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Wissenschaftstheorie Dritte Vorlesung (3/9) Die Dogmen des Empirismus. Theoretische und empirische Terme Christian Damböck Institut Wiener Kreis http://homepage.univie.ac.at/christian.damboeck/vo14/index.html

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Wissenschaftstheorie Dritte Vorlesung (3/9)

Die Dogmen des Empirismus.

Theoretische und empirische Terme

Christian Damböck Institut Wiener Kreis

http://homepage.univie.ac.at/christian.damboeck/vo14/index.html

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Die Dogmen des Empirismus

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Nach dem „received view“ • Die klassischen Thesen des logischen Empirismus wurden

vor allem in der Zwischenkriegszeit entwickelt • Spätestens nach 1945 haben viele Repräsentanten dieser

Tradition die klassischen Positionen zu kritisieren und zu revidieren begonnen

• Die Grundformel Logik + Empirismus blieb dabei jedoch unangetastet, weshalb diese späteren Repräsentanten durchwegs auch als (wenn auch nicht-klassische) logische Empiristen gesehen werden können

• Teils handelt es sich um die selben Personen wie beim received view (Carnap, Hempel), oft um diesen nahe stehende Persönlichkeiten (Quine, Suppes, Stegmüller, Feyerabend)

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W. V. O. Quine (1951): Zwei Dogmen des Empirismus

• Der Ansatz schlechthin, den logischen Empirismus von innen heraus zu kritisieren (und zu reparieren)

• Für Quine ist der log. Emp. von zwei Dogmen infiziert:

Erstes Dogma: die strikte Trennung von „synthetisch“ und „analytisch“ Zweites Dogma: der Reduktionismus

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Erstes Dogma: Strikte Trennung von „synthetisch“ und „analytisch“

• Für die log. Emp. existieren, laut Quine, nur zwei strikt zu trennende Kategorien von Sätzen: (1) synthetische bzw. rein empirische Urteile, (2) analytische bzw. rein formal-mathematische Urteile

• Quine argumentiert dagegen, dass die meisten Urteile unmöglich einer dieser beiden Kategorien zugeordnet werden können, sondern irgendwo im Spektrum dazwischen angesiedelt sind

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• Beispiel 1: „Ein Junggeselle ist ein unverheirateter Mann“ trägt eine empirische Bedeutung, die verhindert, dass der Satz rein analytisch aufgefasst werden kann

• Beispiel 2: Naturgesetze sind weder analytisch noch synthetisch, sondern etwas dazwischen

• Beispiel 3: Die Sätze der Mathematik sind, gegeben die Unmöglichkeit einer vollständigen Definition mathematischer Wahrheit in der Sprache der Mathematik selbst, nicht rein analytisch

• Beispiel 4: Die Gesetze der Logik sind ebenfalls nicht rein analytisch, sondern könnten unter bestimmten Umständen revidiert werden

• Beispiel 5: „Wien liegt an der Donau“ ist nicht rein synthetisch, weil es Definitionen, Festsetzungen erfordert, die etwas Analytisches haben

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Zweites Dogma: Reduktionismus

• Reduktionismus ist, für Quine, die Auffassung, dass jede empirisch signifikante Aussage in eine Sinnesdatensprache übersetzt werden kann

• Das heißt insbesondere: Alles was wir über physikalische Objekte (Steine, Bäume, Planeten, Atome, Elektronen) sagen können muss sich in Aussagen transformieren lassen, die sich nur auf die Sinnesdaten einer einzelnen Person beziehen

• Quine schreibt diese Theorie Carnap‘s Aufbau zu vgl. die Neunte Vorlesung

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• Quine räumt ein, dass Carnap die Doktrin des Aufbau längst verworfen hat – siehe den in der letzten Vorlesung dargestellten Physikalismus, der keinerlei Reduktion auf Sinnesdaten vorsieht

• Aber Quine setzt fort, dass das Dogma des Reduktionismus auch in Carnaps Physikalismus überlebt hat, in der Gestalt der „Verifikationstheorie der Bedeutung“:

• Die Auffassung, dass sich jede rein empirische (synthetische) Aussage eindeutig verifizieren oder falsifizieren lässt, ist, für Quine, eine Instanz des Reduktionismus

• Anmerkung: wir wissen mittlerweile, dass Carnap kein Verifikationist gewesen ist, folgen aber doch Quines Argument (das zwar vielleicht nicht als Kritik an Carnap, aber als allgemein-philosophisches Argument funktioniert)

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Die sog. Duhem-Quine-These „The dogma of reductionism survives in the supposition that each statement, taken in isolation from ist fellows, can admit of confirmation or infirmation at all. My countersuggestion, issuing essentially from Carnap‘s doctrine of the physical world in the Aufbau, is that our statements about the external world face the tribunal of sense experience not individually but only as a corporate body.“ (S. 41) • „Unsere Aussagen über die Außenwelt stellen sich dem

Tribunal der Sinneserfahrung nur als Körperschaft, in ihrer Gesamtheit.“

• Quine beruft sich bei dieser Formulierung explizit (in einer Fußnote) auf den Wissenschaftstheoretiker Pierre Duhem (1861-1916)

• Diese Auffassung wird auch als Holismus bezeichnet

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Neuraths Schiffergleichnis

• Man kann aber auch vermuten, dass Quines Konzeption, neben dem explizit erwähnten Duhem, von dem an dieser Stelle unerwähnt bleibenden Neurath beeinflusst ist und dessen Schiffergleichnis:

„Es gibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere Protokollsätze zum Ausgangspunkt der Wissenschaft zu machen. Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ (Neurath, Protokollsätze, 1932)

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Die zwei Dogmen sind im Kern identisch

• Der Reduktionismus ist, für Quine, vor allem deshalb unmöglich weil es unmöglich ist strikt zwischen analytischen und synthetischen Urteilen zu unterscheiden

• Es gibt also insbesondere keine rein empirischen Urteile, die wir eindeutig und endgültig verifizieren oder falsifizieren könnten

„The dogma of reductionism, even in its attenuated form, is intimately connected with the other dogma – that there is a cleavage between the analytic and the synthetic. We have found ourselves led, indeed, from the latter problem to the former through the verification theory of meaning. […] The two dogmas are, indeed, at root identical.“ (S. 41)

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Empirismus ohne die Dogmen = Holismus

“The totality of our so-called knowledge or beliefs, from the most casual matters of geography and history to the profound laws of atomic physics or even of pure mathematics and logic is a man-made fabric which impinges on experience only along the edges. Or, to change the figure, total science is like a field of force whose boundary conditions are experiences. A conflict with experience at the periphery occasions readjustments in the interior of the field. Truth values have to be redistributed over some of our statements. Reevaluation of some statements entails reevaluation of others because of the logical interconnections. …..But the total field is so underdetermined by its boundary conditions, experience, that there is much latitude of choice as to what statements to reevaluate in the light of any single contrary experience. No particular experience are linked with any particular statements in the interior of the field, except indirectly through considerations of equilibrium affecting the field as a whole.” (S. 42)

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Das web of belief

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rein empirisch

völlig analytisch

(fast) alle Aussagen sind im Spektrum zwischen den Extremen angesiedelt

Revision einer einzelnen Aussage bewirkt stets eine Revision des gesamten web of belief. Alles hängt irgendwie mit Allem zusammen

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Empirische Unterbestimmtheit • Ein anderer Gesichtspunkt von Quines Holismus ist der

der sogenannten empirischen Unterbestimmtheit • Weil Theorien nur am äußersten Ende mit der

Erfahrung zusammenhängen sind sie durch die Erfahrung unterbestimmt:

• Die Erfahrungsseite alleine charakterisiert eine Theorie nie vollständig, jede Theorie sagt mehr als das was sie erfahrungsmäßig impliziert

• Wie aber können wir eine Entscheidung über den Teil der Theorie treffen, der nicht mit ihrer Erfahrungsseite identisch ist? Wissenschaftliche Realismusdebatte, Vorlesung 5

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Trifft die Kritik Quines ihren Hauptadressaten (nämlich Carnap)?

• Der propagandistische Zug in Quines Argumentation – also die Behauptung nun (1951) etwas völlig neues anzubieten, was in einem strikten Gegensatz zu allem vorherigen steht – scheint aus heutiger Sicht problematisch

• Quines Identifikation des Aufbau als Reduktionismus ist (wie wir in der 9. VO sehen werden) problematisch

• Quine rennt mit seinem Holismus zumindest bei einem Hauptvertreter des Wiener Kreises, nämlich Neurath, offene Türen ein

• Eher kann man vielleicht sagen, dass Quine den Standpunkt der Wissenschaftstheorie, von der von Carnap vorgeschlagenen strikten Innenansicht, tendenziell auf die von Neurath bevorzugte Außenansicht verlagert

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Quines naturalisierte Epistemologie

• Die Außenansicht der Wissenschaften äußert sich bei Quine (anders als etwa bei Neurath) jedoch nicht in der Gestalt eines wissenschaftshistorischen Zugangs!

• Stattdessen schlägt Quine vor, die Wissenschaften, als menschliche Aktivitäten, empirisch zu untersuchen, mit den Methoden, der Psychologie, der Neurowissenschaften, der Kognitionswissenschaften

• Quine ist der Erfinder des Naturalismus in seiner heutigen Form

• Allerdings geht diese Idee im Prinzip natürlich (dessen war sich Quine ohne Zweifel bewusst) auf die klassischen Empiristen und Positivisten (Hume, Comte, Mill, etc.) zurück

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Quine und die Folgen

• Quines Kritik ist der Startpunkt für fast alle in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts formulierten Revisions- und Reperaturversuche des logischen Empirismus

• Beispiel 1: Theoriegeladenheit der Beobachtung ( zweiter Teil dieser VO)

• Beispiel 2: Empirische Unterbestimmtheit ( Semantik VO 4, Abduktion VO 5, Realismus VO 6)

• Beispiel 3: Die Außenansicht der Wissenschaften ( Kuhns historischer Ansatz VO 7)

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Theoretische und empirische Terme

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Von Sätzen zu Termini • In der vorigen VO haben wir wissenschaftliche Theorien

formal-logisch weitgehend als bloße Satzmengen betrachtet, ohne nach Formalisierungen für die einzelnen wissenschaftlichen Termini zu suchen.

• Eine solche Betrachtung aus der Vogelperspektive ist sicher legitim – sie hilft wichtige Gesichtspunkte des wissenschaftlichen Tuns zu illustrieren

• Dennoch hat sie den gravierenden Nachteil, dass sie zwar für Theorien als Ganzes rationale Rekonstruktionen anbietet, nicht aber für diejenigen Bestandteile der Sprache, anhand derer Theorien formuliert werden

• Es wäre also wünschenswert, Termini in den Formalismus einzubeziehen

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Einführung der Termini in die formale Sprache

• Ordnen wir nun den einzelnen Termini einer wissenschaftlichen Sprache eine Formalisierung zu:

• Einzelobjekte: Individuenkonstanten 𝑎, 𝑏, 𝑐, … Beispiel: Baum, Tisch, Raumzeitpunkt

• Klassenbegriffe: Prädikatenkonstanten 𝑃,𝑄,𝑅, … Beispiel: Rot, Geschwindigkeit, Zeit, Kraft, Masse

• Die Frage ist nun einmal, wie genau ein Satz aussieht, der ein Teil der abstrakten Formulierung der Theorie ist und ein solcher, der sich auf beobachtbare Inhalte bezieht?

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Beispiele: „Schwäne sind weiß“ (abstrakt) ∀𝑥: 𝑆(𝑥) → 𝑊(𝑥) „Schwan Egon ist weiß“ (empirisch) 𝑊(𝑒) „Kraft ist Masse mal Beschleunigung“ (abstrakt) ∀𝑥:𝐹 𝑥 = 𝑚 𝑥 𝑎(𝑥) Die Aufgabe wäre nun, alle Termini, die in solchen Formeln vorkommen, zu definieren. Problem: einige Ausdrücke müssen als elementar gesetzt werden und somit als Grundlage der Definition der anderen herangezogen werden Beispiel: 𝑆 und 𝑊 sind offenbar elementar, weil beobachtbar. Im Fall des Newtonschen Gesetzes wird die Frage schon schwieriger zu beantworten…

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Das Zwei-Sprachen-Modell

• Idee: all jene Termini auszuzeichnen, die sich auf beobachtbare Phänomene beziehen (Beobachtungsterme) und dann für alle anderen Termini (theoretische Terme) solche Definitionen zu suchen, in denen nur Beobachtungsterme vorkommen

• Wie funktioniert eine solche Definition im Fall hochabstrakter wissenschaftlicher Theorien?

• POINTIERT: Wie soll man eine Sprache, die ausschließlich aus theoretischen Termen besteht, in einer Beobachtungssprache definieren?

• Diese Frage wird uns diese und auch die nächste VO beschäftigen

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Das Problem

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Elektronen, Quarks, Impulse und andere theoretische Entitäten im Nicht-Beobachtbaren Bereich der Quantenphysik

Sätze der theoretischen Quantenphysik

??? Gesucht ist eine Reduktion dieser Sätze einer rein theoretischen Sprache auf die Sätze einer Beobachtungssprache. Beispiel: Vorgänge im Teilchenbeschleuniger, Spuren am Bildschirm, sonstige Beobachtungen der Experimentatoren Wir diskutieren drei Lösungsvorschläge:

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Lösung 1: Korrespondenzregeln

• Beispiel: In der theoretischen Sprache der Quantenphysik kommen zwar nur theoretische Terme vor, aber diese theoretischen Terme werden in ein experimentelles Vokabular eingebettet (Reden über Teilchenbeschleuniger, Spuren auf Bildschirmen, etc.)

• Man könnte also versuchen, die in der experimentellen Sprache der Quantenphysik vorkommenden beobachtbaren Beschreibungen als Korrespondenzregeln aufzufassen, anhand derer sich indirekt und partiell die theoretischen Terme definieren bzw. eliminieren lassen.

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Elektronen, Quarks, Impulse und andere theoretische Entitäten im Nicht-Beobachtbaren Bereich der Quantenphysik

Sätze der theoretischen Quantenphysik

Sätze der physikalischen Experimentatoren

Korrespondenzregeln (der Wissenschaftstheorie)

Vorgänge im Teilchenbeschleuniger, Spuren am Bildschirm, Beobachtungen

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• Vorteil von Lösung 1: Korrespondenzregeln stellen in sehr anschaulicher Weise eine Verbindung zwischen theoretischen und empirischen Bestandteilen einer Theorie her. Sie beschreiben einen Zusammenhang, der für das Verständnis des Zusammenhangs von Theorie und Empirie unerlässlich erscheint.

• Nachteil von Lösung 1: Korrespondenzregeln müssen in gewisser Weise von der Wissenschaftstheorie erst erfunden werden.

• Eine Lösung wäre gefragt, bei der sich die Elimination bzw. Definition theoretischer Terme automatisch ergibt bzw. in den Sätzen der Wissenschaftler schon drinnen steckt, für jede beliebige Theorie. Dies führt uns zu den Lösungen 2 und 3

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Lösung 2: Der Ramsey-Satz (und der Carnap- und der Lewis-Satz)

• Die Lösung des Problems kann gewissermaßen ausgelagert werden, indem man versucht jede theoretische Aussage durch ein formal konsistentes (analytisches) Verfahren in eine solche zu transformieren, die nur mehr Beobachtungsterme beinhaltet, und deren Gültigkeit dann von den Wissenschaften entschieden werden muss.

• Der sogenannte Ramsey Satz liefert Ansätze zu einem solchen Verfahren, indem dort theoretische Terme einfach weg quantifiziert werden:

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• Seien alle theoretischen Terme einer Sprache in der Gestalt von Prädikaten 𝑃,𝑃′,𝑃′′, … gegeben

• Sei dann 𝜑 irgendeine Aussage der Sprache und seien 𝑃1, … ,𝑃𝑛 alle theoretischen Terme, die in 𝜑 vorkommen, dann ist der Ramseysatz von 𝜑 definiert als diejenige Formel, die man erhält, wenn man 1. jedes Prädikat 𝑃𝑖 (für alle 𝑖 zwischen 1 und 𝑛) in

𝜑 durch eine Prädikatenvariable 𝑋𝑖 ersetzt, schreib 𝜑[𝑃1, … ,𝑃𝑛 → 𝑋1, … ,𝑋𝑛] sowie

2. in der so resultierenden Formel über alle neu eingeführten Variablen existenzquantifiziert: ∃𝑋1, … ,∃𝑋𝑛:𝜑[𝑃1, … ,𝑃𝑛 → 𝑋1, … ,𝑋𝑛]

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• In dem Ramseysatz einer Formel 𝜑 ∃𝑋1, … ,∃𝑋𝑛:𝜑 𝑃1, … ,𝑃𝑛 → 𝑋1, … ,𝑋𝑛

werden also alle theoretischen Terme durch Existenzbehauptungen ersetzt.

• Man kann nun annehmen, dass der Ramseysatz tatsächlich so etwas wie die Reduktion 𝜑 der theoretischen Terme einer Theorie auf empirische Terme repräsentiert, da er ja keine theoretischen Terme mehr enthält und da andererseits die folgende, Carnap-Satz genannte, Aussage gelten sollte: ∃𝑋1, … ,∃𝑋𝑛:𝜑 𝑃1, … ,𝑃𝑛 → 𝑋1, … ,𝑋𝑛 → 𝜑

Also: Wenn der Ramseysatz von 𝜑 gilt, so gilt auch 𝜑 selber.

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• Diese Auffassung setzt aber die (von Carnap favorisierte) instrumentalistische Interpretation des Ramsey-Satzes voraus, nämlich die Annahme, dass der Ramsey-Satz tatsächlich ein rein empirischer, nicht-theoretischer Satz ist.

• Dem könnte man entgegenhalten, dass in dem Ramsey-Satz immer noch über theoretische Entitäten quantifiziert wird (realistische Interpretation).

• David Lewis (1970) hat deshalb vorgeschlagen, den Ramsey-Satz zur Grundlage der Definition von theoretischen Termen zu nehmen. Gilt nämlich der Lewis-Satz:

∃!𝑋1, … ,∃!𝑋𝑛:𝜑 𝑃1, … ,𝑃𝑛 → 𝑋1, … ,𝑋𝑛 , also: es gibt genau ein 𝑋1 etc.

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• … dann kann man auf der Grundlage der Gültigkeit dieses Satzes in naheliegender Weise explizite Definitionen der theoretischen Terme der Theorie angeben

• Der Carnap-Satz und der Lewis-Satz verweisen also auf zwei konträre Auffassungen theoretischer Terme: die instrumentalistische und die realistische.

• Frage: Sind theoretische Terme bloß Instrumente oder existieren sie wirklich? Kann man sie eliminieren oder sind sie unverzichtbare Bestandteile unseres theoretischen Räsonierens über die Welt?

Literatur zu diesem Detailproblem: Gerhard Schurz, Philosophy of Science. A Unified Approach, New York: Routledge, 2014, 299-306.

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Elektronen, Quarks, Impulse und andere theoretische Entitäten im Nicht-Beobachtbaren Bereich der Quantenphysik

Sätze der theoretischen Quantenphysik

Ramseysatz, Carnapsatz, Lewissatz →

Wir treffen keinerlei Festsetzungen hinsichtlich der hier, auf der empirischen Seite, zu findenden Repräsentationen der Theorie

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Begging the question? • Das eigentliche Problem, nämlich einen konkreten Bezug

zwischen theoretischen Termen und empirischen Beschreibungen herzustellen, scheint hier durch einen Trick umgangen.

• Frage: Was bleibt bei der Quantenphysik an empirischen Termen übrig? Mögliche Antwort: Ort eines Teilchens, Masse eines Teilchens u.dgl., also Dinge, die nicht beobachtbar sind!

• Wenn man sich von einer Reduktionsprozedur die Angabe einer konkreten Übersetzungsvorschrift in eine reine Beobachtungssprache erwartet, dann ist Lösung 2 eher keine Option

• Einen Ansatz, der weniger ad hoc als Lösung 1 erscheint, stellt die in der nächsten Vorlesung diskutierte Lösung 3 (Theorien als Strukturen) dar.

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Lektüre zur Vorlesung Zu Quine: Martin Curd, J. A. Cover, Christopher Pincock: Philosophy of Science. The Central Issues, 2013, ch. 3 Zum Reduktionismusproblem und seinen verschiedenen Lösungen: Gerhard Schurz, Philosophy of Science. A Unified Approach, Routledge, 2014, ch. 3, 5.1-5.3, 5.8 Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band II: Erster Halbband, Theorie und Erfahrung.

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