Wissenschaft DEMOGRAFIE Land der 100-jährigen Frauen

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bis 72,9 73 bis 73,9 74 bis 74,9 75 bis 75,9 76 und mehr Mittlere Lebenserwartung 1999 in Jahren 1 Schleswig-Holstein Nord 74,7 80,7 2 Schleswig-Holstein Süd-West 74,2 80,3 3 Schleswig-Holstein Mitte 74,6 80,5 4 Schleswig-Holstein Ost 74,4 81,2 5 Schleswig-Holstein Süd 75,5 80,5 6 Hamburg 74,8 80,7 7 Westmecklenburg 72,1 79,7 8 Mittleres Mecklenburg/Rostock 72,5 80,1 9 Vorpommern 71,2 79,7 10 Mecklenburgische Seenplatte 71,0 79,5 11 Bremen 74,1 81,1 12 Ostfriesland 74,4 80,7 13 Bremerhaven 74,1 80,2 14 Hamburg-Umland Süd 74,9 80,9 15 Bremen-Umland 74,8 80,5 16 Oldenburg 74,8 81,2 17 Emsland 74,9 81,2 18 Osnabrück 75,0 81,5 19 Hannover 74,9 81,0 20 Südheide 74,0 80,8 21 Lüneburg 74,5 80,4 22 Braunschweig 74,3 80,8 23 Hildesheim 74,4 80,6 24 Göttingen 74,7 80,9 25 Prignitz-Oberhavel 72,3 79,8 26 Uckermark-Barnim 72,4 79,8 27 Oderland-Spree 72,8 79,9 28 Lausitz-Spreewald 72,6 80,1 29 Havelland-Fläming 73,3 80,2 30 Berlin 74,0 79,9 31 Altmark 72,1 79,4 32 Magdeburg 72,8 79,6 33 Dessau 72,3 79,7 34 Halle (Saale) 72,6 79,6 35 Münster 75,6 81,8 36 Bielefeld 74,9 81,3 37 Paderborn 74,9 81,5 38 Arnsberg 74,6 80,6 39 Dortmund 73,8 80,3 40 Emscher-Lippe 73,4 79,8 41 Duisburg/Essen 73,8 80,2 42 Düsseldorf 74,5 80,4 43 Bochum/Hagen 73,7 80,3 44 Köln 75,0 80,6 45 Aachen 74,7 80,3 46 Bonn 76,3 81,3 Männer Männer Frauen Lebenserwartung in Jahren 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 M itte August trafen sich in Berlin 2500 Statistiker aus 110 Ländern zu einem Weltkongress. Die meis- ten der Rechenkünstler waren guter Dinge. Denn ihr Einfluss wächst, Bundespräsident Johannes Rau hieß sie persönlich herzlich willkommen. Vorbei die Zeiten, da Statistik als „Lügen mit Zahlen“ diffamiert wurde und der große Winston Churchill bekannt Der brisanteste Befund: Die Lebenser- wartung der Deutschen steigt immer wei- ter – und zwar stärker, als die meisten glauben. Im Durchschnitt, rechnet Jürgen Rudolph vom Vorstand des Versicherungs- riesen Debeka vor, nimmt sie „kontinuier- lich um sechs bis acht Wochen pro Jahr“ zu. Blieben die Umstände, wie sie derzeit sind, neu geborene Jungen in Deutschland haben soll, er vertraue nur Statistiken, die er selbst gefälscht habe. Lob kassierten besonders die Bevölke- rungsstatistiker, deren zentrales Leitmaß die „Lebenserwartung“ ist, definiert als die „Anzahl der Jahre, die ein Mensch ei- nes bestimmten Alters und Geschlechts in einer bestimmten Bevölkerung durch- schnittlich noch erleben wird“. Wissenschaft der spiegel 44/2003 182 DEMOGRAFIE Land der 100-jährigen Frauen In welchen Regionen lebt sich’s am längsten? Sterben Arme früher als Reiche? Welche Berufe verkürzen, welche verlängern das Leben? Bevölkerungsforscher haben die steigende Lebenserwartung der Deutschen untersucht und sind dabei auf verblüffende Unterschiede gestoßen.

Transcript of Wissenschaft DEMOGRAFIE Land der 100-jährigen Frauen

Wissenschaft

D E M O G R A F I E

Land der 100-jährigen FrauenIn welchen Regionen lebt sich’s am längsten? Sterben Arme früher als Reiche? Welche Berufe

verkürzen, welche verlängern das Leben? Bevölkerungsforscher haben die steigende Lebenserwartungder Deutschen untersucht und sind dabei auf verblüffende Unterschiede gestoßen.

Mitte August trafen sich in Berlin2500 Statistiker aus 110 Ländernzu einem Weltkongress. Die meis-

ten der Rechenkünstler waren guter Dinge.Denn ihr Einfluss wächst, BundespräsidentJohannes Rau hieß sie persönlich herzlichwillkommen. Vorbei die Zeiten, da Statistikals „Lügen mit Zahlen“ diffamiert wurdeund der große Winston Churchill bekannt

1 Schleswig-Holstein Nord 74,7 80,72 Schleswig-Holstein Süd-West 74,2 80,33 Schleswig-Holstein Mitte 74,6 80,54 Schleswig-Holstein Ost 74,4 81,25 Schleswig-Holstein Süd 75,5 80,56 Hamburg 74,8 80,77 Westmecklenburg 72,1 79,78 Mittleres Mecklenburg/Rostock 72,5 80,19 Vorpommern 71,2 79,710 Mecklenburgische Seenplatte 71,0 79,511 Bremen 74,1 81,112 Ostfriesland 74,4 80,713 Bremerhaven 74,1 80,214 Hamburg-Umland Süd 74,9 80,915 Bremen-Umland 74,8 80,516 Oldenburg 74,8 81,217 Emsland 74,9 81,218 Osnabrück 75,0 81,519 Hannover 74,9 81,020 Südheide 74,0 80,821 Lüneburg 74,5 80,422 Braunschweig 74,3 80,823 Hildesheim 74,4 80,624 Göttingen 74,7 80,925 Prignitz-Oberhavel 72,3 79,826 Uckermark-Barnim 72,4 79,827 Oderland-Spree 72,8 79,928 Lausitz-Spreewald 72,6 80,129 Havelland-Fläming 73,3 80,230 Berlin 74,0 79,931 Altmark 72,1 79,432 Magdeburg 72,8 79,633 Dessau 72,3 79,734 Halle (Saale) 72,6 79,635 Münster 75,6 81,836 Bielefeld 74,9 81,337 Paderborn 74,9 81,538 Arnsberg 74,6 80,639 Dortmund 73,8 80,340 Emscher-Lippe 73,4 79,841 Duisburg/Essen 73,8 80,242 Düsseldorf 74,5 80,443 Bochum/Hagen 73,7 80,344 Köln 75,0 80,645 Aachen 74,7 80,346 Bonn 76,3 81,3

Männer FrauenLebenserwartung in Jahren

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haben soll, er vertraue nur Statistiken, dieer selbst gefälscht habe.

Lob kassierten besonders die Bevölke-rungsstatistiker, deren zentrales Leitmaßdie „Lebenserwartung“ ist, definiert als die „Anzahl der Jahre, die ein Mensch ei-nes bestimmten Alters und Geschlechts ineiner bestimmten Bevölkerung durch-schnittlich noch erleben wird“.

bis 72,9

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Der brisanteste Befund: Die Lebenser-wartung der Deutschen steigt immer wei-ter – und zwar stärker, als die meisten glauben. Im Durchschnitt, rechnet JürgenRudolph vom Vorstand des Versicherungs-riesen Debeka vor, nimmt sie „kontinuier-lich um sechs bis acht Wochen pro Jahr“zu. Blieben die Umstände, wie sie derzeitsind, neu geborene Jungen in Deutschland

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Bauer in BayernSüddeutschland vergreist

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hätten 75,1 Jahre zu erwarten, Mädchen81,1 Jahre.

Doch die Welt ändert sich – und mit ihrdie Lebenserwartung. Wenn sie immerweiterwächst – und sehr vieles sprichtdafür –, kommen bis 2100 für die jetzt Geborenen weitere zwölf, womöglich noch mehr Lebensjahre hinzu. „Mädchen,die heute geboren werden“, prognosti-ziert Professor Dietmar Zietsch, Vor-standsvorsitzender des RückversicherersScor Deutschland, „werden voraussichtlichdas nächste Jahrhundert erleben.“ WirdDeutschland bevölkert sein von einemHeer über 100-jähriger Frauen?

Vielen deutschen Politikern wird an-gesichts solcher Aussichten ganz schumm-

47 Siegen 74,7 80,848 Nordhessen 74,3 81,249 Mittelhessen 74,9 80,950 Osthessen 75,5 81,751 Rhein-Main 75,8 81,252 Starkenburg 75,4 80,653 Nordthüringen 73,1 79,454 Mittelthüringen 73,0 79,755 Südthüringen 72,8 79,756 Ostthüringen 73,3 80,557 Westsachsen 73,5 80,358 Oberes Elbtal/Osterzgebirge 74,9 81,559 Oberlausitz-Niederschlesien 73,3 80,660 Chemnitz-Erzgebirge 73,7 80,561 Südwestsachsen 72,9 80,062 Mittelrhein-Westerwald 75,0 80,963 Trier 74,7 81,064 Rheinhessen-Nahe 75,1 80,865 Westpfalz 74,3 80,366 Rheinpfalz 74,9 80,967 Saar 73,6 79,968 Unterer Neckar 75,1 81,069 Franken 75,4 81,670 Mittlerer Oberrhein 75,4 81,171 Nordschwarzwald 75,7 81,772 Stuttgart 76,3 82,173 Ostwürttemberg 74,9 80,874 Donau-Iller (BW) 75,9 81,775 Neckar-Alb 76,4 82,176 Schwarzwald-Baar-Heuberg 76,0 81,677 Südlicher Oberrhein 75,9 82,078 Hochrhein-Bodensee 75,8 81,779 Bodensee-Oberschwaben 76,2 81,980 Bayerischer Untermain 76,1 81,381 Würzburg 75,8 81,482 Main-Rhön 74,8 81,083 Oberfranken West 74,1 80,384 Oberfranken Ost 73,9 80,485 Oberpfalz Nord 73,9 80,586 Industrieregion Mittelfranken 74,9 80,687 Westmittelfranken 74,6 80,488 Augsburg 74,6 80,789 Ingolstadt 75,5 81,590 Regensburg 74,7 80,991 Donau-Wald 74,3 80,992 Landshut 74,9 81,093 München 76,2 81,794 Donau-Iller (BY) 74,8 81,095 Allgäu 76,1 81,596 Oberland 76,1 81,797 Südostoberbayern 75,6 81,5

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Jogging-Prophet FixxTod auf der Landstraße

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rig. Die Bevölkerungswissenschaftler je-doch sind von der Zuverlässigkeit ihrerPrognosen überzeugt. Bestätigt sehen siesich insbesondere deshalb, weil selbst diegroßen Katastrophen des 20. Jahrhunderts– Weltkriege, Hungersnöte, Vertreibungen– den nahezu kontinuierlichen Anstieg derdurchschnittlichen Lebenserwartung nichtnachhaltig gebremst haben (siehe GrafikSeite 189).

Allerdings ist der Zugewinn an Lebens-jahren sehr ungleich verteilt. Das Bon-ner Bundesamt für Bauwesen und Raum-ordnung (BBR) hat die neuesten Daten der durchschnittlichen Lebenserwartung,getrennt nach Geschlechtern, für ins-gesamt 97 Regionen ermittelt. Es erge-

ben sich höchst über-raschende Unterschiede,die der SPIEGEL jetzterstmals öffentlich prä-sentiert:• Am frühesten sterben

die Ostdeutschen, amrasantesten schreitetdie Vergreisung dage-gen in Süddeutschlandvoran: Eine Frau aufder Schwäbischen Alblebt durchschnittlich elfJahre länger als einMann an der Mecklen-burgischen Seenplatte.

• Nicht nur zwischenOst- und Westdeutsch-land bestehen gro-ße Unterschiede, son-dern auch inner-halb wirtschaftlichund kulturell ähnli-

cher Bezirke, etwa Oberbayern und Unterfranken.

• Zwischen dem niedrigsten und demhöchsten Männerwert klafft eine Diffe-renz von 5,4 Jahren, bei den Frauen jedoch nur von 2,7 Jahren.All diese Unterschiede können die Sta-

tistiker vermessen, genau erklären könnensie sie nicht. Hansjörg Bucher, Wissen-schaftlicher Oberrat am BBR, dem die Kar-ten zu verdanken sind, ist seit mehr als 30Jahren Demograf und deshalb viel zu er-fahren, um auf einfache Fragen einfacheAntworten zu geben: Die gibt es nicht.

Sehr viele Ursachen können zusam-menkommen: Wanderungsbewegungen,Klima, wirtschaftliche Stabilität oder auchindustrielle Belastungen, gesundheits-schädliche Gewohnheiten (wie die Ver-wendung von Pökelsalz in einigen Regio-nen Bayerns), Vorlieben für selbst ge-brannten Schnaps oder Extremsportarten.Die Gewichtung einzelner Faktoren bleibtoft Ansichtssache.

Weitgehend ungeklärt bleibt auch dasvielleicht größte Rätsel: warum die Frauenso viel länger leben als die Männer (inDeutschland gegenwärtig sechs Jahre). DieExperten führen den Unterschied, der sich

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Gaukler, Geld und GurusDie Apostel eines langen Lebens sterben mitunter früh.

Lauf dem Herzinfarkt davon!“,rief James Fixx, US-Amerikanermit imperativem Nachnamen. Er

taufte, Ende der sechziger Jahre, denDauerlauf in „Jogging“ um, schriebden Welt-Bestseller „Das kompletteBuch vom Laufen“, machte einigenhundert Millionen Menschen Beineund brachte es so zum vielfachenDollar-Millionär. Er starb, 52 Jahrejung, beim Joggen auf einer einsamenLandstraße.

Fixx ist nicht der einzige Großguru,der in den vergangenen Jahrzehntender Menschheit den Weg zu Gesund-heit und langem Leben gewiesen hat.Solch guter Rat hat immer Konjunktur,von alters her. Ob Bibel oder Koran,Volksmund oder Tantra-Tipps: Werhundert Jahre in Aussicht stellt, demfehlt es niemals an Gefolgschaft.

Nur leider: Die Wegweiser zeigen inganz verschiedene Richtungen, und –schlimmer noch – sie führen meist indie Irre. Vielen der Glückslehren ist zu-dem ein tückischer Haken gemein: Werseinen Jüngern das Heil verspricht, derstirbt – zur Strafe? – am Ende am eige-nen Rezept.

Den Begriff „Sportherz“ hat derdeutsche Arzt, Radrennfahrer, Leicht-athlet und Wettschwimmer HerbertReindell geprägt. Er propagierte dasJoggen und den Marathonlauf und wur-de so zum ideologischen Vater derdeutschen Fitnesswelle.

Was Reindell verschwieg: Sporther-zen schlagen langsam und meist unre-gelmäßig. Sie sind vergrößert undhießen vor Reindell „Ochsenherz“.Weil auch er selbst solch ein Sportherzhatte, fiel er vom Rennrad, bekam ei-nen Herzschrittmacher und starb 1990an der Durchblutungsnot seines Pump-muskels.

Reindells Sportarztkol-lege, der renommier-te Medizinprofessor undSportherz-Apostel Ri-chard Rost, näherte sichdem Thema so streng wissenschaftlich, dass eram Ende seines For-scherlebens das Fazit zog: „Der Sportler lebtnicht länger. Er stirbt A

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aber gesünder.“ Rost selbst wurde 58Jahre alt.

Julius Hackethal, auch er Medizin-professor, sah nicht im untrainiertenHerzmuskel, sondern im Krebs denFeind des langen Lebens. Da ist wasdran, schließlich stirbt jeder vierte Deut-sche an einem Tumor. Das müsse nichtsein, lehrte Hackethal, denn der Krebs,zumal derjenige dermännlichen Vorsteher-drüse (Prostata), sei vonNatur aus ein friedlicher„Haustierkrebs“. Nurwenn man ihn mit Stahlund Strahl attackiere,werde er zum tödlich gefährlichen „Raubtier-krebs“. Den eigenenProstatakrebs ließ Hacke-thal deshalb unbehan-delt. Der wortmächtigeChirurg starb an denTochtergeschwülsten (Me-tastasen), die in seinerLunge siedelten.

Auf die Verheißung„Iss dich gesund!“, dieseit alttestamentarischenZeiten stets Zulauf fin-det, setzte der Heidel-berger MedizinprofessorGotthard Schettler. Er ernannte das (alsZellbaustein völlig unverzichtbare)Cholesterin zum Schurken im DramaHerzinfarkt und offerierte den verängs-tigten Bürgern zugleich eine Therapie:Margarine statt Butter. Das freut denMargarinekonzern Unilever („Becel“,„Sanella“) noch heute, ist den Herzenaber ziemlich egal. Schettler selbst starbam kranken Herzen.

Aber ein fester Glauben lässt sichdurch Fakten eben kaum erschüttern.Der indische Guru Bhagwan („Osho“),

der in Poona jahrzehnte-lang ein freizügiges Asylfür ratlose Europäer undAmerikaner betrieb, ver-sprach seinen Jüngern bei bhagwanesker Lebens-führung hundert Jahre, ge-legentlich erhöhte er auchmal auf 150 Jahre. Er selbstmachte es eher kurz. We-gen Übergewichts, Asth-ma und Herzschwächestarb Bhagwan, da war er 58.

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Heimat der Greise Durchschnittliche Lebenserwartung weltweit

unter 40 Jahren

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in den letzten Jahrzehnten auch noch ver-größert hat, auf eine Kombination biologi-scher Faktoren und unterschiedliche Ver-haltensweisen zurück:• Männliche Geschlechtshormone (Testo-

sterone) scheinen die Entwicklung derAdernverkalkung (Arteriosklerose) zufördern; am Herzinfarkt erkranken Frau-en, wenn überhaupt, durchschnittlichzehn Jahre später als Männer.

• Frauen beobachten ihren Körper kriti-scher; sie nehmen häufiger medizinische

Trinker in Russland: „Der Suff, der reibt den Menschen uff“ YU

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und psychologische Unterstützung inAnspruch und gehen regelmäßiger zuVorsorgeuntersuchungen.

• Männer setzen sich oft höheren Risikenaus und sind suchtanfälliger als Frauen.

• Frauen sind seltener und über kürzereZeiträume berufstätig als Männer. Sievermeiden dadurch Stress und Risikendes Berufslebens. Der Familienstand ist eine weitere wich-

tige Einflussgröße: Statistisch gesehen,macht es einen beträchtlichen Unterschied,ob man ledig, verheiratet, verwitwet odergeschieden ist.

Wer verheiratet ist, lebt am längsten. DieErklärung: Verheiratete Personen haben in der Regel ein sozial stabiles Umfeld undlegen deshalb auch mehr Wert auf ihre Gesundheit. Die psychische Stabilität der Durchschnittsfamilie vermindert den

Länder mit der höchsten Lebenserwartung

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Stress. Der ge-ordnete Alltag mit seinenregelmäßigen Essens- und Schlafenszeitenist offenbar eine gesunde Lebensweise.

Lebensverlängernd wirkt die Ehe aufbeide Geschlechter. Der Tod des Partnersjedoch trifft die Männer härter. WährendWitwen ihre Ehepartner um viele Jahreüberleben, sterben verwitwete Männerihren Frauen oft schnell hinterher. „Über-sterblichkeit“ nennen die Statistiker dasund führen es auf die verbreitete Hilf-losigkeit der Ehemänner im verwaistenHaushalt zurück.

Die gesicherte Tatsache, dass ledige undgeschiedene Menschen die niedrigste Le-benserwartung haben, öffnet den Speku-lationen Tür und Tor. Meist sind die finan-ziellen Rahmenbedingungen Geschiede-

ner unterdurch-schnittlich, der Stress bei der neuen Part-nersuche groß und der Alkoholverbrauchbeträchtlich: „Die Liebe und der Suff/Diereiben den Menschen uff“, heißt es imVolksmund.

Nicht alle Eigenheiten der Statistik las-sen sich auf ähnlich griffige Formeln kom-primieren. So ist das vielleicht verblüf-fendste Ergebnis der gegenwärtigen Be-völkerungsstatistik die Rasanz, mit der sichdie Lebenserwartung der Ostdeutschenderjenigen ihrer westlichen Landsleute an-gleicht: Innerhalb der letzten zwölf Jahrehaben sie statistisch gesehen fünf Lebens-jahre hinzugewonnen.

Dieser große Sprung nach vorn, für denes in der deutschen Geschichte kein Vor-

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bild gibt, ist neben einer deutlichbesseren medizinischen Versor-

gung in den Ballungsräumen(inklusive künstlicher Hüft-gelenke auch für alte Men-schen) vor allem der Ver-dreifachung der realen Ein-kommen und den komforta-bleren Wohnverhältnissen zu

verdanken.Auf anderen Feldern indes ist

der Fortschritt eine Schnecke. Weildie medizinischen Einrichtungen in

den ländlichen Räumen des Ostens weni-ger schnell erreichbar sind und deren Per-sonal oft nicht besonders qualifiziert istund weil dort oft schon in jungen Jahrenviel getrunken wird, ist vor allem die Not-fallversorgung bei Herzinfarkten und Ver-kehrsunfällen noch nicht optimal.

Während in Mecklenburg-Vorpommernund Brandenburg junge Männer zwischen18 und 21 Jahren ein ungefähr doppelt sohohes Risiko haben, bei einem Verkehrs-unfall zu sterben, wie ihre Altersgenossenim Westen, können sich 18-jährige Groß-städter auf der sicheren Seite fühlen: InBremen, Berlin und Hamburg liegt dieSterblichkeit für Jungen und Mädchen indiesem Alter – wohl auf Grund der schnellerreichbaren Kliniken – sehr niedrig.

Doch auch innerhalb der Großstädte las-sen sich erhebliche Unterschiede bei der

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Sterblichkeit nachweisen. Beispiel Berlin:In Kreuzberg sterben die Männer circa fünfJahre früher als in Zehlendorf, die Frauenungefähr drei Jahre früher. Ganz generellgilt: In Bezirken mit einer ungünstigen So-zialstruktur – viele Arbeitslose, Arme undallein Erziehende – lebt es sich kürzer.

All diese Trends gelten nicht nur fürDeutschland. Niedrige Geburtenzahlenund steigende Lebenserwartung sind Kenn-zeichen fast aller Industrie- und Schwel-

lenländer geworden. In der EU erreichte im vergangenen Jahr die Zahl der Todes-fälle das niedrigste Niveau seit 35 Jahren.Die höchste Lebenserwartung in der EUhaben bei den Männern Schweden (77,7Jahre) und Italiener (76,2 Jahre); bei denFrauen Französinnen (82,9 Jahre) und Spa-nierinnen (82,6 Jahre).

Im weltweiten Vergleich schneiden mit80,8 Jahren am besten die Bewohner SanMarinos ab, der ältesten Republik Euro-

pas. Als Bürger der von Italien umschlos-senen Enklave toppen sie noch die hoheLebenserwartung ihrer Nachbarn (sieheGrafik Seite 186).

Bedrohlich ist die Entwicklung in Russ-land. Arbeits- und Hoffnungslosigkeit, Kri-minalität, Stress und der Wodka haben dieLebenserwartung der Männer dort seit dreiJahrzehnten fast beständig sinken lassen.Inzwischen wird der russische Mann nurnoch 58,9 Jahre alt und stirbt damit 16 Jah-re früher als der deutsche. Auch der Un-terschied zu den russischen Frauen ist bri-sant: Diese leben 13 Jahre länger als ihremännlichen Altersgenossen.

Weltweit sind dabei sozialer Status undLebenserwartung eng gekoppelt: Eine Ar-beitsgruppe der EU untersuchte 1998 diesozio-ökonomischen Einflüsse auf die Ge-sundheit. Für alle analysierten Länder wur-de die gleiche Diagnose gestellt: „Frühzei-tiger Tod ist stärker mit einem niedrigenBildungsstand, einem geringen Einkom-men und einer niedrigen Position im Berufverbunden.“

In Deutschland allerdings wird dies – umdes sozialen Friedens willen – möglichstverheimlicht. Auf den Totenscheinen wirdder Beruf, anders als früher, nicht mehrerwähnt. Die Demografen müssen sich beiihren einschlägigen Forschungen daher vorallem auf die Zahlen der Rentenversiche-rer stützen. Die wissen am genauesten, wie

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„Ich weiß keinen Rat“Kardinal Corrado Bafile, 100, ist seit 67 Jahren Priester. Im Vatikan war erbis 1980 Präfekt für die Heiligsprechung.

SPIEGEL: Eminenz, was muss man tun,um 100 Jahre alt zu werden?Bafile: Ich habe keine Ahnung.SPIEGEL: Haben Sie bewusst gesund gelebt und um der Gesundheit wil-

len auf das eine oder andere ver-zichtet?Bafile: Nein, überhaupt nicht. Ich habenicht mal darüber nachgedacht, was ichtun oder lassen sollte, um alt zu werden.SPIEGEL: Wie erklären Sie sich denn,dass Sie mit 100 Jahren so fit sind?Bafile: Ich weiß es einfach nicht. Undso weiß ich auch für andere Menschen,die mich manchmal danach fragen, keinen Ratschlag, was förderlich oderhinderlich sein könnte, wenn man altwerden will. Ich habe mein Leben im-mer in der Hand Gottes gesehen. Dawar es, offensichtlich, gut aufgehoben.

Langer LebensabendEntwicklung derLebenserwartungin Deutschland

Quelle: Herwig Birg

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lange Pensionen oder Renten gezahlt wer-den (immer länger). Auch die Lebensver-sicherer und ihre finanzstarken „Rückver-sicherer“ behalten die Zahlen genau imAuge, vor allem die Korrelation zwischenLebenserwartung und Beruf. Diese Datenwerden jedoch sorgsam gehütet, sie sindprofitable Geschäftsgeheimnisse.

„Gastwirte, Personen aus dem Rotlicht-milieu und Taucher versichern wir natür-lich nur mit ordentlichen Zuschlägen“, ver-rät ein Versicherungsmathematiker („Ak-tuar“). „Deren Lebenserwartung ist kurz,das Sterberisiko hoch.“

Als einflussreichster Bestimmungsfaktorfür die Lebenserwartung allerdings mussdas Einkommen angesehen werden. Diesbestätigt auch Scor-Chef Dietmar Zietsch.„Selbst eine sehr gute Erbmasse kann die-sen Faktor nicht schlagen“, konstatiert er.Soll heißen: Ein armer Mann mit ererbtenGenen, die ihn eigentlich zu Langlebigkeitdisponieren, stirbt voraussichtlich eherjung – der Wohlhabende hingegen hat guteAussichten, ein überdurchschnittliches Le-bensalter zu erreichen, auch wenn dasnicht in der Familie liegt.

Diese Erkenntnis hat der berühmte deut-sche Medizinprofessor Rudolf Virchow be-reits im 19. Jahrhundert auf den knappenSatz gebracht: „Der Tod ist eine sozialeKrankheit.“ Eine Gleichheit vor Krankheitund Tod hat es nie gegeben.

Personen im untersten Viertel der Ein-kommensverteilung leben im Schnitt vierbis sechs Jahre weniger als Menschen imobersten Viertel. „Dieser Einfluss bleibtauch bei Berücksichtigung zusätzlicher Bestimmungsfaktoren der Mortalität be-stehen“, erläutert Anette Reil-Held vomMannheimer Forschungsinstitut Ökonomie

und demografischer Wandel. Als „zusätz-liche Bestimmungsfaktoren“ berücksich-tigt die Wissenschaftlerin unter anderem„verhaltensbezogene Risikofaktoren“ wieRauchen und „schichtspezifische“ Ernäh-rungsgewohnheiten.

Trotzdem macht auch Geld allein nochnicht alt. Lebensverlängernd wirkt vor al-lem eine Tätigkeit als höherer Beamter:Universitätsprofessoren, Ministerialräte,Richter und Offiziere haben die bestenChancen, steinalt zu werden. Wer von denfreiberuflichen Akademikern – Rechtsan-wälten, Architekten, Psychoanalytikern –vorn liegt, ist unter Aktuaren noch um-stritten.

Hingegen sind Pfarrer, Priester undMönche, die in der ersten Hälfte des vori-gen Jahrhunderts an der Spitze der Le-benserwartung standen, von dieser Posi-tion verdrängt worden. Seit die evangeli-schen Pastoren wochentags Sozialarbeitleisten und ihre katholischen Amtsbrüdermangels Nachwuchs immer größere Spren-gel versorgen müssen, ist es mit der Spit-zenstellung vorbei. So werden die Welt-priester des Bistums Essen gerade mal 76,2Jahre alt – kaum mehr als ein Durch-schnittswert.

Nicht einmal das Kloster ist ein Garantfür einen langen Lebensabend: Nonnen,so hat der BevölkerungswissenschaftlerMarc Luy in einer faktenreichen Analyse

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belegt, leben nicht länger als andere. Nurdie Kardinäle der katholischen Kirche sinddem Rest der Menschheit weit voraus: 60der 194 Gottesmänner sind älter als 80 Jah-re. Kardinal Corrado Bafile feierte im vo-rigen Juli bei guter Gesundheit seinen 100. Geburtstag (siehe Kasten Seite 188).

Unter den Akademikern sterben vor al-lem die Ärzte vergleichsweise früh. So sinddie Berliner Medizinerinnen im Mittel dervergangenen beiden Jahre nur 73,3 Jahrealt geworden, ihre männlichen Kollegen

starben mit 70,7 Jahren. Haupttodesursa-chen waren Herz- und Kreislaufleiden, Un-fälle, Suizide und Alkoholismus. An medi-zinischen Früherkennungsprogrammenzeigt der Stand weit weniger Interesse alsseine Klientel.

Der oft beklagte Umstand, dass so vieledeutsche Beamte weit vor dem 65. Ge-burtstag „dienstunfähig“ werden, tut ihrerLebenserwartung offenbar keinen Ab-bruch. Vor allem die „ausgebrannten“ Leh-rer tanken nach ihrer Frühpensionierung –

im Durchschnitt mit 57 Jahren – rasch wie-der Kraft. In Rheinland-Pfalz erreichen sieim Schnitt das 78. Lebensjahr, im Bundes-land Bayern sogar das 79.

Noch besser haben es die Witwen vonBeamten, sie werden derzeit im Durch-schnitt sensationelle 85 Jahre alt. Über-troffen werden sie nur noch von evangeli-schen Pfarrerswitwen, den Rekordhalternin puncto Langlebigkeit. Bereits 1984 wur-den sie knapp 82 Jahre alt, gegenwärtigliegt dieser Wert sogar bei 87,9 Jahren. Dasbedeutet, dass sich ihre Lebenserwartungjedes Jahr um vier Monate verlängerte – siesteigt folglich doppelt so schnell wie beider Gesamtbevölkerung.

Bei aller Ungewissheit über die Ursa-chen, eines weist die Statistik zweifelsfreiaus: Soziale Bedingungen, aber auch derpersönliche Lebenswandel beeinflussen er-heblich die zu erwartende Lebenszeit.Hohe Bildung, Wohlstand und ein angese-hener Beruf schaffen nicht nur bessere Ar-beitsbedingungen, sie wirken sich auch in-direkt aus: auf die Wohnverhältnisse undden ganzen Lebensstil.

Kennzeichnend für die Arbeitsbedin-gungen der unteren sozialen Schichten sindein geringer Verdienst, körperlich schwereund monotone Arbeit sowie Schichtdienst.Das Frühsterblichkeitsrisiko steigt bei sehrlangen Beschäftigungszeiten, wie beispiels-weise im Baugewerbe. Vor allem aber schä-

„Ich habe immer gegeben“Frieda Porsch, 100, war 30 Jahre lang Blumenverkäuferin in Berlin.

SPIEGEL: Frau Porsch, wie haben Sie esgeschafft, 100 Jahre alt zu werden?Porsch: Ich habe immer den Leuten ge-holfen, habe immer gegeben, wenn je-mand was brauchte. Ich war auch nie

krank. Und meinen Verstand hab ichheute noch. SPIEGEL: Haben Sie in Ihrem LebenSport getrieben?Porsch: Nein. Ich hatte ja den Blumen-laden, da hab ich gearbeitet von mor-gens bis abends, bis ich 70 war.SPIEGEL: Was machen Sie noch, um fit zu bleiben, wie gestaltet sich Ihr Leben?Porsch: Ich koche alles selbst. Das Es-sen aus der Dose mag ich nicht. Außer-dem räume ich jeden Morgen meineWohnung auf. Als kleine Freude bleibtmir das Lesen. Das kann ich noch.

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Brautpaar bei der Trauung, Singles im Berliner Nachtleben: Wer verheiratet ist, lebt am längsten

digt die Nachtarbeit die Gesundheit: Dieständig wechselnden Arbeitszeiten füh-ren dazu, dass Schichtarbeiter nicht genü-gend Schlaf bekommen. Wer permanentSchichtdienst leistet, schläft nur ungefährsechs Stunden pro Tag. Zusätzlich ziehtdie berufsbedingte Abwendung vom nor-malen Biorhythmus die Schlafqualität inMitleidenschaft.

Eine Belastung der besonderen Art stel-len die Sorge um den Arbeitsplatz und dieArbeitslosigkeit dar. Auch deshalb habenBeamte eine überdurchschnittliche Lebens-erwartung: Ihr Einkommen ist gesichert,und es steigt bei den meisten in regel-mäßigen Abständen.

Bei gering qualifizierten Arbeitern undunteren Angestellten fallen schlechte Ar-beits- und Wohnbedingungen häufig miteinem gesundheitsschädlichen Lebensstilzusammen. Der Konsum von Alkohol undTabak ist ausgeprägter, Übergewicht undBewegungsmangel sind häufiger. Die Ange-hörigen der unteren Sozialschichten neh-men auch seltener Früherkennungsmaß-nahmen in Anspruch und lassen sich nurschwer von einem gesünderen Verhaltenüberzeugen.

Wie sollte es auch anders sein? Der Kon-sum von Alkohol und Nikotin und die Ori-entierung an den kurzfristig erreichbarenFreuden des Lebens kompensieren den

Frust des Alltags. Außerdem erweisen sichmanche Risikofaktoren des persönlichenVerhaltens als durchaus verständlich, wennman sie ins Verhältnis zu den Arbeits- undLebensbedingungen setzt: Wie soll einenStraßenbauarbeiter, der heißen Asphaltaufträgt und dessen giftige Dämpfe ein-atmet, der schädliche Zigarettenqualmschrecken?

Wer aber erst einmal alt geworden ist,der hat heutzutage beste Chancen, auch ur-alt zu werden. Aus der Sicht der Bevölke-rungsstatistiker liegt in den Jahrgängen derüber 70-Jährigen das größte Potenzial füreine weitere Steigerung der durchschnittli-chen Lebenserwartung – vorausgesetzt, dem

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alten Menschen fehlt es an nichts Wesentli-chem, und er hat ein stabiles Gemüt.

Die privaten Versicherungen bereitensich, aufgeschreckt durch die demografi-sche Entwicklung und den drohenden Kol-laps etlicher Versorgungssysteme, inzwi-schen auf die steigende Lebenserwartungund die vielen Langlebigen vor. Kurzfristig

müssen, so verordnete es in diesem Junidie Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht, alle privaten Krankenversi-cherungen die neue „Sterbetafel 2004“ihren Kalkulationen zu Grunde legen.

Die politische Klasse lässt vorerst nochProfessoren über Trends und Konsequen-zen nachdenken, am liebsten den vielseiti-

gen Bert Rürup und den rheinländischenMelancholiker Karl Lauterbach. Eigene In-itiativen der Politiker könnten Stimmenkosten, denn Alte und Uralte sind auchwahlberechtigt.

Die steigende Lebenserwartung – undihre Kosten – speisen sich aus vielen Quel-len: Ärztliche Interventionen – Impfstoffe,Antibiotika, Chirurgie, Anästhesie – ha-ben daran einen großen Anteil. Ebensowichtig sind sichere Einkommen im Alter,dazu die modernen Konservierungstech-niken für Lebensmittel, auch Kühlschrän-ke, Telefon und Zentralheizungen.

Die ansteigende Lebenserwartung ergibtsich mithin aus der Addition verschiedenerUrsachen: Herzschrittmacher und Prostata-operationen schenken dem Leben ebensozusätzliche Jahre wie die Pflegeversiche-rung, der rollende Mittagstisch, Behinder-tenfürsorge oder – für die höheren Sozial-schichten – der erlesene Klaviervortrag imFestsaal des Seniorenstifts. So werden ausimmer mehr alten Menschen immer mehruralte – gut und sachgerecht versorgt, vonvitalen Ängsten verschont, im Glücksfallsogar liebevoll umhegt.

Wer seinen 100. Geburtstag feiert, demgratuliert der Bundespräsident persönlich.1965 waren das 158, im vergangenen Jahrschon 3830 Deutsche. Er wird noch mehrzu tun bekommen. Hans Halter,

Kathrin Hecht

„Die Partei allein reicht nicht“Karl Richter, 99, ist Berlins ältestes SPD-Mitglied.

SPIEGEL: Herr Richter, wie schafft manes, 99 Jahre alt zu werden?Richter: Ich hatte eine glückliche Kind-heit und war auch als Jugendlicher immer diszipliniert. In der Arbeiter-jugend haben wir nicht geraucht undnicht getrunken. Insgesamt habe ich inmeinem Leben nur kurze Zeit ge-raucht.

SPIEGEL: Und wie erklären Sie sich,dass Sie noch so außergewöhnlich fitsind?Richter: Vor allen Dingen muss man inBewegung bleiben. Man kommt nichtdadurch weiter, dass man zu Hause aufdem Sofa versackt. Eine ViertelstundeSpaziergang am Tag hilft schon. Ichhabe auch viel Bergwandern gemacht,schon in meiner Jugend.SPIEGEL: Was können Sie jüngerenMenschen für ein erfolgreiches Lebenmit auf den Weg geben?Richter: Partei und Gewerkschaft alleinreichen nicht aus, um lange zu leben,man muss sich auch der Kunst und derLiteratur widmen. Außerdem darf mansich nicht von allem niederdrücken lassen.