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Discussion Paper No. 08-056 Wirkung und Effizienz von Strafrecht: „Was geht?“ – bei jungen Gewalttätern? Horst Entorf

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Dis cus si on Paper No. 08-056

Wirkung und Effizienz von Strafrecht: „Was geht?“ – bei jungen Gewalttätern?

Horst Entorf

Dis cus si on Paper No. 08-056

Wirkung und Effizienz von Strafrecht: „Was geht?“ – bei jungen Gewalttätern?

Horst Entorf

Die Dis cus si on Pape rs die nen einer mög lichst schnel len Ver brei tung von neue ren For schungs arbei ten des ZEW. Die Bei trä ge lie gen in allei ni ger Ver ant wor tung

der Auto ren und stel len nicht not wen di ger wei se die Mei nung des ZEW dar.

Dis cus si on Papers are inten ded to make results of ZEW research prompt ly avai la ble to other eco no mists in order to encou ra ge dis cus si on and sug gesti ons for revi si ons. The aut hors are sole ly

respon si ble for the con tents which do not neces sa ri ly repre sent the opi ni on of the ZEW.

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Wirkung und Effizienz von Strafrecht: „Was geht?“ - bei jungen Gewalttätern?1

Horst Entorf

Goethe Universität Frankfurt

Juli 2008

Abstract: Based on a theoretical framework on custodial and non-custodial sentencing, the paper provides econometric tests on the effectiveness of police, public prosecution and courts. Using a unique dataset covering German states for the period 1977-2001, a comprehensive system of criminal prosecution indicators is derived and subsequently related to the incidence of aggravated assault by young offenders using panel-econometrics. Empirical evidence suggests that the criminal policy of diversion failed as increasing shares of dismissals by prosecutors and judges enhance crime rates in Germany. Crime is significantly deterred by higher clearance and conviction rates, while the effects of indicators representing type (fine, probation, imprisonment) and severity (length of prison sentence, size of fine) of punishment are often small and insignificant. Key Words: Abschreckungshypothese, Haftvermeidung, Panelökonometrie

JEL-Klassifikation: K42, C33

Corresponding Author:

Prof. Dr. Horst Entorf Goethe University Frankfurt Department of Economics

Mertonstraße 17 D-60325 Frankfurt

Tel. (+49) 069 798 28306 [email protected]

1 Vortrag anlässlich des XI. Travemünder Symposiums zur ökonomischen Analyse des Rechts, März 2008. Ich danke den Konferenzteilnehmern für zahlreiche Kommentare und Anregungen.

Nichttechnische Zusammenfassung

Die Studie untersucht die Wirksamkeit des deutschen Strafverfolgungssystems. Für diese

Zwecke liefert die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland eine geeignete

Datenbasis, da sie heterogen genug ist, um die Wirkung konkurrierender Strategien der

Kriminalitätsbekämpfung zu evaluieren. Insbesondere die Strafrechtsreform von 1969, die die

Möglichkeit informeller Sanktionen und der Haftvermeidung in das deutsche Strafrecht

eingeführt hat, wurde auf der Ebene der Bundesländer sehr unterschiedlich umgesetzt. Um die

Wirkungsmechanismen vollständig erfassen zu können, wird der Strafverfolgungsprozess im

Detail abgebildet, d.h. die jeweiligen Aktivitäten und Entscheidungen von Polizei,

Staatsanwaltschaft und Richtern werden getrennt erfasst und berücksichtigt. Im empirischen

Teil der Arbeit werden in dieser Hinsicht Daten der RegKrimDa („Regionalen Kriminalitäts-

und Strafverfolgungsdatenbank an der TU Darmstadt) ausgewertet. Es handelt sich um einen

Paneldatensatz, der die alten Bundesländer für den Zeitraum von 1977–2001 umfasst und es

erlaubt, delikt- und altersspezifische Kriminalitätsraten und Strafverfolgungsindikatoren zu

berechnen. So kann am Beispiel der Bundesländer Bayern und Schleswig-Holstein gezeigt

werden, dass – unter Berücksichtigung der gesamten Strafverfolgungskette – die von

Straftätern zu befürchtenden Haftdauern bei vergleichbaren Delikten in Bayern zum großen

Teil mehr als doppelt so lang ausfallen wie in Schleswig-Holstein.

In der Studie wird der Datensatz vor allem genutzt, um die Reaktion von „heranwachsenden“

Gewalttätern auf die Variation von Strafmaß und Strafwahrscheinlichkeit zu überprüfen.

Entsprechend der Erwartungen eines theoretischen Modells, das Haft und Haftvermeidung

explizit berücksichtigt, wird empirisch bestätigt, dass sich die zunehmende Belastung durch

Gewaltkriminalität durch Heranwachsende in signifikanter Weise durch eine striktere

Anwendung des bestehenden Strafrechts eindämmen ließe, wozu auch eine konsequentere

Anwendung des Erwachsenenstrafrechts gehört. Erhöhungen des Strafmaßes erweisen sich

jedoch als völlig unwirksam.

Abschließend wird versucht, Berechnungen des britischen Home Office zu den Kosten der

Kriminalität auf deutsche Verhältnisse zu übertragen, um Perspektiven für zukünftige Kosten-

Nutzen-Analysen aufzuzeigen. Die angestellten Überlegungen machen deutlich, dass

Fallzahlenentwicklungen wenig über den wahren Verlauf der Schäden durch Kriminalität

aussagen, vor allem weil Opferschäden durch Gewaltdelikte viel zu gering gewichtet werden.

Non-technical Summary

This study analyses the efficiency of the criminal prosecution in the Federal Republic of

Germany. Germany’s 16 states (the German ‘Laender’) enjoy certain autonomy, in particular

in the areas of law, education, social assistance, and police, within a federal system. Thus,

different views, traditions, religious roots and political majorities have led to divergent

attitudes and political beliefs. This institutional setting makes the German Criminal Law

Reform of 1969, which introduced the possibility of alternative sanctions into the judicial

system and strengthened the discretionary power of public prosecutors, a very interesting

starting point for studying different crime policies. Some northern states such as Lower

Saxony, Bremen and Schleswig Holstein showed high rates of compliance with the

fundamental idea of more lenient sanctioning (in terms of pre-trial diversion, informal

sanctions and non-custodial sentences), whereas the southern states of in particular Bavaria

and Baden-Wuerttemberg continued their conservative ‘tough on crime’ criminal policy and

were rather reluctant to adopting the liberal elements of the Criminal Law Reform.

Based on a theoretical framework on custodial and non-custodial sentencing, the paper

provides econometric tests on the effectiveness of police, public prosecution and courts.

Using a unique dataset covering German states for the period 1977-2001, a comprehensive

system of criminal prosecution indicators is derived and subsequently related to the incidence

of six major offence categories using panel-econometrics. Empirical evidence suggests that

the criminal policy of diversion failed, as increasing shares of dismissals by prosecutors and

judges enhance crime rates of adolescents (18 to 21) in Germany. Crime is significantly

deterred by higher clearance and conviction rates, while the effects of indicators representing

type (fine, probation, imprisonment) and severity (length of prison sentence, size of fine) of

punishment are often small and insignificant.

Thus, a critical re-examination of the social desirability of the increasing use of diversion by

public prosecutors, i.e. of dropping cases for reasons of the so-called expediency principle,

seems to be in order. Against the background of high social costs of crime in general and

currently rising costs due to aggravated assaults in particular, it is questionable whether this

tendency of public prosecutors is actually economically and socially expedient.

1

1. Einführung

Es ist immer noch ein weit verbreiteter Irrglaube, dass Strafverfahren von Richtern in einem

Gerichtssaal entschieden würden. Tatsächlich sind es jedoch die Staatsanwälte, die im

Rahmen der Diversion einen sehr hohen Anteil der von der Polizei „aufgeklärten“ Fälle

erledigen und mit oder ohne Auflagen einstellen. Diese so genannten „informellen Sanktion“

gilt als europäische Reaktion auf die steigende Kriminalitätsbelastung in den 70er Jahren des

letzten Jahrhunderts, die im Gegensatz zur Strafverschärfung in den USA steht (siehe dazu

z.B. Weigend 1995, Cherry 2001, Oberwitter and Hoefer 2005, Jehle and Wade 2006, Heinz

2007). Der wesentliche Aspekt der so genannten „Großen Strafrechtsreform“ von 1969 (sie

trat 1975 in Kraft) war die Intention, Haftstrafen zu vermeiden, um der weiteren

Kriminalisierung von verurteilten Straftätern entgegenzuwirken. Im Jahre 2005 beinhalteten

lediglich 8.3% der Urteile eine Verurteilung zu einer Haftstrafe ohne Bewährung (Heinz

2007). Im Jahre 1950 waren es hingegen noch 39.1%. Hinzu kommt, dass vor einer

richterlichen Entscheidung bereits zuvor ein großer Anteil von Fällen aus so genannten

„Opportunitätsgründen“ eingestellt wird. Der Anteil von Verdächtigen, der formal vor Gericht

verurteilt wird, an dem Personenkreis von Verdächtigen der entweder informell oder formal

sanktioniert wurde, ist stetig gefallen. Im Jahre 1981 waren dies noch 63,7%, im Jahre 2005

hingegen nur noch 45,3% (Heinz 2007). Der Staatsanwalt erledigt den weitaus größten Anteil

der eingestellten Verfahren, das Gericht ist lediglich für 15% aller Einstellungen von

Strafprozessen verantwortlich (siehe Heinz 2007).

In dieser Studie wird die regional sehr unterschiedlich angewandte Strategie der Diversion

und der Haftvermeidung kritisch hinterfragt. Da die Bundesländer eine hohe Autonomie

besitzen, gerade auch hinsichtlich einer diskretionären Auslegung des Strafrechts, liefert die

föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland geeignetes Datenmaterial zur Wirksamkeit

der jeweiligen Kriminalpolitiken. Unterschiedliche politische Wertvorstellungen, aber auch

möglicherweise unterschiedliche religiöse Wurzeln haben dafür gesorgt, dass die

Strafrechtsreform von 1969, die die Möglichkeit alternativer Sanktionen in das deutsche

Strafrecht eingeführt hat, auf der Ebene der Bundesländer sehr unterschiedlich umgesetzt

wurde. Während norddeutsche Länder wie Schleswig-Holstein und Bremen die

fundamentalen Ideen der Reform schnell und nachhaltig umgesetzt haben, standen

süddeutsche Länder wie Bayern und Baden-Württemberg der Reform eher zögernd gegenüber

und setzen ihre eher konservative Kriminalpolitik fort, ohne sich jedoch völlig gegen den

allgemeinen Trend zu stemmen.

2

Ein solcher heterogener Rahmen bietet eine ideale Basis für die Analyse der Wirkung

konkurrierender Strategien. Um jedoch die Wirkungsmechanismen vollständig erfassen zu

können, insbesondere die Rolle von Staatsanwälten und Richtern, bedarf es einer möglichst

vollständigen Abbildung der gesamten Wirkungskette, d.h. die Interaktion von Polizei,

Staatsanwaltschaft, Richtern und deren Urteilen muss vollständig erfasst, verstanden und

empirisch abgebildet werden (siehe dazu auch Kessler und Piehl 1998). Der klassische Ansatz

in der Ökonomie der Kriminalität (Becker 1968, Ehrlich 1973) stellt lediglich auf die

Entdeckungswahrscheinlichkeit durch die Polizei ab, die in theoretischen Modellen zudem oft

mit der Verurteilungswahrscheinlichkeit gleichgesetzt wird. Die Strafrechtspraxis ist weitaus

komplexer, so dass die empirische Abbildung des Strafverfolgungsprozesses nicht nur die

(unbedingte) Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden zu berücksichtigen hat, sondern auch

die nachfolgende Kette konditionaler Wahrscheinlichkeiten: Nämlich der Wahrscheinlichkeit

der Anklage im Falle einer Entdeckung, der Wahrscheinlichkeit der Verurteilung im Falle

einer Anklage und der Wahrscheinlichkeit z.B. einer Haftstrafe im Falle einer Verurteilung.

Um das Wesen der Strafrechtsreform von 1969 abzubilden, d.h. die Wirkung einer

Haftvermeidung zu quantifizieren, sind auch die (Erwartungswerte) von Haftlängen zu

berücksichtigen. Mendes und McDonald (2001) sowie Mustard (2003) argumentieren

überzeugend, dass empirische Arbeiten, die die Stufen des Strafverfolgungsprozesses nicht

vollständig abbilden, wegen eines omitted variable bias fehlspezifiziert sind und einen

unzureichenden Test der ökonomischen Theorie der Kriminalität abliefern.

In diesem Artikel soll dieses Manko behoben werden. Zunächst wird ein theoretischer

Rahmen geliefert, in dem rationale Straftäter und Nichtstraftäter auf Anreize reagieren, die

durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter gesetzt werden. Im empirischen Teil der Arbeit

werden Daten der RegKrimDa („Regionalen Kriminalitäts- und Strafverfolgungsdatenbank an

der TU Darmstadt) verwendet. Es handelt sich um einen Paneldatensatz, der die alten

Bundesländer für den Zeitraum von 1977–2001 umfasst und der es erlaubt, delikt- und

altersspezifische Kriminalitätsraten und Strafverfolgungsindikatoren zu berechnen.

Insbesondere ist es möglich, den Strafverfolgungsprozess von der polizeilichen

Ermittlungsarbeit bis zum richterlichen Urteilsspruch abzubilden. Eine weitere Innovation -

auch im internationalen Vergleich - besteht in der getrennten Betrachtung von Erwachsenen,

für die das allgemeine Strafrecht (StGB) relevant ist, und Jugendlichen, deren Aburteilung

nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) erfolgt. Darüber hinaus – und in dieser Arbeit im

Vordergrund des Interesses – lässt sich die Gruppe der so genannten „Heranwachsenden“

identifizieren, also eine Gruppe die sowohl nach dem Jugendstrafrecht als auch nach dem

3

Erwachsenenstrafrecht behandelt werden kann, was wegen der regional unterschiedlich

ausgeprägten Anwendung des Jugendstrafrechts von besonderer kriminalpolitischer und

ökonometrischer Relevanz ist.

Die Daten erlauben es, den von den Bundesländern genutzten diskretionären Spielraum bei

der Auslegung des deutschen Strafrechts zu veranschaulichen. Am Beispiel der Bundesländer

Bayern und Schleswig-Holstein wird die zeitliche Entwicklung der Divergenz regionaler

Rechtsnormen demonstriert. Insbesondere erlaubt die Berücksichtigung der gesamten

Strafverfolgungskette die Berechnung von (mathematischen) Erwartungswerten von

Straflängen, die in Bayern – bei gleichen Deliktgruppen – zum großen Teil mehr als doppelt

so lang ausfallen wie in Schleswig-Holstein.

Im ökonometrischen Teil der Arbeit stehen die von Heranwachsenden verübten Delikte

“Gefährliche und schwere Körperverletzung” im Vordergrund. Es zeigt sich, dass die

zunehmende Belastung durch Gewaltkriminalität zumindest teilweise durch eine striktere

Anwendung des bestehenden Strafrechts eingedämmt werden könnte, wozu auch eine

striktere Anwendung des Erwachsenenstrafrechts gehört. Erhöhungen des Strafmaßes

erwiesen sich jedoch als völlig unwirksam.

Möchte man die Wirkungen einer veränderten Strafrechtspraxis quantifizieren, so scheitern

derartige Effizienzüberlegungen (im Sinne von Kosten-Nutzen-Analysen) in Deutschland

regelmäßig an den unbekannten Kosten der Kriminalität. In einem diesem Artikel eingefügten

Exkurs wird ansatzweise versucht, Berechnungen des britischen Home Office (2005) auf

deutsche Verhältnisse zu übertragen, auch um auf häufige Fehlinterpretationen der

allgemeinen Kriminalitätsentwicklung aufmerksam zu machen, die durch ausschließliche

Beachtung von Fallzahlen – ohne Beachtung der Schäden für Opfer und Gesellschaft –

entstehen. Ein aktuelles Beispiel für irreführende Interpretationen ist die im Mai 2008

veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2007, bei der man gern auf die

gegenüber 2006 gefallene Gesamtzahl hinweist, aber – wie stets seit nun mittlerweile ca. 15

Jahren – die Bedeutung des partiellen dauerhaften Anstiegs in der gefährlichen und schweren

Körperverletzung mit Hinweis auf statistische Unwägbarkeiten ebenso gern herunterspielt.

Dieser Artikel ist wie folgt gegliedert. In Kapitel 2 wird ein theoretisches Modell zur Analyse

des Kriminalitätsaufkommens bei Berücksichtigung von Haft und Haftvermeidung

vorgestellt. Kapitel 3 beschreibt die Daten, während in Kapitel 4 ökonometrische Tests

durchgeführt werden und ein Bezug zur Frage der volkswirtschaftlichen Effizienz hergestellt

wird. In Kapitel 5 folgen abschließende Bemerkungen.

4

2. Die Anreize potentieller Täter in einem Strafrechts-system mit Haftvermeidungsstrategien

In der deutschen Strafrechtspraxis spielen seit der Strafrechtsreform von 1969

Haftvermeidung und Diversion sehr wichtige Rollen. Es gilt daher die Hauptakteure dieser

Kriminalitätspräventionsstrategie, das sind im Wesentlichen die Staatsanwälte, explizit in die

Analyse einzubeziehen. Ihre Aktivitäten und Entscheidungen sind in der Wirkungskette

Polizei -> Staatsanwaltschaft -> Richter alles andere als vernachlässigenswert. Schaubild 1

illustriert die Funktionen und Wirkungen dieser Gruppen innerhalb des Justizsystems. Hier

haben die richterlichen Entscheidungen „Freispruch“, „Einstellung“, „Bewährung“, „Haft“-

oder „Geldstrafe“ sowie die zugehörigen Strafmaße (in Form von Haftlängen oder

Tagessätzen) sehr unterschiedliche Implikationen und sind möglichst detailgenau abzubilden.

Wirksamkeit von Abschreckung oder Effizienz der Sanktionierungspraxis angesichts dieser

komplexen Wirkungsketten und der Interaktionen mit ökonomischen, sozialen und

demographischen Faktoren allein anhand einer Erhöhung oder Absenkung von Strafmaßen

messen zu wollen - wie man es in der öffentlichen Diskussion an der einen oder anderen

Stelle vernimmt - ist folglich naiv. In diesem Aufsatz soll versucht werden, den dargestellten

Zusammenhängen annähernd Rechnung zu tragen, wobei naturgemäß Schwerpunkte gesetzt

werden und einige Aspekte auch völlig ausgeblendet werden müssen.2

Die Untersuchung der Effizienz des Strafrechtssystems setzt eine Analyse des Anreizsystems

voraus. Im Folgenden soll daher das Standardmodell zur ökonomischen Analyse der

Kriminalität (Becker 1968) um wichtige Elemente erweitert werden. Die zentrale Idee besteht

darin, die Hauptakteure der Haftvermeidungs- und Diversionsstrategien, das sind im

Wesentlichen die Staatsanwaltschaften und die Richter, explizit in die Analyse einzubeziehen.

Anreize zur Erzielung eines Nutzens aus illegalem Handeln hängen folglich nicht nur von der

Entdeckungswahrscheinlichkeit ab, wie es einfachste Versionen des Becker-Modells nahe

legen, sondern von den Aktivitäten und Entscheidungen der gesamten Wirkungskette Polizei

-> Staatsanwaltschaft -> Richter, inklusive der richterlichen Entscheidungen (siehe dazu

auch Landes 1971).

2 So kann nicht auf die Frage eingegangen werden, ob empirische Bestätigungen der Abschreckungshypothese (s.u.) ihre wahre Ursache im Wegsperrungseffekt von potentiellen Straftätern haben. Allerdings dürfte diese Überlegung für europäische Verhältnisse von verhältnismäßig geringer Relevanz sein, während angesichts der hohen Gefängnispopulation in den USA (siehe den internationalen Vergleiche der Gefängnispopulationen in Walmsley, 2007) das Problem dort stärker zu beachten ist und tatsächlich auch berücksichtigt wird (siehe die US-Diskussion zu „deterrence versus incapacitation“).

5

Schaubild 1: Funktion und Wirkung des Justizsystems

Das analytische Modell basiert auf Zeitallokationsmodellen, wie sie von Ehrlich (1973) in die

ökonomische Analyse der Kriminalität eingeführt und von zahlreichen Autoren (siehe z.B.

Block und Heineke 1975, Witte 1980, Zhang 1997, Grogger 1998, und Funk, 2004)

weiterentwickelt wurden. Entsprechend dieser Literatur betrachten wir eine Person, die ihren

Erwartungsnutzen E(U) (hier repräsentiert U die individuelle Nutzenfunktion und E den

Erwartungswertoperator) durch Aufteilung der verfügbaren Zeit T in legale ( tl ) und illegale

Aktivitäten ( it ) maximieren möchte, wobei sie eine Zeitrestriktion it t T+ <l

zu beachten hat

(für eine ausführliche Darstellung des Modells siehe Entorf und Spengler, 2008). Die

Wohlfahrt der Person hängt vom Einkommen aus legaler Arbeit, ( )L tl

, ab, aber auch vom

Gewinn, der aus der Zeit für illegale Tätigkeiten erzielt wird, also von ( )iG t . Illegale

Aktivitäten werden mit der Wahrscheinlichkeit p entdeckt und bestraft, d.h. p wird nicht nur

von der Polizei beeinflusst, sondern auch von der Staatsanwaltschaft und den Gerichten. Da

der Fokus des theoretischen Modells auf der Möglichkeit der Haftvermeidung liegt, wird im

Falle einer Verurteilung zwischen einer Haftstrafe und der Haftvermeidung (also Bewährung

oder Geldstrafe, im Falle des Jugendstrafrechts auch erzieherische Maßnahmen)

6

unterschieden. Den verurteilten Straftäter erwartet mit der bedingten Wahrscheinlichkeit

|s cp eine Haftstrafe, die mit dem Strafleid ( )i

F t verbunden ist, und mit der

Wahrscheinlichkeit |(1 )s cp− eine Haftmeidung.

Es ergeben sich drei zu unterscheidende Fälle. In der Konstellation der ausschließlich legalen

Erwerbserzielung, sowie in den Fällen der Diversion, Verfahrenseinstellung und

Nichtverurteilung ergibt sich der individuelle Nutzen aus

(2.1) ( ) ( )( )[ ]iU A L t G t+ +l

,

der sich mit der Wahrscheinlichkeit der Nichtverurteilung, also mit (1-p), einstellt. A

repräsentiert den Anfangsbestand des Vermögens. Im Falle der Endeckung, Anklage,

Verurteilung und Haftvermeidung ist der Nutzen

(2.2) ( ) ( )[ ]b

iU A L t G t+ +l

,

der sich mit dem Produkt der Wahrscheinlichkeiten der Entdeckung und der Haftvermeindung

einstellt, also mit |(1 )s cp p− , wobei ( )bL tl

das eventuell um Geldstrafen und/ oder das durch

das Stigma einer Vorstrafe geminderte legale Einkommen repräsentiert,

d.h. ( ) ( ) 0bL t L t> >l l

. Schließlich ist komplementär dazu der Fall zu berücksichtigen, in

dem es bei Endeckung, Anklage, Verurteilung tatsächlich zu einer Haftstrafe kommt, so dass

sich hier der Nutzen

(2.3) ( ) ( )[ ]i iU A G t F t+ −

ergibt. Dieser Fall tritt logischerweise mit der Wahrscheinlichkeit |s cpp auf.

Es ist zu beachten, dass die wesentliche Eigenschaft des Modells, nämlich trotz einer

Entdeckung – und eventuell auch nach einer Verurteilung - weiterhin ein legales Einkommen

zu erzielen, sich im Einklang mit den Ideen der Diversion und der Haftvermeidung befindet.

Der Fall der Diversion wird in (2.1) erfasst. Staatsanwälte stellen Verfahren ein, so dass keine

Einschränkung für den Arbeitsmarkt zu erwarten ist. Im Falle der Verurteilung, siehe (2.2),

kommt es zu einem Stigmatisierungseffekt, jedoch ist es die Idee der Haftvermeidung, den

Straftäter vor einer verstärkten Kriminalisierung zu bewahren, wozu es in der Tat zahlreiche

Hinweise gibt (Bayer, Hjalmarsson and Pozen 2007, Chen und Shapiro 2007). Haft sollte

entsprechend dieser Strategien ultima ratio sein.

Die Personen teilen zwecks Maximierung des erwarteten Nutzens die ihnen zur Verfügung

stehende Zeit optimal auf, wobei sich der Erwartungsnutzen entsprechend der vorherigen

Überlegungen als

7

(2.4) ( ) ( ) ( )[ ] ( ) ( )[ ]{ }| |(1 ) b

s c s ci i iE U p p U A L t G t p U A G t F t= − + + + + −l

( ) ( ) ( )( )[ ]1 ip U A L t G t+ − + +l

,

ergibt. Unter den zusätzlichen Annahmen der Risikoaversion, eines abnehmenden

Grenznutzens aus illegaler Aktivität, eines neoklassischen Verlaufs des Strafleids sowie der

Annahme ( ) ( )i iG t F t′ ′< , die sich mit Benthams (1781) strafmoralischer Forderung nach

einer den illegalen „Gewinn“ übersteigenden Strafhöhe übersetzen lässt3, lassen sich aus den

Bedingungen erster Ordnung folgende Optimalitätsbedingungen herleiten:

(2.5) 0it

p

∂<

∂,

|

0i

s c

t

p

∂<

∂,

|

0(1 )

i

s c

t

p

∂>

∂ −, 0i

t

F

∂<

∂ ,

( ) ( )( )0i

b

t

L t L t

∂<

∂ −l l

.

Diese Resultate bestätigen zum einen die klassischen Resultate der Kriminalitätsreduktion

durch Erhöhung der Verurteilungswahrscheinlichkeit (p) und der Höhe (F) der Strafe, zum

anderen zeigen sie aber auch, dass aus der Haftvermeidungsstrategie im Rational-Choice-

Modell ein die Kriminalität erhöhender Anreiz entsteht. Je mehr Strafen folglich in

Bewährung oder Geldstrafen statt in Haft münden, umso höher ist demnach der Anreiz die

verfügbare Zeit mit illegalen Aktivitäten zu verbringen.

Ein interessantes Ergebnis beinhaltet schließlich der Effekt von ( ) ( )( )bL t L t−l l

, der sich

auch als Stigma-Effekt (siehe Rasmussen 1994, Funk 2004) oder dynamic deterrence (Imai

and Krishna, 2004) interpretieren lässt: Die Furcht vor einem zukünftigen Einkommensverlust

führt zu einer Reduktion illegaler Anreize.

3. Deskriptive Evidenz zu Kriminalität und Strafrechts- praxis

3.1 Die allgemeine Kriminalitätsentwicklung, unter besonderer Beachtung der Gewaltkriminalität

Langfristig betrachtet scheint die Kriminalitätsentwicklung zugenommen zu haben, jedoch

liegt angesichts mangelnder regelmäßiger Opferstudien die wahre Entwicklung buchstäblich

im Dunkeln. So zeigen lange Zeitreihen, wie sie beispielsweise von Heinz (2007) oder GESIS

3 The value of the punishment must not less in any case than what is sufficient to outweigh that of the profit of the offense (Bentham 1781, S.141).

8

(2007) zusammengestellt wurden, für die Diebstahlsdelikte seit 1963 in Westdeutschland

einen dauerhaften Anstieg bis zum Jahr 1992 (von 1.638 auf 4.860 Fälle je 100.000

Einwohner) und einen langsamen Rückgang auf 3287 Fälle in 2005. In Ostdeutschland geht

die Fallzahl nach einer starken Anfangsbelastung nach der Wende (6.591 im Jahr 1993)

permanent zurück und nähert sich von oben den westdeutschen Zahlen an.

Ein dauerhafter Anstieg wird jedoch bei Gewaltdelikten, insbesondere für

Körperverletzungsdelikte, registriert. Dieses Phänomen ist auch in anderen europäischen

Ländern zu beobachten (Aebi 2004). Die Belastung mit schwerer und Körperverletzung je

100.000 Einwohner ist Schaubild 2 zu entnehmen. Die Fallzahlen sind seit Mitte der 80er

Jahre um mehr als 80% gestiegen, wobei der Osten zunächst rasant aufholte, sich in den

letzten Jahren aber etwas vom westlichen Trend abkoppelt. Kriminologen betonen häufig,

dass diese Aufwärtsbewegung ihrer Auffassung nach lediglich ein statistisches Artefakt

aufgrund verstärkter Aufhellung des Hellfeldes ist. Christian Pfeiffer vom Kriminologischen

Forschungsinstitut Niedersachen (KFN) beispielsweise führt in den Medien4 - vordergründig

überzeugend - an, dass ein verstärkter Trend zur Strafanzeige auf steigende Anteile von

Konflikten zwischen Deutschen und Migranten zurückzuführen ist (die medienwirksam als

„Max gegen Mehmet“ tituliert werden), während „früher“ Konflikte zwischen Deutschen

untereinander („Max gegen Moritz“) und ohne Polizei geregelt wurden. Dem widerspricht

allerdings die Tatsache, dass der Anteil von Migranten an der deutschen Wohnbevölkerung

seit 1993 deutlich rückläufig ist, was sich auch im Rückgang der nichtdeutschen

Tatverdächtigen von 33.8% im Jahre 1993 zu 23.7% im Jahre 2006 (Quelle: PKS 2007)

widerspiegelt. Außerdem spricht der rasante Anstieg in Ostdeutschland gegen die These

Pfeiffers, da dort der Anteil von Migranten im Vergleich zu dem in Westdeutschland fast

vernachlässigenswert ist. Heinz (2008a) führt Versicherungsstatistiken über Gewalt in

Schulen an, um zu widerlegen, dass der ansteigende Gewalttrend in der PKS ein wahrer Trend

ist. Es ist allerdings nicht unbedingt einzusehen, warum ausgerechnet diese indirekte

Herangehensweise mehr Gewicht haben sollten als die offizielle Quelle des BKA. So ist

beispielsweise fraglich, ob die ohnehin von überbordender Bürokratie behinderten und mit

einer Vielzahl verschiedener ICD-Codes stark belasteten Ärzte (insbesondere in

4 Siehe auch Pfeiffer und Wetzels (2001). Dort wird allerdings auch ein tatsächlicher Anstieg der Jugendgewalt eingeräumt: „Wir gehen deshalb davon aus, dass die in der PKS abgebildete Zunahme der Raubdelikte Jugendlicher zum Teil auf ein verändertes Anzeigeverhalten, zu einem größeren Teil aber auf einen realen Anstieg solcher Gewalttaten zurückzuführen ist“ (Pfeiffer und Wetzels, 2001, OnLine Version vom 11.02.2007, S. 3).

9

Notaufnahmen von Krankenhäusern) tatsächlich willens sind, sich auch noch mit zusätzlichen

Versicherungsfragebögen zu befassen, oder ob man nicht eine eher leichter abzuwickelnde

Verletzungsart in die Statistiken aufnimmt. Die Zuverlässigkeit von Gesundheitsstatistiken

wäre daher sicher eine interessante Forschungsfrage, sie ist aber wohl zumindest genauso

stark zu hinterfragen wie die Zuverlässigkeit der PKS. Weiterhin wird mit Gewalt in der

Schule nur ein Teil der Gewaltdelikte abgedeckt, der weitaus größere Teil dürfte sich

außerhalb von Schulen in der Freizeit und auf öffentlichen Plätzen abspielen.

Schaubild 2: Gefährliche und schwere Körperverletzung je 100.000 Einwohner

60

80

100

120

140

160

180

200

84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06

West

Ost

Datenquelle: GESIS (2007)

Mangels sinnvoller Alternativen wird in dieser Untersuchung daher weiterhin auf Daten der

PKS zurückgegriffen. Zwei weitere Statistiken dienen der Abrundung der Darstellung der

Gewaltentwicklung in Deutschland. Schaubild 3 dokumentiert die Anzahl bekannt

gewordener Opfer versuchter und vollendeter gefährlicher und schwerer Körperverletzung auf

100.000 Männer bzw. Frauen. Die Zahlen zeigen, dass vor allem Männer Opfer von Gewalt

sind (so wie sie auch hauptsächlich Täter sind), dass aber zunehmend auch Frauen Opfer von

Gewaltdelikten werden. Bei ihnen hat sich das Opferrisiko seit 1994 verdoppelt. Während die

Zahl von Mord- und Tötungsdelikten seit langer Zeit stabil und international betrachtet

erfreulich gering ist, ist – etwas unbemerkt von der öffentlichen Diskussion – die Anzahl der

versuchten und vollendeten Vergewaltigungen innerhalb von nur 5 Jahren zwischen 1996 und

2001 in Westdeutschland immerhin um 39.3% (Ostdeutschland im gleichen Zeitraum:

10

+15.4%) angestiegen (siehe Schaubild 4). Es spricht also einiges dafür, den registrierten

Anstieg von Gewaltkriminalität ernst zu nehmen und ihn nicht weiter zu verharmlosen.

Schaubild 3: Die Anzahl bekannt gewordener Opfer versuchter und vollendeter gefährlicher und schwerer Körperverletzung auf 100.000 Männer bzw. Frauen.

0

50

100

150

200

250

300

350

1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006

Männer

Frauen

Datenquelle: GESIS (2007)

Schaubild 4: Anzahl der versuchten und vollendeten Vergewaltigungen je 100.000 Frauen

10

12

14

16

18

20

22

24

84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06

West

Ost

Datenquelle: GESIS (2007)

11

3.2. Kriminalität und Strafverfolgung im Vergleich 3.2.1. Die Stufen der Strafverfolgung, ihre statistische Dokumentierung und langfristige Entwicklungen

Eine Analyse der Effizienz des Strafverfolgungssystems erfordert die Gegenüberstellung von

Kriminalitäts- und Strafverfolgungsaktivitäten. Um den gesamten Strafverfolgungsprozess zu

erfassen und in Beziehung zum Kriminalitätsaufkommen setzen zu können, wird

Datenmaterial aus zwei Quellen der amtlichen Statistik - der Polizeilichen Kriminalstatistik

(PKS) und der Strafverfolgungsstatistik (StVStat) - herangezogen. Die Zusammenführung

von Informationen aus PKS und StVStat basiert im Wesentlichen auf der von Hannes

Spengler (2004a, 2006) initiierten „Regionalen Kriminalitäts- und Strafverfolgungsdatenbank

an der TU Darmstadt [RegKrimDA]“. Ausführliche Dokumentationen dieser Datenbasis

werden auch in Entorf und Spengler (2005, 2008) bereitgestellt.

Die PKS des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter liefern Informationen über

das polizeilich registrierte Aufkommen von Straftaten, deren Aufklärung sowie die Struktur

der Tatverdächtigen. Die StVStat des Statistischen Bundesamtes und der statistischen

Landesämter geben Auskunft über die Aburteilungs- und Verurteilungspraxis der Gerichte in

Bezug auf angeklagte Tatverdächtige. Insbesondere geht aus der StVStat die Art und Höhe

der verhängten Strafen hervor. Diesbezügliche Informationen wurden für „klassische“

Kriminalitätskategorien jeweils für die alten Bundesländer5 und den Zeitraum von 1976/77–

2001 akquiriert.6 Die Besonderheit dieser Datenbank besteht darin, dass die erfassten

Kriminalitätskategorien der Erfassungskonvention der PKS entsprechen, während in der

StVStat Paragraphen des Strafgesetzbuchs das relevante Erfassungskriterium darstellen und

deshalb ein PKS-Code aus durchschnittlich 5 StVStat-Codes (bzw. StGB Paragraphen)

„nachgebildet“ werden musste. Der Vorteil der RegKrimDA besteht folglich in der

Verknüpfung von PKS und StVStat, was für eine empirische Effizienzanalyse eine sine qua

non darstellt (Entorf, 2007, beinhaltet eine Präsentation der Möglichkeiten und Vorteile

verknüpfter kriminologischer Paneldaten). Die Zusammenführung und Nutzung der Daten

5 Von einer Datenakquisition für die neuen Bundesländer wurde abgesehen, da die StVStat dort zum Teil erst spät (Mecklenburg-Vorpommern (2001), Thüringen (1997)) oder überhaupt nicht (Sachsen-Anhalt) eingeführt wurde. PKS-Daten liegen dagegen (in brauchbarer Qualität) seit dem Berichtsjahr 1993 für alle neuen Länder vor. 6 Mittlerweile wurden die Daten der StVStat (und der Strafvollzugsstatistik) ab dem Berichtsjahr 1995 in den Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder für eine kontrollierte Datenfernverarbeitung zugänglich gemacht.

12

bleibt jedoch mit einigen Problemen behaftet, auf die bei der Interpretation empirischer

Resultate zu achten ist:

• die ausschließliche Erfassung der registrierten Kriminalität in der PKS,

• Erfassungsunterschiede in PKS und StVStat bzgl. Tätern, die innerhalb einer Periode mehrere verschiedene Straftaten begangen haben, aber gleichzeitig verhandelt werden,

• dem Auseinanderfallen des Erhebungszeitpunktes in PKS und StVStat,

• der „Umdefinition“ von Straftaten im Strafverfolgungsprozess,

• der fehlenden deliktgruppen- und regionalspezifischen Kompatibilität der Staatsanwaltschaftsstatistik (StA-Statistik) mit PKS und StVStat,

• der Umstellung der Tatverdächtigenzählung in der PKS und

• Datenqualitätsproblemen, die auf menschliches Versagen zurückgehen.

Auf eine ausführliche Diskussion sei an dieser Stelle zugunsten des Hinweises auf oben

genannte Quellen verzichtet. Wie von Spengler (2004a) sehr sorgfältig dokumentiert wird,

kann in der Regel ein gangbarer Weg beschritten werden, der eine ökonometrisch-statistische

Analyse der resultierenden Paneldaten erlaubt. Ein zu lösendes Problem stellte beispielsweise

die Umstellung der Tatverdächtigenzählung von einer Mehrfachzählung bis einschließlich

1982 auf eine echte Tatverdächtigenzählung ab dem Jahre 1984 in der PKS dar. Hier konnten

durch Umbasierung der Zeitreihen, die unter Beachtung der Fälle pro Täter und durch

Berücksichtigung der temporären Überlappung von Zeitreihen vorgenommen wurde, lange

einheitliche und zusammenhängende Zeitreihen erstellt werden, die bis ins Jahr 1977

zurückreichen.

Es kann nicht oft genug betont werden, dass die Großzahl der angesprochenen Datenprobleme

durch regelmäßige repräsentative Opferbefragungen (wie z.B. in den USA mit dem jährlich

durchgeführten National Crime Victimization Survey, NCVS))7 und durch eine bessere

Koordination der relevanten statistischen Systeme (PKS, StA, StVStat und übrige

Rechtspflegestatistiken8) weitgehend gemildert werden könnten. Wünschenswert wäre eine

dynamische statistische „Begleitung“ einer Straftat und der zugehörigen Tatverdächtigen über

den gesamten Strafverfolgungsprozess hinweg, wobei idealerweise auch Strafvollzugs- und

Resozialisierungsprozesse eingeschlossen werden sollten. Eine Erhöhung der Effizienz ergäbe

sich durch die Einspeisung von ID-Nummern (ähnlich einer Sozialversicherungsnummer), 7 siehe http://www.ojp.usdoj.gov/bjs/cvict.htm 8 Heinz (2006) gibt einen sehr guten Überblick über die existierenden Rechtspflegestatistiken und ihre Inhalte. Im Einzelnen handelt es sich dabei neben der StVStat und der StA-Statistik um die Justizgeschäftsstatistik der Strafgerichte (StP/OWi-Statistik), die Bewährungshilfestatistik (BewH-Statistik) und die Strafvollzugsstatistik (StVollz-Statistik).

13

z.B. durch die Polizei oder – in Frühphasen der Auffälligkeit – durch Jugendgerichte, in ein

statistisches System, auf das nachfolgend auch die Staatsanwaltschaften, Gerichte,

Strafvollzugsanstalten und Bewährungshilfeeinrichtungen zugreifen können, um ihre täter-

und resozialisierungsspezifischen Informationen zu bekommen und zu ergänzen. Ein solches

statistisches System wäre zwar mit hohen Implementierungskosten und teilweise auch

datenschutzrechtlichen Hindernissen verbunden, würde jedoch nach seiner Einführung zu

deutlichen Kostenreduktionen führen. Die Verknüpfung der Datenbanken würde zudem einen

entscheidenden Schritt in Richtung einer zukünftigen Evaluierung des deutschen

Strafverfolgungssystems darstellen, woraus wiederum Einsparungspotenziale durch eine

effizientere Ausgestaltung der Kriminalpolitik abgeleitet werden könnten.9

Die Analyse des Strafverfolgungsprozesses hat Unterschiede zwischen dem allgemeinen

Strafrecht und dem Jugendstrafrecht hinsichtlich der vorgesehenen Sanktionsformen und

Eingriffsintensitäten zu beachten. So kennt das Jugendstrafrecht, dessen Grundlage das

Jugendgerichtsgesetz (JGG) ist, mit den Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln zwei häufig

angewendete Maßnahmeformen, die nicht die Rechtswirkung einer Strafe besitzen, sondern

im ersten Fall ausschließlich auf die Förderung der Erziehung abstellen und im zweiten Falle

zusätzlich zum Erziehungsaspekt ahndenden Charakter besitzen. Des Weiteren sieht das JGG

Geldstrafe nicht als Hauptstrafe vor, und auch als Nebenstrafe soll die Zahlung eines

Geldbetrages nur dann angeordnet werden, wenn dem Jugendlichen daraus keine Nachteile

für seine künftige Entwicklung (z.B. durch Verschuldung) entstehen. Schließlich sieht das

JGG keine Haftstrafe vor, deren Dauer 10 Jahre übersteigt. Diese fundamentalen Unterschiede

zwischen Jugend- und allgemeinem Strafrecht legen es nahe, die Effizienz des Strafprozesses

und der Strafverfolgung nicht in einem einheitlichen Modell zu analysieren.

Bekanntermaßen erlaubt das deutsche Strafrecht, „Heranwachsende“ trotz ihrer juristischen

Volljährigkeit nach dem Jugendstrafrecht zu verurteilen. Wie die Übersicht über die

Strafverfolgung und die Sanktionierungspraxis in Westdeutschland in Tabelle 1 (letzte Spalte)

zeigt, ist diese Ausnahme jedoch eher die Regel. Im Durchschnitt der Jahre 1998 bis 2001

wurden nur noch ca. 10% der Heranwachsenden für „Diebstahl unter erschwerenden

Umständen“ nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt, im Fall der „Gefährlichen und

schweren Körperverletzung“ waren es 10.8%. Gerade bei jungen Gewalttätern ist eine

zunehmende Milde unverkennbar, denn 1977/81 betrug der Anteil der Verfahren, in denen 9 Konkrete Überlegungen zu einer Reform des jetzigen Systems der Kriminal- und Rechtspflegestatistiken findet sich auch in BMI und BMJ (2001, S. 37f.). Eine Darstellung zur Methodik und der informationsökonomischen Vorteile liefert Entorf (2007).

14

das härtere Erwachsenenstrafrecht herangezogen wurde, noch knapp 30%. An dieser

Entwicklung lässt sich die fortwährende Umsetzung der Inhalte der Strafrechtsreform von

1969 besonders gut ablesen, wonach Heranwachsende möglichst nicht bestraft, sondern –

entsprechend der Idee des Jugendstrafrechts - „erzogen“ werden sollen.

Tabelle 1 bildet die Stufen der Strafverfolgung ab. Aus Gründen der Übersichtlichkeit

beschränkt sich Tabelle 1 auf „schweren Diebstahl“ und „schwere und gefährliche

Körperverletzung“, also auf zwei Deliktgruppen, die aber das Gesamtbild der deutschen

Kriminalitätsentwicklung hinreichend typisch charakterisieren (z.B. hinsichtlich Rückgang

bei Diebstahl, Anstieg bei Gewalt; und hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Eigentums-

und Gewaltdelikten). Die erste Stufe wird durch die Arbeit der Polizei geliefert (siehe auch

Schaubild 1), die für die Höhe der Aufklärungsquote verantwortlich ist. Die Zahlenreihen

zeigen niedrige und fallende Zahlen beim schweren Diebstahl (durchschnittlich ca. 13% ab

1993), und hohe und weitgehend stabile Quoten von ca. 85% bei der Körperverletzung.

Die nächste Stufe des Strafverfolgungsprozesses ist die Phase der möglichen Diversion. Diese

Angelegenheit obliegt der Staatsanwaltschaft, die aus Opportunitätsgründen das Verfahren

einstellen kann, z.B. wenn sie die Wahrscheinlichkeit einer späteren Verurteilung als gering

einschätzt. Rationale Staatsanwälte werden also versuchen, dass Verhalten der Richter zu

antizipieren, welche sich wiederum an der regional und zeitgeistlich variierenden

vorherrschenden Rechtsnorm orientieren, was wiederum eine hohe Heterogenität der

richterlichen und staatsanwaltlichen Entscheidungen nahe legt. In der Tat ist die hohe

Variation sehr gut anhand der Daten der RegKrimDa zu beobachten.

Der Anteil der Täter, deren aufgeklärte Fälle tatsächlich von den Staatsanwaltschaften vor

Gericht gebracht werden, ist im Zeitablauf deutlich fallend. Die so genannte

Aburteilungsquote (die man treffender als Anklagequote bezeichnen sollte) fällt für schweren

Diebstahl von 46.5% für den Durchschnitt der Jahre 1977 bis 1981 auf 35.4% in den Jahren

1998/2001. Für die gefährliche Körperverletzung stehen am Ende des Beobachtungszeitraums

nur noch 30.4% zu Buche. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass ca. 70% der Verfahren von

der Staatsanwaltschaft (mit oder ohne Auflagen) eingestellt werden.

Der Anteil der abgeurteilten Verdächtigen, der vor Gericht von Richtern verurteilt wird, ist

hingegen – deliktspezifisch – weitgehend konstant. Das gilt insbesondere für die

Körperverletzung, wo die Verurteilungsquote mit einer kurzzeitigen Ausnahme zwischen

63% und 64% schwankt. Bei Diebstahldelikten ist die Quote höher, aber leicht rückläufig

(zuletzt ca. 81%).

15

Tabelle 1: Die langfristige Entwicklung der Sanktionierungspraxis in Westdeutschland, 1977 – 2001

Schwerer Diebstahl

Anteil der von der Polizei

aufgeklärten Fälle (Aufklärungsquote)

Anteil der Tatverdächtigen,

der angeklagt wird (Aburteilungsquote)

Anteil der Abgeurteilten, der

verurteilt wird (Verurteilungsquote)

Anteil der Verurteilten mit Haftstrafe ohne

Bewährung (Inhaftierungsquote)

Anteil der Verurteilten mit

Haftstrafe zu Bewährung

(Bewährungsquote)

Anteil der Verurteilten mit

Geldstrafe (Geldstrafenquote)

Anteil der Heranwachsenden (18-21), der nach

Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird

1977-1981 19.3 46.5 85.2 41.1 38.2 20.7 13.5

1982-1986 17.7 44.0 83.3 35.1 42.0 22.9 9.2

1987-1992 15.0 37.4 80.3 32.7 43.4 23.9 7.1

1993-1997 12.9 36.1 81.0 31.6 42.9 25.5 9.9

1998-2001 13.3 35.4 81.3 36.3 42.5 21.1 10.1

Gefährliche Körperverletzung

1977-1981 86.2 35.1 64.0 10.1 20.9 69.0 29.7

1982-1986 85.6 34.7 63.4 11.2 23.9 64.8 20.2

1987-1992 84.0 31.2 61.1 10.6 24.3 65.1 15.8

1993-1997 83.5 30.3 63.4 10.4 29.2 60.4 15.7

1998-2001 85.0 30.4 63.6 14.7 49.7 35.5 10.8

Anmerkungen: Durchschnitte der betrachteten Perioden; Aufklärungs-, Anklage und Verurteilungsquoten beziehen sich auf alle Altersklassen (älter als 14); Inhaftierungs-, Bewährungs- und Geldstrafenquoten beziehen sich auf das Erwachsenenstrafrecht. Datenquellen: PKS und StVStat bzw. RegKrimDa

16

Möchte man den Erwartungswert einer Haftstrafe berechnen, so sind neben Aufklärungs-,

Anklage- und Verurteilungsquote auch noch die Wahrscheinlichkeit der Inhaftierung und das

ausgesprochene Strafmaß zu beachten (siehe hierzu Tabelle 2). Im Falle der gefährlichen

Körperverletzung ist der Anteil der Verurteilten mit einer Haftstrafe ohne Bewährung eher die

Ausnahme. Die Inhaftierungsquote (Erwachsenenstrafrecht) lag zwischen 1977 und 1997 bei

ca. 10% bis 11%, sie ist aber in der Periode 1998/2001 auf 14.7% angestiegen. Schwerer

Diebstahl wird offensichtlich rigoroser gehandhabt, die Anteile sind jedoch zwischen 1977

und 1997 von ca. 41% auf ca. 32% gefallen. Auch hier ist ab 1998/2001 mit dem

Wiederanstieg auf 36.3% eventuell eine Umkehr in der Rechtsauslegung der Richter zu

beobachten.

Spiegelbildlich zu der Entwicklung der Inhaftierungsquote verlaufen die Bewährungs- und

Geldstrafenquoten (die Anteile addieren sich zu 100%). Das Prinzip der Haftvermeidung

führt bei der schweren und gefährlichen Körperverletzung zu stark ansteigenden

Bewährungsquoten, bei Diebstahl wurde der Rückgang der Inhaftierungsquote eher durch

einen Anstieg bei der Geldstrafenquote kompensiert.

3.2.2. Anpassung an veränderte Altersstrukturen und die Gegenüberstellung von Bestrafungsquoten und Kriminalitätsraten

Möchte man Strafverfolgungsindikatoren wie Aufklärungsquote, Einstellungsquote,

Verurteilungsquote oder Strafmaße auf ihre Kriminalität reduzierende Wirkung hin

überprüfen, so muss grundsätzlich versucht werden, den altersspezifischen Wirkungen auch

altersspezifische Ursachen gegenüber zu stellen. Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, sind

demografische Entwicklungen bei der Auswertung der Kriminalstatistiken zu berücksichtigen.

Insbesondere ist zu beachten, dass der Anteil der aktiven Bevölkerung an der

Gesamtbevölkerung schrumpft, was sowohl für das „normale“ Erwerbsleben als auch die

kriminell aktiven Lebensabschnitte relevant ist. So zeigen Zahlen des BKA (2004), dass z.B.

im Jahre 2003 nur 6,3% der Tatverdächtigen 60 Jahre oder älter waren, während im Vergleich

dazu allein auf die 21- und 22-Jährigen 6,4% aller Tatverdächtigen entfielen. Im langfristigen

Vergleich ist der Anteil der jungen Bevölkerung unter 20 im Vergleich zu der Bevölkerung

zwischen 20 und 65 zwischen 1970 und 2005 von 53% auf gerade mal 33% zurückgegangen,

während gleichzeitig der Anteil der Alten mit mehr als 65 Lebensjahren an der aktiven

Bevölkerung zwischen 20 und 65 von 25% auf 32% gestiegen ist (Statistisches Bundesamt

2006). Diese demographischen Entwicklungen bedeuten, dass die klassischen

Kriminalitätsbelastungsziffern, die sich an der Anzahl der Straftaten je 100.000 Einwohner

17

(aller Altersschichten) orientieren, das wahre Ausmaß der Kriminalität der aktiven

Bevölkerung unterschätzen. Wenn man sich also ausschließlich an den absoluten Fallzahlen

der durch 18 bis 21 Jährigen verübten Kriminalität oder am Anteil der 18-21-jährigen an der

Gesamtzahl der Tatverdächtigen orientiert, so verkennt man wegen des geringer werdenden

Anteils der Heranwachsenden an der Gesamtbevölkerung eine steigende Kriminalität dieser

Altersgruppe. Weiter unten werden der Effekt dieser Zählweise und die Wirkung einer

demografischen Korrektur demonstriert.

In der empirischen Analyse dieser Arbeit soll daher im Unterschied zu bestehenden

Auswertungen und Analysen versucht werden, die sich verändernde Altersstruktur zu

berücksichtigen. Da ein großer Anteil der Straftaten im Dunkelfeld verbleibt und die Täter

und damit auch ihr Alter unbekannt bleiben, gelingt dieses Vorhaben nur unter der Annahme,

dass sich die Altersstruktur der bekannt gewordenen Täter nicht von der Altersstruktur der

unerkannt gebliebenen Täter unterscheidet. Hier könnte es z.B. bildungsbedingte

Verzerrungen geben; da jedoch jede Mutmaßung darüber spekulativ ist und weitere

Hintergründe nicht quantifizierbar sind, verwenden wir in der RegKrimDa folgende

Transformation, um Straftaten je 100.000 Personen der gleichen Altersgruppe zu berechnen:

(3.1) .(1/ ) ( / ) 100 000cast cst ast cast cstO FÄLLE PS SP SP= × × × ,

wobei FÄLLE die Anzahl der Straftaten, SP die Anzahl der Tatverdächtigen und PS die

Größe der Bevölkerung darstellen. Die Indizes charakterisieren die Straftatenkategorie (c), die

Altersgruppe (a) und das Jahr (t).

Besondere Beachtung erfahren aus den erwähnten Vergleichbarkeitsgründen zum einen die

Gruppe der 21 bis 60 jährigen Erwachsenen, und zum anderen - wegen der spezifischen

rechtlichen Grundlagen - die Gruppen 14 bis 18 (Jugendstrafrecht) und 18 bis 21

(„Heranwachsende“). Letztere steht im Mittelpunkt dieser Arbeit.

Der nachfolgenden zusammenfassenden Darstellung der langfristigen Tendenzen der

Strafverfolgung sowie der zugehörigen Kriminalitätsentwicklung liegt die Altersabgrenzung

21 bis 60 zugrunde. Um eine erste (rein deskriptive) Evidenz hinsichtlich der Wirkung von

Entscheidungen der wichtigsten Institutionen des Strafprozesses, also von Staatsanwaltschaft

und Richtern, ableiten zu können, wird die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung bei

gegebener Entdeckung durch die Polizei – also das Produkt aus Anklagequote und

Verurteilungsquote – dem jeweiligen Aufkommen an Kriminalität gegenübergestellt. Das

Produkt sei im Folgenden als Strafquote definiert, die für die wichtigsten Deliktgruppen

18

„Mord und Totschlag“, „Diebstahl unter erschwerenden Umständen“ (schwerer Diebstahl),

„Diebstahl ohne erschwerende Umstände“ (leichter Diebstahl), „Vergewaltigung und sexuelle

Nötigung“, „Raub“ sowie „schwere und gefährliche Körperverletzung“ berechnet und mit der

jeweiligen Kriminalitätsbelastung verglichen wird.

Schaubild 5: Richtung und Entwicklung von Kriminalitäts- und Strafquoten, Darstellung von Wachstumsraten zwischen 1977-1990 und 1991-2001

Anmerkung: Die Ordinate zeigt die Wachstumsrate (in Anteilschreibweise) der jeweiligen Delikte, die Abzisse die zugehörige Veränderungsrate der Strafquote (Verurteilungen/Tatverdächtige). Wachstumsraten messen die Veränderung der durchschnittlichen Niveaus der Zeitperioden 1977 - 1990 gegenüber der Periode 1991 – 2001; siehe den Text für weitere Einzelheiten.

Das Diagramm (Schaubild 5) zeigt Richtung und Stärke der Veränderungen des jeweiligen

Durchschnittswertes 1991 – 2001 gegenüber dem Durchschnittswert 1977 – 1990. Die

.0 -.1 -.2 .1

.4

.3

.2

.1

-.1

.0

-.2

Wachstum der Strafquote

Mord / Totschl.

Raub

Schw. Diebstahl

Leicht. Diebst.

Körperverletzung

Vergewaltigung

19

Koordinaten (0,0) repräsentieren die Ausgangssituation, d.h. die Situation der Jahre 1977 bis

1990. Die Endpositionen der Pfeile zeigen die Wachstumsraten zwischen der ersten und

zweiten Periode an. Raub ist beispielsweise um 37% angewachsen, während die zugehörige

Bestrafungsquote um 10 % (nicht gemeint: Prozentpunkte) gefallen ist. Das negative

Vorzeichen steht im Einklang mit der Abschreckungshypothese bzw. der Hypothese negativer

Generalprävention, wonach eine höhere Strafwahrscheinlichkeit mit einer Reduktion der

Kriminalität assoziiert ist. Gleichfalls damit im Einklang stehen die Entwicklungen für

Diebstahl, Körperverletzung und Mord/ Totschlag. Ein Widerspruch ergibt sich lediglich für

Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (sowohl Bestrafungswahrscheinlichkeit als auch

Fallzahlen gehen über diese lange Frist betrachtet zurück). Natürlich handelt es sich um eine

vorläufige Darstellung, in der Drittfaktoren wie regional ungleich verteilte Arbeitslosigkeit

usw. vernachlässigt werden. Allerdings sind aus den angegebenen Gründen demografische

Faktoren berücksichtigt.

3.3. Sanktionierungspraxis im föderalen Wettbewerb

3.3.1. Erwartungswerte von Haftstrafen im Erwachsenenstrafrecht: Bayern und Schleswig-Holstein im Vergleich

Beim Vergleich der Bundesländer steht die Kriminalpolitik Schleswig-Holsteins für eine

aktive Verfolgung des Ziels der Diversion und der Haftvermeidung, während andererseits

Bayern eine eher konservative „süddeutsche“ Kriminalpolitik repräsentiert, wie man sie

ähnlich auch in Baden-Württemberg verfolgt. Um die Auswirkungen der Landespolitik und

regionaler Rechtsauffassungen für die Strafrechtspraxis aufzuzeigen, werden in Tabelle 2 die

Entwicklungen in Bayern und Schleswig-Holstein gegenübergestellt und miteinander

verglichen. Dazu werden die Indikatoren Strafquote (Anklagequote x Verurteilungsquote),

Inhaftierungsquote und Erwartete Länge der Haftstrafe aufgelistet. Letztere berechnet sich

aus dem Produkt der Quoten von Aufklärung, Aburteilung, Verurteilung sowie des

Strafmaßes (Länge in Monaten) der nicht zur Bewährung ausgesetzten Haftstrafen.10

10 Entorf und Spengler (2008) zeigen, dass die durchschnittliche Haftlänge im Bundesmittel relativ konstant geblieben ist, und sich für Vergewaltigung (34 Monate als Durchschnitt der Jahre 1977 bis 1984, 46 Monate als Durchschnitt der Jahre 1994 – 2001) und schwere Körperverletzung (von 13 auf 17 Monate) sogar eine Erhöhung – bei allerdings deutlich geringerer Bestrafungswahrscheinlichkeit – zu beobachten ist. Bei schwerem Diebstahl schwankt die Quote zwischen 15 und 16 Monaten.

20

Tabelle 2: Der diskretionäre Spielraum der föderalen Sanktionierungspraxis am Beispiel der Bundesländer Bayern und Schleswig-Holstein

Bayern Schleswig-Holstein

1977-1990 1991-2001 1977-1990 1991-2001

Mord/ Totschlag 28.0 28.0 23.0 27.4

Vergewaltigung und sexuelle Nötigung 29.7 28.8 24.3 21.1

Raub 29.3 29.1 30.8 25.6

Gefährliche Körperverletzung 19.5 19.7 19.4 14.2

Leichter Diebstahl 37.0 38.1 46.4 26.4

S t r a f q u o t e

Schwerer Diebstahl 35.9 31.6 43.5 27.0

Mord/ Totschlag 93.8 93.4 93.1 95.1

Vergewaltigung und sexuelle Nötigung 60.3 55.0 54.0 49.5

Raub 72.6 63.5 64.2 48.0

Gefährliche Körperverletzung 12.0 14.0 10.4 10.6

Leichter Diebstahl 8.6 7.2 3.8 2.8 I n h a f t i e r u n g s q u o t e

Schwerer Diebstahl 44.2 35.2 32.7 25.2

Mord/ Totschlag 23.2 25.4 19.6 24.5

Vergewaltigung und sexuelle Nötigung 5.1 5.7 3.0 3.1

Raub 5.4 4.9 4.3 2.4

Gefährliche Körperverletzung 0.26 0.40 0.23 0.20

Leichter Diebstahl 0.10 0.08 0.05 0.02

E r w a r t e t e H

a f t l ä n g e

Schwerer Diebstahl 0.58 0.41 0.38 0.13

Anmerkungen: Die ausgewiesenen Anteile wurden für Veränderungen der Altersstruktur der länderspezifischen Wohnbevölkerung korrigiert. Die Anteile beziehen sich auf die Gruppe der 21 bis 60 jährigen Erwachsenen und geben Durchschnittswerte der betrachteten Zeitperioden wieder. Siehe den Text für weitere Details.

21

Tabelle 2 zeigt, dass die deutlichsten Unterschiede zwischen den Ländern bei

Körperverletzung und Diebstahlsdelikten auftreten. Während vor 1990 die

Bestrafungswahrscheinlichkeiten für Körperverletzung in beiden Ländern noch ungefähr

gleich hoch und für Diebstahl in Schleswig-Holstein sogar höher waren, zeigt sich in der

zweiten Beobachtungshälfte ein sehr stark verändertes Bild. Die Wahrscheinlichkeit der

Verurteilung sinkt in Schleswig-Holstein bei gefährlicher Körperverletzung von 19,4% auf

14,2%, bei schwerem Diebstahl von 43,5% auf 27% und bei leichtem Diebstahl gar von

46,4% auf 26,4%. Gleichzeitig steigt in Bayern die Bestrafungswahrscheinlichkeit bei

Körperverletzung von 19,5% auf 19,7%, bei leichtem Diebstahl von 37% auf 38,1% und nur

bei schwerem Diebstahl sinkt die Quote, aber ungleich geringer als in Schleswig-Holstein,

nämlich von 35,9% auf 31,6%.

Auch generell zeigt sich für die verbleibenden Deliktgruppen, dass während der Zeitperiode

1991 – 2001 alle Strafquoten Bayerns über denen von Schleswig-Holstein liegen. Wie Tabelle

1 zu entnehmen ist, beruhen diese Unterschiede hauptsächlich auf dem Nord-Südgefälle der

Einstellungsquoten der Staatsanwälte. Jedoch ist offensichtlich auch das Verhalten der Richter

bundeslandspezifisch. Wie anhand der Inhaftierungsquote zu sehen ist, sprechen bayrische

Richter einen höheren Anteil von Haftstrafen ohne Bewährung aus als die Kollegen aus

Schleswig-Holstein. Eine Ausnahme ist (bei sehr geringfügigen Differenzen) Mord/

Totschlag, wo naturgemäß Bewährungsstrafen seltene Ausnahmen darstellen. Die Tendenz

Schleswig-Holsteiner Richter, Täter vor einer Haft zu bewahren, führt zu teilweise sehr

drastischen Unterschieden. So bekommen beispielsweise 63,5% der wegen Raub verurteilten

Täter in Bayern eine Haftstrafe ohne Bewährung, in Schleswig-Holstein sind dies jedoch nur

48%.

Entsprechend dieser Vorgaben verwundert nicht, dass auch der mathematische

Erwartungswert der Haftlängen erheblich differiert. Mit Ausnahme von Mord/ Totschlag ist in

Bayern die Mehrzahl der erwarteten Haftstrafen für Täter (deren Tat polizeilich registriert

wurde) mindestens doppelt so lang. Während beispielsweise in Bayern „Räuber“ bei

Beachtung aller Haftvermeidungsmöglichkeiten letztendlich eine Inhaftierung mit einer Dauer

von 4,9 Monaten zu befürchten haben, droht in Schleswig-Holstein das vergleichsweise

deutlich geringere Strafleid, nämlich nur 2,4 Monate (Zahlen basieren auf der Periode

1991/2001). Bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung ist der Unterschied 5,7 Monate zu

22

3,1 Monate.11 Erwartete Strafen für “Gefährliche und schwere Körperverletzung” sowie für

Diebstahlsdelikte liegen im Tagesbereich. Schwerer Diebstahl bringt letztlich in Schleswig -

Holstein das Risiko einer sechstägigen Haftstrafe mit sich (0,20*30 Tage, Bayern: 12 Tage),

und die Schleswig-Holsteiner Erwartungswerte für schweren und leichten Diebstahl lauten 4

und 0,6 Tage (Bayern: 12 und 2,4 Tage).

Zusammenfassend ergeben sich überraschend starke regionale Unterschiede, die sich anhand

der deutlichen Differenz der mathematischen Erwartungswerte der Straflänge festmachen

lassen. Die Ursache dafür ist vor allem in der regional divergierenden Rechtsauslegung von

Staatsanwälten und Richtern zu finden. Gerade bei den vergleichsweise geringfügigen

Delikten wie dem Diebstahl sind sehr unterschiedliche Tendenzen zwischen den betrachteten

Ländern auszumachen, aber auch die gefährliche Körperverletzung wird in Schleswig-

Holstein (im Gegensatz zu Bayern) milder behandelt als dies noch vor 1990 der Fall war.

3.3.2. „Gefährliche und schwere Körperverletzung“ im Erwachsenenstrafrecht: Vergleich von Fallzahlen und Strafquoten

Der anhaltende Aufwärtstrend bei der Gewaltkriminalität12 legt die Frage nahe, wie sich

gerade bei diesem Delikttyp die unterschiedlichen Strategien der Kriminalitätsbekämpfung

auswirken. Wie im vorherigen Abschnitt festgestellt, macht sich die landesspezifische

Rechtspraxis hauptsächlich an der Bestrafungswahrscheinlichkeit fest, also an dem Anteil von

Verurteilten je 100 Tatverdächtigen bzw. dem Produkt von Anklagequote und

Verurteilungsquote. Diese im Wesentlichen von der Staatsanwaltschaft getriebene Statistik ist

für gefährliche Körperverletzung im Raum Westdeutschlands im Zeitraum 1985 bis 2001

relativ stabil geblieben. In der zunächst betrachteten Gruppe der Erwachsenen (begrenzt auf

21 bis 60 Jahre) ist ein leichter Rückgang von ca. 18% im Jahre 1985 auf 17% im Jahre 2001

zu verzeichnen. Es gibt jedoch klare Abweichungen von der allgemeinen durchschnittlichen

Entwicklung sowohl nach oben als auch unten. Die deutlichste Abweichung ist in Schleswig-

Holstein zu beobachten, wo zeitgleich ein Rückgang um rund 5 Prozentpunkte (von rund 19%

auf ca. 14%) stattfand. Gleichfalls deutlich rückläufig war auch der Anteil der Verurteilungen 11 Ein Grund für die sehr niedrigen Erwartungswerte bei Vergewaltigung liegt in der geringen Bestrafungswahrscheinlichkeit (siehe den obigen Teil der Tabelle 2), bzw. der Einstellung durch Staatsanwälte. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die geringen Quoten durch „Umdefinitionen“ begünstigt werden, wonach ein ursächlich von der Polizei als „Vergewaltigung“ zu den Akten genommener Fall im Laufe der staatsanwaltlichen Ermittlung heruntergestuft und z.B. „lediglich“ als sexuelle Belästigung weiter behandelt wird. Derartige statistische Erfassungsprobleme sind im bestehenden System unvermeidbar und wären nur durch die Einführung von ID-verknüpften Paneldaten zu beheben. 12 Die Zahl der in Deutschland erfassten Fälle von „gefährlicher und schwerer Körperverletzung“ ist von ca. 87 Tsd. im Jahre 1993 auf ca. 150 Tsd. im Jahre 2006 gestiegen (PKS 2007, S. 148)

23

in Nordrhein-Westfalen (von 17% auf 14%). Dem stehen nicht unerwartet Bayern (Anstieg

von 20% auf 21%) und Baden-Württemberg (sehr leichter Rückgang auf hohem Niveau von

21% auf 20%) gegenüber.

Um den Vergleich der Entwicklung von Kriminalität und der Wahrscheinlichkeit der

Bestrafung durch Staatsanwaltschaft und Richter nicht durch unterschiedliche

Anfangsniveaus zu erschweren, werden in der folgenden grafischen Analyse sowohl der

Strafverfolgungsindikator als auch die Fallzahlen der Körperverletzung (hier Fälle je 100.000

Einwohner der Altersgruppe 21 bis 60) für das Jahr 1985 auf den Anfangswert „100“

normiert. Schaubild 6 zeigt die zeitlichen Entwicklungen, wobei zwecks Vergleichbarkeit alle

Grafiken identische Minima und Maxima aufweisen. Die Entwicklung der Körperverletzung

nimmt insbesondere da zu, wo starke Diversions- und Haftvermeidungsstrategien gefahren

werden, also in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. In diesen Ländern verlaufen

Bestrafungswahrscheinlichkeit und Kriminalitätsbelastung in entgegen gesetzte Richtungen.

In Baden-Württemberg und Bayern sind die Kurven nach oben und unten weniger stark

ausgeprägt, jedoch ist auch hier eine negative Korrelation unverkennbar, wobei lediglich die

bayrischen Kriminalitätszahlen - trotz einer erhöhten Verurteilung von Verdächtigen ab ca.

1993 - nicht zurückgehen. Es ist allerdings zu beachten, dass bei Betrachtung der absoluten

Zahlen die Fallzahl Bayerns im Jahre 2001 immer noch die niedrigste unter allen

Bundesländern ist.

3.3.3. „Gefährliche und schwere Körperverletzung“ bei Heranwachsenden: Tatverdächtigenentwicklung und Anwendung des Erwachsenenstrafrechts im Bundesländervergleich

Die zunehmende Gewaltkriminalität junger Männer steht in der öffentlichen Diskussion

besonders im Vordergrund. „Heranwachsende“ im Alter zwischen 18 und 21 stellen 17,2%

der Tatverdächtigen (PKS 2007, S. 149), aber nur ca. 3,2% der Bevölkerung. Die sich

stellende Frage ist, ob sich die regional unterschiedliche strafrechtliche Behandlung der 18 bis

21 jährigen – also stärkere oder geringere Anwendung des Erwachsenenstrafrechts anstelle

des in der Regel favorisierten Jugendstrafrechts – auf die Gewaltkriminalität auswirkt.

Schaubild 7 zeigt, dass für die vier ausgewählten Länder sehr unterschiedliche Verläufe

vorliegen. Wie vermutet, liegt Schleswig-Holstein in der Anwendung des

Erwachsenenstrafrechts sehr weit hinten. Im Jahre 2000 wurden sogar alle (100%) 18 bis 21

Jährigen nach dem Jugendstrafrecht verurteilt. Auch in allen anderen Bundesländern ist eine

24

Schaubild 6: „Gefährliche und schwere Körperverletzung“ im Erwachsenenstrafrecht: Vergleich von Fallzahlen und Strafquoten in ausgewählten Bundesländern

60

70

80

90

100

110

120

130

86 88 90 92 94 96 98 00

BADEN-WÜRTEMBERG

60

70

80

90

100

110

120

130

86 88 90 92 94 96 98 00

BAYERN

60

70

80

90

100

110

120

130

86 88 90 92 94 96 98 00

NORDRHEIN-WESTFALEN

60

70

80

90

100

110

120

130

86 88 90 92 94 96 98 00

SCHLESWIG-HOLSTEIN

Anmerkungen: Darstellung der Fälle je 100.000 Einwohner (rot) und der Strafquoten (blau), 1985 = 100; Datenquelle: RegKrimDa bzw. PKS

25

zunehmende Tendenz zur Anwendung des Jugendstrafrechts unverkennbar. Nachdem Baden-

Württemberg zunächst bis zur Mitte der 90er Jahre an einer teilweisen Anwendung des

Erwachsenenstrafrechts festhielt (noch 29% im Jahre 1995), sich dann aber verstärkt der

Anwendung des Jugendstrafrechts zuwandte, ist Nordrhein-Westfalen am Ende der

Untersuchungsperiode das Bundesland mit dem höchsten Verurteilungsanteil nach

Erwachsenenstrafrecht (10,9%).

Schaubild 7: Anteil der Heranwachsenden, der nach Erwachsenenstrafrechts wegen „gefährlicher Körperverletzung“ verurteilt wird

.0

.1

.2

.3

.4

.5

1980 1985 1990 1995 2000

BAWBAY

NRWSHO

Daten: RegKrimDa

Die Gegenüberstellung mit Kriminalität wird zum einen durch ein unbekanntes Dunkelfeld

erschwert. Zum anderen könnte es Drittfaktoren wie Arbeitslosigkeit, relative Armut oder

ähnliches geben, die temporäre Sonderbewegungen in den Kriminalitätsraten verursachen.

Diese Problematik lässt sich zumindest teilweise beheben, in dem man den Anteil der 18 bis

21 jährigen Tatverdächtigen an allen Tatverdächtigen betrachtet, da auf diese Weise

gemeinsame Einflussfaktoren Zähler und Nenner gleichermaßen betreffen und sich

herauskürzen würden. Klar ist allerdings, dass es altersspezifische Einflussfaktoren geben

26

kann, die auf diese einfache Weise nicht berücksichtigt werden. Ungeachtet dieser

Problematik sehen wir in Schaubild 8, dass ab Mitte der 80er Jahre Schleswig-Holstein

durchgehend mit dem höchsten Anteil von 18 bis 21 jährigen an den tatverdächtigen

Gewalttätern konfrontiert ist. Die rasanteste Aufholjagd ist in Baden-Württemberg zu

beobachten, das 1994 noch den geringsten Anteil von Heranwachsenden unter den

Tatverdächtigen hatte, im Jahre 2001 aber auf den zweiten Platz hinter Schleswig-Holsein

gerückt ist – was einer spiegelbildlichen Bewegung zu der Heranziehung des

Erwachsenenstrafrechts entspricht. Nordrhein-Westfalen, das in Schaubild 7 durch die relativ

zurückhaltende Anwendung des Jugendstrafrechts auffällt, stellt am Ende der Periode den

kleinsten Anteil von Heranwachsenden (14,8%) unter den Tatverdächtigen.

Schaubild 8: Anteil von 18 bis 21 jährigen an der Menge aller Personen mit Tatverdacht „Gefährliche und schwere Körperverletzung“

.13

.14

.15

.16

.17

.18

.19

.20

.21

1980 1985 1990 1995 2000

BAWBAY

NRWSHO

Auffällig – und auf den ersten Blick scheinbar im Widerspruch zu der Hypothese der

Abschreckung durch Anwendung des härteren Erwachsenenstrafrechts stehend – ist jedoch

der insgesamt gesehen eher fallende, leicht sinusförmige Verlauf der Kurven in Schaubild 8.

Bisher ist jedoch der demographischen Wandel unberücksichtigt geblieben, der den Anteil der

jungen Bevölkerung schrumpfen lässt. Vergleicht man den Anteil der Altersgruppe der 18 bis

21-jährigen Wohnbevölkerung an der Gesamtbevölkerung der jeweiligen Bundesländer

27

(Schaubild 9), so erkennt man infolge der Präsenz der geburtenstarken Jahrgänge zunächst

einen leichten Anstieg bis zum Anfang der 80er Jahre, danach aber eine sehr schnelle und

sehr deutliche Absenkung des Anteils der Heranwachsendenaltersgruppe, der dann ab seit ca.

1993 nur unwesentlich variiert. Es ist mit Hilfe dieser zusätzlichen Information unschwer zu

erkennen, dass der zunächst unerwartete Rückgang des Anteils der 18 bis 21 jährigen

Tatverdächtigen an allen Tatverdächtigen zwischen dem Anfang der 80er Jahre und dem

Anfang der 90er Jahre tatsächlich demografisch bedingt ist.

Schaubild 9: Anteil der Altersgruppe der 18 bis 21 –jährigen an der Gesamtbevölkerung

.025

.030

.035

.040

.045

.050

.055

1980 1985 1990 1995 2000

BAWBAY

NRWSHO

In Schaubild 10 wird daher der Tatverdächtigenanteil der Heranwachsenden demografisch

bereinigt. Entsprechend des weiter oben erwähnten Verhältnisses von Täteranteil zu

Bevölkerungsanteil (17,2% zu 3,2%) wird der Quotient aus beiden Größen gebildet, so dass

Schaubild 10 ausdrückt, wie viel Prozent der Körperverletzungsdelikte auf ein Prozent der 18

bis 21 jährigen Bevölkerung entfällt. Klar erkennbar steigt, anders als noch in Schaubild 8

suggeriert, seit Mitte der 80er Jahre der von Heranwachsenden zu verantwortenden Anteil an

der Gesamtheit der gefährlichen Körperverletzungen an. In Schleswig-Holstein kommen im

Jahre 2001 auf ein Prozent der 18 bis 21 jährigen ca. 6% aller Tatverdächtigen. An der

grundsätzlichen Reihenfolge der Länder und an den sonstigen Beobachtungen ändert sich

gegenüber Schaubild 8 wenig. Nordrhein-Westfalen, also das Land mit eher zurückhaltender

28

Tendenz bei der Anwendung des Jugendstrafrechts, ist demnach das einzige Land, das den

allgemeinen Aufwärtstrend gestoppt hat und seit dem Anfang der 90er Jahre eine konstante

bis leicht rückläufige Belastung durch Heranwachsendenkriminalität zu verzeichnen hat.

Klarer Ausreißer nach oben, besonders seit ca. 1992, ist mit kurzzeitiger Ausnahme

Schleswig-Holstein, also das Land, in dem die Anwendung des Jugendstrafrechts besonders

konsequent gehandhabt wird.

Schaubild 10: Prozentzahl „schwere Körperverletzung“ durch Heranwachsende pro Prozent Heranwachsende

3.0

3.5

4.0

4.5

5.0

5.5

6.0

6.5

1980 1985 1990 1995 2000

BAWBAY

NRWSHO

Anmerkung: Berechnung als „Tatverdächtigenanteil der 18 bis 21 jährigen an allen Tatverdächtigen / Bevölkerungsanteil der 18-21 jährigen“ .

Es bleibt die Frage, ob die unbereinigte Entwicklung des Anteils der Heranwachsenden an

allen Tatverdächtigen nicht schon allein durch die demografische Entwicklung erklärt werden

kann, so dass die Anwendung des Erwachsenstrafrechts keine zusätzliche Erklärungskraft

mehr besitzt. Um diese Frage in dem bisherigen einfachen deskriptiven Rahmen zu

hinterfragen, wird mit Hilfe der „Methode der kleinsten Quadrate“ eine lineare Regression

durchgeführt, in der die abhängige Variable die Prozentzahl von heranwachsenden

29

tatverdächtigen Gewalttätern je Prozent der 18 bis 21 jährigen Bevölkerung ist

(TV_BELAST, siehe Schaubild 10), und die erklärenden Variable durch den Anteil der

Verurteilungen von Heranwachsenden bei Anwendung des Erwachsenenstrafrechts an allen

Verurteilungen von Heranwachsenden (ERWA) gebildet wird (siehe die Darstellung der

Zeitreihe in Schaubild 7). Das Regressionsergebnis („Pooled OLS“ von 4 Bundesländern,

1977 – 2001, d.h. 100 Beobachtungen) lautet (t-Werte in Klammern)

(3.2) (42,6) (6.7)

_ 4,719 3,76TV BELAST ERWA= − , R-quadrat = 0.313.

Mit einem t-Wert von 6.7 wird ein statistisch hochsignifikanter „abschreckender“ Einfluss der

Anwendung des Erwachsenenstrafrechts bestätigt. Der Koeffizient von -3,7 ist am besten an

anhand von Durchschnittswerten des Beobachtungszeitraums zu interpretieren. Eine

Erhöhung der Anwendung des Erwachsenenstrafrechts um 10 Prozentpunkte (also z.B. von

15% auf 25%) würde demnach einen durchschnittlichen Rückgang der

Tatverdächtigenbelastung um 0.37 bewirken. Es ist jedoch zu beachten, dass dieses Ergebnis

nur vorläufig und im Rahmen der deskriptiven Analyse dieses Abschnitts zu interpretieren ist.

Tiefergehende Analysen und Erweiterungen sind erforderlich. Eine Sensitivitätsanalyse allein

mit Daten aus Schleswig-Holstein ergab beispielsweise einen Schätzparameter von -5.9 (statt

-3.7), d.h. eine noch stärkere Reduktion der Kriminalitätsbelastung bei Veränderung des

Verhaltens der Richter.

4. Ökonometrische Evidenz und Effizienzüberlegungen Das in Kapitel 2 vorgestellte Modell macht Vorhersagen über die Wirkung von

Verurteilungen, Haftvermeidungsstrategien und von Haftstrafen. Es führt zu folgender

generalisierten Schätzgleichung einer “Supply of Offences” im Sinne von Becker (1968) und

Ehrlich (1973), wobei die in Kapitel 2 hergeleiteten modellkonsistenten Vorzeichen der

erklärenden Strafverfolgungsindikatoren in Klammern stehen:

(4.1) ( ) ( )( )

| |

( ) ( ) ( )( )

, (1 ) , ,( , , )b

s c s c L t L t Xp pO f p F−

− + −−

− −=l l14243

Die empirische Analyse nutzt die Variation der Kriminalität und der Strafverfolgungspraxis

im Zeitraum 1977–2001 in und zwischen den 11 alten Bundesländern, um die Gültigkeit der

Abschreckungshypothese für das Delikt Gefährliche und schwere Körperverletzung von

Heranwachsenden zu überprüfen. Bundesländerdaten sind für dieses Vorhaben deshalb sehr

30

gut geeignet, weil das deutsche Strafverfolgungssystem im Wesentlichen auf der Ebene dieser

Gebietskörperschaften verankert ist und möglicherweise auch deshalb - trotz der Existenz

bundeseinheitlicher Strafgesetze - die in der vorstehenden deskriptiven Analyse aufgezeigten

regionalen Besonderheiten entwickelt hat. Wie in den vorhergehenden deskriptiven Kapiteln

dargelegt, erfolgt die Identifikation der Altersgruppe über den Anteil der 18 bis 21 jährigen an

allen Tatverdächtigen. Die genaue Bestimmung der Fallzahlen erfolgt über die Formel (3.1).

Bei der Analyse des Verhaltens der Gruppe der Heranwachsenden stellt sich die Frage,

welches Strafrechtssystem den ökonometrischen Schätzungen zugrunde zu legen ist, bzw.

welches System eher für Heranwachsende relevant ist, das Erwachsenenstrafrecht oder das

Jugendstrafrecht. Angesichts eines deutlich überwiegenden Anteils von auf dem

Jugendstrafrecht beruhenden Urteilen (siehe Kapitel 3) fällt die Entscheidung klar zugunsten

eines Tests aus, der die Wirksamkeit des Jugendstrafrechts überprüft. Entsprechend stehen

folgende erklärenden Variablen im Mittelpunkt des Interesses, die – mit Ausnahme der

allgemein gültigen Aufklärungsquote – sich sämtlich auf Anwendung des Jugendstrafrechts

beziehen:

• Aufklärungsquote = aufgeklärte Fälle insgesamt / registrierte Fälle insgesamt

• Strafquote = Verurteilte / Tatverdächtige

• Jugendhaftquote = zu nicht ausgesetzten Haftstrafen Verurteilte / Verurteilte

• Bewährungsquote = zu ausgesetzten Haftstrafen Verurteilte / Verurteilte

• Zuchtmittelquote = zu Zuchtmitteln [als schwerste Strafe] Verurteilte / Verurteilte

• Erziehungsmaßregelquote = zu E. [als schwerste Strafe] Verurteilte / Verurteilte

• Durchschnittliche Haftlänge nicht ausgesetzter Jugendstrafen von Verurteilten

Wie in Kapitel 3 gesehen, verdient die Variation der Anwendung des Erwachsenstrafrechts

über die Zeit und über die Bundesländer hinweg besondere Aufmerksamkeit. Diese Variable

wird daher ebenfalls in die Menge der erklärenden Variablen aufgenommen:

• Anteil der nach Erwachsenenstrafrecht verurteilten 18 bis 21 jährigen Straftäter

Im Rahmen der multivariaten Analysen werden Regressionen der Kriminalitätsrate auf

sämtliche aufgeführten Strafverfolgungsindikatoren und einige zusätzliche erklärende

Variablen - reales Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Preisen von 1995, Arbeitslosenquote und

Anteil Migranten in den Bundesländern - durchgeführt, welche die legalen und illegalen

Einkommensmöglichkeiten abbilden (zur theoretischen Fundierung dieser Variablen siehe

z.B. Ehrlich, 1973, Entorf und Spengler, 2002).

31

Tabelle 3 stellt Regressionen für sechs verschiedene Modelle vor. Die Panelstruktur des

Datensatzes - es werden 11 Bundesländer über einen Zeitraum von 25 Jahren beobachtet13 -

erlaubt es unbeobachtete Heterogenität der Bundesländer zu kontrollieren, die z.B. in der

Grundeinstellung der Landesbevölkerung zu illegalem Handeln oder in nicht vollständig

erfassten Besonderheiten der Strafverfolgungssysteme der Länder, also insbesondere in

unterschiedlichen Niveaus der Dunkelziffern, bestehen könnte. Darüber hinaus kann es wegen

zeitlich unterschiedlicher Erfassungsmethoden von Jahr zu Jahr rein definitorisch bedingte

Sprünge in der Zeitreihenentwicklung geben, die statistische Artefakte darstellen, aber nicht

in einer wahren Veränderung von Kriminalität beruhen. Diese Probleme sind zu

berücksichtigen und führen zu einem Panelmodell unter Berücksichtigung von festen Länder-

und Jahreseffekten. Hierzu betrachten wir folgende Gleichung (siehe auch Entorf und Winker,

2008):

(4.2) * * *it i t it itO d O uη= ,

aus dem (4.3) *ln lnit it i t itO O d η ε= + + + folgt, wobei itO =Anzahl der bei der Polizei gemeldeten Straftaten in Bundesland i und Jahr t

*itO =wahre Anzahl der Straftaten in Bundesland i und Jahr t

*id = Anteil der bei der Polizei gemeldeten Straftaten in Bundesland i *tη = Anteil der bei der Polizei gemeldeten Straftaten im Jahr t

itu =Residualer Fehlerterm für Bundesland i und Jahr t

Damit ergibt sich die Notwendigkeit, ein ökonometrisches Modell mit unbeobachtbarer

Heterogenität zu schätzen, in dem möglichst sowohl Jahreseffekte als auch Bundeslandeffekte

berücksichtigt werden:

(4.4) 0 1 1ln( ) ... ,

Kit it Kit itO a a x a x e= + + + + wobei tit i itde η ε= + + .

Schätztechnisch erfolgt die Kontrolle unbeobachteter Heterogenität zunächst im Rahmen

eines Random-Effect-Modells, in dem stochastische Unabhängigkeit der länderspezifischen

Faktoren von den erklärenden Variablen vorausgesetzt wird und die Länderkomponente in das

Residuum integriert wird (siehe z.B. Wooldridge 2002). Dieses wird „RE + Zeit“ abgekürzt

um anzudeuten, dass – im Sinne von (4.4) - sowohl länder- als auch jahresspezifische Effekte

13 Einige fehlende und fehlerhafte Länderdaten führten – auch nach Konsultation des Statistischen Bundesamtes – dazu, dass die Schätzungen auf 265 (statt maximal möglicher 275) Beobachtungen beruhen.

32

berücksichtigt werden. Da die Annahme der stochastischen Unabhängigkeit recht streng ist,

wird diese Annahme durch die alternative Verwendung eines Fixed-Effects-Schätzers

gelockert, in dem die Ländereffekte als zusätzliche zeitkonstante Variablen in die Schätzung

eingehen. Entsprechend steht „FE + Zeit“ über den entsprechenden Spalten. Aus

Vergleichsgründen enthält die erste Spalte eine einfache Pooled-OLS-Schätzung, also ohne

jegliche Berücksichtigung unbeobachtbarer Heterogenität. Die drei Modelle kommen in zwei

Varianten zum Einsatz. In den Spalten (4) bis (6) fließt die Aufklärungsquote mit den Werten

des Vorjahres ein, um eine mögliche Wirkungsverzögerung zu berücksichtigen. Die

Ergebnisse ändern sich dadurch jedoch kaum.

Tabelle 3.: Ökonometrische Schätzung eines Rational-Choice-Modells für „Gefährliche und schwere Körperverletzung“ von Heranwachsenden

Gefährliche Körperverletzung von Heranwachsenden, 18 - 21

Erklärende Variablen OLS RE + Zeit FE + Zeit OLS RE + Zeit FE + Zeit

Aufklärungsquote -3,091** (0,389)

-4,283** (0,314)

-1,500** (0,304) - - –

Aufklärungsquote des Vorjahres - - - -3,146**

(0,408) -4,174** (0,325)

-1,532** (0,317)

Strafquote (Anklage x Verurteilung)

-2,083** (0,291)

-1,456** (0,226)

-0,739** (0,138)

-2,102** (0,292)

-1,457** (0,231)

-0,711** (0,141)

Anteil von Urteilen nach Erwachsenenstrafrecht

-0,377** (0,133)

-0,265** (0,094)

-0,293** (0,104)

-0,398** (0,139)

-0,282** (0,097)

-0,305** (0,107)

Jugendhaftquote -0,983 (0,551)

-0,902* (0,401)

-0,198 (0,239)

-1,025 (0,559)

-0,777 (0,409)

-0,069 (0,242)

Quote von Erziehungsmaßregel oder

Zuchtmittel -0,466 (0,285)

-0.713** (0,207)

-0,009 (0,156)

-0,439 (0,291)

-0,657** (0,213)

-0,004 (0,160)

ln(BIP_95) -0,256* (0,116)

-0,113 (0,084)

0,254 (0,163)

-0,254* (0,118)

-0,112 (0,086)

0,256 (0,165)

Arbeitslosenquote 3,019** (0,495)

3,325** (0,545)

-0,033 (0,650)

2,863** (0,516)

3,496** (0,560)

-0,236 (0,665)

Anteil Migranten 2,596** (0,711)

-0,214 (0,548)

-0,783 (0,717)

2,380** (0,737)

-0,235 (0,567)

-1,139 (0,757)

Berücksichtigung von Jahreseffekten Nein Ja Ja Nein Ja Ja

Berücksichtigung von Bundeslandeffekten Nein Nein Ja Nein Nein Ja

Anzahl der Beobachtungen 265 265 265 254 254 254

(Within) R2 0,765 0,835 0,920 0,763 0,826 0,916

Anmerkungen: Schätzungen auf der Grundlage der RegKrimDA. (Asymptotische) Standardfehler in Klammern; ’**’ und ‘*’ repräsentieren Signifikanz auf dem 1% bzw. 5% Niveau.

33

Wie die Schätzergebnisse zeigen, sind insbesondere die Aufklärungs- und die Strafquote

sowie die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts wichtige Kriminalität reduzierende

Faktoren; diese Indikatoren weisen über alle drei Modellspezifikationen hinweg

hochsignifikant negative Schätzkoeffizienten auf. Da die abhängige Variable eine

logarithmierte Größe ist und die Aufklärungs-, Straf- und Erwachsenstrafrechtsquote in nicht

logarithmierter Form einfließen, sind die Schätzkoeffizienten als „Semielastizitäten“ zu

interpretieren, die angeben, um wie viel Prozent sich die Kriminalitätsrate verändert, wenn der

jeweilige Indikator um einen Prozentpunkt (ungleich Prozent!) zunimmt. Z.B. würde gemäß

der RE-Schätzung in Spalte 2 eine Erhöhung der Strafquote um einen Prozentpunkt (also z.B.

von 15 auf 16) einen Rückgang der Zahl der gefährlichen Körperverletzungen um ca. 1,5%

bewirken.

Die hohe Signifikanz der Strafquote zeigt, dass vor allem die Tatsache einer tatsächlichen

Verurteilung (anstelle einer Einstellung) von Bedeutung ist. Betrachtet man die Art der

Verurteilung, so stehen im Datensatz vier Varianten zur Auswahl, die sich zu 100% ergänzen,

so dass aus Gründen der linearen Abhängigkeit auf eine der Kategorien in der Schätzung

verzichtet werden muss. Diese dient dann als Referenzkategorie, d.h. die Signifikanz der

verbleibenden Kategorien charakterisiert eine signifikante Abweichung von der

weggelassenen Variablen. In den Schätzungen wurden die Zuchtmittel und die

Erziehungsmaßregeln zu einer Kategorie zusammengefasst; der Anteil der Bewährungs-

strafen dient als Referenzkategorie. Die verbleibende, nunmehr dritte Kategorie besteht aus

dem Anteil an Verurteilungen, die mit einer tatsächlichen Inhaftierung, also in einer

Jugendstrafe ohne Bewährung, enden. Da „Bewährungsstrafe“ die Referenzkategorie ist,

deuten die durchgehend negativen Vorzeichen daraufhin, dass Inhaftierung und erzieherische

Maßnahmen tendenziell stärker abschreckend wirken als Bewährungsstrafe. Beachtet man die

statistische Signifikanz, so zeigt sich, dass insbesondere ein höherer Anteil an Urteilen mit

Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel als Alternative zur Bewährungsstrafe in Frage kommt

als ein höherer Anteil von Verurteilungen zu Jugendstrafe.

Im Übrigen führten Versuche, auch den Effekt der Länge der Jugendstrafe zu überprüfen, zu

durchgehend insignifikanten Resultaten, selbst bei Anwendung der OLS-Methode. Diese

Variable wurde daher nicht weiter beachtet und sämtliche Schätzungen wurden ohne die

somit redundante Variable durchgeführt (sie taucht also in Tabelle 3 nicht auf).

Vergleicht man die Spalten der Random-Effects-Schätzungen mit denen der Fixed-Effects-

Schätzungen, so fällt auf, dass die Einführung von Länderkonstanten die Effekte weniger

34

signifikant werden lässt. Dieses nicht unerwartete Ergebnis ist auf die Kolinearität mit

Variablen zurückzuführen, die im Zeitverlauf nur eine geringe Variation aufweisen. Sobald

deren Varianzbeitrag durch die Länderkonstanten bzw. durch Within-Schätzungen

ausgeglichen wird, verschwindet auch die Signifikanz. Dies dürfte insbesondere bei dem

(fehlenden) Einfluss der Arbeitslosigkeit der Fall sein, jedoch deuten RE- und OLS-

Schätzungen darauf hin, dass höhere Arbeitslosigkeit das Risiko von Kriminalität erhöht (was

die Ergebnisse anderer Autoren, wie z.B. Raphael und Winter-Ebmer, 2001, bestätigt).

Die Signifikanz des BIP und des Migrantenanteils in den OLS-Schätzungen dürfte dagegen

eindeutig auf eine Fehlspezifikation infolge unberücksichtigter unbeobachtbarer Heterogenität

zurückzuführen sein. Beide Variablen sind nur in den ökonometrisch problematischen Spalten

(1) und (4) signifikant. Diese Unterschiede in der Signifikanz unterstreichen die Wichtigkeit

und den Nutzen von Paneldaten sowie zugehöriger Methoden wie RE und FE.

Können Staatsanwalte und Richter durch die Veränderung ihres Verhaltens den durch

Kriminalität entstehenden Schaden senken? Diese Frage nach der ökonomischen Effizienz von

Strafverfolgung hängt von der pekuniären Bewertung von Straftaten ab. Im Gegensatz zu

anderen Länder wie z.B. den USA (Miller et al. 1996) oder England und Wales ist die

Erforschung der Kosten durch Kriminalität in Deutschland unterentwickelt (eine Ausnahme

bilden die Arbeiten von Spengler 2004a, 2004b). In einem Exkurs soll daher nach Vorbild des

britischen Home Office (2005) versucht werden, die Grundideen einer Kostenrechnung

darzustellen und eine grobe Aufstellung der Kosten zu liefern. Auf der Grundlage dieser

Daten würde eine eingesparte gefährliche und schwere Körperverletzung mit ca. 31.500 Euro

zu bewerten sein (siehe untenstehende Tabelle). Betrachtet man die oben schon einmal

aufgeführte Semielastizität von -1.5 infolge einer strikteren Verurteilung (gemessener Effekt

bei RE-Schätzung) - was wohl allein durch die Staatsanwaltschaft bzw. durch Erhöhung der

Anklagequote bzw. durch Verringerung der Einstellungsquote bewerkstelligt werden könnte –

so wäre dieser Abschreckungseffekt bei einer hypothetischen Erhöhung der Strafquote um

lediglich einen Prozentpunkt, wenn man ihn z.B. einmalig für ein Jahr (hier 2001) berechnet,

35

gleichbedeutend mit einer Einsparung von 6,732 Mio. Euro14 - wohlgemerkt lediglich für eine

Maßnahme, für ein Jahr und nur für die Bevölkerungsgruppe 18 bis 21.15

Der Vorteil dieser Maßnahme - genauso wie im Übrigen eine striktere Anwendung des

Erwachsenenstrafrechts, also in beiden Fällen eine konsequentere Umsetzung des

bestehenden Strafrechts - hätte den Vorteil, dass die Kosten der Umsetzung eher gering sein

dürften. Allerdings ist z.B. eine höhere Zahl von Erziehungsmaßnahmen o.ä. zu finanzieren,

über deren Kosten bisher wenig bekannt ist (mit Ausnahme weniger Studien, wie z.B. Entorf,

Meyer und Möbert 2008, sind Arbeiten zu den Kosten von Haft, Haftalternativen und

Resozialisierung nicht existent).16 Eine vollständige Kosten-Nutzen-Rechnung, die auch die

Kosten der Implementierung der Maßnahme zu berücksichtigen hätte, kann daher an dieser

Stelle nicht erfolgen.

EXKURS: KOSTEN DER KRIMINALITÄT

Politik braucht wissenschaftliche Empfehlung. Kriminalpolitische Empfehlungen ohne

Gewichtung der Relevanz für die Gesellschaft können allerdings zu gefährlichen

Fehlschlüssen führen. Leider ist der Blick auf die „Schwere“ einer Tat unter deutsche

Kriminologen immer noch sehr wenig aus Opfersicht motiviert, wie das folgende Zitat von

Wolfgang Heinz (2008b) zeigt:17

„Unter dem Gesichtspunkt der Deliktsschwere müsste dagegen die Erwachsenenkriminalität im Mittelpunkt des kriminologischen und kriminalpolitischen Interesses stehen. […] Allein durch registrierte Wirtschaftskriminalität werden weitaus höhere Schäden verursacht als durch die gesamte sonstige polizeilich erfasste Eigentums- oder Vermögenskriminalität. Nach Angaben der Polizeilichen Kriminalstatistik entfielen 2006 auf Wirtschaftskriminalität 2,4% aller vollendeten Fälle der Eigentums- und Vermögensdelikte (einschließlich Raubmord), aber 53% der registrierten Schadenssummen.“ [Hervorhebungen durch Unterstreichen von HE]

14 Im Jahre 2001 gab es aufgrund der Tatverdächtigenstruktur in Westdeutschland hochgerechnet 663 schwere Körperverletzungen auf 100.000 Einwohner der Altersgruppe zwischen 18 und 21. Bei insgesamt 2.149.092 Heranwachsenden in Westdeutschland in diesem Jahr ergibt das 14.248 gefährliche Körperverletzungen für diese Altersgruppe, davon 1,5 Prozent sind rund 214 Straftaten. Multipliziert mit dem Schaden je Straftat ergibt sich die im Text ausgewiesene Zahl. 15 Spengler (2005) ermittelt auf der Grundlage anderer Bezugsgrößen durch permanent erhöhte Abschreckung (Erwachsenen- und Jugendstrafrecht), genauer gesagt bei Erhöhung der jeweiligen Strafverfolgungsindikatoren um 10%-Punkte bzw. der Verringerung der Bewährungs-, Geldstrafen- und Strafarrest-Maßregelquoten um 10%-Punkte relativ zur Inhaftierungsquote, eine jährliche Schadensreduktion für Kriminalitätsopfer in Höhe von 850 Mio. € . 16 Man beachte jedoch, dass es um ein höheres Aufkommen aufgrund einer erhöhten Anzahl von Verurteilungen geht, nicht aber um eine Erhöhung der Kosten durch eine Ausweitung der existierenden Strafmaße. 17 Es handelt sich um eine Passage aus einer Resolution anlässlich der Diskussion zur Verschärfung des Jugendstrafrechts innerhalb des Wahlkampfes in Hessen. Das gleiche Argument taucht jedoch auch an anderer Stelle auf, siehe Heinz (2008b).

36

Es ist irreführend, die Schwere einer Tat lediglich anhand der in der PKS ausgewiesenen

Schadenssummen erfassen zu wollen, da das Bundeskriminalamt lediglich das durch

Diebstahl, Betrug usw. verlorene Eigentum misst, die meisten Gewaltdelikte jedoch lediglich

mit dem symbolischen Wert von einem Euro erfasst werden. Um Politik vernünftig lenken zu

können und um darauf aufmerksam zu machen, dass Schutz vor Gewalt wichtiger ist als

Schutz z.B. vor einfachem Diebstahl, benötigt man eine aussagefähige Messlatte. Eine

ökonomische Bewertung des Schadens ist der Ignoranz von Opferleid und anderer

Folgeschäden vorzuziehen. So weisen das Bundeskriminalamt, Innenminister und auch viele

Wissenschaftler zwar gern auf einen permanenten Rückgang der Kriminalität seit dem Anfang

der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hin, jedoch wird dieser oft allein anhand der

Fallzahlen festgemacht, die wiederum jedoch zu 56,4% auf Diebstahls- und Betrugsdelikten

(PKS 2007, S. 29) basieren (1994 waren es sogar 68,1%: siehe PKS 1995). Wie im Folgenden

demonstriert wird, muss dieser nominelle Rückgang der Fallzahlen aber keineswegs einen

Rückgang des Kriminalitätsschadens bedeuten, nämlich dann, wenn man Gewaltdelikte

korrekterweise deutlich höher gewichtet als Diebstahlsdelikte.

Das britische Home Office nimmt bei der Gewichtung der Straftaten in Europa eine

Vorreiterrolle ein. Es hat unlängst ein Update seiner Berechnung der Kosten der Kriminalität

vorgelegt (Home Office 2005). Diese berücksichtigt nicht nur den Wert verlorener Güter,

sondern auch physische und emotionale Schäden der Opfer, vorsorgende

Versicherungsleistungen (z.B. hinsichtlich PKW-Diebstahl, Wohnungseinbruch), verringerte

Produktivität der Opfer, Kosten für das Justizsystem (nach gelagerte Prozesskosten,

Haftaufenthalte) und anderes mehr. In der folgenden Gegenüberstellung soll – ohne Anspruch

auf Vollständigkeit und ohne Berücksichtigung vieler Details, z.B. hinsichtlich einer bei

sorgfältigerer Analyse sehr viel tiefer zu disaggregierender Deliktgruppen – auf die britischen

Zahlen zurückgegriffen werden, um einen differenzierteren Vergleich der Kriminalität des

Jahres 1994 mit der Kriminalität des Jahres 2006 zu bieten als es der alleinige Vergleich der

Fallzahlen ermöglicht. Dieser Vergleich fällt laut PKS zunächst sehr klar zugunsten des

Jahres 2006 aus, in dem es 7.647 Fälle je 100.000 Einwohner (bzw. 6.304.223 bekannt

gewordene Straftaten) gab, 1994 waren es hingegen noch 8.038 (6.537.748) .

Der höchste angesetzte Betrag ist der für Mord und Totschlag, für den das Home Office 2,125

Mill. Euro ansetzt, was etwas oberhalb des von Spengler (2004b) errechneten Betrages von

1,650 Mill. Euro liegt, der mit Hilfe von Paneldatenschätzungen zur Ermittlung von

Lohndifferentialen, die zum Ausgleich eines gefährlichen Berufsrisikos gewährt werden,

ermittelt wurde. Sexual Offences werden in England und Wales mit 31.438 Pfund (ca. 46,2

37

Tsd. Euro, es werden Wechselkurse des Jahres 2006 angesetzt) eingestuft, wobei „Sexual

Offences“ für deutsche Daten vermutlich breiter anzulegen ist als es in der untenstehenden

Anwendung praktiziert wurde (dort findet eine Beschränkung auf die in der Öffentlichkeit

besonders beachtete Deliktgruppe 1100 statt). Für Raub und räuberische Erpressung würde

man bei Anwendung der PKS-Schäden nur einen Wert von ca. 1.600 Euro pro Fall erhalten

(PKS des Jahres 2006: 1 621 Euro), der jedoch vernachlässigt, dass es sich um eine Gewalttat

handelt, die auch physische und emotionale Schäden (allein hierfür setzt das Home Office

3048 Pfund an) und Kosten der Justiz mit sich bringt (Ansatz von 2601 Pfund). Insgesamt

ergibt sich so ein Eurobetrag von 10,7 Tsd. pro Fall. Ähnlich sind die Fälle von leichter und

gefährlicher Körperverletzung gelagert. Für Serious Wounding setzt das Home Office 21.422

Pfund an, für Other Wounding einen Betrag von 8.056 Pfund. Die hohen Beträge kommen

nur zum Teil durch die physischen und psychischen Schäden bei den Opfern zustande (4,554

Pfund), sondern vor allem durch die Kumulierung der Posten Lost Output, Health Services

und Criminal Justice System. Diebstahl ist vom Home Office in eine Vielzahl von

Teilkategorien unterteilt worden, für die Oberkategorie Theft ergibt sich ein durchschnittlicher

Betrag von 844 Pfund (1.241 Euro) Pfund, auf den auch in der vorliegenden Studie

zurückgegriffen wird.18

Alle Delikte zur Wirtschaftskriminalität werden in der PKS in einer Sonderkategorie (8930)

zusammengefasst. Da die Anzahl der Veruntreuungen aber offensichtlich darin nicht enthalten

ist, wird dieses Delikt, nicht zuletzt wegen des starken Anstiegs zwischen 1994 und 2006,

gesondert erfasst. Wegen der schwierigen Zuordnung der britischen Verhältnisse und da diese

Art von Kriminalität vom BKA in der Schadensaufstellung recht sorgfältig dokumentiert

wird, werden für „Veruntreuungen“ und „Wirtschaftskriminalität“ die durchschnittlichen

Schäden je Tat laut PKS genommen. Da diese Zahlen wegen einzelner spektakulärer Fälle

von Jahr zu Jahr schwanken können, wurden zwei (nicht direkt auf einander folgende) Jahre

der PKS herangezogen (2002 und 2006) und die Werte gemittelt.19

Betrachtet man zunächst die Zahl der auf diese Weise erfassten Fälle, so wird ersichtlich, dass

die Beschränkung auf hauptsächliche Deliktgruppen nicht ausreicht, um die Gesamtzahl der

registrierten Straftaten der Jahre 1994 und 2006 zu reproduzieren. Klar erkennbar ist jedoch,

18 Teilt man den 2006 von der PKS ausgewiesen Schaden aufgrund schweren Diebstahls durch die Anzahl der Fälle, so erhält man einen Betrag von 1.453 Euro, bei leichtem Diebstahl gelangt man auf die gleiche Weise zu einem Betrag von 376 Euro. Der angesetzte Durchschnittsbetrag von 1.241 Euro liegt also oberhalb des in der PKS für Diebstahl (Kategorien 3000 und 4000) ausgewiesenen durchschnittlichen Schadens. 19 Die Zahlen der Jahre 2002/ 2006 lauten: a) Veruntreuungen 34.264/ 29.897, b) Wirtschaftsdelikte 57.141/ 50.765. (Quellen: PKS 2003 und 2007)

38

dass im Jahr 1994 deutlich mehr Straftaten erfasst werden als im Jahre 2006, nämlich ca. 4,3

Mio. im Vergleich zu ca. 3,3 Mio. Betrachtet man jedoch den aus diesen Straftaten

entstehenden Schaden für die Gesellschaft, so ist trotz des zahlenmäßigen Unterschieds von

rund einer Million Straftaten der Schaden des Jahres 2006 um rund 1,8 Mrd. Euro größer als

der des Jahres 1994, wobei zwecks Vergleichbarkeit in beiden Jahren die gleiche (aktuelle)

Eurogewichtung der Fallzahlen herangezogen wurde.

Tabelle 4: Kosten durch Kriminalität: Vergleich der Jahre 1994 und 2006

Delikt (PKS-Kennung in

Klammern)

Schaden/ Fall in Tsd.

Euro

Anzahl Fälle 1994

Kosten 1994, in

Mrd. Euro

Anzahl Fälle 2006

Kosten 2006, in

Mrd. Euro

Mord und Totschlag (0100, 0200) 2.145,6 3.725 7,992 2.468 5,295

Gewaltsame Straftaten gegen sexuelle Selbst-bestimmung (1100)

46,2 12.767 0,590 16.605 0,768

Raub, räuberische Erpressung (2100) 10,7 57.752 0,618 43.621 0,467

Gefährliche Körperverletzung (2220) 31,5 88.037 2,773 150.874 4.753

Leichte Körperverletzung (2240) 11,8 186.748 2,212 359.901 4,264

Diebstahl (3000, 4000) 1,2 3.866.336 4,799 2.601.902 3,229

Veruntreuungen (5200) 32,0 16.950 0,5424 40.095 1,283

Wirtschaftskriminalität (8930) 54,0 62.037 3.350 85.095 4.595

Summen 4.294.352 22.878 3.300.561 24.654

Analysiert man die wichtigsten Gründe für diese Diskrepanz, so wird schnell klar, dass der

durch eine verringerte Anzahl von Tötungsdelikten verursachten Schadensrückgang

hauptsächlich durch starke Mehrbelastungen bei den Gewaltdelikten, aber auch durch höhere

Wirtschaftskriminalität, überkompensiert wird. Der nominell deutliche Rückgang um

immerhin fast 1,3 Millionen Diebstahlsdelikte zwischen 1994 und 2006 (3,9 Mill. gegenüber

2,6 Mill.) spielt hingegen für die in Euro bewertete Schadensentwicklung keine entscheidende

Rolle.

ENDE DES EXKURSES

39

5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Die vorliegende Studie untersucht die Wirksamkeit des deutschen Strafverfolgungssystems.

Zu diesem Zweck liefert die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland eine geeignete

Datenbasis, da sie heterogen genug ist, um die Wirkung konkurrierender Strategien der

Kriminalitätsbekämpfung zu analysieren. Insbesondere die Strafrechtsreform von 1969, die

die Möglichkeit informeller Sanktionen und der Haftvermeidung in das deutsche Strafrecht

eingeführt hat, wurde auf der Ebene der Bundesländer sehr unterschiedlich umgesetzt. Um die

Wirkungsmechanismen vollständig erfassen zu können, wird in dieser Arbeit sehr viel Wert

darauf gelegt, den Strafverfolgungsprozess im Detail abzubilden, d.h. die Aktivitäten und

Entscheidungen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Richtern getrennt voneinander zu

berücksichtigen. Im empirischen Teil der Arbeit werden in dieser Hinsicht Daten der

RegKrimDa („Regionalen Kriminalitäts- und Strafverfolgungsdatenbank an der TU

Darmstadt) ausgewertet. Es handelt sich um einen Paneldatensatz, der die alten Bundesländer

für den Zeitraum von 1977–2001 umfasst und es erlaubt, delikt- und altersspezifische

Kriminalitätsraten und Strafverfolgungsindikatoren zu berechnen. So kann am Beispiel der

Bundesländer Bayern und Schleswig-Holstein gezeigt werden, dass – unter Berücksichtigung

der gesamten Strafverfolgungskette – die von Straftätern zu befürchtenden Haftdauern bei

vergleichbaren Delikten in Bayern zum großen Teil mehr als doppelt so lang ausfallen wie in

Schleswig-Holstein.

In dieser Studie wird der Datensatz vor allem genutzt, um die Reaktion von

„heranwachsenden“ Gewalttätern auf die Variation von Strafmaß und Strafwahrscheinlichkeit

zu überprüfen. Entsprechend eines extra hierfür entwickelten theoretischen Rahmens, der Haft

und Haftvermeidung explizit berücksichtigt, wird gezeigt, dass sich die zunehmende

Belastung durch Gewaltkriminalität durch Heranwachsende in signifikanter Weise durch eine

striktere Anwendung des bestehenden Strafrechts eindämmen ließe, wozu auch eine

konsequentere Anwendung des Erwachsenenstrafrechts gehört. Erhöhungen des Strafmaßes

erweisen sich jedoch als völlig unwirksam.

Abschließend wird versucht, Berechnungen des britischen Home Office (2005) zu den Kosten

der Kriminalität auf deutsche Verhältnisse zu übertragen, um Perspektiven für zukünftige

Kosten-Nutzen-Analysen aufzuzeigen. Die angestellten Überlegungen zu einer ökonomischen

Bewertung des durch Kriminalität entstehenden Schadens machen deutlich, dass

Fallzahlenentwicklungen wenig über den wahren Verlauf der Schwere des Schadens

aussagen, was vor allem auf einer Unterbewertung der Gewaltkriminalität zurückzuführen ist.

40

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