Wolfgang Bittner, Hellers allmähliche Heimkehr

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VAT Roman Wolfgang Bittner Hellers Heimkehr allmähliche

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Martin Heller kehrt als Chefredakteur der Lokalzeitung in die norddeutsche Kleinstadt zurück, in der er aufgewachsen ist. Schon bald gewöhnt er sich ein, alte Freundschaften leben wieder auf, er findet eine neue Liebe. Doch ein dichter Filz aus Korruption, Beziehungen und Abhängigkeiten versteckt sich hinter gutbürgerlicher Fassade, eine rechtsradikale Kameradschaft hat erstaunliche Macht und wird gedeckt, der Herausgeber und Eigentümer der Zeitung und andere Größen der Stadt sind in die Machenschaften involviert. Martin Heller geht gegen den Filz vor, auch wenn das ein hohes Risiko für ihn und seine Umgebung bedeutet. Ein realistischer, spannender Roman über die sozialen Wurzeln des Rechtsradikalismus, über Vetternwirtschaft und Intrigen, über Mut und Scheitern, über Liebe und Freundschaft und über den ganz normalen politischen Wahnsinn in unserem Land.

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VATRoman

Wolfgang Bittner

Hellers

Heimkehrallmähliche

Wolfgang Bittner

HellersallmäHlicHe HeimkeHr

Roman

Verlag André Thiele

Leseauszug

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ainz.de

© VAT Verlag André iele, 2012Alle Rechte vorbehalten.Umschlag: gestaltungsmerkmal.de, DresdenSatz: Felix Bartels, OsakaDruck: ANROP Ltd., JerusalemErste Auflage, Juni 2012isbn 978-3-940884-93-0

Printed in Israel.

Es giebt so viele Morgenröthen,die noch nicht geleuchtet haben.

Friedrich NietzscheMotto aus dem Rigveda

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In den vergangenen Wochen hatte er seine Wohnung aufgelöstund alles, was er behalten wollte, eingelagert. Beim Einpacken derBücher war ihm Sartres »Der Existenzialismus ist ein Humanismus«in die Hände gefallen. Er hatte den schmalen Band aufgeschlagenund den vor Jahren unterstrichenen Satz gelesen: »Der Mensch istdas, wozu er sich macht.« Daran musste er denken, während erSchallbrecht zuhörte, der von dem Doppelvergaser seines Alfa Ro-meo sprach, den ihm die Autowerkstatt seiner »Universitätspro-vinzstadt« – so beliebte er sich auszudrücken – nicht ohne langeWartezeit reparieren konnte: »Stell dir vor, eine Woche Lieferzeit!Ja, wo sind wir denn?«

Heller musste sich ein Grinsen verkneifen, als er Schallbrechtgenauer betrachtete: Brandroter Schal über dem giftgrünen Sakko,das eine ansehnliche Rundung freigab; sein Gesicht fleischiger alsfrüher, zugleich konturierter, härter. Eine farblich zum Sakko pas-sende Designerbrille, am Revers ein kreuzförmiges Gebilde, eineArt Brosche, aus Gold oder Bronze. War er etwa religiös geworden?Das am Scheitel schon spärliche angegraute Haar trug er halblang,hinten bis auf den Kragen fallend, so dass man ihn für einen ea-terintendanten oder Kulturorganisator hätte halten können. EinMann, immer noch wie eine Rakete, etwas bullig zwar, aber aufeine weltläufige Art polternd, Aufgeschlossenheit demonstrierend.Merkwürdigerweise fiel ihm plötzlich »Corpus Christi« ein; dashatte auf einer amerikanischen Rakete gestanden, die mit Atom-sprengköpfen ausgerüstet werden konnte. Ja, so ähnlich, so bigott.Aber auch kumpelhaft freimütig und manchmal sogar hilfsbereit,jedenfalls zu der Zeit, als er sich noch Nobbi nannte.

Warum war er nach dem Tanken nicht einfach wieder einge-stiegen und weitergefahren? Warum hatte er sich von NorbertSchallbrecht überreden lassen, mit ihm auf einen Kaffee in dieRaststätte zu gehen, nachdem sie sich zufällig begegnet waren?Draußen rasten die Autos vorbei, eines hinter dem anderen inbeide Richtungen, eine nie endende Karawane von Vergeblichkeit.

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Er ist ein Schwein, ein karrierebesessener Schwätzer, dachte Heller.Er meinte, eine Spur von Befangenheit in der polterigen, Opti-mismus ausstrahlenden Fröhlichkeit seines Gegenübers zu bemer-ken. Schlechtes Gewissen? Schallbrecht hatte wirklich Grunddazu.

Die Serviererin brachte zwei Kännchen Kaffee und noch für je-den ein Stück Käsetorte, dazu hatte er sich ebenfalls überredenlassen. Wie es denn mit einem Cognac aussehe. Er winkte ab, undSchallbrecht erkundigte sich, was er beruflich so mache. Hellerbrauchte einen Moment. Er nahm einen Schluck Kaffee, bevor erantwortete: »Ich bin gerade dabei, in den Norden zu fahren, umeine neue Stelle anzutreten.« Und nach einer Weile fügte er hinzu:»Als Chefredakteur bei einer Zeitung.« Er fühlte sich nicht wohl,ihm war klar, dass er sich den folgenden Fragen, denen er lieberausgewichen wäre, nicht würde entziehen können, versuchte esmit einer Gegenfrage: »Und du, was treibst du so?«

Schallbrecht lachte selbstgefällig und erwiderte, Bescheidenheitvortäuschend, denn er wusste ja, dass Heller wusste, was er machte:»Na ja, immer noch Lehre und Forschung mit allen Problemen,die man heutzutage als Proff so hat.« Er nahm genüsslich einenBissen Käsetorte und fuhr dann fort: »Du kennst das ja, die Stu-denten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren – ich meinegenerell, unter gesellschaftspolitischem Aspekt und vom wissen-schaftsübergreifenden Niveau her. Es mangelt nicht nur an einerumfassenden Bildung, sondern auch an spielerischer Diligenz underst recht an kreativer Intellektualität.«

So ein Fatzke, dachte Heller. Warum tue ich mir das an? Undden habe ich seinerzeit für eine Professur vorgeschlagen. Er fühltesich schlecht. Es war ihm wieder vor Augen, wie er sich für Schall-brecht eingesetzt hatte, damals, als er in der Berufungskommissionfür die Universitätsgründung in O. saß und selber an seiner Uni-versität kurz vor der Berufung stand, die ihm wenige Monatespäter verweigert wurde. Man hatte ihn in dieses Gremium alsVertreter der Assistentenschaft entsandt, und er hatte Schallbrechtaus alter Verbundenheit protegiert und gegen stärkste Widerständedurchgesetzt. Diligenz, überlegte er, bedeutet das nicht Fleiß oderSorgfalt?

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»Mensch, Martin!«, hörte er diese affektierte, satte Stimme.»Wenn ich daran denke, was wir alles auf die Beine gestellt undwofür und wogegen wir so demonstriert haben. Es fehlt den jungenLeuten ja gar nicht an Intelligenz; ich möchte wetten, die hat ehernoch zugenommen – mag sein, dass auch ein gutes Stück Geris-senheit dabei ist. Aber heute haben wir es mit lauter kleinen Kar-rieristen und Karrieristinnen zu tun. Manche besitzen sogar schonAktien oder eine Eigentumswohnung, die ihnen Papa geschenkthat, und ihr Hauptaugenmerk gilt neben der Karriere ihrem Outfit.Sie sind Weltmeister im Auswendiglernen und stöpseln sich an-sonsten die Ohren zu. Dazu kommt noch die Verschulung durchdieses Bachelor-Master-Studium.« Er seufzte. »Die Eltern zahlendie Studiengebühren. Bei denen, die aus anderen Verhältnissenkommen, gehen die Semesterferien fürs Geldverdienen drauf, wor-über nicht gesprochen wird. Elite ist wieder in Mode gekommen,fragt sich bloß, was für eine Elite.« Er seufzte nochmal. »Jetzt gibtes die sogenannten Exzellenz-Universitäten – unsere ist natürlichnicht dabei, tiefste Provinz.« Mensch Martin«, er hob theatralischdie Hände, »was ist nur aus unserem Wissenschaftsbetrieb gewor-den!«

»Jedenfalls nicht das, was wir uns mal vorgestellt haben«, ent-gegnete Heller, nur um etwas zu sagen, hörte kaum noch hin, allesfiel ihm wieder ein. Wie er Schallbrecht ein Jahr danach geschriebenhatte, sozusagen einen Bittbrief, den er sich hatte abringen müssen,und auf den er nie eine Antwort bekam. Sie hatten sich schonwährend des Studiums kennen gelernt, waren gemeinsam im Stu-dentenausschuss gewesen und nach dem Studium als Doktorandenmit Assistentenstellen an der Universität geblieben. Er war sogarin den Fakultätsrat gewählt worden, wo er sich politisch engagierthatte. Das war sein Fehler gewesen, damit hatte es angefangen.

So ganz sympathisch war ihm die Nähe zu diesem Kollegen,mit dem er nie richtig befreundet war, schon damals nicht gewesen.Schallbrecht hatte geradezu an ihm geklebt, ihn hofiert, zugleichauch benutzt, indem er sowohl seine Examensarbeit als auch seineDoktorarbeit mit ihm durchgegangen war. Insofern hatten sie vielZeit miteinander verbracht, oft auch außerhalb des Universitäts-betriebs. Dass sich daraus ein Konkurrenzverhältnis ergeben könnte,

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war ihm nicht in den Sinn gekommen; das wurde ihm erst bewusst,als sein Brief, in dem er seine prekäre Situation erklärt hatte, mitSchweigen beantwortet wurde.

»Und wie das Gescherr, so der Herr«, riss ihn SchallbrechtsStimme aus seinen Gedanken. »Die meisten der verehrten Proffssind nicht besser als ihre Schäfchen. Du weißt, das hat Schillerschon in seiner Antrittsrede in Jena gesagt, wo er den gelehrtenKollegen die Leviten gelesen hat: Sie seien zwar emsig und fleißig,trügen aber nur Fakten zusammen, die sie nicht zu einem Ganzenvereinen könnten.« Er amüsierte sich. »Das kommt letzten Endesdabei heraus, wenn jeder schmalspurig auf seine Karriere hinar-beitet. Davor haben wir doch früher schon gewarnt, nicht wahr?Was haben wir gepredigt!«

Schiller. Heller erinnerte sich, dass er im Fakultätsrat und in ei-nem Artikel für die Studentenzeitung, der ihm mehr Feinde alsFreunde eintrug, aus dieser Jenaer Antrittsrede zitiert hatte: Dassdie Brotgelehrten – und damit meinte Schiller seine Professoren-Kollegen – ihr Wissen nur als Mittel zum Zweck benutzten, alseine Möglichkeit, Geld und Ansehen zu erwerben. Sollte Schall-brecht das tatsächlich mehr als zwanzig Jahre lang im Gedächtnisbehalten haben? Oder war in diesen mehr als zwanzig Jahreneinfach nichts Neues mehr hinzugekommen?

Alles noch parat. Goethe hatte seinen Dichter-»Freund« 1789für eine Professorenstelle mit den Worten vorgeschlagen: »Ein HerrFriedrich Schiller, welcher sich durch eine Geschichte des Abfallsder Niederlande bekannt gemacht hat, soll geneigt sein, sich ander Universität Jena zu habilitieren.« Und der Geheime Rat hatteseiner Empfehlung hinzugefügt: »Die Möglichkeit dieser Akquisi-tion dürfte umso mehr zu beachten sein, als man sie gratis habenkönnte.« Obwohl der Dichterfürst wusste, dass Schiller finanzielleNot litt und vielleicht, um den Konkurrenten kaltzustellen, den erin Weimar loswerden wollte.

Wie sich die Verhältnisse ähneln und wiederholen. Wo manhinschaut, diese Intrigenspiele. Der Ordinarius, dessen Unmut, jaHass, er sich seinerzeit im Fakultätsrat zugezogen hatte, hieß Hol-termann. Er war Nazi gewesen, in jungen Jahren sogar bei der SS,immerhin im Offiziersrang, und stand völlig unangefochten vor

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seiner Emeritierung. Dieser Holtermann, der sich gern reden hörte,hatte mehrmals von seinen heldenhaften Einsätzen auf dem Balkangesprochen. Heller war bei solcher Gelegenheit eines Tages derKragen geplatzt und er hatte Holtermann entgegengehalten: »Wirwissen doch nun schon seit Längerem, dass Sie eine ganze Kom-panie auf den Balkan geführt haben und als Einziger zurück -gekommen sind. Also verschonen Sie uns bitte in Zukunft mit Ih-ren Heldensagen.« Das hatte gesessen, ein homerisches Gelächterwar die Folge gewesen. Holtermanns Protegé und NachfolgerHaffke hatte kurze Zeit darauf die Berufung mit der Begründungverhindert, Heller sei erstens unkollegial und zweitens ultralinksorientiert. So lief das damals.

»Und du«, holte ihn Schallbrechts Stimme wieder in die Ge-genwart, »wie geht es dir so? Du sprachst von einer Stelle als Chef-redakteur, die du antrittst.«

»Ja, in Salfelden, falls du weißt, wo das ist.« Heller musste sicherst wieder sammeln, auf seinen Gegenüber einstellen. »Ich bindort aufgewachsen und habe nie ganz den Kontakt verloren, kennemich insofern ein wenig aus.«

»Ach, in Salfelden.« Schallbrecht zog die Stirn in Falten. »Dasist ja nicht weit von mir entfernt. Ich glaube, ich bin einmal aufdem Weg zur Küste da durchgefahren. Muss ganz nett und idyllischsein, vor allem etwas ruhiger als in der Großstadt.«

»Sie haben eine Lokalzeitung und ich denke, dass ich dort einigermaßen selbständig arbeiten kann. Jedenfalls scheint sichder Eigentümer, der zugleich Herausgeber ist, nicht weiter umsein Blatt zu kümmern. Sie wollten mich haben, und der Ver-trag, der mir angeboten wurde, ist nicht schlecht. Was will manmehr?«

»Ich vermutete dich immer noch im Rheinland«, fasste Schall-brecht nach und traf damit den neuralgischen Punkt, den Hellerlieber umgangen hätte. »Warst du nicht als Chefredakteur beidieser großen Tageszeitung, wie heißt sie denn gleich?«

»Schnee von gestern«, schnitt ihm Heller das Wort ab. »Ichhabe mich anders orientiert, wollte gern in einen ländlichen Bereich,es ein bisschen ruhiger angehen.«

»Und die Familie zieht mit?«

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»Bin seit einigen Jahren geschieden, habe in letzter Zeit gemerkt,dass der Beruf nicht alles ist und dass ich am Leben vorbeigehe,wenn ich so weitermache, wie bisher.«

»Kann ich gut nachvollziehen.« Schallbrecht nickte ihm ver-ständnisvoll zu. »Dieser permanente Stress! Wer weiß, wie vieleJahre uns noch zugebilligt werden. Ich habe mir da einen kleinenAusgleich geschaffen, sozusagen mein Refugium: Ein Rustico inder Toskana, mitten in einem Weinberg. Paradiesisch, kann ichdir sagen, und es war gar nicht teuer für unsere Verhältnisse. Vondort komme ich gerade.« Er geriet ins Schwärmen und berichtetevon Rotweinabenden mit Freunden und von kulinarischen Ge-nüssen besonderer Art. Da gebe es eine Partnerschaft mit der Uni-versität in Florenz, tolle Leute, von denen er den Tipp mit demWeingut hatte. Auch er sei inzwischen geschieden, die Kinderschon erwachsen. »Eigentlich fühle ich mich sauwohl«, beendeteer seinen Ausflug in die Privatsphäre. »Meine Exfrau ist Anwältin,wieder verheiratet und stellt keine Unterhaltsansprüche. Nach derScheidung habe ich ein ganz neues Leben angefangen.« Er stießein Lachen aus, das Heller unangenehm berührte, und setzte hinzu:»An Frischfleisch fehlt es ja nicht, das läuft einem an der Uni gera-dezu nach.«

Er schwieg eine Weile und sie sahen zum Panoramafensterhinaus auf die nicht endende Blechlawine. »Ich meine, ich wäre jaauch liebend gern nach Harvard oder Princeton gegangen«, stießSchallbrecht plötzlich hervor. »Stattdessen sitze ich in so einemKaff und unterrichte die Möchtegernelite.« Er atmete tief durchund setzte mit den Worten »na ja, man muss das Beste draus ma-chen« wieder seine optimistische Heiterkeitsmiene auf.

Heller rief die Serviererin und bat um die Rechnung, dochSchallbrecht ließ es sich nicht nehmen zu bezahlen. »Du bist selbst-verständlich eingeladen, alter Freund!«, trompetete er und über-reichte ihm noch seine Visitenkarte: »Dr. phil. Norbert Schall -brecht, Universitätsprofessor«, auf Bütten. »Damit du meine Adressehast. Wenn du mal vorbeikommst, ruf mich an. Du bist jederzeitgern gesehen, soweit ich im Lande bin.«

Daraus wird wohl nichts werden, dachte Heller, als er NorbertSchallbrecht, bis zu seiner Einstellung in O. Nobbi genannt, auf

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dem Parkplatz hinterher blickte. Alfa Romeo mit Doppelvergaser,Rustico in der Toskana, Rotweinabende, kulinarische Genüsse be-sonderer Art, spielerische Diligenz … Einer von diesen geschicktenHochstaplern, die in jede Talkshow passten und mehr und mehrdas gesellschaftliche und politische Leben beherrschten, auf einedramatisierte Art trivial und von durchtriebener Einfalt.

Die Berufung war also verhindert worden und anschließendkam dann die Entlassung, er hatte ja lediglich einen Zeitvertraggehabt. Zur selben Zeit war eine Stelle in O. frei geworden und erhatte Schallbrecht geschrieben, ihn dringend gebeten, er mögeseine Bewerbung unterstützen. Nichts, nicht einmal ein Anruf, le-diglich die Absage der Universität O. nach einigen Monaten, alser schon arbeitslos war. So war das gewesen.

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Keine Staus, die Aprilsonne durchbrach hin und wieder die Wolkenund an den Bäumen zu beiden Seiten der Autobahn zeigte sich er-stes Grün. Ein wenig freute er sich inzwischen doch auf seine neueStelle und auf Salfelden. Zuerst war es nur eine Notlösung gewesen,vielleicht für zwei oder drei Jahre, so hatte er sich gesagt, bis sichetwas Besseres finden würde. Aber als er vor einem Monat zumVorstellungsgespräch dort gewesen war und dann zwei Wochenspäter noch einmal zur Unterzeichnung des Vertrages und zu einerVerlagsbesichtigung, hatte er sich mit der Stadt ausgesöhnt. ZumTeil lag das an dem Abstand, den er gewonnen hatte, zum Teil ander Herzlichkeit der alten Freunde und Bekannten, die er getroffenoder aufgesucht hatte. René zum Beispiel, ein Jugendfreund, mitdem er zur Schule gegangen war. Er besaß einen Getreide- undSaatgutgroßhandel, der offenbar einiges abwarf. So hatte er sicheinen alten Gutshof zu einem regelrechten Schloss umbauen lassen,züchtete nebenbei Trakehner und war nicht nur Mitglied des Stadt-rates, sondern auch Präsident des Regionalverbandes der Lions.Außerdem war er mit dem Besitzer des Salfeldener Tagblatts, demalten Worps befreundet. Das hatte im Übrigen den Ausschlag fürdie Besetzung der vakanten Chefredakteursstelle gegeben; Renéhatte bei Worps ein gutes Wort eingelegt und sie miteinander be-kannt gemacht.

Und Karsten Ahrens, der ihn mit offenen Armen empfangenhatte, Lehrer am Gymnasium und noch lieber Jäger. Bei ihm undseiner Frau Lilli hatte er das letzte Mal gewohnt. Es gab gespicktenRehrücken mit Pfifferlingen und Klößen. Lilli kochte vorzüglichund hatte ihn in den drei Tagen richtig verwöhnt. Karsten warebenfalls ein Jugendfreund, mit dem er zwanzig Jahre lang lediglichsporadischen Telefonkontakt unterhalten hatte. Sein Vater warLandwirt gewesen, von ihm hatte Karsten seine Jagdleidenschaftgeerbt. Der Bauernhof lag am Rande des Salfeldener Forsts, einemgrößeren zusammenhängenden Wald-, Moor- und Heidegebiet,in dem sie zusammen mit Karstens jüngerem Bruder Patrick oft

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herumgestreift waren, wenn sie nicht in der Landwirtschaft hattenhelfen müssen. Der Bauernhof war nach dem Tod des bereits ver-witweten Vaters verkauft worden, und die beiden Brüder hattensich den nicht unbeträchtlichen Erlös geteilt. Karsten hatte ineinem Dorf in der Nähe ein Haus gebaut, Patrick die frühere Gast-stätte »Zur Mühle« gekauft, die jetzt »Irish Pub« hieß und die erseit einigen Jahren zusammen mit seiner Frau Susanne bewirt-schaftete.

Eigentlich, so dachte Heller, war das damals auf dem Bauernhofund im Wald eine schöne Zeit gewesen. Manchmal waren nochBjörn, der Sohn des Försters, und Paul, dessen Mutter die Apothekein Salfelden gehörte, hinzugekommen. Sie hatten sich – von klei-neren Reibereien abgesehen – gut verstanden. Patrick, Björn undPaul hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen, nicht einmal mitihnen telefoniert. Warum, war ihm nicht ganz klar. Von Zeit zuZeit hatte er seine Eltern besucht, aber er hatte nicht das Bedürfnisverspürt, alte Freundschaften und Bekanntschaften aufzufrischen.Salfelden hatte hinter ihm gelegen. Vorbei ist vorbei, so hatte ergedacht und gefühlt. Eine gewisse Rolle musste wohl gespielthaben, dass er als Sohn von Eltern, die nichts waren und nichtshatten, lieber Abstand von Menschen hielt, die ihn von früherkannten. Sein Vater war Kraftfahrer in einer Heizöl- und Dünge-mittelhandlung gewesen, Sohn von Heimatvertriebenen, die nachdem Krieg nichts galten. Er war immer etwas mürrisch und unzu-frieden, den Kindern gegenüber autoritär. Die Mutter hatte alsPutzhilfe im Haushalt eines Rechtsanwalts zum Familieneinkom-men beigetragen, noch als sie schon in den Fünfzigern war. SeineSchwester war als Reiseleiterin der kleinstädtischen Enge entflohenund in Österreich verheiratet.

Minderwertigkeitsgefühle hatte er als Jugendlicher eigentlichnicht gehabt. Er war sich seiner Position bewusst gewesen, hattesich danach gerichtet. Auch in der Schule. Nicht auffallen, bedeu-tete das, immer etwas besser sein als der Durchschnitt, Problemevermeiden, ansonsten seiner Wege gehen. Wenn er auf dem Bau-ernhof oder in der Försterei war, hatte er sich hilfsbereit gezeigt;im Garten, bei der Ernte oder im Stall geholfen. Hin und wiedergab es dafür ein Abendessen. Die Gleichaltrigen hatten ihn akzep-

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tiert, zumal er ein guter Sportler war. Für die Erwachsenen zähltenandere Kriterien.

Karstens und Patricks Eltern waren reiche Bauern gewesen, fürdie Arbeiterkinder nicht zählten, was sie zwar nicht herauskehrten,atmosphärisch jedoch spürbar gewesen war. Ebenso verhielt essich bei Björn in der Försterei. Und Pauls Mutter, die geschiedenwar, hatte eine Art zu sprechen, dass es einem fror. Heller musstesich eingestehen, dass sein Verhältnis zu diesen Freunden nie völligunbefangen, nie von Herzen arglos gewesen war. Auch das hattedazu geführt, dass er eigentlich immer ein Einzelgänger gebliebenwar.

Der Einzige, mit dem er darüber sprechen konnte und der ihnverstanden hatte, war René gewesen, mit dem er im Gymnasiumwährend der letzte Schuljahre die Bank geteilt hatte. Dessen Groß-eltern waren ebenfalls als Heimatvertriebene nach Salfelden ge-kommen. Aber der Großvater hatte sich rasch von seinen trauma-tischen Kriegserlebnissen erholt und nach 194 bis zurWährungsreform 1948 einen schwunghaften Schwarzhandel be-trieben. René hatte ihm das mal im Vertrauen erzählt. Der altealheim, der fließend Englisch sprach, war bei der kanadischenBesatzungsmacht beschäftigt gewesen, wo man ihn für die Versor-gung der Garnison mit Lebensmitteln eingesetzt hatte. So genosser in einer Zeit, als alles rationiert war und viele Menschen hun-gerten, sehr viele Privilegien, die er auch zu seinem Vorteil zunutzen wusste. Und eines Tages hatte er noch mehr Glück. DieKanadier tranken gern schwarzen Tee, und sie unterstanden denEngländern, die sie arrogant fanden und nicht ausstehen konnten.Als sie dann 194 abrückten und Great Britain die Garnison über-nahm, hinterließen sie zentnerweise Tee, der verbrannt werdensollte, damit ihn die Engländer nicht bekamen. Diese Aufgabe –ein Geheimauftrag – wurde Renés Großvater übertragen, der denTee jedoch nicht verbrannte, sondern nach und nach verkaufte.Nun muss man wissen, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeitin Norddeutschland ein paar Säcke Tee so viel wert waren wie einganzer Bauernhof. Das war der Grundstein für das alheimscheVermögen, das Renés Vater noch zu vermehren wusste und dasRené geerbt hatte.

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Die Landschaft veränderte sich. Nachdem er die letzten Aus-läufer des Mittelgebirges hinter sich gelassen hatte, öffnete sichdas von Waldinseln unterbrochene flache Land hin zur Küste; inder Ferne häuften sich weiße Wolkenberge. Nach etwa einer Stundesah er die Kirchtürme von O. und fuhr auf der Autobahn vorbei,wobei er wieder an Schallbrecht denken musste. Eine halbe Stundedarauf nahm er die Landstraße, die nach Salfelden führte. Die Be-gegnung an der Raststätte mit seinem ehemaligen Kommilitonenund Kollegen hatte ihn emotional doch mehr aufgewühlt, als ersich eingestehen mochte. Er versuchte an etwas anderes, Erfreu -licheres zu denken, aber die belastenden Gedanken ließen ihnnicht los.

Sein Engagement war ihm nie von Vorteil gewesen, hatte ihnauch jetzt wieder ins Abseits gebracht und ihn seine Stelle gekostet,die er sich mühsam über Jahre hinweg erarbeitet hatte. Ein Gen-defekt, dachte er, eine Art Gerechtigkeitswahn, womöglich einepsychische Störung. Er war noch nie dagegen angekommen. Dies-mal hatte er sich für einen seiner Redakteure beim Herausgebereingesetzt, Meinungsfreiheit eingefordert, sich sogar angelegt –und den Kürzeren gezogen, na klar. Hätte er von vornherein nüch-tern, vernünftig darüber nachgedacht, hätte er sich das Ergebnisseiner »Renitenz«, die zu einem »gestörten Vertrauensverhältnis«geführt hatte – so der Herausgeber –, ausrechnen können. Aber,eben dieses Aber. Die Kollegen hatten ihn bedauert und waren zurTagesordnung übergegangen, emsig, umtriebig wie immer. Jederist sich selbst der Nächste und sie predigen Wasser und saufenWein.

Er merkte, dass er in Gefahr war, wieder in die depressive Stim-mung abzurutschen, aus der er erst vor wenigen Wochen heraus-gekommen war, nach dem Anruf von René. Er hatte ihn fast schonvergessen gehabt. Als er dann nach der Kündigung Bewerbungenschrieb, war ihm der frühere Freund wieder eingefallen und erhatte auch ihm geschrieben, einen langen Bericht, fast schon eineLebensbeichte. Sie hatten sich sofort wieder verstanden, als seienkaum ein paar Tage vergangen.

Bei René alheim hatte er das erste Mal gewohnt, als er zumVorstellungsgespräch kam. Es fand im Kaminzimmer des al-

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heimschen Gutshofes statt und neben Worps und dem Hausherrnwar noch dessen Frau Valerie dabei gewesen. Der Verleger hatteihn zunächst ziemlich kühl unter die Lupe genommen, sich noch-mals Lebenslauf und die einzelnen beruflichen Stationen referierenlassen, danach war er allmählich aufgetaut. Beeindruckt war erwohl vor allem von Hellers mehrjähriger leitender Tätigkeit beimRheinländischen Anzeiger, wobei der Kündigungsgrund für ihnkeine Rolle zu spielen schien, zumal das Zeugnis einwandfrei war.Jedenfalls stellte er keine weiteren Fragen, nachdem Heller von»Spannungen im Kollegenkreis« und dem »Wunsch nach Verän-derung« gesprochen hatte. Die Fluktuation in diesem Gewerbewar ohnehin recht groß.

Natürlich hatte Heller kein Wort darüber verloren, dass er ander Universität Mitglied einer linken Organisation gewesen war,die er zudem im Allgemeinen Studentenausschuss und im Fakul-tätsrat vertreten hatte. Zwar hatte ihn Valerie alheim, die dasebenso wie ihr Mann wusste, mehrmals ironisch lächelnd ange-schaut, als er von seinem Engagement in der Studentenzeitungberichtete, die er liberal nannte – ein legitimer Etikettenschwindel,wie er fand –; doch er hatte sich nicht irritieren lassen, und Renéwar ihm hin und wieder mit verbindlichen Kommentaren zurSeite gesprungen.

Heribert Worps, dieser hagere Mann in den Sechzigern mitdem kantigen Bauernschädel und den beweglichen, kühlgrauenAugen, war erzkonservativ. Das hatte sich schon in diesem erstenGespräch mehr als deutlich herausgestellt. Nun ja. Jede Gesellschaftbraucht neben Fortschritt und Innovation auch eine gewisse Be-ständigkeit, neben antizipatorischen Kräften auch die Rückbesin-nung. Das war inzwischen Hellers feste Überzeugung, und dashatte er Worps gesagt, worauf der ihm wohlwollend zugenicktund die vor sich liegende Akte mit den Worten geschlossen hatte:»Ich glaube, wir werden gut miteinander zurechtkommen, undSie können davon ausgehen, dass ich mich grundsätzlich nicht indie redaktionelle Arbeit einmische.«

Nun ja. Der Zusatz »grundsätzlich« bedeutete im juristischenSprachgebrauch, der Heller nicht unbekannt war: Es gibt auchAusnahmen. Ihm war klar, dass er mit diesem sich jetzt so leutselig

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gebenden Zeitungsbesitzer vorsichtig umgehen musste. Dennochunterschrieb er zwei Wochen später den Vertrag. Was blieb ihmanderes übrig? Hunderte, wenn nicht Tausende von Journalistenlagen auf der Straße, eine Universitätskarriere kam schon langenicht mehr in Frage und Avantgardismus war nicht sein Amt alsZeitungsmacher, ebenso wenig wie parteipolitische oder ideologi-sche Agitation. Seine Hauptaufgabe würde, wie schon bisher, dieOrganisation und Koordinierung der Redaktionsarbeit sowie dieFestlegung der publizistischen Leitlinie im Sinne des Verlegers sein,dessen politische Einstellung er ja nun kannte. Außerdem würdeer die Leitung eines Ressorts übernehmen, sich ansonsten auf einengelegentlichen Kommentar oder eine Reportage zu beschränkenhaben. Mehrere Seiten des Salfeldener Tagblatts wurden ohnehinfertig aus O. zugeliefert. Es würde sich schon alles einspielen,schließlich hatte er Erfahrung damit.

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ISBN 978-3-940884-93-0

Korruption, Filz, Rechtsradikalismus – das gibt es nur woanders?

Wolfgang Bittner beschreibt in diesem mitreißend erzählten Roman ohne falsches

Pathos und gekünsteltes Heldentum eine Gesellschaft, die unsere Wirklichkeit ist, und

was der Einzelne tun kann um in ihr zu bestehen.

VAT19.90 EUR [D]