Zahnärztliche Medikation bei Risikopatienten - dr-halling.de · D Die Dosis sollte therapeutisch...

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39 Wissenschaft & Fortbildung Definition und Häufigkeit von Risikopatienten in der zahnärztlichen Praxis Risikopatienten sind Patienten, bei denen das Risiko für eine Kompli- kation unter der Behandlung ge- genüber der gesunden Normalbe- völkerung erhöht ist [29]. Natürlich kann auch jeder zunächst gesunde Patient während der Behandlung zum Risikopatienten werden (z.B. durch eine Ohnmacht). Der Zahnarzt wird genauso wie sei- ne ärztlichen Kollegen immer häufiger mit Risikopatienten kon- frontiert. Dieses Risiko bezieht sich entweder auf ein spezielles Ri- sikoprofil aufgrund des Lebensal- ters oder einer bestimmten Le- benssituation (z.B. Schwanger- schaft, Kinder oder alte Patienten) oder auf allgemeinmedizinische Erkrankungen (z.B. Diabetes mel- litus) oder auf eine bestimmte Me- dikation (z.B. gerinnungshem- mende Medikamente). Gerade die rechtzeitige Erkennung von Risi- kopatienten nimmt in der Zahn- arztpraxis einen hohen Stellen- wert ein [56]. In einer niederländi- schen Studie wurde festgestellt, dass nur 60% aller Patienten in der allgemeinzahnärztlichen Praxis frei von allgemeinen Risiken sind. Fast ein Viertel haben Grunder- krankungen, die bei jeder weiteren Behandlung zu berücksichtigen sind. Bei 10% der Patienten kön- nen durch gewissenhafte Befra- gung und Untersuchung Gesund- heitsstörungen gefunden werden, die durch den Hausarzt therapiert werden sollten und 6% der Patien- ten haben sogar gesundheitliche Probleme, die auf jeden Fall vor Be- ginn einer zahnärztlichen Thera- pie behandelt werden sollten [54]. Eine gewisse Abschätzung des Ge- samtrisikos ist nur durch eine ge- zielte und auch dokumentierte Anamneseerhebung möglich. Fast alle relevanten Erkrankungen las- sen sich durch diese einfache Maß- nahme erkennen, die aber nicht nur den Patienten vor negativen gesundheitlichen Auswirkungen der Behandlung schützt, sondern auch aus juristischen Gründen für den Zahnarzt von eklatanter Be- deutung ist [29]. Der Anamnese- bogen sollte in regelmäßigen zeit- lichen Abständen aktualisiert wer- den, damit auch Neuerkrankun- gen erfasst werden können. Die Häufigkeit der sog. „Volks- krankheiten“ in Deutschland ist der Tabelle 1 zu entnehmen. Zahnärztliche Medikation bei Risikopatienten Von Frank Halling, Fulda

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Definition und Häufigkeitvon Risikopatienten in derzahnärztlichen Praxis

Risikopatienten sind Patienten, beidenen das Risiko für eine Kompli-kation unter der Behandlung ge-genüber der gesunden Normalbe-völkerung erhöht ist [29]. Natürlichkann auch jeder zunächst gesundePatient während der Behandlungzum Risikopatienten werden (z.B.durch eine Ohnmacht).Der Zahnarzt wird genauso wie sei-ne ärztlichen Kollegen immerhäufiger mit Risikopatienten kon-frontiert. Dieses Risiko beziehtsich entweder auf ein spezielles Ri-sikoprofil aufgrund des Lebensal-ters oder einer bestimmten Le-benssituation (z.B. Schwanger-schaft, Kinder oder alte Patienten)oder auf allgemeinmedizinischeErkrankungen (z.B. Diabetes mel-litus) oder auf eine bestimmte Me-dikation (z.B. gerinnungshem-mende Medikamente). Gerade dierechtzeitige Erkennung von Risi-kopatienten nimmt in der Zahn-arztpraxis einen hohen Stellen-wert ein [56]. In einer niederländi-schen Studie wurde festgestellt,dass nur 60% aller Patienten in derallgemeinzahnärztlichen Praxis

frei von allgemeinen Risiken sind.Fast ein Viertel haben Grunder-krankungen, die bei jeder weiterenBehandlung zu berücksichtigensind. Bei 10% der Patienten kön-nen durch gewissenhafte Befra-gung und Untersuchung Gesund-heitsstörungen gefunden werden,die durch den Hausarzt therapiertwerden sollten und 6% der Patien-ten haben sogar gesundheitlicheProbleme, die auf jeden Fall vor Be-ginn einer zahnärztlichen Thera-pie behandelt werden sollten [54].Eine gewisse Abschätzung des Ge-samtrisikos ist nur durch eine ge-zielte und auch dokumentierteAnamneseerhebung möglich. Fastalle relevanten Erkrankungen las-sen sich durch diese einfache Maß-nahme erkennen, die aber nichtnur den Patienten vor negativengesundheitlichen Auswirkungender Behandlung schützt, sondernauch aus juristischen Gründen fürden Zahnarzt von eklatanter Be-deutung ist [29]. Der Anamnese-bogen sollte in regelmäßigen zeit-lichen Abständen aktualisiert wer-den, damit auch Neuerkrankun-gen erfasst werden können.Die Häufigkeit der sog. „Volks-krankheiten“ in Deutschland istder Tabelle 1 zu entnehmen.

Zahnärztliche Medikation bei Risikopatienten

Von Frank Halling, Fulda

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Wissenschaft & Fortbildung

In einer großen Studie über die Be-handlung bei Hausärzten wiesenüber die Hälfte der behandeltenPatienten mehr als vier Risiko-faktoren auf. Bei den über 55-Jäh-rigen stieg die Komorbiditätsrateauf mehr als 90% [63]. Die Mehr-zahl der Patienten hatte mehr alseinen kardialen Risikofaktor wieHypertonie, Fettstoffwechselstö-rungen und ungesunde Lebens-weise. Somit müssen wir uns auchaufgrund der zunehmenden Über-alterung der Gesellschaft auf einesteigende Zahl von multimorbi-den und multimedikamentiertenPatienten einstellen. Hinweise zur

zahnärztlichen Pharmakothera-pie bei ausgewählten Risikogrup-pen werden im Folgenden aufge-führt.

Schwangerschaft undStillzeit

Die meisten Arzneimittel, die beiSchwangeren angewendet wer-den, erreichen auch den Embryooder Fetus und können in Abhän-gigkeit von dem Entwicklungs-stand des Kindes unspezifischeoder arzneispezifische Wirkun-gen entfalten. Generell muss die

Tab. 1:Die häufigsten Volkskrankheiten u nd Volksleiden in Deutschland (verwendeteQuellen: Robert Koch Institut – Gesundheit in Deutschland; Deutsche Hochdruck-liga e.V.; Gesundheitsberichterstattung des Bundes; Statistisches Bundesamt –Diagnosedaten; Deutsche Rheuma-Liga Bundesverband e.V.; Deutsche Migräne-und Kopfschmerz-Gesellschaft e.V.)

Volkskrankheiten Prozent Volksleiden & Syndrome Prozent

Karies rund 90% Übergewicht > 50%

Herz-Kreislauf-Krankheiten > 43% Tinnitus 20–22%(mit Todesfolge) (Episode bis zu 3 Monate)

Krebserkrankungen > 25% Rückenschmerzen rund 18%(mit Todesfolge) (chronische)

Arterielle Hypertonie 20–25% Rheuma rund 11%(Bluthochdruck) (chronisch)

Depressionen 10–12% Tinnitus (chronisch) 4%

Migräne Rund 8%

Diabetes mellitus 7–8%(Zuckerkrankheit)

Erkrankung der Atmungsorgane 6–7%(mit Todesfolge)

Alkoholsucht > 5%

Demenz 1,2–1,3%

Krebsneuerkrankungen > 0,5%(jährlich)

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Arzneimitteltherapie so gewähltwerden, dass weder die Mutternoch das ungeborene Kind Scha-den erleiden [61]. Allerdings wer-den nur zwei bis drei Prozent allerFehlbildungen bei Kindern durchchemische oder physikalische Ur-sachen, einschließlich Arznei-mittel und Drogen, verursacht[48].Folgende Regeln sollten bei derArzneimitteltherapie von Schwan-geren berücksichtigt werden:D Bei jeder Arzneitherapie im ge-

bärfähigen Alter muss eineSchwangerschaft einkalkuliertwerden. Daher sollten nur seitJahren bewährte Medikamen-te eingesetzt werden.

D Mögliche Teratogene erfor-dern eine zuverlässige Kontra-zeption.

D Spätestens nach Feststellungeiner Schwangerschaft ist dieMedikation auf Risiken zuüberprüfen.

D Eine Monotherapie ist anzu-streben.

D Die Dosis sollte therapeutischso niedrig wie möglich gehal-ten werden.

D Im ersten Trimenon solltemöglichst jede Pharmakothe-rapie vermieden werden.

D Gravierende Erkrankungen(z.B. Asthma) müssen auch inder Schwangerschaft weiterbe-handelt werden.

D Auch pflanzliche Medikamen-te sind kritisch zu überprüfen(Alkoholzusatz!).

D Bei Unklarheiten sollte stetsder behandelnde Frauenarztkonsultiert werden.

Kein Analgetikum ist in derSchwangerschaft völlig risikofrei,jedoch ist für die reine Schmerzbe-handlung Paracetamol zu empfeh-len [22]. Es ist das Analgetikumund Antipyretikum der Wahl undkann in jeder Phase der Schwan-gerschaft eingesetzt werden. Guterprobte nichtsteroidale Antiph-logistika wie Ibuprofen oder Diclo-fenac dürfen in den ersten zweiDritteln der Schwangerschaft ver-wendet werden [47]. Ab der 28–30.Woche sind diese zu meiden, da siedie Geburt verzögern und denDuctus arteriosus vorzeitig schlie-ßen können [22]. Opioid-Analge-tika wie Tramadol sind nur bei sehrstarken Schmerzen indiziert. EinHinweis auf ein Missbildungspo-tenzial findet sich nicht [47]. Fast alle Antibiotika sind plazenta-gängig [22]. Allerdings stellt eineInfektion in der Schwangerschafteine ernste Situation dar, die auf je-den Fall adäquat behandelt wer-den muss. Bisher gibt es keine Er-kenntnisse, dass die Therapie mitPenicillinen oder Cephalospori-nen embryo- oder fetotoxischeWirkung hat [21, 22]. Dies giltauch für die Penicilline mit zuge-setztem Betalaktamasehemmer[47].Bei Penicillinallergie sind Erythro-mycin und die neueren Makrolideindiziert. Clindamycin sollte nurbei Versagen der bisher genannten

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Antibiotika verwendet werden(z.B. bei Anaerobierinfektionen).Ein routinemäßiger Einsatz nachzahnärztlichen Eingriffen ist nichtindiziert [47]. Tetrazykline, Gyra-sehemmer und Metronidazol sindwährend der Schwangerschaftkontraindiziert.Lokalanästhetika (LA) besitzen ei-ne hohe Lipidlöslichkeit und kön-nen deshalb die Plazenta schnellpassieren. Der Übergang in das fe-tale Blut erfolgt umso rascher, jegeringer das LA an Plasmaproteinegebunden ist. Aus diesem Grundsind LA mit hoher Proteinbin-dungsrate, wie das Articain (z.B.Ultracain®) oder Bupivacain (z.B.Carbostesin®), zu bevorzugen [40,45]. Prilocain (z.B. Xylonest®) istwegen des vergleichsweise höhe-ren Risikos der Methämoglobin-bildung zu meiden [22, 45]. Bei derGravidität besteht bei erhöhterexogener Adrenalin – Zufuhr be-sonders im ersten Trimenon dasRisiko eines Abortes. Deshalb stelltdie Articain – Zubereitung mit ei-nem geringeren Adrenalin – Zu-satz (z.B. Ultracain DS®) fürSchwangere das LA der erstenWahl dar [39]. KeimschädigendeWirkungen durch LA sind bishernicht bekannt geworden [46].Für die Pharmakotherapie in derStillzeit liegen nur relativ wenigeverlässliche Studien vor. Aller-dings sind therapiebedürftige odergar lebensbedrohliche Symptomebeim Kind durch Medikamente inder Muttermilch eine Rarität [46].

In der Schmerztherapie ist Ibupro-fen das Mittel der Wahl. Allgemeinist zu empfehlen, dass die Mutterdie Medikamente unmittelbarnach dem Stillen einnimmt und inden folgenden vier Stunden nichtstillt.

Pharmakotherapie beiKindern

Grundsätzlich wirken Arzneimit-tel vom Neugeborenenalter biszum Senium pharmakodyna-misch gleichartig. Allerdings giltauch in diesem Bereich, das Kinderkeine „kleinen Erwachsenen“sind. So können Arzneimittel, diefür Erwachsene geprüft sind, fürKinder unwirksam, nicht geeignetoder sogar schädlich sein. Eineeinfache Herunterrechnung derErwachsenendosis auf das Körper-gewicht ist aufgrund des unter-schiedlichen Metabolismus imkindlichen Organismus für dieDosierung nicht geeignet. Immer-hin erhalten 18 bis 30 Prozent allerKinder Medikamente, die nicht fürsie geprüft sind [41].Während die Zahl der verwende-

ten Arzneigruppen bei Kindern ge-ringer ist als bei Erwachsenen, istdie Verschiedenartigkeit der Arz-neizubereitungen größer (Säfte,Tropfen, Kindertablette, Supposi-torien). Diese galenische Vielfaltsollte der Zahnarzt sinnvoll einset-zen, um Unterdosierungen durchVerweigerung der Einnahme

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(schlechter Geschmack!) zu ver-meiden. Zur Berechnung der Do-sierung hat sich die Körperoberflä-chenregel bewährt [19]. Sie stellteine relativ sichere Dosierungsre-gel für die überwiegende Anzahlder für Kinder relevanten Arznei-mittel dar.Für die Antbiotikatherapie sinddie Standard- oder Aminopenicil-line (z.B. Amoxicillin) als Mittelder ersten Wahl, wobei bei Kin-dern überwiegend Zubereitungenlas Saft in Frage kommen. Die 2%-ige Articain – Lösung ist für Kinderwegen reduzierter Maximalspiegelund verkürzter Halbwertzeit vonVorteil [23] (Abb. 1).Wegen der ge-ringen Applikationsdosis solltenoch die Möglichkeit der intrali-gamentären Anaästhesie Erwäh-nung finden. Die gut steuerbareAnästhesiezeit und die fehlendeWeichteilanästhesie (Bissverlet-zung!) machen sie für Kinder be-sonders interessant [7]. Aufgrundder kardiovaskulären Nebenwir-kungen sollte die Adrenalinkon-

zentration so gering wie möglichgehalten werden, jedoch keines-falls höher als 1:200 000 liegen [7]. Bei der Schmerztherapie ist dieorale oder rektale Gabe vorteil-haft. Akute Schmerzen werden imKindesalter fast ausschließlich mitNicht–Opioid–Analgetika thera-piert [9]. Nach Eingriffen in Lokalanästhe-sie ist es sinnvoll, die erste Analge-tikadosis bereits vor dem vollstän-digen Abklingen der örtlichen Be-täubung und dem Schmerzmaxi-mum zu verabreichen [9]. Auf dieGabe von Acetylsalicylsäure solltebei Kindern ganz verzichtet wer-den [9]. Bei Paracetamol ist die ge-ringe analgetische Potenz, dieschmale therapeutische Breite, diefehlende antiphlogistische Wir-kung und die variable Resorptionnach rektaler Gabe zu beachten[45, 64]. So wird die Bioverfügbar-keit von Paracetamol bei der häu-fig angewandten rektalen Gabeum 30–40% gegenüber der oralenGabe gesenkt [34]. Bei Leberfunk-

Abb. 1:Serumkonzentrationen von Articain 2% und 4% bei Kindern [23]

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tionsstörungen und vorgeschädig-ter Niere ist Paracetamol kontrain-diziert. In einer Meta-Analyse von17 randomisierten Studien konntegezeigt werden, dass Ibuprofen ge-genüber Paracetamol besser fieber-senkend wirkt, während beideWirkstoffe in der Schmerztherapieeine vergleichbare Wirksamkeitaufwiesen [33].

Alte Patienten

Immer mehr alte Menschen prä-gen das gesellschaftliche Lebenund werden die Gesellschaft nach-haltig verändern. Gerade bei derBehandlung alter Patienten zeigtsich, dass die Zahnmedizin ein un-trennbarer Bestandteil der Medi-zin als System der bewusst verant-worteten Sorge um und für die Ge-sundheit des ganzen Menschen ist

[28]. So waren 2002 in Deutsch-land rund 20 Millionen Menschenüber 60 Jahre und rund 3 Millio-nen über 80 Jahre alt [43]. Ein Fol-geproblem der „Überalterung“ derGesellschaft ist die Zunahme derDemenzerkrankungen, die mitt-lerweile die vierthäufigste Erkran-kung im Alter darstellen [36]. Hiersind besondere Anforderungen andie Erhebung der Anamnese ge-knüpft. Geriatrische Patientensind gekennzeichnet durch denakkumulierenden Einfluss vonmultiplen Erkrankungen und Al-tersveränderungen auf die Organ-funktion und Alterskompetenz.Als „geriatrisch“ wird ein Patientab einem Alter von 60 Jahren be-zeichnet, wenn drei oder mehrKrankheiten vorliegen. Die Multi-morbidität beeinflusst den Um-fang und die Art der Pharmako-therapie erheblich. Im Durch-

Abb. 2 Beziehung zwischen Medikamenteneinnahme und Xerostomie [57]

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schnitt wird jeder Versicherte über60 Jahre täglich mit drei verschie-denen Medikamenten als Dauer-therapie behandelt. [6]. Mehr als50% des gesamten Arzneimittel-umsatzes bei GKV – Versichertenentfällt auf die Gruppe der über60-Jährigen [6]. Andererseits tre-ten unerwünschte pharmakologi-sche Reaktionen bei 70- bis 80-Jäh-rigen etwa vier bis fünf Mal häufi-ger auf als bei jungen Patienten[53]. Aus zahnmedizinischer Sichtist interessant, dass bei der Einnah-me von fünf oder mehr Medika-menten die Häufigkeit einer Xe-rostomie auf über 50% steigt [57](Abb. 2).Der fehlende Speichel führt zuSprachstörungen, Kau- undSchluckproblemen sowie zu ei-nem erhöhten Kariesrisiko undAbrasionen. Künstlicher Speichelkann hier vorteilhaft genutzt wer-den. Ebenso lässt sich die Speichel-produktion auch durch zuckerfrei-en Kaugummi anregen. In hartnä-ckigen Fällen kann Pilocarpin ein-gesetzt werden [26].Pharmakologisch sind im Alterfolgende grundsätzlichen Unter-schiede zum jüngeren Patientenzu berücksichtigen [2, 13, 53, 55]:D Veränderungen der Vertei-

lungsräume(z.B. Extrazellular-flüssigkeit↓)

D Renale Clearance↓D Metabolisierungsraten sind

im Alter stoffbezogen unter-schiedlich zum jüngeren Pa-tienten

D Erhöhtes Risiko von Arzneiin-teraktionen durch Multimedi-kation und Langzeitverord-nungen aufgrund allgemein-medizinischer Erkrankungen

Ein häufiges Problem in der Alters-medizin ist die Verordnung vonMedikamenten in der Standarddo-sierung trotz niedrigem Körperge-wicht und Einschränkung der Nie-ren- und Leberfunktion des Pa-tienten. Hierzu haben Kirch [25]bzw. Siepmann und Kirch [53]Empfehlungen für die allgemei-nen Dosierungsregeln bei alten Pa-tienten veröffentlicht:D Stets mit der niedrigsten emp-

fohlenen Dosierung begin-nen;

D Reduktion der mittleren Er-wachsenendosis bei über 65-jährigen Patienten um 20%;

D Reduktion der mittleren Er-wachsenendosis bei über 75-jährigen Patienten um 30%;

D Reduktion der mittleren Er-wachsenendosis bei über 80-jährigen Patienten um 40%.

Generell sollte die Arzneitherapiemit den anderen behandelndenÄrzten abgestimmt und koordi-niert werden, damit der Patientnicht von verschiedenen Ärzteninteragierende Medikamente er-hält, deren Wechselwirkungennicht überschaubar sind [53].Lokalanästhetika vom Amidtyp,die in der Zahnmedizin dominie-ren, werden in der Leber biotrans-formiert sowie renal eliminiertund daher besonders bei älteren

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Patienten verzögert ausgeschie-den [16]. Lediglich Articain (z.B.Ultracain®) wird nur zu 10% in derLeber metabolisiert und zu über90% durch unspezifische Estera-sen im Gewebe abgebaut [31]. Eseignet sich deshalb gerade auchzur Anwendung beim alten, kom-promittierten Patienten [8, 31].Dosisanpassungen bei Patientenmit Nieren- und/oder Leberfunkti-onseinschränkungen sind bei Arti-cain ebenfalls nicht erforderlich[22].Während seitens des Lokalanäs-thetikums keine Wechselwirkun-gen mit anderen Medikamentenzu erwarten sind, kann bei Patien-ten, die trizyklische Antidepressi-va (z.B. Saroten®), Antiparkinson-mittel, Ergotamin oder Methyl–

Dopa erhalten, die Wirkung desAdrenalinzusatzes in Form einessignifikanten Anstieges des systo-lischen Blutdrucks potenziertwerden [12]. Patienten, die einennicht selektiven Betarezeptoren-blocker (z.B. Propanolol) einneh-men, sollten vorsichtig mit adre-nalinhaltigen Pharmaka behan-delt werden, da eine nicht kupier-te vagale Stimulation zurBradykardie und einem Blut-druckabfall führen können [44]. Penicilline und Cephalosporinewerden aufgrund der altersbe-dingten verminderten renalenElimination verzögert ausge-schieden, dies gilt auch für Gyra-sehmmer und Tetrazykline [25].Die Initialdosis sollte allerdingsnicht reduziert werden, da sonst

Abb. 3:Articainkonzentration – Zeit Diagramm nach Infiltration von 120mg Articain (4%);Mittelwerte von je 15 jüngeren und älteren Probanden [31]

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die Gefahr mangelnder Blut- undGewebespiegel besteht [55]. Diegleichzeitige Gabe von Erythro-mycin und Benzodiazepinen (z.B.Triazolam) kann zu einer erhöh-ten Blutkonzentration des Sedati-vums und damit zu einer Verlän-gerung der sedierenden Wirkungführen [12].20% der 65- bis 75-jährigen Pa-tienten nehmen nichtsteroidaleAntirheumatika (NSAR) ein, wasmit einer entsprechend hohenQuote unerwünschter Nebenwir-kungen verbunden ist [14]. In ers-ter Linie sind dabei Ösophagus-und Magen-Darm-Komplikatio-nen wie Blutungen und Ulzera zunennen, als deren Folge häufigein Appetitmangel und eine Mal-nutrition auftritt [2]. BesondersPatienten mit gleichzeitiger ora-ler Antikoagulation weisen eineerhöhte Inzidenz von Blutungenauf, sodass NSAR bei dieserPatientengruppe kontraindiziertsind [12]. Bei Acetylsalicylsäure(ASS) und Paracetamol ergibt sichim Gegensatz zu Ibuprofen bei al-ten Patienten zusätzlich eine Ver-längerung der Halbwertszeit [18].Paracetamol wirkt bei einer einge-schränkten Leberfunktion relativrasch hepatotoxisch, währendMetamizol (z.B. Novalgin®) bei al-ten Patienten schwere, protrahier-te, hypotone Kreislauf-Schockzu-stände auslösen kann [13].

Patienten mit besonderenRisikokrankheiten

Diabetiker

Diabetes mellitus ist in den Indus-trieländern die häufigste endokri-ne Erkrankung [40]. In Deutsch-land sind etwa 6,5 Millionen Men-schen mit Diabetes mellitus be-kannt [20], wobei davon etwa 2Millionen Patienten insulin-pflichtig sind. Die Prävalenz lagbezogen auf die Gesamtbevölke-rung 2004 bei knapp 8% [20]. AlsTherapieziel gelten beim Diabetesein Nüchternblutzucker von< 120 mg/dl und ein HBa1c – Wertvon < 6,5% [38]. Eine Hyperglykä-mie kann durch eine stressbeding-te Katecholaminausschüttung imRahmen der zahnärztlichen Be-handlung oder durch eine exoge-ne Adrenalinzufuhr bei der Lokal-anästhesie ausgelöst werden. Eini-ge Autoren [40, 55] empfehlendeshalb bei Diabetikern den Ein-satz von adrenalinreduzierten Lo-kalanästhetika. Aufgrund der er-höhten Rate von Wundinfektio-nen insbesondere bei schlecht ein-gestellten Diabetikern (4a und b)ist bei längeren oralchirurgischenEingriffen und zweifelhafter Blut-zuckereinstellung eine Antibioti-kaprophylaxe mit Amoxicillinoder alternativ Clindamycin indi-ziert [40].ASS und andere NSAR können ora-le Antidiabetika der Sulfonylharn-stoffgruppe, z.B. Glibenclamid

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(Euglucon®), aus der Plasmaei-weißverbindung verdrängen [12,60]. Die Folge ist ein Anstieg desungebundenen (=wirksamen) An-tidiabetikums, was wiederum zueinem Anstieg des Blutzuckersführt. Diese Analgetikagruppe istdeshalb für oral eingestellte Diabe-tiker ungeeignet. Diabetes mellitus tritt häufig inKombination mit Bluthochdruckund Arteriosklerose auf, sodassvon einer erhöhten Nachblu-tungsgefahr ausgegangen werdenkann. Wunden sollten daher miteiner hämostyptischen Einlageversehen werden.

Patienten mit kardiovaskulärenErkrankungen

Bei dieser Patientengruppe ist esvon besonderer Wichtigkeit, diezahnärztliche Behandlung mög-

lichst stressfrei zu gestalten [60].Durch die verstärkte Adrenalin-ausschüttung kann es zu einerakuten Herzinsuffizienz kommen.Deshalb sollte bei kardialen Risi-kopatienten die exogene Adrena-linzufuhr bei der Lokalanästhesieauf das absolut notwendige Maßreduziert werden, ohne jedoch aufeine ausreichende Schmerzaus-schaltung zu verzichten. Die Emp-fehlungen für die maximale Adre-nalinkonzentration liegen bei1:200000 [15, 40, 45, 60]. Dies be-deutet, dass die zulässige Maxi-maldosis bei dieser Patientengrup-pe nicht durch das Lokalanästheti-kum, sondern durch den Vasokon-striktor bestimmt wird und diezulässige Grenzdosis bereits beiein bis zwei Ampullen erreichtwerden kann [40]. Bei kurzzeiti-gen, nicht-chirurgischen Behand-lungen sind deshalb adrenalin-freie Lokalanästhetika empfeh-

Abb. 4a:Ausgedehnter Mundbodenabszess mitAtemwegsbehinderung bei einemschlecht eingestellten Diabetiker. An-amnestisch war 36 Stunden zuvor einstark gelockerter 31 ohne Antibiotika-prophylaxe alio loco extrahiert worden.

Abb 4b:Deutliche Besserung des Zustandesnach vier Tagen (Zustand nach extrao-raler Inzision mit noch liegenden Drai-nageröhrchen) und hochdosierter in-travenöser Antibiose mit Amoxicillin/Clavulansäure).

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lenswert, wobei Mepivacain imUnterschied zu anderen Amid-Lo-kalanästhetika nur einen geringenvasodilatatorischen Effekt zeigt [8,45]. Zur Stressreduktion kann zu-sätzlich kann eine Prämedikationmit einem Benzodiazepin, dasrasch eliminiert wird (z.B. mit Mi-dazolam), sinnvoll sein [15, 40].Allerdings sollte die gleichzeitigeGabe von Schmerz- und Beruhi-gungsmitteln vermieden werden[45]. Zudem besteht bei älteren Pa-tienten häufig eine erhöhte Sensi-tivität der Benzodiazepinrezepto-ren [12].

Herzrhythmusstörungen sinddurch die Applikation von Loka-lanästhetika mit Vasokonstriktor-Zusatz beeinflussbar. Bei tachykar-den Störungen ist Lidocain zu be-vorzugen, da es in der Kardiologiezur Unterdrückung ventrikulärerExtrasystolen und Tachykardieneingesetzt wird [60]. Eine weitereAlternative als Vasokonstriktor beiTachykardien oder Arrhythmienist die Verwendung von Felypres-sin, einem Derivat des Vasopres-sins [45]. Bei bradykarden Störun-gen kann der lokalanästhetischeWirkstoff selbst einen Adam – Sto-kes – Anfall oder einen AV – Blockauslösen [29].Kardiale Komplikationen wäh-rend der Behandlung sind bei Pa-tienten mit stabiler Angina pecto-ris ohne Infarktanamnese wesent-lich seltener als bei instabiler Angi-na pectoris oder Zustand nachHerzinfarkt. Generell ist einezahnärztliche Routinebehand-lung innerhalb von sechs Mona-

Abb. 5:Transkutane, kontinuierliche, unblutigeMessung der arteriellen Sauerstoffsät-tigung mit dem Pulsoxymeter (Puls-oxymetrie)

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ten nach einem transmuralen In-farkt nur in Ausnahmefällen undbei dringender Notwendigkeit in-diziert [53]. Liegt der Herzinfarktlange zurück und ist der Patientsymptom- und beschwerdefrei,kann von einem normalen Be-handlungsrisiko ausgegangenwerden [40]. Kommt es zu einerDekompensation ist beim spon-tan atmenden Patienten ist einenasale Sauerstoffgabe hilfreich[40, 60]. Bei einer Angina pectorissollte der Patient unter Puls- undBlutdruckkontrolle ein Nitrogly-cerin – Präparat einnehmen (z.B.zwei Hübe Nitrolingual®-Spraysublingual) [15, 29, 53]. Dauert diekardiale Schmerzsymptomatik an,besteht der Verdacht auf einenHerzinfarkt, der wiederum eineRuhigstellung des Patienten (z.B.mit Diazepam oder Midazolam)

und den Einsatz eines stark wirksa-men Analgetikums (z.B. Tramal®)erfordert [15, 60]. Gleichzeitig istdurch ein weiteres Mitglied desPraxisteams ein Notarzt zu be-nachrichtigen.Bei allen Patienten mit ausgepräg-teren kardiovaskulären Erkran-kungen empfiehlt sich ein Basis-monitoring in der Praxis, z.B. miteinem Pulsoxymeter, mit demkontinuierlich die Pulsfrequenzund die arterielle Sauerstoffsätti-gung des Blutes überwacht wird[37, 40] (Abb. 5).

Patienten mit Herzfehlern/Herzklappenersatz

Bei fast allen zahnärztlichen Ein-griffen können Bakteriämien auf-tretren, die bei Patienten mit Herz-

Tab. 2:Schema der Antibiotikaprophylaxe [30]

Situation Antibiotikum Applikationszeitpunkt Erwachsene Kinder

Orale Einnahme Amoxicillin* 30-60 min vor dem 2 g per os 50 mg/kg per osEingriff

Orale Einnahme Ampicillin* wie oben 2 g i.v. 50 mg/kg i.v.nicht möglich

Penicillin- oder Clindamycin** wie oben 600 mg per os 20 mg/kg per osAmpicillin-Allergie,orale Einnahme

Penicillin- oder Clindamycin wie oben 600 mg i. v. 20 mg/kg i. v.Ampicillin-Allergie,orale Einnahme nicht möglich

* Penicillin V kann weiterhin als Alternative verwendet werden

** Alternativ Cefalexin: 2g p.o. für Erwachsene bzw. 50 mg/kg p. o. bei Kindern; oder Clarithro-mycin: 500 mg p.o. bei Erwachsenen bzw. 15 mg/kg p. o. bei Kindern

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fehlern/Herzklappenersatz zu ei-ner lebensbedrohlichen Situationführen können [24, 39, 40]. Unbe-handelt liegt die Letalität einer En-dokarditis bei nahezu 100% [24],mit Hilfe der heutigen therapeuti-schen Möglichkeiten immer nochbei 10–15% [3]. Für die Endokardi-tisprophylaxe haben sich kürzlichwesentliche Änderungen ergeben,die auf die neuen Prophylaxeemp-fehlungen der American Heart As-sociation (AHA) zurückzuführensind [62] und in Deutschland indem Positionspapier der der Deut-schen Gesellschaft für Kardiologie[30] publiziert worden sind. In denneuen Richtlinien gelten jetzt nurnoch vier Indikationen für eineEndokarditisprophylaxe, nämlichbei folgenden Herzerkrankungenmit dem höchsten Risiko für einenungünstigen Verlauf einer bakte-riellen Endokarditis [32]:D HerzklappenersatzD Überstandene infektöse Endo-

karditisD Herztransplantation mit Ent-

stehung einer ValvulopathieD Angeborene Herzfehler (mit

frei definierten Untergrup-pen)

Generell wird eine Prophylaxe füralle dentalen Behandlungen emp-fohlen, bei denen Manipulationenan der Gingiva oder an der periapi-kalen Region des Zahnes stattfin-den oder bei denen die orale Muko-sa perforiert wird [30, 32, 40, 62].Die Endokarditisprophylaxe be-steht grundsätzlich aus einer Ein-

malgabe eines Antibiotikums 30bis 60 Minuten vor dem Eingriff.Dosiswiederholungen sind nichtvorgesehen (Tab. 2).Die antimikrobielle Stoßrictungder Prophylaxe beschränkt sichauf die Bekämpfung von Strepto-kokken der Viridans-Gruppe, diemeist für die Entstehung einer En-dokarditis verantwortlich sind[30, 32, 62].Im Hinblick auf eine effektive Pro-phylaxe durch Reduktion der Bak-teriämien wird heutzutage der gu-ten Mundhygiene und dem sanier-ten Gebisszustand allerdings fastmehr Bedeutung zugemessen alsder einmaligen Antibiotikagabevor der zahnärztlichen Behand-lung [27, 62]. So kann durch eineeinfache lokaldesinfizierende Maß-nahme wie die zweiminütige Spü-lung mit 0,2%iger Chlorhexidinlö-

Abb. 6:Klinisches Bild einer explantierten me-chanischen Herzklappe mit thromboti-schen Vegetationen nach Herzklappen-endokarditis [24]

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sung bereits eine Reduktion derKeimzahl um 90% [35] erreichtwerden, wobei von einer antibakte-riellen Langzeitwirkung von bis zusieben Stunden ausgegangen wer-den kann [42].

Hämorrhagische Diathesen

Bei den Störungen der Blutgerin-nung sind angeborene Koagulao-pathien, Thrombopathien oderVasopathien von Störungen imRahmen einer therapeutischenAntikoagulation zu unterschei-den. Risiken bei der zahnärztli-chen Behandlung bestehen inForm von Blutungen oder ausge-dehnten Hämangiomen nachoperativen Eingriffen. Die medi-kamenteninduzierte Blutungsnei-gung stellt die häufigste erworbe-ne Gerinnungsstörung dar. In ers-ter Linie sind hier die Einnahmevon Thrombozytenaggregations-hemmern wie Acetylsalicylsäure(ASS) sowie Vitamin – K – Antago-nisten wie Phenprocoumon (Mar-cumar®) zu nennen. So nehmen inDeutschland mehr als die Hälfteder Patienten mit einer koronarenHerzkrankheit Thrombozytenag-gregationshemmer ein [63]. Zur Vermeidung einer Nachblu-tung kann zwischen unspezifi-schen und spezifischen Maßnah-men differenziert werden. Unspe-zifische Maßnahmen sind unab-hängig von der Art der Gerin-nungsstörung. Im chirurgischen

Bereich zählen hierzu neben derschonenden Operationstechnikblutstillende Tamponaden (z.B.Tabotamp®), Verbandplatten oderFibrinkleber. Weiterhin solltenkeine Medikamente verordnetwerden, die die Gerinnung beein-trächtigen können, wie z.B. ASS(oder Kombipräparate), Makrolideoder Cephalosporine [40].Spezifische Maßnahmen greifen

direkt in das Gerinnungssystemein und sollten nur nach Kenntnisder Gerinnungsstörung und in Ab-sprache mit dem behandelndenArzt – ggf. unter stationären Be-dingungen – durchgeführt werden[40]. Das Risiko einer Nachblutungnach kleineren chirurgischen Ein-griffen mit primärem Wundver-schluss ist unter Einnahme von„low dose“ – ASS (100 mg/Tag) alsgering einzustufen und damit einAbsetzen unter Berücksichtigungdes Kosten – Nutzen – Verhältnis-ses nicht zu rechtfertigen [10, 45].Allerdings existieren Berichte überpostoperative ASS – bedingte Blu-tungen bei einer hohen Dosierungvon mehr als 600 mg [58] oder beigrößeren zahnärztlich – chirurgi-schen Eingriffen wie Osteotomien[59]. Patienten unter ASS – Medi-kation wie Myokardinfarktpatien-ten sollten Acetylsalicylsäure min-destens 4 bis 5 Tage vor einem Ein-griff nach Rücksprache mit dembehandelnden Arzt absetzen. Die-ser Zeitraum wird für die Neubil-dung von 50% funktionsfähiger

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Thrombozyten ais ausreichendangesehen [45]. Kombinationenvon ASS mit anderen gerinnungs-hemmenden Mitteln wie Clopido-grel oder Dipyramidol (Aggre-nox®) erhöhen das Blutungsrisikodeutlich [10] und sollten nachRücksprache mit dem behandeln-den Arzt eine Woche präoperativab- bzw. umgesetzt werden [10,49].Patienten unter oraler Langzeit-therapie mit Cumarinen stellendie größte Gruppe antikoagulier-ter Patienten dar. Unter Abwägungder Risiken (Blutungs- vs. Throm-boserisiko) wird die Antikoagulati-on unterbrochen oder fortgeführt.Jedoch ist auf keinen Fall vor derDurchführung zahnärztlich – chi-rurgischer Maßnahmen das eigen-ständige Absetzen der Antikoagu-alation durch den Zahnarzt er-laubt, ohne dass eine Rücksprachemit dem behandelnden Arzt er-folgt ist [45, 51]. In einer Metaana-lyse konnte gezeigt werden, dassfür die meisten Patienten kein Ri-siko gravierender Nachblutungenergibt, wenn die orale Antikoagu-lation unverändert beibehaltenwird [11]. Eine Aufgabe desThromboseschutzes bedeutet fürden Patienten hingegen vielfachein unangemessenes Risiko [15,52, 65]. Lediglich bei umfangrei-cheren Eingriffen muss die Anti-koagulation auf einen höherenQuick (meist 40 bis 60%) bzw.niedrigeren INR – Wert (meist 1,5bis 2,5) eingestellt werden [65]. Je

nach Grunderkrankung und Aus-maß des Eingriffs wird individuellentschieden, ob eine Substitutionmit Heparin notwendig ist [45,65]. Die vorübergende Umstellungauf Antikoagulantien mit einerkürzeren Halbwertszeit wie Cuma-rine, z.B. niedermolekulare Hepa-rine, wird als „Bridging“ bezeich-net [1]. Die Unterbrechung der An-tikoagulation sollte in enger Ab-sprache mit dem behandelndenHausarzt oder Internisten erfolgen[40, 45, 65]. Bei ausgedehntenOperationen ist es auf jeden Fallratsam, den Patienten in eine Kli-nik einzuweisen [45]. In verschiedenen wissenschaftli-chen Veröffentlichungen wird dieAnwendung von Tanexamsäureals Mundspüllösung empfohlen,um Nachblutungen nach zahn-ärztlich – chirurgischen Eingriffenbei Patienten unter gerinnungs-hemmender Therapie zu vermei-den [4, 17]. Da es kein Fertigarznei-mittel gibt, muss die Spüllösungdurch einen Apotheker als Sonder-anfertigung hergestellt werden[50]. Allgemein gilt, dass die ambulanteoralchirugische Behandlung vonPatienten mit Antikoagulationnur dann erfolgen sollte, wenn diePatienten aufgrund ihres ausrei-chenden Gesundheitszustandesin der Lage sind, im Falle einerNachblutung die Praxis oder Kli-nik aufzusuchen. Für Notfälle soll-te der behandelnde Zahnarzt je-derzeit erreichbar sein [49].

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Dr. med. Dr. med. dent.Frank HallingGerloser Weg 23a36039 [email protected]

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