungen  müssen  voll  durch  die  Strei-­‐chung  von  Steuervergünstigungen  gegenfinanziert  sein.    

Unser  Steuersystem  muss  einfacher  und  gerechter  werden.  Wir  treten  für  eine  gleichmäßige  Besteuerung  nach  der  Leistungsfähigkeit  der  Einzelnen  ein,  die  nicht  nach  Einkommensarten  und  –quellen  unterscheidet.  Wir  wol-­‐len  Steuergeschenke  und  Subventio-­‐nen  –  insbesondere  umweltschädliche  

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–  abbauen,  Steuerflucht  und  –hinterziehung  konsequent  bekämp-­‐fen  und  das  Ehegattensplitting  ab-­‐schmelzen.    

Betriebsverlagerungen  ins  Ausland  dürfen  nicht  steuerlich  begünstigt  werden.  Wir  akzeptieren  nicht,  dass  Unternehmen  hohe  Gewinne  einfah-­‐ren,  aber  keine  Steuern  zahlen.    

Die  ökologische  Steuerreform  wollen  wir  weiterentwickeln,  um  den  sparsa-­‐men  Umgang  mit  Ressourcen  und  In-­‐vestitionen  in  energiesparende  Tech-­‐nologien  zu  fördern.    

Die  Steuer  auf  große  Privatvermögen  soll  wieder  eingeführt  und  große  Erb-­‐schaften  stärker  besteuert  werden.  Die  Bemessungsgrundlage  der  Gewerbe-­‐steuer  muss  verbreitert  werden,  denn  sie  ist  die  wichtigste  Finanzierungsba-­‐sis  der  Kommunen.    

(Wahlprogramm  der  GRÜNEN,  2008)  

LINKE zur Steuerpolitik Konzerne  und  andere  profitable  Un-­‐ternehmen  müssen  wieder  deutlich  mehr  Steuern  zahlen.  Es  soll  wieder  eine  Vermögenssteuer  erhoben  wer-­‐den,  die  Erbschaftssteuer  auf  große  Erbschaften  ist  zu  erhöhen.  Steuer-­‐schlupflöcher,  die  insbesondere  Ver-­‐mögende  und  Großverdiener  begün-­‐stigen,  sind  konsequent  zu  schließen,  und  Wirtschaftskriminalität  ist  ent-­‐schiedener  zu  bekämpfen.  Veräuße-­‐rungsgewinne  beim  Verkauf  von  Wertpapieren  und  Immobilien  wollen  wir  ohne  Spekulationsfristen  besteu-­‐ern.  Der  Spitzensteuersatz  der  Ein-­‐kommenssteuer  soll  auf  mindestens  50  Prozent  angehoben  werden.  Wir  for-­‐dern  eine  Steuer-­‐  und  Finanzreform,  die  die  Länder  und  Kommunen  mit  den  notwendigen  Mitteln  für  eine  nachhal-­‐tige  Entwicklung  ausstattet.  

(Programm  der  Partei  DIE  LINKE:  Pro-­grammatische  Eckpunkte,  2007)  

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Diskurs 4.2: Die Legende vom „Leistungsträger“Guttenberg will Leistungsträger entlasten Bundeswirtschaftsminister  Karl-­‐Theodor  zu  Guttenberg  (CSU)  sprach  sich  gegen  Steuererhöhungen  aus.  

 „Jede  Steuererhöhung  ist  eine  Wachs-­‐  tumsbremse“,  sagte  der  Minister  im  Interview  mit  dem  Tagesspiegel.  Des-­‐halb  sei  er  „ganz  entschieden  gegen  jede  Anhebung  von  Steuern“.    

Mit  Blick  auf  das  Wahlprogramm  der  Union  stellte  der  CSU-­‐Politiker  für  die  nächste  Legislaturperiode  eine  Minde-­‐rung  der  kalten  Progression  für  Ein-­‐kommensteuerzahler  in  Aussicht.    

Er  sei  zuversichtlich,  dass  dies  trotz  hoher  Staatsschulden  zu  schaffen  sei.  Die  Progression,  die  dazu  führt,  dass  Lohnsteigerungen  überproportional  besteuert  werden,  sei  eine  Bereiche-­‐rung  des  Staates.  „Das  muss  aufhören“,  sagte  zu  Guttenberg.    

Die  Leistungsträger  der  Gesellschaft  dürften  nicht  das  Gefühl  haben,  dass  sie  alle  Lasten  aufgebürdet  bekommen.    

Zugleich  warnte  der  Minister  CDU  und  CSU  vor  vollmundigen  Wahlverspre-­‐chen.    

Keine  Partei  dürfe  jetzt  „Hochglanz-­‐magazine  vorlegen,  die  den  Wählern  unrealistische  Versprechungen  ma-­‐chen“.  

(Tagesspiegel,  26.06.09)  

Perspektive der Leistungsträger kommt zu kurz Wir  reden  in  Deutschland  immer  nur  darüber,  was  der  Staat  zusätzlich  ge-­‐währen  kann,  ohne  die  Frage  zu  stel-­‐len,  wer  das  bezahlen  soll.  Die  Per-­‐spektive  der  Steuerzahler,  also  der  Leistungsträger,  kommt  stets  zu  kurz.  Der  Strom  kommt  aus  der  Steckdose,  und  das  Hartz-­‐IV-­‐Einkommen  vom  Amt.  So  denken  leider  viele.  Dabei  ar-­‐gumentieren  sie  mit  der  Bedarfsge-­‐rechtigkeit.  Dieses  Konzept  geht  auf  Karl  Marx  zurück.    

So  gesehen  ist  die  Feststellung,  dass  die  Diskussion  sozialistische  Züge  aufweist,  richtig.    

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Nach  dem  Grundgesetz  müssen  wir  das  Existenzminimum  sichern,  aber  das  heißt  nicht,  dass  die  Steuerzahler  und  Leistungsträger  so  viele  Lasten  tragen  müssen,  dass  jeglicher  Bedarf  gedeckt  werden  kann.  ...  Wer  glaubt,  das  Sozialsystem  auf  Kosten  der  Lei-­‐stungsträger  sowie  künftiger  Genera-­‐tionen  grenzenlos  ausdehnen  zu  kön-­‐nen,  muss  sich  auf  Verweigerung  ein-­‐stellen.    (Hans-­Werner  Sinn,  Interview  in  der  „Welt“,  

16.02.10)  

Was sind eigentlich Leistungsträger? Der  „Leistungsträger“  als  zunehmend  bedrohte  Spezies  in  unserem  Land  bedarf  einer  stärkeren,  überparteili-­‐chen  Lobby!    

Diese  wiederum  bedarf  einer  Organi-­‐sation,  die  sich  auf  eine  in  breiten  Tei-­‐len  der  Öffentlichkeit  akzeptierte  Pro-­‐grammatik  (welch  ein  hässliches  Wort!)  gründet.    

In  ihrer  Quintessenz  lässt  sie  sich  durch  die  Begriffe  Leistung,  Verant-­‐wortung  und  Solidarität  charakterisie-­‐ren.  Leistungs-­‐  träger  sind  darin  alle  Beschäftigten,  seien  sie  Selbstständige,  

Angestellte,  Beamte  oder  Arbeiter,  die  einen  überdurchschnittlichen  Beitrag  zum  Erfolg  ihres  Unternehmens  lei-­‐sten.  Dabei  sind  Bildung  und  materiel-­‐le  Ausstattung  wichtige  Faktoren.  Lei-­‐stungsbereitschaft  setzt  aber  immer  Abwesenheit  von  Zwängen  und  Anrei-­‐ze  nicht  nur  materieller  Art  voraus,  die  ein  Individuum  veranlassen,  über-­‐durchschnittliche  Leistungen  zu  erbringen.    

Ersteres  erfordert  weitestgehende  Freiheiten  zur  Entfaltung  der  individu-­‐ellen  Fähigkeiten,  Letzteres  beinhaltet  akzeptable  und  nicht  durch  staatliche  Abschöpfungen  übermäßig  geminderte  Einkommen,  sowie  Akzeptanz  und  Achtung  der  Leistung  in  der  Gesell-­‐schaft.    

Ein  Leistungsträger  ist  immer  auch  für  die  Gesellschaft  tätig,  der  sein  Mehr-­‐produkt  ja  zugute  kommt.    

Das  gilt  im  besonderen  Maße  in  jenen  Bereichen,  in  denen  die  materielle  Ent-­‐lohnung,  z.B.  in  der  Sozialwirtschaft,  im  Vergleich  zur  erbrachten  Leistung  ziemlich  erbärmlich  erscheint.  (Editorial  von  Prof.  Dr.  Dr.  h.c.  mult.  Franz  

Peter  Lang  in  bdvb-­aktuell  85)

 

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Ein ungerechtes Steuersystem Ein  besonderer  Effekt  des  deutschen  Steuer-­‐  und  Abgabensystems  besteht  darin,  dass  die  relative  Abgabenlast  ab  einem  bestimmten  Grenzwert  mit  stei-­‐gendem  Einkommen  sinkt  –  dieser  Sondereffekt  ist  lediglich  in  drei  OECD-­‐Staaten  festzustellen.    

…Eine  deutsche  Besonderheit  stellt  der  Umstand  dar,  dass  ab  einem  Einkom-­‐men  von  63.000  Euro  pro  Jahr  bei  Al-­‐leinstehenden  die  relative  Abgabenlast  sinkt.  Eigentlich  müsste  bei  einem  pro-­‐gressiven  Steuersystem  die  Abgaben-­‐last  zwar  steigen,  zumal  dieser  Grenz-­‐wert  weit  unter  dem  Einkommen  liegt,  für  das  der  Spitzensteuersatz  anfallen  würde,  aber  eine  besondere  Regelung  macht  es  möglich,  dass  Besserverdie-­‐ner  entlastet  werden.    

Verantwortlich  dafür  sind  die  Bei-­‐tragsbemessungsgrenzen,  ab  denen  die  Sozialabgaben  nicht  mehr  relativ  zum  Einkommen  steigen.  Dies  führt  zur  paradoxen  Situation,  dass  ein  Spit-­‐zenmanager  prozentual  weniger  von  seinem  Bruttogehalt  abführen  muss  als  ein  Geringverdiener.  Außer  Deutsch-­‐land  leisten  sich  nur  Österreich  und  Spanien  ein  derart  ungerechtes  Steuer-­‐  und  Abgabensystem.  

Die  politische  Floskel,  nach  der  die  Starken  mehr  schultern,  lässt  sich  durch  die  OECD-­‐Zahlen  ad  absurdum  führen.    

Den  Schwachen  wird  in  Deutschland  mehr  aufgebürdet  als  den  Starken  –  dass  die  Schwachen  durch  die  hohen  Abgaben  noch  weiter  geschwächt  wer-­‐den,  wird  dabei  billigend  in  Kauf  ge-­‐nommen.  

(Jens  Berger:  Schwache  Schultern  tragen  mehr,  www.heise.de)  

Steuersenkungen als Haupthindernis für Haushaltskonsolidierung In  der  deutschen  Debatte  um  die  Haushaltskonsolidierung  halten  sich  seit  Jahren  hartnäckig  einige  Vorurtei-­‐le,  die  auch  die  Diskussion  um  die  fi-­‐nanzpolitischen  Implikationen  der  Schuldenbremse  zu  belasten  drohen.    

So  wird  immer  wieder  suggeriert,  dass  der  deutsche  Staat  sich  durch  laxe  Ausgabenpolitik  auf  ein  international  nicht  mehr  übliches  und  nicht  tragfä-­‐higes  Maß  ausgedehnt  habe,  was  auch  der  Hauptgrund  für  die  langjährigen  Probleme  mit  der  Haushaltskonsoli-­‐dierung  sei.    

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Diese  Entwicklung  müsse,  so  die  dar-­‐aus  zu  ziehende  Schlussfolgerung,  um-­‐gekehrt  werden.  Wer  solchen  Vorstel-­‐lungen  anhängt,  den  können  die  im  Rahmen  der  vorliegenden  Studie  er-­‐mittelten  drastischen  Kürzungsbedarfe  durch  die  Schuldenbremse  nicht  schrecken.  Vielmehr  nehmen  sie  sich  wie  eine  längst  überfällige  Korrektur  aus.  Allerdings  trägt  die  referierte  Sichtweise  nicht  weit;  sie  hält  einer  Konfrontation  mit  den  –  öffentlich  üb-­‐

rigens  leicht  zugänglichen  –  Daten  in  keinster  Weise  stand.  Denn  tatsächlich  war  die  Ausgabenpolitik  in  den  letzten  10  Jahren  in  Deutschland  auch  im  in-­‐ternationalen  Vergleich  ungewöhnlich  restriktiv  und  es  lässt  sich  zeigen,  dass  dieser  Politik  zentrale  Zukunftsinvesti-­‐tionen  in  erheblichem  Umfang  zum  Opfer  gefallen  sind.    (Auswirkungen  der  Schuldenbremse  auf  die  hessischen  Landesfinanzen.  Hans-­Böckler-­

Stiftung,  November  2009)

 

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Deutschlands Geldbeschaffer - die BRD Finanzagentur GmbH Die  dunkle  Kehrseite  all  der  Staatshil-­‐fen  und  Rettungspakete  wird  aller-­‐dings  selten  diskutiert.  18  Milliarden  für  die  Commerzbank,  50  fürs  Kon-­‐junkturpaket,  100  als  Garantiesumme  für  die  Hypo  Real  Estate.    

Woher  nimmt  der  Staat  das  viele  Geld?  Dass  tatsächlich  eine  unscheinbare  GmbH  das  gesamte  Schuldenmanage-­‐ment  des  Bundes  betreibt,  ist  heute  immer  noch  nur  wenigen  bekannt.    

Die  "Bundesrepublik  Deutschland  Fi-­‐nanzagentur  GmbH"  untersteht  dem  Finanzministerium  und  leiht  sich  das  Geld  am  Finanzmarkt.    

Nur  bei  wem  konkret?  Dazu  gibt  es  kaum  Informationen.  Dass  man  Sie  in  der  Klasse  der  Reichen  und  Superrei-­‐chen  vermuten  darf,  liegt  auf  der  Hand.  Die  kleinen  Privatanleger  besitzen  schließlich  direkt  gerade  einmal  ein  Volumen  von  zwei  Prozent  der  Staats-­‐papiere.  Für  den  Bund  rechnet  sich  das  Ganze  zudem  langfristig  kaum.  Von  1980  bis  2000  betrug  beispielsweise  die  staatliche  Kreditaufnahme  752  Milliarden  Euro,  die  Zinszahlungen  für  diese  Kredite  beliefen  sich  im  gleichen  Zeitraum  jedoch  auf  903  Milliarden.    

Warum,  so  kann  man  fragen,  wird  dann  weiterhin  ständig  der  Weg  über  neue  Schulden  gewählt?  Eine  Alterna-­‐tive  wäre  bekanntermaßen,  die  Wohl-­‐habenden  und  Superreichen  stärker  zu  besteuern  -­‐  statt  das  gleiche  Geld  teuer  von  ihnen  zu  leihen.    

(Paul  Schreyer  "Strategien  für  Billionen",  24.04.09)    

Denkfehler: Der Staat ist zu fett geworden Ist  es  richtig  zu  sagen,  ein  großer  Teil  des  gemeinsam  geschaffenen  Sozial-­‐produkts  werde  vom  Staat  »für  seine  Zwecke«  beansprucht?  Das  ist  ein  dic-­‐ker  Irrtum,  denke  ich.  Sind  es  wirklich  Ausgaben  zum  »Zwecke  des  Staates«,  

• wenn  die  Bundesländer  und  Kom-­‐munen  Schulen,  Hochschulen,  Kin-­‐dergärten,  Weiterbildungseinrich-­‐tungen  betreiben  und  das  nötige  Personal  bezahlen?  

• wenn  der  Bund  Nachrichtendien-­‐ste  betreibt,  den  Bundesgrenz-­‐schutz  unterhält,  das  Bundeskri-­‐minalamt  ausbaut,  weil  nach  Mei-­‐nung  der  Fachleute  die  Gefahr  durch  internationale  Mafia-­‐  und  Terrororganisationen  dies  not-­‐wendig  macht?

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• wenn  die  Kinder  eines  Kindergar-­‐tens  von  der  örtlichen  Polizei  Ver-­‐kehrsunterricht  erhalten?  

• wenn  das  Ordnungsamt  meiner  Verbandsgemeinde  die  Schankan-­‐lagen  der  Gaststätten  kontrolliert  –  in  diesem  Fall  muss  ich  sagen:  kon-­‐trolliert  hat,  denn  diese  Aufgabe  ist  inzwischen  an  Private  übertragen  worden,  die  dies  zu  einem  um  vie-­‐les  höheren  Preis  erledigen?    

• Nur  wenn  der  Staat  weniger  aus-­‐gebe,  »eröffnen  sich  neue  Aktions-­‐felder  für  private  Unternehmen«.  Rolf  Peffekoven,  Direktor  des  Insti-­‐tuts  für  Finanzwissenschaften  der  Universität  Mainz  laut  Handels-­‐blatt,  23.7.2002    

• wenn  Gemeinden  die  Betreuungs-­‐möglichkeiten  für  Kleinkinder  er-­‐weitern,  damit  mehr  Mütter  und/oder  Väter  Arbeit  und  Familie  unter  einen  Hut  bringen  können?  

• wenn  sich  Jugendämter  um  den  zunehmenden  Alkoholismus  von  Zehn-­‐  bis  Sechzehnjährigen  küm-­‐mern?  

• wenn  öffentliche  Stellen  die  Ver-­‐mittlung  von  Arbeitsplätzen  zu  or-­‐ganisieren  helfen?  

• wenn  der  Bund,  die  Gemeinden  und  die  Länder  gemeinsam  versu-­‐

chen  sollten,  mehr  für  die  Deutsch-­‐kenntnisse  der  Aussiedler  zu  tun?  Sie  wurden  von  der  Regierung  Kohl  ins  Land  geholt,  und  jetzt  kann  man  sie  nicht  im  Stich  lassen.  Sie  zu  fördern  ist  auch  in  unserem  Interesse  und  erhöht  die  Staats-­‐quote.  

• wenn  Bundesregierung  und  Par-­‐lamente  1994  und  dann  mit  einer  zweiten  Stufe  1997  eine  Pflegever-­‐sicherung  einführen,  weil  zu  viele  alte  Menschen  in  die  Sozialhilfe  abgeglitten  sind,  wenn  sie  pflege-­‐bedürftig  wurden?  

• wenn  der  Staat  Neubaustrecken  der  Deutschen  Bahn  AG  finanziert  und  Gelder  für  öffentliche  Nahver-­‐kehrssysteme  an  die  Länder  gibt?  In  meinem  Bundesland,  Rheinland-­‐Pfalz,  ist  damit  ein  vernünftiges  Sy-­‐stem  des  öffentlichen  Nahverkehrs  geschaffen  worden,  das  viele  Men-­‐schen  nutzen.  

• wenn  der  Staat  für  den  Strafvollzug  sorgt  und  deshalb  Gefängnisse  un-­‐terhält?  

• wenn  der  Staat  eine  Zivilgerichts-­‐barkeit  betreibt  und  damit  dafür  sorgt,  dass  man  im  Konfliktfall  sein  Recht  vor  Gericht  erstreiten  kann?

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• wenn  der  Staat  Forschung  und  Innovation  fördert,  weil  der  Markt  versagt,  wenn  es  um  langfristige  Grundlagenforschung  geht,  die  von  einzelnen  Unternehmen  ohne  staatliche  Anstöße  gar  nicht  oder  nur  mit  hohem  Risiko  geleistet  werden  kann?  

• wenn  der  Bund  für  Leittechniken  wie  die  Nanotechnik  jährlich  200  Millionen  Euro  zur  Verfügung  stellt?  

• wenn  der  Bund  mit  besonderen  Stipendien  Hochbegabte  fördert?  

• wenn  die  Gemeinden  Bebauungs-­‐pläne  erarbeiten  und  Reisepässe  ausgeben?  

An  diesen  Beispielen  sieht  man,  dass  die  Eingangsformulierung  »vom  Staat  für  seine  Zwecke«  ziemlich  unsinnig  ist.  Die  meisten  Leistungen,  die  Bund,  Länder,  Gemeinden  und  andere  öffent-­‐liche  Einrichtungen  erbringen,  brau-­‐chen  wir  genauso  wie  Brot,  Gemüse,  Bier,  das  Auto,  Computer  oder  Kleider.  Jedenfalls  steckt  hinter  der  Staatsquote  kein  Klumpen  Geld,  der  irgendwo  im  Nichts  versenkt  wird.  Genau  diese  Vor-­‐stellung  wird  aber  von  vielen  genährt,  die  heute  ihre  Stimme  gegen  die  Staatsquote  erheben.  (Auszug  aus  Albrecht  Müller,  „Die  Reform-­

lüge  –  40  Denkfehler,  Mythen  und  Legenden,  mit  denen  Politik  und  Wirtschaft  Deutsch-­

land  ruinieren“)

 Staatsausgaben – wer finanziert, wer profitiert?Nicht  nur  in  Deutschland  ist  der  Staat  jetzt  wieder  gefordert:  er  muss  „Ret-­‐tungsschirme“  für  das  Bankensystem  aufspannen  und  Konjunkturprogram-­‐me  auflegen,  um  den  Absturz  des  Un-­‐ternehmenssektors  abzumildern.    

Als  Nebeneffekt  erhofft  man  sich,  dass  die  Arbeitslosigkeit  nicht  allzu  stark  ansteigt  und  die  Lohnabhängigen  nicht  anfangen,  sich  zu  empören.    

Allerdings  müssen  die  diversen  Ret-­‐tungs-­‐  und  Konjunkturpakete  auch  

bezahlt  werden.  Im  Moment  ist  dies  nicht  anders  möglich  als  durch  eine  vermehrte  staatliche  Kreditaufnahme.    

Da  die  Staaten  als  erstklassiger  Schuldner  gelten  und  angesichts  des  Bankendesasters  Sicherheit  groß  ge-­‐schrieben  wird,  haben  sie  bei  der  Kre-­‐ditaufnahme  auch  keine  Probleme:    

Nicht  zuletzt  ist  jenes  oberste  Zehntel  der  Bevölkerung,  bei  dem  sich  (nicht  nur  in  Deutschland)  ein  Großteil  der  Einkommen  und  Vermögen  konzen-­‐

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triert,  gerne  bereit  dem  Staat  gegen  Zinsen  jenes  Geld  zu  leihen,  das  ihm  aufgrund  jahrelanger  Steuersenkungen  in  erheblichem  Ausmaß  zugeflossen  ist.  

(Editorial  der  Zeitschrift  PROKLA  154,  März  2009)  

Investitionen in Bildung Die  Defizite,  die  es  im  Bildungsbereich  gibt,  sind  gut  dokumentiert  ...  Konkret  passiert  allerdings  wenig.  Zuletzt  ist  der  Bildungsgipfel  der  Bundesregie-­‐rung  im  Herbst  2008  mit  vielen  prinzi-­‐piellen  Aussagen  zur  Bedeutung  der  Bildung  und  keinen  konkreten  Verab-­‐redungen  zur  Verbesserung  der  Situa-­‐tion  zu  Ende  gegangen.  

Die  Arbeitsgruppe  Alternative  Wirt-­‐schaftspolitik  fordert  eine  Erhöhung  der  Bildungsausgaben  von  30  Milliar-­‐den  Euro  jährlich.  Die  Ausgaben  be-­‐treffen  vor  allem  zusätzliche  Personal-­‐ausgaben.  Sie  verteilen  sich  wie  folgt:  

Kindertagesstätten:  12  Milliarden  Euro    

Damit  soll  eine  Ausweitung  der  früh-­‐kindlichen  Betreuung  für  unter  Drei-­‐jährige,  eine  Ausweitung  der  Ganzta-­‐gesbetreuung  für  Drei-­‐  bis  Sechsjähri-­‐ge,  eine  Verbesserung  des  Personal-­‐schlüssels  und  eine  bessere  Qualifizie-­‐rung  des  Personals  (mehr  Beschäftigte  mit  Hochschulabschluss)  erreicht  wer-­‐den.    

Außerdem  dient  das  Geld  für  bauliche  Erweiterungsmaßnahmen  für  mehr  Plätze  in  Kindertagesstätten.  

Allgemeinbildende  Schulen:  4  Milli-­arden  Euro    

Darin  enthalten  sind  vor  allem  die  Ausweitung  von  Ganztagsschulplätzen,  außerdem  eine  intensivierte  Weiter-­‐bildung  der  Beschäftigten  und  die  öf-­‐fentliche  Finanzierung  von  Unter-­‐richtshilfen  und  Materialien  (Lernmit-­‐telfreiheit).  Nicht  quantifiziert  sind  Veränderungen  der  Schulstruktur  wie  beispielsweise  die  vermehrte  Einfüh-­‐rung  von  Integrierten  Gesamtschulen.  

Berufsausbildung:  0,5  Milliarden  Euro    

Finanziert  werden  soll  die  Ausweitung  vollzeitschulischer  Ausbildungsplätze.  Zur  Finanzierung  bietet  sich  hier  die  Einführung  einer  Ausbildungsplatzab-­‐gabe  an.  

Hochschulen:  6  Milliarden  Euro    

Die  Beseitigung  der  Unterfinanzierung  und  der  Ausbau  der  Hochschulen  für  eine  höhere  Studierendenquote  sind  in  der  Berechnung  berücksichtigt.  Dazu  gehören  die  Aufstockung  des  Personals  und  bauliche  Maßnahmen.  Außerdem  werden  die  BAföG-­‐Leistungen  verbes-­‐sert.  Studiengebühren  zur  Finanzie-­‐rung  lehnt  die  Arbeitsgruppe  Alterna-­‐tive  Wirtschaftspolitik  strikt  ab.  

Weiterbildung:  7,5  Milliarden  Euro    

Schwerpunkt  ist  die  Ausweitung  der  Weiterbildung  für  Arbeitslose.  Damit  gehört  dieser  Posten  zu  einem  erhebli-­‐chen  Teil  zu  den  Mitteln  der  aktiven  Arbeitsmarktpolitik.  

(Auszug  aus  dem  Bildungspolitik-­Kapitel  des  Memorandum  2009,  PapyRossa-­Verlag)

 

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Diskurs 4.3: Schulden- und Zukunftsbremse oder …?Bekommen wir die Verschuldung überhaupt noch in den Griff? Viele  Menschen  sind  angesichts  der  wachsenden  Staatsverschuldung  in  Sorge  und  fragen,  ob  es  überhaupt  noch  einmal  möglich  sein  wird,  diese  Schulden  abzubauen.    

Diese  Sorgen  sollte  man  ernst  nehmen,  auch  dann,  wenn  das  Thema  erkenn-­‐bar  benutzt  wird,  um  politische  Ent-­‐scheidungen  gegen  die  Interessen  der  Mehrheit  zu  begründen  -­‐  etwa  um  eine  Mehrwertsteuererhöhung  auf  25  %  durchzudrücken  oder  den  Abbau  so-­‐zialer  Leistungen  fortzusetzen.  Ich  will  

versuchen,  einige  eher  zuversichtliche  Antworten  zum  gesamten  Fragenkom-­‐plex  zu  geben.    

Ist  es  überhaupt  möglich,  die  Schul-­den  wieder  abzubauen?    

Leicht  ist  das  nicht,  aber  es  ist  möglich,  wenn  richtige  wirtschaftspolitische  Entscheidungen  getroffen  werden.  Die  folgende  Tabelle  zeigt  die  Entwicklung  des  Staatsschuldenstandes  im  Verhält-­‐nis  zum  Bruttoinlandsprodukt  in  eini-­‐gen  Ländern  zwischen  1991  und  2003  (sie  stammt  aus  dem  Buch  „Reformlü-­‐ge“)

 Staatsschuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt

Quelle:  OECD  (Hrsg.):  Economic  Outlook  2003,  Paris  2003,  S.  227.  Für  die  Werte  des  Jahres  2003  OECD  (Hrsg.):  Economic  Outlook  2004,  Volume  2,  Paris  2004,  S.  234.  

In  Belgien  wurde  in  dieser  Zeit  der  Staatsschuldenstand  von  maximal  138  auf  104  heruntergefahren;  in  Däne-­‐mark  von  90,1  auf  49,5;  in  Großbritan-­‐nien  von  60,6  auf  42,  in  Finnland  von  maximal  66,5  im  Jahr  1996  auf  47,2  im  Jahr  2002;  in  Schweden  von  84,6  im  Jahre  1996  auf  59,7  im  Jahre  2002;  auch  in  den  USA  von  75,6  auf  62,5.  In  anderen  Ländern  stieg  der  Schul-­‐denstand,  in  Japan,  in  Frankreich  und  in  Deutschland.    

Inzwischen  sieht  unter  dem  Eindruck  einer  anderen  Politik  wie  in  den  USA  mit  George  Bush  zum  Beispiel  oder  unter  dem  Eindruck  der  Finanzkrise  und  der  deshalb  unternommenen  Ret-­‐tungsaktionen  die  Welt  anders  aus.  Der  Staatsschuldenstand  steigt.  Das  ändert  aber  nichts  an  der  Tatsache,  

dass  man  politische  Gestaltungsmög-­‐lichkeiten  hat.    

Ob  der  Abbau  von  Staatsschulden  ge-­‐lingt,  hängt  zentral  von  der  wirtschaft-­‐lichen  Entwicklung  ab  -­‐  und  dann  auch  noch  von  der  Steuerpolitik  und  der  Ausgabenpolitik    

In  Schweden,  in  den  USA,  in  Großbri-­‐tannien  folgte  die  Verringerung  der  Staatsschulden  in  den  neunziger  Jah-­‐ren  erkennbar  auf  eine  bewusst  her-­‐beigeführte  ökonomische  Erholung.    

In  Schweden,  in  den  USA,  in  Großbri-­‐tannien,  in  den  Niederlanden  war  der  Abbau  des  Staatsschuldenstandes  im  Verhältnis  zum  BIP  vor  allem  deshalb  möglich,  weil  diese  Volkswirtschaften  unter  dem  Eindruck  einer  expansiven  Geld-­‐  und  Wirtschaftspolitik  mehrere  

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Jahre  lang  hohe  Wachstumsraten  um  die  4  %  herum  erreicht  haben.  

Selbst  die  kleine  Verbesserung  der  Lage  in  Deutschland  zwischen  1998  und  dem  Jahr  2001  -­‐  von  63,2  auf  60,2  –  war  eng  korreliert  mit  dem  damali-­‐gen  kleinen  Aufschwung.  Und  genauso  war  der  Anstieg  der  Verschuldung  danach  eng  verbunden  mit  dem  Ab-­‐bruch  der  konjunkturellen  Entwick-­‐lung  zwischen  2002  und  2005.  Auf  diesen  Widersinn,  dass  nämlich  die  Sparpolitik  des  Hans  Eichel  genau  das  Gegenteil  bewirkte,  haben  wir  in  den  NachDenkSeiten  auf  der  Basis  einer  Grafik  aus  „Machtwahn“  schon  mehr-­‐mals  hingewiesen.    

Die  Darstellung  der  Abläufe  und  der  Ursachen  der  Verschuldung  in  der  öf-­‐fentlichen  Debatte  ist  oft  lückenhaft  und  teilweise  irreführend:    

So  wird  in  vielen  Darstellungen  der  Hinweis  auf  die  Bedeutung  der  deut-­‐schen  Vereinigung  weggelassen,  oder  es  wird  schlicht  „vergessen“,  welche  negative  Wirkung  die  Steuersenkun-­‐gen  der  Regierung  Schröder  für  hohe  Einkommen  und  Unternehmen  für  den  Stand  der  Staatsverschuldung  hatten.  Heute  wird  oft  gar  nicht  erwähnt,  wel-­‐che  Wirkung  die  Rettungsschirme  und  die  dafür  bereitgestellten  Milliarden  auf  den  Schuldenstand  haben.  Da  ist  viel  davon  die  Rede,  dass  die  Finanz-­‐krise  und  die  Wirtschaftskrise  und  die  Konjunkturprogramme  und  die  Zu-­‐schüsse  zur  Sozialversicherung  eine  höhere  Verschuldung  verursachen  würden,  dass  auch  die  Zahlungen  an  die  IKB,  an  die  HRE,  die  Commerzbank  und  einige  Landesbanken  ihre  Spuren  im  Schuldenstand  hinterlassen  haben,  wird  aus  durchsichtigen  Gründen  „ge-­‐schlabbert“.    

In  der  Frankfurter  Rundschau  erschien  ein  Beitrag  mit  dem  Titel  „Kabinett  beschließt  den  Schuldenrekord“  (24.6.09).  In  diesem  Beitrag  wurde  mit  Recht  die  Frage  nach  der  politischen  Gestaltungsmöglichkeit  gestellt  und  dann  auf  Wolfgang  Streeck,  den  Direk-­‐tor  am  Max-­‐Planck-­‐Institut  für  Gesell-­‐schaftsforschung  hingewiesen.  Schon  vor  der  Finanzkrise  seien  der  Politik  durch  die  „ererbten  Verpflichtungen“  

die  Hände  gebunden  gewesen.  So  kön-­‐ne  eine  Regierung  kaum  die  Kosten  für  den  Schuldendienst,  die  Zuschüsse  zur  Sozialversicherung  (vor  allem  Rente)  und  andere  Sozialbudgets  beeinflus-­‐sen.  Weiter  hieß  es:  Rechne  man  diese  der  politischen  Gestaltung  praktisch  entzogenen  Ausgaben  zusammen,  so  habe  die  sozial-­‐liberale  Koalition  1970  rund  43  %  des  Bundeshaushaltes  für  selbst  gewählte  Ausgaben  zur  Verfü-­‐gung  gehabt.  Beim  rot-­‐grünen  Bündnis  sei  dieser  Anteil  bis  2005  auf  unter  19  %  gesunken.  

In  dieser  Darstellung  ist  leider  einiges  Wichtige  nicht  erwähnt:  

Die  Regierung  Schröder  hat  ihren  Ge-­‐staltungsspielraum  selbst  eingeengt  durch  eine  der  größten  Steuerrefor-­‐men  zu  Gunsten  der  höheren  Einkom-­‐men,  Vermögen  und  vor  allem  der  Un-­‐ternehmen.  Sie  hat  die  Körperschafts-­‐teuer  massiv  reduziert,  die  Gewinne  beim  Verkauf  von  Unternehmen  und  Unternehmensteilen  steuerfrei  gestellt  usw.  

Außerdem  hat  auch  die  Regierung  Schröder  wie  vorher  schon  die  Regie-­‐rung  Kohl  in  den  Jahren  1992  und  93  die  Konjunktur  in  den  Keller  gefahren,  damit  die  Steuereinnahmen  weiter  reduziert  und  vor  allem  den  Zuschuss-­‐bedarf  für  die  sozialen  Sicherungssy-­‐steme  erhöht.  Bei  Streeck  -­‐  jedenfalls  nach  Frankfurter  Rundschau  -­‐  wird  auch  die  Reduzierung  des  Gestaltungs-­‐raums  und  die  Erhöhung  der  Staats-­‐verschuldung  durch  die  Art  der  Verei-­‐nigung  beider  Teile  Deutschlands  nicht  erwähnt.  

Konsolidierung  über  Steuererhö-­hungen  und  wie?    

Zurzeit  wird  von  verschiedenen  Seiten,  unter  anderem  schon  zum  wiederhol-­‐ten  Male  vom  Präsidenten  des  Deut-­‐schen  Instituts  für  Wirtschaftsfor-­‐schung  Klaus  Zimmermann  die  Erhö-­‐hung  der  Mehrwertsteuer  auf  25  %  als  Maßnahme  zur  Konsolidierung  ins  Gespräch  gebracht.    

Das  wäre  aus  vielerlei  Gründen  heute  und  auf  absehbare  Zeit  der  falsche  Weg.    

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Es  wäre  wie  schon  die  letzte  Mehr-­‐wertsteuererhöhung  ein  Beitrag  zur  Dämpfung  der  ohnehin  schwachen  Konjunktur;  es  würden  vor  allem  die  schwächeren  Einkommen  mehr  bela-­‐stet.    

Dass  solche  Vorschläge  parallel  zu  Vorschlägen  zur  Steuersenkung  im  Bereich  der  Einkommen  zur  Sprache  kommen,  ist  sachlich  nicht  zu  verste-­‐hen.    (Albrecht  Müller,  www.nachdenkseiten.de)  

Liste der sinnvollen Möglichkeiten zur Einnahmeverbesserung Im  Kern  geht  es  darum,  dass  mit  der  Steuerpolitik  versucht  werden  muss,  diejenigen  zur  Finanzierung  der  Fol-­‐gen  der  Finanzkrise  heranzuziehen,  die  sie  mitverursacht  haben,  und  je-­‐denfalls  dafür  zu  sorgen,  dass  die  star-­‐ken  Schultern  die  Hauptlast  tragen.  Dabei  wird  man  in  Kauf  nehmen  müs-­‐sen,  dass  unter  jenen  mit  den  starken  Schultern  auch  solche  Zeitgenossen  sind,  die  den  Casinobetrieb  nicht  für  Spekulationen  zum  eigenen  Vorteil  genutzt  haben.  Es  geht  auf  jeden  Fall  nicht  an,  dass  die  Last  der  Finanzkrise,  wie  mit  der  Mehrwertsteuererhöhung  beabsichtigt,  vor  allem  den  Schwäche-­‐ren  aufgeladen  wird.  

Anders  als  es  bei  der  Union  und  der  FDP  diskutiert  wird  und  Rot-­‐Grün  es  in  der  Vergangenheit  praktiziert  hat,  wird  eine  solche  Steuerpolitik  auch  bei  den  direkten  Steuern  ansetzen  müs-­‐sen.  Parallel  zum  notwendigen  Ver-­‐such,  die  direkten  Steuern  anzuheben,  ist  es  notwendig,  mit  der  Schließung  der  Steueroasen  wirklich  ernst  zu  ma-­‐chen.    

Was  ist  möglich:  

1.  Erhöhung  des  Spitzensteuersatzes  der  Einkommensteuer  auf  über  50  %.  Das  können  beispielsweise  53  %  sein  oder  auch  56  %,  wie  die  SPD  früher  einmal  vorgesehen  hat.  

2.  Wiedereinführung  der  Vermögens-­‐steuer,  die  in  der  Zeit  der  Regierung  Kohl  abgeschafft  worden  ist.  

3.  Wiedereinführung  der  Gewerbeka-­‐pitalsteuer,  die  ebenfalls  in  der  Regie-­‐rungszeit  von  Helmut  Kohl  abgeschafft  wurde.  

4.  Erhöhung  der  Körperschaftssteuer.  

5.  Streichung  der  Steuerfreiheit  für  Gewinne  beim  Verkauf  von  Unterneh-­‐men  und  Unternehmensteilen.  

6.  Aufhebung  der  Steuerfreiheit  im  Bereich  der  Finanzdienstleistungen.

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7.  Wirksame  Erbschaftsbesteuerung  statt  der  weiteren  Lockerung.  

8.  Wiedereinführung  der  Börsensatz-­‐steuer.  

9.  Angleichung  der  Steuersätze  für  Zins-­‐  und  Vermögenseinkünfte  an  die  Steuersätze  der  Einkommensteuer.  (Siehe  1.)  

Man  muss  die  Möglichkeit  zur  Umset-­‐zung  dieser  Vorschläge  nüchtern  be-­‐trachten  und  auch  die  Widerstände  richtig  einschätzen.  Wir  sind  in  der  öffentlichen  Debatte  zurzeit  weit  ent-­‐fernt  davon,  solche  selbstverständli-­‐chen  Vorschläge  überhaupt  in  Erwä-­‐gung  zu  ziehen.  Das  kann  man  bei-­‐spielhaft  daran  zeigen,  dass  der  selbst-­‐verständlichste  Vorschlag,  die  Strei-­‐chung  der  Steuerfreiheit  der  Heu-­‐schrecken  (siehe  5.)  von  den  Offiziel-­‐len  bisher  nicht  einmal  in  Erwägung  gezogen  wird,  selbst  die  SPD,  die  zur-­‐zeit  so  tut,  als  hätte  sie  ihr  Herz  für  soziale  Gerechtigkeit  wieder  entdeckt  und  propagandistisch  auch  gegen  Heu-­‐schrecken  zu  Felde  zieht,  hat  bisher  ihrem  Finanzminister  noch  nicht  ver-­‐mittelt,  dass  sie  die  Streichung  dieser  Steuerfreiheit  verlangt.  ...  Für  die  Strei-­‐chung  der  Steuerfreiheit  sprechen  nicht  nur  die  Verbesserung  der  Ein-­‐nahmensituation,  sondern  auch  der  Flurschaden,  den  diese  Steuerbefrei-­‐ung  angerichtet  hat  und  immer  wieder  anrichtet.    (Albrecht  Müller,  www.nachdenkseiten.de)  

ver.di: Antikrisenpolitik und Profiteure zur Kasse ver.di  fordert  einen  grundlegenden  Politikwechsel.  Wir  wollen  einen  akti-­‐ven  Sozialstaat,  der  die  öffentliche  Da-­‐seinsvorsorge  in  öffentlicher  Verant-­‐wortung  und  auch  in  öffentlichem  Ei-­‐gentum  im  Interesse  der  Bürgerinnen  und  Bürger  wieder  ausbaut  und  für  alle  gut  und  professionell  organisiert.  Das  erfordert  eine  dauerhafte  Erhö-­‐hung  öffentlicher  Investitionen  und  öffentlicher  Beschäftigung.  

Gegen  die  Krise  fordert  ver.di  ein  drit-­‐tes  Konjunkturpaket  im  Umfang  von  100  Milliarden  Euro  jährlich  zunächst  bis  2011.  75  Milliarden  zusätzliche  

öffentliche  Ausgaben  für  Investitionen  und  Personal,  25  Milliarden  für  ein  arbeitsmarktpolitisches  Sofortpro-­‐gramm.  Danach  sollen  jährlich  50  Mil-­‐liarden  Euro  dauerhaft  für  Arbeit,  Bil-­‐dung  und  Umwelt  investiert  werden.  Mit  diesem  Antikrisenprogramm  kön-­‐nen  zwei  Millionen  tarifgebundene  Arbeitsplätze  gesichert  und  geschaffen  werden.  

Um  mehr  Sozialstaat  finanzieren  zu  können,  sind  dauerhaft  Mehreinnah-­‐men  der  öffentlichen  Haushalte  erfor-­‐derlich.  Steuersenkungen  im  Bereich  der  unteren  und  mittleren  Einkommen  müssen  mehr  als  ausgeglichen  werden  durch  einen  höheren  Beitrag  der  Rei-­‐chen.  ver.di  hat  dazu  das  Konzept  Steuergerechtigkeit  entwickelt,  mit  dem  75  Milliarden  Euro  im  Jahr  zusätz-­‐lich  eingenommen  werden  können.  

Dazu  muss  die  Vermögensteuer  wieder  eingeführt  und  die  Steuer  auf  große  Erbschaften  erhöht  sowie  der  Höchst-­‐steuersatz  auf  hohe  Einkommen  auf  50  Prozent  angehoben  werden.  Die  Un-­‐ternehmensgewinne  sind  durch  die  Wiederanhebung  des  Körperschafts-­‐teuersatzes  auf  25  Prozent  und  die  Verbreiterung  der  Bemessungsgrund-­‐lage  verstärkt  heranzuziehen.  Außer-­‐dem  ist  eine  Besteuerung  von  Finanz-­‐geschäften  und  verstärkter  Kampf  ge-­‐gen  Steuerhinterziehung  notwendig.  (ver.di:  Wirtschaftspolitische  Informationen  

2/2009)    

Eigentum verpflichtet Art.  14  (2)  Eigentum  verpflichtet.  Sein  Gebrauch  soll  zugleich  dem  Wohle  der  Allgemeinheit  dienen.    

(3)  Eine  Enteignung  ist  nur  zum  Wohle  der  Allgemeinheit  zulässig.  

Art.  15  „Grund  und  Boden,  Naturschät-­‐ze  und  Produktionsmittel  können  zum  Zwecke  der  Vergesellschaftung  ...  in  Gemeineigentum  oder  andere  Formen  der  Gemeinwirtschaft  überführt  wer-­‐den.“  

(Grundgesetz  für  die  Bundesrepublik  Deutschland)    

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86  

Gewerkschaftliche Eckpunkte der Steuerpolitik 1.  Die  schwerste  Finanz-­‐  und  Wirt-­‐schaftskrise  in  der  Geschichte  der  Bundesrepublik  zwingt  den  Staat  die  Konjunktur  zu  stabilisieren  und  die  Banken  zu  retten.  Die  Rettungsaktio-­‐nen  und  die  verringerten  Steuerein-­‐nahmen  lassen  die  Staatsverschuldung  deutlich  ansteigen.  Die  deutschen  Ge-­‐werkschaften  werden  nicht  akzeptie-­‐ren,  dass  diese  Zeche  von  den  Arbeit-­‐nehmerinnen  und  Arbeitnehmern  be-­‐zahlt  wird.  Stattdessen  müssen  die  Verursacher  für  die  Kosten  aufkom-­‐men.  

2.  Vor  dem  Hintergrund  der  Krisenbe-­‐wältigung  und  der  daraus  steigenden  Staatsverschuldung  sowie  hoher  öf-­‐fentlicher  Investitionsbedarfe  brau-­‐chen  wir  neben  einer  Stärkung  der  binnenwirtschaftlichen  Wachstums-­‐kräfte  zukünftig  höhere  Staatseinnah-­‐men.  Wer  einer  weiteren  Verminde-­‐rung  der  Staatseinnahmen  durch  all-­‐gemeine  Steuersenkungen  das  Wort  redet,  beschneidet  die  staatliche  Hand-­‐lungsfähigkeit  und  legt  die  Axt  an  den  Sozialstaat.  

3.  Arbeitnehmer  und  Arbeitnehmerin-­‐nen  sind  die  Lastesel  der  Nation.  Diese  Leistungsträger  haben  die  höchste  Steuer-­‐  und  Abgabenbelastung.  Zur  Stärkung  des  privaten  Verbrauchs  be-­‐darf  es  einer  steuerlichen  Entlastung  durch  die  Einführung  eines  linear  pro-­‐gressiven  Tarifs  in  der  Lohn-­‐  und  Ein-­‐kommensteuer.  Darüber  hinaus  sollte  der  kalten  Progression  über  eine  re-­‐gelmäßige  Anpassung  des  Tarifverlau-­‐fes  an  die  Lohnentwicklung  entgegen-­‐gewirkt  werden.  

4.  Die  Finanzierungsbasis  des  Staates  wurde  vor  der  Krise  immer  weiter  ausgetrocknet.  Die  deutsche  Steuer-­‐  und  Abgabenquote  liegt  inzwischen  mit  36,2%  unter  dem  Durchschnitt  der  OECD-­‐Staaten.  Aufgrund  der  unzurei-­‐chenden  finanziellen  Ausstattung  von  Bund,  Ländern  und  Kommunen  wer-­‐den  zentrale  öffentliche  Zukunftsinve-­‐stitionen  nicht  mehr  getätigt.  Dies  gilt  insbesondere  für  Bildung,  das  Gesund-­‐heitswesen  sowie  die  Erhaltung  und  ökologische  Modernisierung  der  Infra-­‐

struktur  unseres  Landes,  insbesondere  der  Verkehrsinfrastruktur.  

5.  Wer  die  staatliche  Finanzierungsba-­‐sis  verbreitern  will,  muss  dies  sozial  gerecht  tun.  Deswegen  sagen  wir  nein  zu  einer  Erhöhung  der  Mehrwertsteu-­‐er.  Diese  belastet  überproportional  die  Bezieher  unterer  und  mittlerer  Ein-­‐kommen,  da  sie  im  Vergleich  zu  den  Besserverdienenden  über  eine  hohe  Konsumquote  verfügen.  

6.  Hohe  Einkommen,  Kapitalerträge  und  Vermögen  müssen  aus  gewerk-­‐schaftlicher  Sicht  zukünftig  einen  grö-­‐ßeren  Beitrag  zur  Finanzierung  der  gesamtgesellschaftlichen  Aufgaben  leisten.  Dies  erfordert  einen  höheren  Spitzensteuersatz,  höhere  Gewinn-­‐steuern  und  eine  angemessene  Be-­‐steuerung  von  Vermögen  und  Erb-­‐schaften.  

7.  Die  Verursacher  der  Krise  müssen  einen  besonderen  Beitrag  zur  Bewälti-­‐gung  der  Krisenlasten  erbringen.  Wir  brauchen  einen  Lastenausgleich  in  Form  einer  befristeten  Vermögensab-­‐gabe  und  eine  möglichst  europaweit  abgestimmte  Börsenumsatzsteuer.  (Beschluss  des  DGB-­Bundesvorstands,  2009)  

Der Finanzierungs-Mix des Sozialstaates In  diesem  Sinne  wird  der  demokrati-­‐sche  Sozialstaat,  im  Unterschied  zur  derzeit  praktizierten  Besteuerung,  die  unterschiedlichen  Faktoreinkommen  gleich  behandeln  und  damit  den  Zu-­‐stand  „bevorzugter“  Belastung  der  Einkommen  aus  abhängiger  Beschäfti-­‐gung  revidieren;  er  wird  die  Zone  pro-­‐gressiver  Besteuerung  aus  dem  Be-­‐reich  der  mittleren  in  den  Bereich  der  überdurchschnittlich  hohen  Einkom-­‐men  verschieben  und  so  höhere  Ein-­‐kommen  stärker  belasten  als  bisher;  Vermögen  wird  er  besteuern,  da  selbstverständlich  auch  Vermögen  die  Leistungsfähigkeit  der  Steuerpflichti-­‐gen  mitbestimmen;  schließlich  wird  er  die  intergenerationelle  Weitergabe  von  Vermögen  an  Erben  durch  eine  höhere  Erbschaftssteuer  begrenzen.  

Page 89: Wir brauchen keine Schuldenbremse

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Sollte  im  Zeitalter  der  Globalisierung  der  deutsche  Staat  zu  diesen  steuerpo-­‐litischen  Reformen  nicht  (mehr)  die  notwendige  Souveränität  besitzen  und  die  Besteuerung  gemäß  der  Leistungs-­‐fähigkeit  gegenüber  den  einkommens-­‐  und  vermögensstarken  Marktakteuren  mit  „exit“-­‐Optionen  nicht  durchsetzen  können,  so  muss  und  kann  er  diese  Souveränität  auf  dem  Weg  inter-­‐  und  supranationaler  Kooperationen  zu-­‐rückgewinnen.  (Dr.  Stephan  Lessenich,  Dr.  Matthias  Möh-­ring-­Hesse:  Ein  neues  Leitbild  für  den  Sozi-­alstaat.  Eine  Expertise  im  Auftrag  der  Otto  

Brenner  Stiftung,  2004)  

Steuern statt Schulden Angesichts  des  Rekorddefizits  im  Staatshaushalt  lautet  die  Frage  nicht,  ob  es  höhere  Steuern  geben  muss,  sondern  nur,  wann  diese  kommen  werden.  Denn  wer  heute  auf  Steuern  verzichtet  und  sich  lieber  verschuldet,  ist  morgen  gezwungen,  noch  mehr  Steuern  einzutreiben,  um  die  Verbind-­‐lichkeiten  samt  Zinsen  zurückzuzah-­‐len.  

Das  Verschieben  von  Steuerlasten  auf  kommende  Generationen  wäre  ge-­‐rechtfertigt,  wenn  die  Belastung  der  heute  Lebenden  zu  einer  Vertiefung  der  Krise  führen  und  damit  auch  die  kommenden  Generationen  negativ  

treffen  würde.  Bei  Massensteuern  wä-­‐re  dies  der  Fall,  denn  sie  haben  sowohl  einen  negativen  Konjunktureffekt  als  auch  einen  negativen  Verteilungsef-­‐fekt.  Massensteuern  würgen  die  Kon-­‐junktur  ab,  weil  sie  die  Massenkauf-­‐kraft  und  Inlandsnachfrage  schwä-­‐chen:  Zum  gegenwärtigen  Zeitpunkt  wäre  das  der  sichere  Weg  in  die  zwei-­‐stellige  Rezession.  

Der  negative  Verteilungseffekt  rührt  daher,  dass  die  unteren  und  mittleren  Einkommensschichten  ihr  Einkommen  großteils  ausgeben  müssen  und  dabei  von  der  Mehrwertsteuer  getroffen  werden.  Die  oberen  Schichten  können  es  sich  hingegen  leisten,  einen  größe-­‐ren  Teil  ihres  Einkommens  zu  sparen,  entgehen  damit  der  Mehrwertsteuer  und  erhalten  stattdessen  eine  Vermö-­‐gensrente:  Die  Kluft  zwischen  Arm/Mittelstand  und  Reich  wächst.  

(Christian  Felber,  taz,  13.07.09)    

Wirtschaftsweiser Bofinger: Die Staatsquote heben In  Deutschland  war  die  Staatsquote  (also  die  Staatsausgaben  in  Relation  zur  Wirtschaftsleistung)  im  Jahr  1999  mit  48,2  Prozent  genauso  hoch  wie  im  Durchschnitt  des  Euroraums  (ohne  Deutschland).  Im  Jahr  2008  lag  diese  Größe  in  Deutschland  bei  nur  noch  

Page 90: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

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43,9  Prozent,  im  Rest  des  Euroraums  waren  es  durchschnittlich  immerhin  47,3  Prozent.  

Wenn  sich  Deutschland  an  der  in  sei-­‐nen  Nachbarländern  vorherrschenden  Staatsquote  orientieren  würde,  stün-­‐den  dem  Staat  heute  jährlich  rund  85  Milliarden  Euro  mehr  zur  Verfügung.  Dass  die  mit  der  Entstaatlichung  frei  werdenden  Mittel  vor  allem  zur  steu-­‐erlichen  Entlastung  höherer  Einkom-­‐men  und  von  Kapitalgesellschaften  eingesetzt  wurden,  war  ebenfalls  Aus-­‐druck  einer  ausgeprägten  Marktgläu-­‐bigkeit,  wonach  Menschen  nur  dann  bereit  sind,  eine  gute  Leistung  zu  erbringen,  wenn  sie  dafür  sehr  viel  Geld  bekommen.  

(Peter  Bofinger:  Neue  Balance  von  Staat  und  Markt,  Frankfurter  Rundschau,  

06.04.09)    

Eingriffe in ökonomische Machtstrukturen Nach  jeder  Krise  erhöht  sich  die  Soc-­‐kel-­‐  bzw.  Langzeitarbeitslosigkeit  in  allen  Industriestaaten.  Der  enorme  Produktivitätsfortschritt  im  Rahmen  der  Dritten  Industriellen  Revolution  lässt  sich  beschäftigungspolitisch  lang-­‐fristig  nur  mit  weiterer  Arbeitszeitver-­‐kürzung  auffangen.  Die  „Leistungs-­‐  und  Arbeitszeitpolitische  Initiative“  der  IG  Metall  greift  diesen  Gedanken  auf.  

Dies  alles  setzt  Eingriffe  in  die  ökono-­‐mischen  Machtstrukturen  voraus.  Oh-­‐ne  Begrenzung  der  Macht  des  Kapitals  ist  jede  grundlegende  Wirtschaftsre-­‐formpolitik  zum  Scheitern  verurteilt.  Deshalb  wird  die  Demokratisierung  der  Wirtschaft  zu  einem  zentralen  Be-­‐standteil  einer  solchen  Politik.    

Wirtschaftdemokratische  Reformen  sollten  sich  an  den  entscheidenden  Funktionsdefiziten  gewinnorientierter  Marktsteuerung  orientieren.  Hier  sind  drei  Eingriffsebenen  zu  nennen,  auf  die  sich  Reformen  für  eine  Neuordnung  ökonomischer  Entscheidungsverhält-­‐nisse  richten:  

1.  Die  ausschließliche  Profitorientie-­‐rung  des  shareholder-­‐value  der  Unter-­‐nehmen  muss  durch  gesellschaftliche,  

an  den  Bedürfnissen  der  Beschäftigten  orientierte  Ziele  abgelöst  werden;  es  bedarf  einer  Ausweitung  der  Mitbe-­‐stimmung  in  Betrieben  und  Unter-­‐nehmen.  

2.  Um  die  ausschließliche  Marktsteue-­‐rung  des  Wirtschaftsprozesses  einzu-­‐grenzen,  bedarf  es  überbetrieblicher  Mitbestimmungsformen  und  staatli-­‐cher  Gesetzgebung  bis  zu  gesellschaft-­‐licher  Rahmenplanung.  

3.  Um  die  ausschließlich  auf  privatem  Kapitaleigentum  beruhende  ökonomi-­‐sche  Macht  zu  begrenzen,  kann  auch  die  Vergesellschaftung  von  Unterneh-­‐men  und  Krisenbranchen  sinnvoll  sein.  

(Harald  Kolbe:  Wirtschaftskrise  und  ge-­werkschaftliche  Antworten,  IG  Metall  Bezirk  

Niedersachsen  und  Sachsen-­Anhalt,    Salzgitter,  2009)    

ver.di und attac: Die Solidarische Einfachsteuer (SES) Ein  Ziel  der  SES  ist  die  Vereinfachung  des  Steuerrechts.  Schlupflöcher  im  Unternehmens-­‐  und  Kapitalbereich  sollen  beseitigt,  die  Anzahl  der  Ein-­‐kunftsarten  sollen  von  sieben  auf  vier  reduziert  und  Steuergestaltungsmög-­‐lichkeiten  verringert  werden.  Darüber  hinaus  wird  eine  gleichmäßige  Be-­‐steuerung  aller  Einkünfte  angestrebt.  

Auch  wenn  die  Solidarische  Einfach-­‐steuer  die  Vereinfachung  des  Steuer-­‐rechts  mit  der  Solidarität  gleichberech-­‐tigt  im  Namen  trägt,  so  ist  doch  das  Hauptanliegen  der  SES,  eine  sozial  ausgewogene  und  dem  Gedanken  der  Besteuerung  nach  Leistungsfähigkeit  verpflichtete  Einnahmeerhebung  der  öffentlichen  Hand  sicherzustellen.  

In  Bezug  auf  die  Besteuerung  von  Un-­‐ternehmen  strebt  die  SES  eine  ange-­‐messene  Erfassung  aller  in  Deutsch-­‐land  erwirtschafteten  Gewinne  an.  Um  dies  zu  erreichen,  wird  unter  anderem  vorgeschlagen,  Gewinn-­‐  und  Verlust-­‐verrechungsmöglichkeiten  zwischen  rechtlich  selbständigen  Unternehmen  einzuschränken  und  erhöhte  degressi-­‐ve  Abschreibungen,  die  auf  keiner  tat-­‐sächlichen  Wertminderung  beruhen,  abzuschaffen.  

Page 91: Wir brauchen keine Schuldenbremse

89  

Für  Kapitalgesellschaften  wie  Aktien-­‐gesellschaften  und  GmbHs  –  diese  zah-­‐len  bekanntlich  keine  Einkommens-­‐,  sondern  Körperschaftsteuer  –  ist  vor-­‐gesehen,  vom  seit  dem  Jahr  2001  prak-­‐tizierten  Halbeinkünfte  -­‐  wieder  zum  Vollanrechnungsverfahren  zurückzu-­‐kehren.  Im  Rahmen  des  Halbeinkünf-­‐teverfahrens  wird  gegenwärtig  ein  Körperschaftssteuersatz  von  25  Pro-­‐zent  gezahlt.    

Schüttet  die  Kapitalgesellschaft  ihre  Gewinne  an  die  Anteilseignerinnen  und  Anteilseigner  aus,  dann  werden  diese  Einnahmen  bei  ihnen  zur  Hälfte  als  Einkünfte  erfasst  und  in  die  Ein-­‐kommensbesteuerung  einbezogen.    

Käme  das  Vollanrechnungsverfahren  gemäß  der  SES  wieder  zur  Anwen-­‐dung,  dann  würde  der  Gewinn  einer  Kapitalgesellschaft  mit  30  Prozent  Körperschaftsteuer  belastet.    

Im  Falle  einer  Gewinnausschüttung  wäre  die  bereits  gezahlte  Körper-­‐schaftsteuer  anzurechnen;  der  Emp-­‐fänger  der  Ausschüttung  müsste  im  Falle  eines  Einkommensteuersatzes  über  30  Prozent  zusätzliche  Steuern  zahlen.  

Einkünfte  aus  Vermietung  und  Ver-­‐pachtung,  die  durch  Begünstigungen  in  der  Summe  für  die  öffentliche  Hand  erhebliche  Einnahmeverluste  (!)  brin-­‐gen,  sollen  im  Konzept  der  SES  wie  Unternehmenseinkünfte  besteuert  werden.  Damit  wird  sichergestellt,  dass  Immobilien-­‐Besitz  nicht  mehr  als  Steuersparmodell  benutzt  werden  kann.  

Auch  Einkünfte  aus  Kapitalvermögen,  d.h.  Zinsen,  Dividenden  und  Veräuße-­‐rungsgewinne,  sollen  effektiver  erfasst  werden.  Dazu  sieht  die  SES  vor,  das  steuerliche  Bankgeheimnis  zu  strei-­‐chen,  um  so  der  in  diesem  Bereich  der-­‐zeit  möglichen  weitgehend  risikolosen  Steuerhinterziehung  einen  Riegel  vor-­‐zuschieben.  

Für  die  Besteuerung  von  Arbeitneh-­‐mereinkünften  sieht  die  SES  vor,  die  (begrenzte)  Steuerfreiheit  der  Entgelt-­‐zuschläge  für  Sonn-­‐  und  Feiertags-­‐  sowie  Nacht-­‐  und  Schichtarbeit  beizu-­‐behalten;  stellt  diese  Regelung  doch  

einen  Ausgleich  für  schwere  und  oft  gesundheitsschädliche  Arbeitsbedin-­‐gungen  dar.  Die  häufig  zu  hörende  Forderung,  die  Steuerfreiheit  für  die  genannten  Tatbestände  abzuschaffen,  würde  bei  vielen  Arbeitnehmerinnen  und  Arbeitnehmern  zu  zum  Teil  erheb-­‐lichen  Nettoeinkommensverlusten  führen.  

Der  Tarif  der  Einkommensteuer  bleibt  im  Rahmen  der  SES  ein  linearprogres-­‐siver.  Es  wird  ein  Grundfreibetrag  von  8.000  Euro  eingeräumt.  

Der  Eingangssteuersatz  beträgt  15  Prozent,  danach  steigt  der  Steuersatz  linear  bis  zu  einem  Spitzenwert  von  45  Prozent.  Der  Spitzensteuersatz  ist  ab  einem  zu  versteuernden  Einkommen  in  Höhe  von  60.000  Euro  fällig.  

Der  Steuertarif  der  Einkommensteuer  in  der  SES-­‐Konzeption  verzichtet  da-­‐mit  auf  eine  weitere  Senkung  des  Spit-­‐zensteuersatzes  –  bekanntlich  soll  letz-­‐terer  im  Jahr  2005  auf  42  Prozent  sin-­‐ken,  was  dem  Fiskus  Einnahmeverlu-­‐ste  in  Höhe  von  2  bis  3  Milliarden  Euro  bringen  wird.  Insgesamt  konzentriert  sich  die  tarifliche  Entlastung  im  Rah-­‐men  der  SES-­‐Einkommensteuer  auf  die  unteren  und  mittleren  Einkommen,  da  der  Grenzsteuersatz  –  also  der  Steuer-­‐betrag,  der  für  jeden  zusätzlich  ver-­‐dienten  Euro  zu  zahlen  ist  –  langsamer  steigt  als  im  Konzept  der  Bundesregie-­‐rung:  Der  Grenzsteuersatz  liegt  für  ein  zu  versteuerndes  Einkommen  von  13.700  Euro  nach  dem  im  Jahr  2005  geltenden  Steuertarif  bei  24  Prozent,  während  er  im  Rahmen  der  SES  nur  18  Prozent  beträgt!  

Die  SES  sieht  damit  –  ganz  im  Gegen-­‐satz  zur  praktizierten  rot-­‐grünen  Steu-­‐erpolitik  und  zu  den  Steuerreformvor-­‐schlägen  von  Merz,  Kirchhoff  und  Co.  –  in  Bezug  auf  die  Einkommensteuer  eine  Umverteilung  von  oben  nach  un-­‐ten  vor.    

Dies  macht  nicht  nur  aus  verteilungs-­‐politischer,  sondern  auch  aus  gesamt-­‐wirtschaftlicher  Perspektive  Sinn:  Denn  je  höher  das  Einkommen  eines  privaten  Haushaltes,  desto  höher  ist  der  Anteil,  der  gespart  wird.  

Page 92: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

90  

...  Die  Solidarische  Einfachsteuer  hätte  ein  Steuermehraufkommen  in  Höhe  von  17,1  Milliarden  Euro  zum  Ergeb-­‐nis.  Zusammen  mit  einer  moderaten  Erhöhung  der  Erbschaftsteuer  und  der  Widererhebung  der  Vermögensteuer  könnte  sich  die  öffentliche  Hand  so  

Mehreinnahmen  in  Höhe  von  gut  37  Milliarden  Euro  verschaffen  und  drin-­‐gend  notwendige  Ausgaben  in  den  Bereichen  öffentliche  Infrastruktur  sowie  Bildung  und  Erziehung  tätigen...  (Quelle:  Übersicht  von  Kai  Eicker-­Wolf  DGB,  

Bezirk  Hessen-­Thüringen)

 

Page 93: Wir brauchen keine Schuldenbremse

91  

Thema 5: Treffen zum Abschluss und für die Fortsetzung Die  TeilnehmerInnen  werden  ca.  4  Wochen  später  noch  einmal  eingela-­‐den.  Wir  reflektieren  die  Erfahrungen  und  Erkenntnisse  und  klären,  ob  und  mit  welchen  Themen  wir  die  Diskursreihe  fortsetzen  wollen.  Den  ersten  Diskurs  beginnen  wir  gleich  mit  einem  konsequenten  Einstieg  in  ein  Feedback:  

• So ganz spontan , was war gut und was hat mir nicht gefallen?

Dabei  geht  es  neben  einer  Seminarkritik  auch  um  die  Erkenntnis  der  Teil-­‐nehmer,  welche  Diskurse  ihnen  besonders  wichtig  waren,  wo  und  wie  sie  sich  persönlich  weiter  entwickeln  konnten.  Jede/r  sollte  für  sich  die  Fra-­‐gen  beantworten  können:  

• Was mir wichtig war und was ich gelernt habe. • Wo ich mich heute argumentationssicherer fühle.

Im  zweiten  Diskurs  wollen  wir  uns  auf  weitere  wichtige  Themen  und  die  Fortsetzung  der  Diskursreihe  verständigen.  Hierzu  bearbeiten  wir  den  Themenspeicher  als  (bisheriger)  Fundus  für  Themen,  die  uns  wichtig  wa-­‐ren,  aber  zunächst  auf  der  Strecke  blieben.  Im  dritten  Diskurs  verschaffen  wir  uns  einen  Überblick  über  mögliche  Themen  und  setzen  gemeinsam  Prioritäten.  Abschließend  klären  wir  kon-­‐kret  weitere  organisatorische  Planungsschritte:  

• Welche Themen wollen wir weiter bearbeiten? • Wann und wie wollen wir uns mit diesen Themen

beschäftigen? Ziel  dieses  fünften  Themas  ist  es,  die  gemeinsame  Bildungsarbeit  nicht  abreißen  zu  lassen  und  möglichst  in  regelmäßige  Bildungstreffen  überzu-­‐leiten.    Denn  es  gibt  viele  Themen,  unzählige  Anlässe  und  eine  Menge  Erkenntnis-­‐gewinn,  der  auf  uns  wartet  ...    

 

 

Page 94: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 

 

Zeit  

      05  

      05  

10  

      20  

  (40)  

        05  

        15  

Material  

      M80  

   

Methoden  

      Team

-­‐Moderation  /  Notizen  auf  Karten    

      TN-­‐Einzelarbeit  für  Notizen  

TN-­‐Präsentation  ihrer  Antworten  

      Team

-­‐Moderation  

      Team

 präsentiert  den  Them

enspeicher  

          TN  diskutieren,  begründen  mit  Nachba-­‐

rIn  ihre  Themen  auf  Karten/Wandtafel  

 

Inhalte  

Disk

urs 5

.1: W

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e   Einstiegsfrage  zum  Aufwärmen:    

„So  ganz  spontan,  was  war  gut  und  was  

hat  m

ir  nicht  gefallen?  

  Frage:  Was  war  mir  (besonders)  wichtig?  

Wo  bin  ich  heute  argumentationssiche-­

rer?  

  Diskussion:  Zusam

menfassung  von  Er-­

fahrungen  und  Erkenntnissen  aus  der  

Diskursreihe  

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.2: W

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e The

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n Der  Them

enspeicher  ist  der  (bisherige)  

Fundus  für  Themen  (die  uns  wichtig  

waren,  aber  auf  der  Strecke  blieben)  

    Beratung  der  Themensammlung  und  

Ergänzungen.  

TN  beraten  mit  NachbarIn,  was  ihnen  

wichtig  ist.  

Leitf

aden

für R

efer

entIn

nen

Ziele  

      Wir  haben  die  Diskursreihe  und  persön-­‐

liche  Einschätzungen  noch  mal  rückblic-­‐

kend  reflektiert  und  dam

it  auch  eine  

Feedback-­‐Praxis  eingeführt.  

        Wir  haben  uns  auf  weitere  wichtige  

Them

en  und  die  Fortsetzung  der  Dis-­

kursreihe  verständigt.  

 

Page 95: Wir brauchen keine Schuldenbremse

 

 Zeit  

    20  

            (40)    

10  

      15  

            15  

          (30)  

  (120)  

 

Material  

     

     

Methoden  

    TN–Präsentation    

Karten  /Wandtafel  

 

 

      Team

-­‐Moderation:  

Überblick  zu  den  Vorschlägen  auf  der  

Wandtafel  

Priorisierung  durch  Punkten  

      Team

   Flipchart  

     

Inhalte  

    Welche  Them

en  wollen  wir  weiter  dis-­‐

kutieren.  

TN  präsentieren  ihre  Vorschläge  und  

begründen  sie.  

 

 

Disk

urs 5

.3: A

uf w

elch

e The

men

wir

uns

konz

entri

eren

  Wir  verschaffen  uns  jetzt  einen  Über-­‐

blick  über  die  Themen–Vorschläge  und  

alle  TN  sind  aufgefordert,  mit  ihren  

Punkten  zu  priorisieren,  auf  welche  

Them

en  wir  uns  konzentrieren  sollten.  

    Team

 klärt  mit  den  TeilnehmerInnen  

weitere  Planungen  und  Absprachen  .  

z.B.:  Terminplanung  ….Werbung  ….  

  Abschluss  

Ziele  

        Pause  

      Wir  haben  unsere  Them

enliste  aufge-­‐

stellt  und  die  Prioritäten  festgelegt.  

        Und  erste  organisatorische  Planungs-­

schritte  verabredet.  

     

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Glossar Antizyklische   Konjunkturpolitik:   Gegen   den   Konjunkturverlauf   gerichtete  

Wirkung  wirtschaftspolitischer  Maßnahmen.   Im  Zuge  einer  Rezession  kön-­‐nen  entweder  die  öffentlichen  Ausgaben   (z.B.  öffentliche   Investitionen)  er-­‐höht   und/oder  die   öffentlichen  Einnahmen   (z.B.   Steuern)   vermindert  wer-­‐den,  um  die   im  privaten  Sektor  vorhandene  Kaufkraft  zu  stärken.  Eine  sol-­‐che   antizyklische   Wirkung   ergibt   sich   bereits   aus   der   Ausgestaltung   des  deutschen  Steuersystems.  Das  Steueraufkommen  geht   in  Rezessionsphasen  stark   zurück,   während   viele   Staatsausgaben   (z.B.   Arbeitslosengeld)   in   der  Rezession  ansteigen.  Der  öffentliche  Haushalt  wirkt  somit  automatisch  kon-­‐junkturstabilisierend.  

Bruttoinlandsprodukt:  Maß   für  die  gesamte  wirtschaftliche  Leistung   in  einem  Wirtschaftsgebiet   in   einer   Periode.   Weil   das   Bruttoinlandsprodukt   (BIP)  Auskunft   über   die   Produktion   von  Waren   und   Dienstleistungen   im   Inland  nach  Abzug  der  Vorleistungen  und  Importe  gibt,  ist  es  ein  Produktionsindi-­‐kator.   Zur   Beurteilung   der  Wirtschaftsentwicklung   eines   Landes   reicht   es  nicht,   allein   das   nominale   Bruttosozialprodukt   zu   errechnen,   sondern   es  sind  auch  die  Veränderungen  des  preisbereinigten,   realen  Bruttosozialpro-­‐dukts  in  die  Betrachtung  einzubeziehen,  da  die  ständigen  Geldentwertungen  Einfluss   auf   die   Preisentwicklung   haben   und   somit   zu   einem   verfälschten  Bild  führen.  

Bruttonationaleinkommen:  Das  Bruttonationaleinkommen  (BNE),   früher  auch  Bruttosozialprodukt  (BSP)  genannt,  stellt  die  Leistung  einer  Volkswirtschaft  innerhalb   einer   Rechnungsperiode   (meist   ein  Kalenderjahr)   unter   Berück-­‐sichtigung   von   Steuern,   Subventionen,   Abschreibungen,   Abgaben   u.a.   dar.  Das   Bruttonationaleinkommen   gilt   als   Einkommensindikator   einer   Volks-­‐wirtschaft,  weil  es  die  wirtschaftliche  Leistung  an  den  Erwerbs-­‐  und  Vermö-­‐genseinkommen  misst.   Es   hängt   ferner   eng  mit   dem   Volkseinkommen   zu-­‐sammen;   im  Gegensatz  dazu  enthält  es  aber  Abschreibungen  und  indirekte  Steuern.  

Bürgerversicherung:   Die   Bürgerversicherung   ist   ein   Modell   zur   Reform   der  gesetzlichen  Krankenversicherung.  Sie  geht  auf  eine  Empfehlung  der  so  ge-­‐nannten  Rürup-­‐Kommission  zurück.  Nach  dem  Motto  "Eine  von  allen  für  al-­‐le"  zahlen  bei  der  Bürgerversicherung  nicht  nur  abhängig  Beschäftigte  und  deren  Arbeitgeber,  sondern  die  gesamte  Bevölkerung  Beiträge  in  die  Sozial-­‐versicherung  ein,  d.h.  im  Gegensatz  zur  aktuellen  Regelung  auch  Gutverdie-­‐nende,   Selbstständige   und   Beamte.   Als   Bemessungsgrundlage   für   den   Bei-­‐trag   sollen   grundsätzlich   alle   sieben   Einkunftsarten   des   Steuerrechts,   also  auch   Unternehmensgewinne   oder   Kapitalerträge   herangezogen   werden.  Damit  würde  das  Problem  behoben,  das  entsteht,  weil  besonders  die  besser  Verdienenden   aus   der   gesetzlichen   Krankenversicherung   in   private   Versi-­‐cherungen  wechseln   und   das   Solidaritätsprinzip   so   in   der   Praxis   ausgehe-­‐belt  wird.  

Föderalismuskommission:   Die   sogenannte   Föderalismuskommission   II   (die  eigentlich   die   dritte   Föderalismuskommission   in   der   BRD   ist)   hatte   32  stimmberechtigte  Mitglieder,   jeweils  16  Mitglieder  des  Bundestags  (6  SPD-­‐Abgeordnete,   6   CDU,   2   FDP,   1   Grüne,   1   Die   Linke)   und   16  Mitglieder   des  Bundesrats   (Ministerpräsidenten  bzw.  Regierende  Bürgermeister  oder  von  ihnen   beauftragte  Minister).  Weiterhin   gehören   der   Kommission   vier   Ver-­‐treter  der  Landtage  mit  Antrags-­‐  und  Rederecht  (jedoch  nicht  stimmberech-­‐tigt)  sowie  drei  Vertreter  der  Kommunalen  Spitzenverbände  an.  Ihre  Aufga-­‐be  war  die  Modernisierung  der  Bund-­‐Länder-­‐Finanzbeziehungen.  Die  Kom-­‐mission  hat  ihre  Arbeit  im  März  2007  aufgenommen  und  2  Jahre  später  ab-­‐

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geschlossen.   Ihre  Hauptaufgabe  war   eine  Reform  des   Länderfinanzausglei-­‐ches  und  die  Erarbeitung  eines  Verfahren,  um  die  Verschuldung  der  öffentli-­‐chen  Haushalte  zu  begrenzen  –  die  Schuldenbremse.  

Generationenvertrag:  Ein  gesellschaftlicher  Konsens,  der  die  Finanzierung  der  gesetzlichen   Rentenversicherung   sichern   soll.   Die   jeweils   sozialversiche-­‐rungspflichtigen  Erwerbstätigen   zahlen  mit   ihren  Beiträgen   in   die  Renten-­‐versicherung  die  Leistungen  für  die  aus  dem  Erwerbsleben  ausgeschiedene  Generation  und  erwerben  dabei  einen  Anspruch  auf  ähnliche  Leistungen  der  nachfolgenden   Generationen   an   sich   selbst.   Auch   andere   Instrumente   des  Sozialstaates,   z.  B.   die   gesetzliche   Krankenversicherung,   beruhen   weitge-­‐hend   auf   dem   Prinzip   eines   Generationenvertrages,   da   die   durchschnittli-­‐chen  Gesundheitsausgaben   im  Alter  deutlich  höher  und  die   laufenden  Ein-­‐nahmen  geringer  sind  als  in  den  Erwerbsjahren.  Ähnliches  gilt  auch  für  die  Bildung,  die  von  der  aktuellen  Generation  finanziert  wird,  um  die  zukünftige  Generation  zu  qualifizieren.  

Gewerbekapitalsteuer:   Die   Gewerbekapitalsteuer   besteuerte   das   Vermögen,  d.h.  die  Substanz  eines  Unternehmens.  Sie  sorgte  für  eine  entsprechend  hö-­‐here  Belastung  großer  Konzerne,  die  oft  durch  Zukäufe  und   geschickte  Bi-­‐lanztricks  nur  geringe  Gewinne  ausweisen  und  so  nur  wenig  Gewerbesteuer  (=Ertragssteuer)  zahlen.  Sie  wurde  1997  abgeschafft.  

Konjunkturpaket   I:   Das   Maßnahmenpaket   „Beschäftigungssicherung   durch  Wachs-­‐  tumsstärkung“,  auch  Konjunkturpaket  I  genannt,  wurde  2008  vom  Bundes-­‐tag  verabschiedet.  Als  Ziel  des  Maßnahmenpakets  wird  genannt:   „In  Anbe-­‐tracht  der  weltweiten  Konjunkturabschwächung  als  Folge  der  ernsten  Krise  auf  den  globalen  Finanzmärkten  sieht  die  Bundesregierung  es  als  vorrangige  Aufgabe  an,  Wachstum  und  Beschäftigung  auch  weiterhin  zu  sichern.“  Es  be-­‐inhaltet   u.a.   eine  Verlängerung  der  Bezugsdauer   von  Kurzarbeitergeld   von  bisher  12  Monate  auf  18  Monate  sowie  Sonderfonds  für  Banken  (15  Mrd.  €),  Gemeinden  (3  Mrd.   ),  Gebäudesanierungen  (3  Mrd.),  Verkehrsinvestitionen  (1   Mrd.   €),   Sonderabschreibungen   für   Unternehmen,   und   Kfz-­‐Steuersenkungen.  Das  Gesamtvolumen  liegt  bei  rund  32  Mrd.  €.  

Konjunkturpaket  II:  Das  Konjunkturprogramm  „Entschlossen  in  der  Krise,  stark  für   den   nächsten   Aufschwung   –   Pakt   für   Beschäftigung   und   Stabilität   in  Deutschland  zur  Sicherung  der  Arbeitsplätze,  Stärkung  der  Wachstumskräf-­‐te   und   Modernisierung   des   Landes“,   kürzer   auch   Konjunkturpaket   II,  schließt   sich   an   das   frühere   Konjunkturpaket   vom  November   2008   an.   Es  wurde  im  Februar  2009  vom  Bundestag  beschlossen  und  sieht  verschiedene  konjunkturpolitische  Maßnahmen  vor,  um  die  unter  anderem  durch  die   in-­‐ternationale   Finanzkrise   ausgelöste  Rezession   im   Jahre  2009  abzumildern.  Es  wird  mit  einer  zusätzlichen  Schuldenaufnahme  in  Höhe  von  36,8  Mrd.  €  finanziert.  Bestandteil  des  Paketes  sind  u.a.  eine  Ausweitung  der  Bankbürg-­‐schaften,  die  sogenannte  „Abwrackprämie“  für  Neuwagenkäufe,  eine  gering-­‐fügige  Erhöhung  des  Kindergeldes  und  eine  Senkung  der  Einkommenssteu-­‐er.  

Nettokreditaufnahme:   Die   Nettoneuverschuldung   (Nettokreditaufnahme)   ist  die  Schuldenaufnahme  der  öffentlichen  Hand  am  Kreditmarkt  abzüglich  ge-­‐tilgter  Schulden.  

Prozyklische   Konjunkturpolitik:   Sie   bezeichnet   das   Gegenteil   von   antizykli-­‐scher   Wirtschaftspolitik.   Diese   Politik   gleicht   nicht   Konjunkturausschläge  aus,   sondern  verstärkt   sie,   indem  sie   zum  Beispiel   in  Zeiten  der  Rezession  die   Bürger   durch   Steuererhöhungen   und/oder   Senkung   der   Sozial-­‐   bzw.  Transferleistungen  noch  stärker  belastet.  Einzelne  Maßnahmen  können  pro-­‐zyklisch  oder  antizyklisch  wirken,  je  nachdem,  welche  Bevölkerungsgruppe  

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sie  betrifft.  So  kann  zum  Beispiel  eine  höhere  steuerliche  Belastung  von  gro-­‐ßen   Vermögen   antizyklisch   wirken,   wenn   die   so   eingenommenen   Steuern  zur  Erhöhung  kleinerer  Einkommen  dienen  –  denn  diese   stützen  dann  un-­‐mittelbar  den  Konsum.  

Rezession:  Für  den  Begriff  Rezession  gibt  es  keine  einheitliche  Definition.  Weit  verbreitet   ist  die  Beschreibung  einer  Rezession  auf  Basis  der  Veränderung  des   realen   Bruttonationaleinkommens   (BNE)   bzw.   Bruttoinlandsprodukts  (BIP).  Eine  Rezession   liegt  demnach  dann  vor,  wenn  die  Wachstumsrate   in  zwei  aufeinanderfolgenden  Quartalen  -­‐  je  im  Vergleich  zum  Vorquartal  -­‐  ne-­‐gativ  ist.  

Sachverständigenrat:  Der   "Sachverständigenrat  zur  Begutachtung  der  gesamt-­‐wirtschaftlichen  Entwicklung"   ("Fünf  Weise")   ist   ein  Gremium  der  wissen-­‐schaftlichen   Politikberatung.   Der   Sachverständigenrat  wurde   durch   Gesetz  im  Jahre  1963  eingerichtet,  um  in  regelmäßigen  Abständen  die  gesamtwirt-­‐schaftliche  Entwicklung  in  der  Bundesrepublik  Deutschland  zu  begutachten.  Die  Ergebnisse  seiner  Arbeit  sollen  für  alle  wirtschaftspolitisch  verantwort-­‐lichen   Instanzen   sowie   für   die   Öffentlichkeit   eine   Erleichterung   für   deren  Urteilsbildung  sein.  Der  Sachverständigenrat  ist  in  seinem  Beratungsauftrag  unabhängig.  Seinem  gesetzlichen  Auftrag  zufolge  verfasst  und  veröffentlicht  der  Rat   jedes   Jahr  ein   Jahresgutachten  (Mitte  November)  und  darüber  hin-­‐aus  Sondergutachten  zu  besonderen  Problemlagen  oder  nach  Auftrag  durch  die  Bundesregierung.  Der  Sachverständigenrat  besteht  aus  fünf  Mitgliedern,  die   für  einen  Zeitraum  von  jeweils   fünf   Jahren  vom  Bundespräsidenten  auf  Vorschlag  der  Bundesregierung  berufen  werden.  

Schuldenbremse:   Als   Schuldenbremse  wird   in   Deutschland   eine   Regelung   be-­‐zeichnet,   die   die   Föderalismuskommission   Anfang   2009   beschlossen   hat.  Nach   dieser   Regelung   soll   die   strukturelle,   also   nicht   konjunkturbedingte  Nettokreditaufnahme  des  Bundes  maximal  0,35  Prozent  des  Bruttoinlands-­‐produktes  betragen.  Ausnahmen  sind  bei  Naturkatastrophen  oder  schweren  Rezessionen   gestattet.   Die   Einhaltung   der   Vorgabe   des   ausgeglichenen  Haushalts  ist  für  den  Bund  ab  dem  Jahr  2016  zwingend  vorgesehen,  für  die  Länder  ab  dem  Jahr  2020.  

Schuldenquote:  Das  Verhältnis  zwischen  Staatsschulden  und  Bruttoinlandspro-­‐dukt.   Zusammen   mit   der   Nettoneuverschuldung   bildet   die   Schuldenquote  eines   der  Maastrichtkriterien.   In   Zeiten  der  Rezession   steigt   die   Schulden-­‐quote  durch  die  antizyklische  Konjunkturpolitik  an.  

Solidarische   Einfachsteuer:   Das   von   Wirtschaftswissenschaftlern   im   Auftrag  von  attac  und  ver.di   erstellte  Konzept   sieht  vor,  kleinere  und  mittlere  Ein-­‐kommen   deutlich   zu   entlasten:   Der   Spitzensteuersatz   beträgt   45   Prozent.  Diese  Spitzenbelastung  setzt  ab  einem  zu  versteuernden  Jahreseinkommen  von  60.000  Euro   ein.  Der   steuerfreie  Grundfreibetrag  wird   auf   8.000  Euro  angehoben.  Der  Eingangssteuersatz  beträgt  15  Prozent.  Der  Tarif  steigt  zwi-­‐schen   dem   Eingangs-­‐   und   Spitzensteuersatz   kontinuierlich   (linear-­‐progressiv)   an.   Finanziert  wird   die   Absenkung   der   Steuersätze   durch   eine  Verbreiterung   der   steuerlichen   Bemessungsgrundlage   und   die   Einschrän-­‐kung  von  steuerlichen  Ausnahmetatbeständen.  Das  bisherige  Einkommens-­‐teuersystem  ermöglicht  es  vor  allem  international  verflochtenen  Unterneh-­‐men  und  Beziehern  von  hohen  Einkommen  aus  Vermietung  und  selbständi-­‐ger  Tätigkeit,  sich  arm  zu  rechnen.  Sie  sollen  sich  in  Zukunft  wieder  nach  ih-­‐rer  Leistungsfähigkeit  an  der  Finanzierung  öffentlicher  Aufgaben  beteiligen.  

Solidaritätsprinzip:  Das  Solidaritätsprinzip  als  grundlegendes  Prinzip  der  Sozi-­‐alpolitik  bedeutet,  dass  ein  Bürger  nicht  allein  für  sich  selbst  verantwortlich  ist,   sondern   auch   für  die   anderen  Mitglieder  der  Gesellschaft.  Nur   in   einer  von  Solidarität  gekennzeichneten  Gesellschaft  stellt  sich  auch  die  Frage  nach  

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sozialer  Gerechtigkeit.  Konkret  ist  zum  Beispiel  die  Gesetzliche  Krankenver-­‐sicherung   nach   dem   Solidaritätsprinzip   organisiert:   Die   Beiträge   sind   ab-­‐hängig   vom   Einkommen   und   nicht   von   der   persönlichen   Risikofaktoren  (Erbkrankheiten,  etc.).  

Sozialleistungsquote:   Die   Summe   aller   Ausgaben   eines   Staates   für   soziale   Be-­‐lange   in   einem   Kalenderjahr.   Sie  wird   in   Prozent   des   jeweiligen   Bruttoin-­‐landsprodukts  (BIP)  dargestellt.  Anhand  der  Sozialquote   lässt  sich   feststel-­‐len,  welches  Gewicht  soziale  Leistungen  im  Vergleich  zur  gesamtwirtschaft-­‐lichen  Leistung  eines  Staates  haben.  Erfasst  werden   folgende  Sozialleistun-­‐gen:   Krankheit/Gesundheitsvorsorge   (hierzu   zählt   z.B.   auch   die   Lohnfort-­‐zahlung   im   Krankheitsfall),   Invalidität,   Alter,   Hinterbliebenenversorgung,  Familien/Kinder  (z.B.  Kindergeld),  Arbeitsförderung,  Lohnersatzleistungen,  Wohngeld,  Jugend-­‐  und  Sozialhilfe.  

Sozialstaat:  Ein  Sozialstaat  ist  ein  Staat,  der  in  seinem  Handeln  soziale  Sicherheit  und   soziale   Gerechtigkeit   anstrebt,   um   die   Teilnahme   aller   an   den   gesell-­‐schaftlichen  und  politischen  Entwicklungen  zu  gewährleisten.  Es  bezeichnet  konkret   auch   die   Gesamtheit   staatlicher   Einrichtungen,   Steuerungsmaß-­‐nahmen   und   Normen   um   das   Ziel   zu   erreichen   Lebensrisiken   und   soziale  Folgewirkungen  abzufedern.  Die  Bundesrepublik  Deutschland  ist  ein  Sozial-­‐staat.   In   Deutschland   gehört   das   Sozialstaatsprinzip   neben   dem   Rechts-­‐staats-­‐,   dem  Bundesstaats-­‐  und  dem  Demokratieprinzip   zur  Grundlage  der  Verfassungsordnung.  Das  Grundgesetz  (Art.  20  Absatz  1  GG)  bestimmt:  „Die  Bundesrepublik   Deutschland   ist   ein   demokratischer   und   sozialer   Bundes-­‐staat.“  

Spitzensteuersatz:   Der   höchstmögliche   Steuersatz   für   große   Einkommen.   Er  beträgt   aktuell   45%   für   den   Betrag,   der   die   Einkommensgrenze   von   ca.  500.000   €   bei   Verheirateten   überschreitet.   Er   ist   seit   1975   kontinuierlich  von  56%  auf  den  heutigen  Satz  gesunken.  

Staatsquote:   Verhältnis   der   gesamten   Staatsausgaben   zum   Bruttoinlandspro-­‐dukt   (BIP).  Die   Staatsquote   ermöglicht   eine  Einordnung  der   absoluten  Be-­‐träge  der  Staatsausgaben  in  einem  gesamtwirtschaftlichen  Zusammenhang,  liefert   jedoch   nur   begrenzte   Information   über   den   Grad   der   Inanspruch-­‐nahme  der  gesamtwirtschaftlichen  Leistung  durch  den  Staat.  Aussagefähiger  ist   die   Veränderung   der   Staatsquote   im   Zeitablauf.   Sie   zeigt,   ob   die  Staatsausgaben   in   einem   bestimmten   Zeitraum   schneller   oder   langsamer  gewachsen  sind  als  das  BIP.  Internationale  Vergleiche  von  Staatsquoten  sind  problematisch,  da  bereits  geringe  Unterschiede  in  den  jeweils  angewandten  Berechnungsarten  die  Aussagefähigkeit  erheblich  herabsetzen  können.  

Staatsverschuldung:   Die   Verschuldung   eines   Staates  wird   aus   zwei   Perspekti-­‐ven  gesehen.  Zum  einen  geht  es  um  die  Neuverschuldung:  Das   ist  der  Be-­‐trag,  den  ein  Staat   in  einem  Haushaltsjahr  neu  aufnehmen  muss,  um  sein  Budget   auszugleichen   ("Haushaltsdefizit").   Laut  Maastricht-­‐Kriterien   zum  Beispiel  sollte  die  jährliche  Neuverschuldung  in  den  Beitrittsländern  nicht  höher  ausfallen  als  3  Prozent  des  Bruttoinlandsprodukts.  Die  zweite  Vari-­‐ante  der  Staatsverschuldung   ist  der  Schuldenstand,  auch  Gesamtverschul-­‐dung   genannt.  Das   ist   der  Betrag,  mit   dem  Bund,   Länder  und  Gemeinden  insgesamt  in  der  Kreide  stehen  -­‐  in  Deutschland  waren  das  Mitte  des  Jahres  2000   fast   1,2   Billionen   Euro.   Doch   auch   solch   riesig   anmutende   Beträge  sind  relativ  zu  sehen.  Deshalb  werden  sie  ebenfalls  auf  das  Bruttoinlands-­‐produkt  bezogen.  Laut  Maastricht-­‐Kriterien  sollte  die  Gesamtverschuldung  der   einzelnen   Länder   den  Wert   von   höchstens   60   Prozent   des   Bruttoin-­‐landsprodukts  nicht  überschreiten.  Damit  sind  zugleich  zwei  wichtige  "Zie-­‐le"   oder   gewünschte   Effekte   der   Staatsverschuldung   genannt:   Die   Ver-­‐schuldung  ist  dann  akzeptabel,  wenn  damit  öffentliche  Investitionen  finan-­‐ziert  werden,  die  Kredite  also  später  auch  Erträge  abwerfen.  Zum  anderen  

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kann  die  Kreditaufnahme  auch  dann  sinnvoll  sein,  wenn  damit  die  lahmen-­‐de   Konjunktur   angekurbelt   wird   -­‐   was   im   Idealfall   dazu   führt,   dass   der  Staat  über  steigende  Steuereinnahmen  sein  Defizit  wieder  abbauen  kann.    

Steuerquote:  Die  Steuerquote  gibt  an,  welchen  prozentualen  Anteil  die  Steuer-­‐einnahmen  eines  Staates  an  seiner  gesamten  Wirtschaftsleistung  (Bruttoin-­‐landsprodukt  BIP)  ausmachen.  Damit  wird  die  Steuerbelastung  eines  Staates  ins   Verhältnis   zu   seiner   volkswirtschaftlichen   Wertschöpfung   gesetzt.   Zu-­‐dem   gibt   die   Steuerquote   an,   welchen   Betrag   der   Bund   zur   Finanzierung  seiner  Aufgaben  von  seinen  Bürgern  erhebt.  

Transferleistungen:   Transferleistungen   sind   direkt   vom   Staat   gezahlte   Sozial-­‐leistungen,   ohne   dass   dafür   vorab   Beiträge   gezahlt   oder   andere   Gegenlei-­‐stungen  erbracht  worden  wären.  Im  Gegensatz  dazu  gibt  es  Sozialleistungen,  die  von  der  Sozialversicherung  auf  Grund  gezahlter  Beiträge  gewährt  wer-­‐den,  z.B.  Arbeitslosengeld,  Krankengeld  usw.  Neben  Sozialleistungen  gibt  es  weitere  Zahlungen  des  Staates  an  private  Haushalte  und  Unternehmen,  die  so  genannten  Transfers,  die  das  verfügbare  Einkommen  der  Empfänger  er-­‐höhen  (Kindergeld,  Baugeld  usw.).    

Vermögenssteuer:  Die  Vermögensteuer  ist  eine  auf  das  Vermögen,  d.  h.  das  be-­‐wertbare  Eigentum  des  Steuerpflichtigen  erhobene  Steuer.  Da  hier  nicht  das  Einkommen  sondern  das  Vermögen  besteuert  wird,   ist  der  nominelle  Steu-­‐ersatz   zumeist   recht   gering,   die   daraus   resultierenden   Staatseinnahmen  können  jedoch  hoch  sein  –  und  fließen  vor  allen  kontinuierlich,  da  die  Ein-­‐nahmen   vor   allem   der   Wohlhabenden   zwar   konjunkturbedingt   starken  Schwankungen  unterliegen,  ihr  Vermögen  jedoch  eher  stabil  ist.  In  den  USA  beträgt  ihr  Anteil  am  Bruttoinlandsprodukt  über  3  Prozent,  was  umgerech-­‐net  auf  Deutschland  jährlichen  Einnahmen  von  rund  75  Mrd.  €  entspräche  –  weit   mehr   als   die   jährliche   Neuverschuldung.   In   Deutschland   wurde   die  Vermögenssteuer  jedoch  1997  abgeschafft.  

Zins-­Ausgaben-­Quote:  Der  Anteil  der  Zinsausgaben  an  den  öffentlichen  Ausga-­‐ben.  Mit  dieser  Quote  wird  ausgedrückt,  wie  hoch  der  Anteil  ist,  den  die  Zin-­‐sen  für  die  öffentlichen  Schulden  an  den  Gesamtausgaben  ausmachen.    

Zins-­Steuer-­Quote:  Die  Zinssteuerquote   ist  als  Anteil  der  Zinsausgaben  an  den  Einnahmen   aus   Steuern   definiert.   Eine   steigende   Zinssteuerquote   bei   kon-­‐stanten   Steuereinnahmen   bedeutet,   dass   ein   steigender   Anteil   der   Steuer-­‐einnahmen  nicht  mehr  zur  Finanzierung  von  anderen  Ausgaben  des  Landes  eingesetzt  werden  kann.  Die  Zinssteuerquote  wird  bei  der  Beurteilung  der  Verschuldung  eines  Landes  herangezogen.  

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