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Zeit-Fragen Zeitung für freie Meinungsbildung, Ethik und Verantwortung für die Bekräftigung und Einhaltung des Völkerrechts, der Menschenrechte und des Humanitären Völkerrechts ISSN 1022 – 2448 15. Januar 2019 27. Jahrgang Nr. 2 Genossenschaft Zeit-Fragen Redaktion und Verlag Postfach, CH-8044 Zürich Telefon: +41 44 350 65 50 Telefax: +41 44 350 65 51 [email protected]; [email protected]; www.zeit-fragen.ch ZKZ 59600 PVSt, AZA 8044 Zürich 02 100 Jahre nach Versailles Krieg und Frieden Die Aufgaben der Geschichtswissenschaften von Wolfgang van Biezen Jeder, der sich ernsthaft dafür interessiert, warum und wozu es auf dieser Welt immer noch Kriege gibt, obwohl eigentlich längst klar ist, dass die vergangenen und gegen- wärtigen Kriege die Menschheit nicht einen Millimeter weitergebracht haben, wird sich früher oder später mit der Geschichte aus- einandersetzen. Mit der traurigen Geschichte vom Kongo zum Beispiel oder aber auch, wie es den Menschen der Schweizerischen Eid- genossenschaft im Laufe von Jahrhunder- ten gelungen ist, Konflikte friedlich zu lösen. Man kann auch mit der Geschichte Russlands oder mit jener von Israel, die auf das engste mit der von Deutschland verbunden sind, an- fangen. Oder mit der Geschichte Chinas, bei der eine grossartige, jahrtausendealte Kultur sichtbar wird, bevor diese von innen, beson- ders aber im 19. Jahrhundert durch europä- ische «merchants of death» zerstört wurde. Hundert Jahre lang drückten diese «Händ- ler des Todes» mit Hilfe ihrer Kanonenboote bengalisches (britisches) Opium gewaltsam in die chinesische Gesellschaft. Diese Art von Völkermord liessen sie sich mit chine- sischem Silber bezahlen, bis China arm und England reich war. Zusammenhänge – wir landen fast zwangsläufig bei den Briten An welchem Ort wir auch anfangen, wenn wir uns vertiefen, die Zusammenhänge der Gegenwart verstehen wollen, landen wir fast zwangsläufig bei den Briten und ihrer über fünfhundert Jahre alten Kolonialge- schichte. Thomas Morus (1478–1535) war in regem Kontakt und oft in Einklang mit den hervor- ragendsten europäischen Philosophen und Theologen seiner Zeit. Er gab bereits um 1500 in seinem Werk «Utopia» dem engli- schen König Heinrich VIII. eine «von Gott gewollte» und bis heute für Kolonisten gül- tige Begründung für die Inbesitznahme frem- der Länder. So wird zum Beispiel festgestellt, Eingeborene hätten einen Überfluss an Ak- kerland und würden diesen «ohne Sinn und Zweck besitzen», dieses Ackerland also nicht bebauen, deshalb bestehe ein durchaus be- rechtigter Grund, die Eingeborenen zu ver- treiben und/oder sich den Boden anzueig- nen. 2 Die Aufteilung der Welt seit dem 15. Jahrhundert Warum auch nicht, denn Papst Alexander VI. hatte ein paar Jahre vorher, 1494 im Vertrag von Tordesillas, dem portugiesischen und dem spanischen Herrscherhaus den kirchli- chen Segen sozusagen gegeben, sich fortan alle Welt – und zwar nach päpstlicher Vor- gabe – genau aufzuteilen. Ab dem Zeit- punkt gab es erstmals in der Geschichte der Menschheit von der Kirche legitimierte glo- bale Besitzansprüche – Portugal auf der östli- chen und Spanien auf der westlichen Halbku- gel. Kaum war in Europa das Wissen um die Kugelgestalt der Erde in intellektuellen und damit auch in kirchlichen Kreisen einiger- massen gefestigt, begann der bis heute dau- ernde Raubzug. Nun, wie wir in der Schule lernten, er- kannte Heinrich VIII. auch wegen seiner Frauengeschichten den Papst nicht an. Er gründete als absoluter Herrscher seine eigene Kirche. Seitdem ist das englische Königs- haus und damit der jeweils regierende Mon- arch für alle Zukunft Oberhaupt der anglika- nischen Kirche. Das ist bis heute so. Wer schrieb bislang die Geschichte des 20. Jahrhunderts? Wenn wir uns mit der Neueren Geschichte beschäftigen, gibt es auf Europa und die Weltkriege bezogen, sehr grob gesagt, zwei Ansätze. Die herrschende und bis heute bei akademischen Historikern immer noch gül- tige Lehrmeinung ist die, dass Deutschland die Alleinschuld an den beiden Weltkriegen trägt. Es ist kein Wunder, dass diese Auffass- sung der Geschichte auch bei Nichtakademi- kern Teil der öffentlichen und veröffentlich- ten Meinung ist. Willy Wimmer 3 konstatiert, dass die Ge- schichte Deutschlands bis heute von den Al- liierten geschrieben wird und damit eine Ge- schichte der Sieger ist, und zwar der Sieger des Ersten und des Zweiten Weltkrieges. Er meint damit, dass bis heute eine objektive, an den Fakten orientierte Geschichte noch nicht geschrieben werden durfte. Es wäre sonst auch nicht möglich gewe- sen, dass Deutschland seine ihm nach dem Ersten Weltkrieg auferlegten Reparationszah- lungen erst 2010 (!) ordentlich mit einer letz- ten Zahlung von 200 000 Euro an Frankreich beglichen hat. 4 Nachdem also die deutschen Kriegsschulden durch verschiedene Gebiets- abtretungen (etwa ein Drittel des Staatsge- bietes ging an andere Staaten), gefolgt von Vertreibung der deutschen Bevölkerung, Zer- störung der Flotte, Beschlagnahmung von In- dustrie-Anlagen und Gütern usw. beglichen sind, zieren sich die Alliierten weiterhin hart- näckig, eine an den Fakten orientierte Ge- schichtsschreibung zuzulassen. Was ist mit Christopher Clark? Darum war die Freude besonders in den deut- schen Medien gross, als, gerade noch kurz vor dem hundertjährigen Weltkriegsjubi- läum, 2013 das Buch von Christopher Clark mit dem Titel «Die Schlafwandler» erschien. Dieses Werk wurde als umfassend, eine neue Sichtweise versprechend gepriesen. Was 100 Jahre nach dem fürchterlichen Weltkrieg aller- dings hier bei der Ursachenforschung zugelas- sen wird, ist alter Wein in neuen Schläuchen. Ein «schlafwandlerisches» Hineintorkeln in einen Krieg? Das ist unrealistisch. Kein Wort davon, dass dem Ersten Weltkrieg eine um- fangreiche (nicht nur, aber vor allem) britische Planung vorausging. Der gefeierte Christo- pher Clark wurde dennoch von Königin Elisa- beth II. für seine Sichtweise geadelt. Wozu und wofür wird erst bei der Lektüre langsam klar. Clark belehrt seine Leser, indem er behauptet, der Erste Weltkrieg sei kein Agatha Christie- Thriller und die Ermittler bei der Schuldsuche neigten dazu, die Aktionen der Entscheidungs- träger als «geplant und von einer kohärenten Absicht getrieben zu konstruieren». Es gäbe «keinen bösen Plan» (!). Alle, die sich die Mühe machen, die- ses vor allem in Deutschland gelobte Buch bis Seite 716 durchzuarbeiten, erfahren dort allen Ernstes, «dass die vorliegenden Quellen eine derartige Argumentation [es gäbe einen solchen Plan] nicht erhärten». 5 Da kann man sich nur fragen, was Christopher Clark auf seinem Schreibtisch liegen hat. Die vorlie- genden Quellen …! Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, wo es in Deutsch- land bis heute selbstverständlich dazuge- hört, dass die Siegernationen mit ihren Pan- zern oder Jeeps durch die Lande fahren. Die Russen sind bereits abgezogen. Aber ohne dass nur der Hauch einer Empörung spürbar wurde, besuchte zum Beispiel der amerikani- sche Präsident Trump kürzlich die nach wie vor in Ramstein stationierten US-Truppen. Peter Heisenko hat in einem Kapitel seines Buches «England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert» dieses Verdrängen der Geschichte – und damit auch der Gegenwart – als kollektiv- und sozialpsychologisches Phä- nomen der Deutschen treffend beschrieben. 6 Er nannte es Nationalmasochismus. Zusammenhänge werden ausgeblendet Christopher Clarks «Die Schlafwandler» ent- puppt sich als weitere «Spin-doctor»-Arbeit. Als Historiker bleibt er bei der 100 Jahre alten Lesart; er bemüht, wenn auch sprach- lich geschliffen, die längst widerlegte «Fi- scher-Kontroverse», nach der deutsche Hi- storiker nachweisen, dass die preussischen Militaristen vor dem Ersten Weltkrieg un- bedingt diesen Krieg wollten. Er legt falsche Spuren und stellt das Britische Empire und seine Politik in harmlosestem Licht dar. Un- merklich wird der Leser durch Banalitäten oder schlüpfrige Schilderungen in den Bann gezogen. Es gibt eine erdrückende Fülle von Einzel- ereignissen, die den Gesamtzusammenhang vermissen lassen. Das Elend der historischen Wissenschaften scheint auch hier, dass durch die beabsichtigte Fülle, Atomisierung und Marginalisierung von Ereignissen ein über- sichtlicher Zusammenhang nicht oder nur un- genügend herausgearbeitet wird. Mehr als «Schlafwandler» Demgegenüber sind Geostrategen wie zum Beispiel George Friedman, Berater von Obama und ehemaliger Chef des privaten Nachrichtendienstes Stratfor, in der Lage, komplexeste Zusammenhänge und anglo- amerikanische Militärdoktrin in nur dreizehn Minuten auf YouTube für Laien verständ- lich darzustellen: 100 Jahre amerikanische Geostrategie sei es, dass Deutschland und Russland nicht zusammengehen dürfen. Die USA würden auch in Zukunft Kriege führen. Die USA sollten sich ein Beispiel an den Bri- ten nehmen, die liessen Kriege führen. Jetzt käme es auf Deutschland an! Deutschland sei noch unentschlossen. 7 Wenn also gegenwärtig Deutschland auf dem Kontinent eine starke Führungsrolle zugeschrieben wird, sollten bei jedem Bürger die roten Lampen leuchten. Die Nato steht an der russischen Grenze. Wenn Deutschland aber ein wirklich sou- veräner Staat werden möchte, muss seine Ge- schichte wahrheitsgetreu und ohne Tabus auf- gearbeitet werden. Darum möchte ich auf zwei neue Büchlein aufmerksam machen, die genau aus diesem Grund Beachtung verdienen. Zwei neue Bücher von Wolfgang Effenberger Wolfgang Effenberger 8 versteht es, als Vertre- ter einer den Fakten verpflichteten Geschichts- schreibung – und von der Quellenlage her den Ansprüchen professioneller Geschichtsschrei- bung mehr als genügend – den roten Faden in Kürze überzeugend darzustellen. Das heisst, diese Büchlein sind der umfangreich verwen- deten Literatur wegen sowohl für weiterfüh- rende Forschung als auch für interessierte Laien ausgesprochen lesenswert. Er zeigt auf, wer Ende des 19. Jahrhunderts ein Interesse an der Neuordnung Europas hatte, wer im Hintergrund die Lunten legte, ab wann dieser Krieg geplant, warum er für das britische Empire notwendig und wie die Pla- nung umsichtig, perfide und fast nicht bemerk- bar aufgegleist wurde. Welche Rolle Iswolski als Diplomat beim Papst bei der Vermittlung zwischen dem republikanischen Frankreich und dem zaristischen Imperium spielte. Und nicht zuletzt, welche Versprechen im Vorfeld vielen europäischen Staaten gemacht wurden, um ihnen eine Beteiligung an diesem Waffen- gang schmackhaft zu machen. Der Papst zum Beispiel sollte wieder einen eigenen Staat bekommen. Russland wurden Istanbul und die so dringend benötigten Dar- danellen angeboten. Frankreich sollte mit dem westlichen Teil von Afrika und Gebieten im Nahen Osten belohnt werden. Den Polen versprach man einen neuen Staat auf den Ge- bieten des Deutschen Reichs und Österreich- Ungarns, Italien die dalmatische Küste, Bul- garien …, Rumänien …, Ungarn … und so weiter. Um das Filetieren des Osmanischen Reiches kümmerten sich die Briten selber. Wie der Erste Weltkrieg geplant wurde Was bei der Lektüre von Wolfgang Effenber- gers Buch sehr klar wird: Es sind Menschen mit Motiven, die auch diesen Waffengang geplant und zur Ausführung gebracht haben. Diese Menschen haben Namen. Belegt ist, dass eine Gruppe um den «Prince of Wales», 1919: Europa wird neu aufgeteilt. Britische Geographen in Versailles ziehen neue Grenzen. (Bild Nicholson) 1 Fortsetzung auf Seite 2

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Zeit-FragenZeitung für freie Meinungsbildung, Ethik und Verantwortung

für die Bekräftigung und Einhaltung des Völkerrechts, der Menschenrechte und des Humanitären Völkerrechts

ISSN 1022 – 2448 15. Januar 201927. Jahrgang

Nr. 2Genossenschaft Zeit-FragenRedaktion und VerlagPostfach, CH-8044 ZürichTelefon: +41 44 350 65 50 Telefax: +41 44 350 65 [email protected]; [email protected]; www.zeit-fragen.ch

ZKZ 59600 PVSt,

AZA 8044 Zürich

02

100 Jahre nach Versailles

Krieg und FriedenDie Aufgaben der Geschichtswissenschaften

von Wolfgang van Biezen

Jeder, der sich ernsthaft dafür interessiert, warum und wozu es auf dieser Welt immer noch Kriege gibt, obwohl eigentlich längst klar ist, dass die vergangenen und gegen-wärtigen Kriege die Menschheit nicht einen Millimeter weitergebracht haben, wird sich früher oder später mit der Geschichte aus-einandersetzen. Mit der traurigen Geschichte vom Kongo zum Beispiel oder aber auch, wie es den Menschen der Schweizerischen Eid-genossenschaft im Laufe von Jahrhunder-ten gelungen ist, Konflikte friedlich zu lösen. Man kann auch mit der Geschichte Russlands oder mit jener von Israel, die auf das engste mit der von Deutschland verbunden sind, an-fangen. Oder mit der Geschichte Chinas, bei der eine grossartige, jahrtausendealte Kultur sichtbar wird, bevor diese von innen, beson-ders aber im 19. Jahrhundert durch europä-ische «merchants of death» zerstört wurde. Hundert Jahre lang drückten diese «Händ-ler des Todes» mit Hilfe ihrer Kanonenboote bengalisches (britisches) Opium gewaltsam in die chinesische Gesellschaft. Diese Art von Völkermord liessen sie sich mit chine-sischem Silber bezahlen, bis China arm und England reich war.

Zusammenhänge – wir landen fast zwangsläufig bei den Briten

An welchem Ort wir auch anfangen, wenn wir uns vertiefen, die Zusammenhänge der Gegenwart verstehen wollen, landen wir fast zwangsläufig bei den Briten und ihrer über fünfhundert Jahre alten Kolonialge-schichte.

Thomas Morus (1478–1535) war in regem Kontakt und oft in Einklang mit den hervor-ragendsten europäischen Philosophen und Theologen seiner Zeit. Er gab bereits um 1500 in seinem Werk «Utopia» dem engli-schen König Heinrich VIII. eine «von Gott gewollte» und bis heute für Kolonisten gül-tige Begründung für die Inbesitznahme frem-der Länder. So wird zum Beispiel festgestellt, Eingeborene hätten einen Überfluss an Ak-kerland und würden diesen «ohne Sinn und Zweck besitzen», dieses Ackerland also nicht bebauen, deshalb bestehe ein durchaus be-rechtigter Grund, die Eingeborenen zu ver-treiben und/oder sich den Boden anzueig-nen.2

Die Aufteilung der Welt seit dem 15. Jahrhundert

Warum auch nicht, denn Papst Alexander VI. hatte ein paar Jahre vorher, 1494 im Vertrag von Tordesillas, dem portugiesischen und dem spanischen Herrscherhaus den kirchli-chen Segen sozusagen gegeben, sich fortan alle Welt – und zwar nach päpstlicher Vor-gabe – genau aufzuteilen. Ab dem Zeit-punkt gab es erstmals in der Geschichte der Menschheit von der Kirche legitimierte glo-bale Besitzansprüche – Portugal auf der östli-chen und Spanien auf der westlichen Halbku-gel. Kaum war in Europa das Wissen um die Kugelgestalt der Erde in intellektuellen und damit auch in kirchlichen Kreisen einiger-massen gefestigt, begann der bis heute dau-ernde Raubzug.

Nun, wie wir in der Schule lernten, er-kannte Heinrich VIII. auch wegen seiner Frauengeschichten den Papst nicht an. Er gründete als absoluter Herrscher seine eigene Kirche. Seitdem ist das englische Königs-haus und damit der jeweils regierende Mon-arch für alle Zukunft Oberhaupt der anglika-nischen Kirche. Das ist bis heute so.

Wer schrieb bislang die Geschichte des 20. Jahrhunderts?

Wenn wir uns mit der Neueren Geschichte beschäftigen, gibt es auf Europa und die Weltkriege bezogen, sehr grob gesagt, zwei Ansätze. Die herrschende und bis heute bei akademischen Historikern immer noch gül-tige Lehrmeinung ist die, dass Deutschland die Alleinschuld an den beiden Weltkriegen trägt. Es ist kein Wunder, dass diese Auffass-sung der Geschichte auch bei Nichtakademi-kern Teil der öffentlichen und veröffentlich-ten Meinung ist.

Willy Wimmer3 konstatiert, dass die Ge-schichte Deutschlands bis heute von den Al-liierten geschrieben wird und damit eine Ge-schichte der Sieger ist, und zwar der Sieger des Ersten und des Zweiten Weltkrieges. Er meint damit, dass bis heute eine objektive, an den Fakten orientierte Geschichte noch nicht geschrieben werden durfte.

Es wäre sonst auch nicht möglich gewe-sen, dass Deutschland seine ihm nach dem Ersten Weltkrieg auferlegten Reparationszah-lungen erst 2010 (!) ordentlich mit einer letz-ten Zahlung von 200 000 Euro an Frankreich beglichen hat.4 Nachdem also die deutschen Kriegsschulden durch verschiedene Gebiets-abtretungen (etwa ein Drittel des Staatsge-bietes ging an andere Staaten), gefolgt von Vertreibung der deutschen Bevölkerung, Zer-störung der Flotte, Beschlagnahmung von In-dustrie-Anlagen und Gütern usw. beglichen sind, zieren sich die Alliierten weiterhin hart-näckig, eine an den Fakten orientierte Ge-schichtsschreibung zuzulassen.

Was ist mit Christopher Clark?Darum war die Freude besonders in den deut-schen Medien gross, als, gerade noch kurz vor dem hundertjährigen Weltkriegsjubi-läum, 2013 das Buch von Christopher Clark mit dem Titel «Die Schlafwandler» erschien. Dieses Werk wurde als umfassend, eine neue Sichtweise versprechend gepriesen. Was 100 Jahre nach dem fürchterlichen Weltkrieg aller-dings hier bei der Ursachenforschung zugelas-sen wird, ist alter Wein in neuen Schläuchen. Ein «schlafwandlerisches» Hineintorkeln in einen Krieg? Das ist unrealistisch. Kein Wort davon, dass dem Ersten Weltkrieg eine um-fangreiche (nicht nur, aber vor allem) britische Planung vorausging. Der gefeierte Christo-pher Clark wurde dennoch von Königin Elisa-beth II. für seine Sichtweise geadelt. Wozu und

wofür wird erst bei der Lektüre langsam klar. Clark belehrt seine Leser, indem er behauptet, der Erste Weltkrieg sei kein Agatha Christie-Thriller und die Ermittler bei der Schuldsuche neigten dazu, die Aktionen der Entscheidungs-träger als «geplant und von einer kohärenten Absicht getrieben zu konstruieren». Es gäbe «keinen bösen Plan» (!).

Alle, die sich die Mühe machen, die-ses vor allem in Deutschland gelobte Buch bis Seite 716 durchzuarbeiten, erfahren dort allen Ernstes, «dass die vorliegenden Quellen eine derartige Argumentation [es gäbe einen solchen Plan] nicht erhärten».5 Da kann man sich nur fragen, was Christopher Clark auf seinem Schreibtisch liegen hat. Die vorlie-genden Quellen …! Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, wo es in Deutsch-land bis heute selbstverständlich dazuge-hört, dass die Siegernationen mit ihren Pan-zern oder Jeeps durch die Lande fahren. Die Russen sind bereits abgezogen. Aber ohne dass nur der Hauch einer Empörung spürbar wurde, besuchte zum Beispiel der amerikani-sche Präsident Trump kürzlich die nach wie vor in Ramstein stationierten US-Truppen.

Peter Heisenko hat in einem Kapitel seines Buches «England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert» dieses Verdrängen der Geschichte – und damit auch der Gegenwart – als kollektiv- und sozialpsychologisches Phä-nomen der Deutschen treffend beschrieben.6 Er nannte es Nationalmasochismus.

Zusammenhänge werden ausgeblendetChristopher Clarks «Die Schlafwandler» ent-puppt sich als weitere «Spin-doctor»-Arbeit. Als Historiker bleibt er bei der 100 Jahre alten Lesart; er bemüht, wenn auch sprach-lich geschliffen, die längst widerlegte «Fi-scher-Kontroverse», nach der deutsche Hi-storiker nachweisen, dass die preussischen Militaristen vor dem Ersten Weltkrieg un-bedingt diesen Krieg wollten. Er legt falsche Spuren und stellt das Britische Empire und seine Politik in harmlosestem Licht dar. Un-merklich wird der Leser durch Banalitäten oder schlüpfrige Schilderungen in den Bann gezogen.

Es gibt eine erdrückende Fülle von Einzel-ereignissen, die den Gesamtzusammenhang vermissen lassen. Das Elend der historischen Wissenschaften scheint auch hier, dass durch die beabsichtigte Fülle, Atomisierung und Marginalisierung von Ereignissen ein über-

sichtlicher Zusammenhang nicht oder nur un-genügend herausgearbeitet wird.

Mehr als «Schlafwandler»Demgegenüber sind Geostrategen wie zum Beispiel George Friedman, Berater von Obama und ehemaliger Chef des privaten Nachrichtendienstes Stratfor, in der Lage, komplexeste Zusammenhänge und anglo-amerikanische Militärdoktrin in nur dreizehn Minuten auf YouTube für Laien verständ-lich darzustellen: 100 Jahre amerikanische Geostrategie sei es, dass Deutschland und Russland nicht zusammengehen dürfen. Die USA würden auch in Zukunft Kriege führen. Die USA sollten sich ein Beispiel an den Bri-ten nehmen, die liessen Kriege führen. Jetzt käme es auf Deutschland an! Deutschland sei noch unentschlossen.7 Wenn also gegenwärtig Deutschland auf dem Kontinent eine starke Führungsrolle zugeschrieben wird, sollten bei jedem Bürger die roten Lampen leuchten. Die Nato steht an der russischen Grenze.

Wenn Deutschland aber ein wirklich sou-veräner Staat werden möchte, muss seine Ge-schichte wahrheitsgetreu und ohne Tabus auf-gearbeitet werden.

Darum möchte ich auf zwei neue Büchlein aufmerksam machen, die genau aus diesem Grund Beachtung verdienen.

Zwei neue Bücher von Wolfgang Effenberger

Wolfgang Effenberger8 versteht es, als Vertre-ter einer den Fakten verpflichteten Geschichts-schreibung – und von der Quellenlage her den Ansprüchen professioneller Geschichtsschrei-bung mehr als genügend – den roten Faden in Kürze überzeugend darzustellen. Das heisst, diese Büchlein sind der umfangreich verwen-deten Literatur wegen sowohl für weiterfüh-rende Forschung als auch für interessierte Laien ausgesprochen lesenswert.

Er zeigt auf, wer Ende des 19. Jahrhunderts ein Interesse an der Neuordnung Europas hatte, wer im Hintergrund die Lunten legte, ab wann dieser Krieg geplant, warum er für das britische Empire notwendig und wie die Pla-nung umsichtig, perfide und fast nicht bemerk-bar aufgegleist wurde. Welche Rolle Iswolski als Diplomat beim Papst bei der Vermittlung zwischen dem republikanischen Frankreich und dem zaristischen Imperium spielte. Und nicht zuletzt, welche Versprechen im Vorfeld vielen europäischen Staaten gemacht wurden, um ihnen eine Beteiligung an diesem Waffen-gang schmackhaft zu machen.

Der Papst zum Beispiel sollte wieder einen eigenen Staat bekommen. Russland wurden Istanbul und die so dringend benötigten Dar-danellen angeboten. Frankreich sollte mit dem westlichen Teil von Afrika und Gebieten im Nahen Osten belohnt werden. Den Polen versprach man einen neuen Staat auf den Ge-bieten des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns, Italien die dalmatische Küste, Bul-garien …, Rumänien …, Ungarn … und so weiter. Um das Filetieren des Osmanischen Reiches kümmerten sich die Briten selber.

Wie der Erste Weltkrieg geplant wurdeWas bei der Lektüre von Wolfgang Effenber-gers Buch sehr klar wird: Es sind Menschen mit Motiven, die auch diesen Waffengang geplant und zur Ausführung gebracht haben. Diese Menschen haben Namen. Belegt ist, dass eine Gruppe um den «Prince of Wales»,

1919: Europa wird neu aufgeteilt. Britische Geographen in Versailles ziehen neue Grenzen. (Bild Nicholson)1

Fortsetzung auf Seite 2

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Zeit-FragenSeite 2 Nr. 2, 15. Januar 2019

den späteren König Edward VII., bestehend aus britischem Hoch- und Finanzadel, 1887 den Plan fassten, Russland und Frankreich zu verbünden und gegen Deutschland einen Krieg anzufangen. Unmittelbar nach der Pla-nung begann die geheime Diplomatie unter britischer Kontrolle ihre Arbeit.9

Wolfgang Effenberger nimmt in jedem die-ser spannenden Büchlein den Leser mit auf die geopolitische Reise der Zeit vor dem Er-sten Weltkrieg. Seine Bücher haben einen gut nachvollziehbaren roten Faden. Er stellt dabei verdienstvollerweise immer mal wieder an passenden Stellen den Bezug zur Gegenwart her und besticht durch viele Literaturangaben.

Er beschreibt die Rolle der amerikani-schen Hochfinanz, speziell die des Bankhau-ses J.P. Morgan, während des Krieges und warum der Verlauf des Ersten Weltkrieges für die USA, als neutralen Staat wohlgemerkt, die Gelegenheit war, sich fortan mit briti-schem Know-how als einzige Weltmacht zu positionieren. Arthur Ponsonby und die (noch immer gültigen) Prinzipien der Kriegspropa-ganda runden die Büchlein ab.10

Auch heute rieseln täglich Feindbilder über verschiedene Kanäle in unsere Köpfe. Tatsächlich wird über diese Lektüre jeder von uns eingeladen, darüber nachzudenken, wie in dieser alles andere als friedlichen Welt der Beitrag der Bürger zu einer nachhaltigen

1 Nicholson, Harold. Friedensmacher 1919. Berlin 1934. Harold Nicholson musste in Versailles als britischer Staatsekretär von Aussenminister Sir Ed-ward Grey die in immer neu auftauchenden gehei-men Verträgen ausgehandelten Grenzverschiebun-gen kartographieren.

2 Hervorragend dargestellt in: Munier, Gerald. Tho-mas Morus, Urvater des Kommunismus und ka-tholischer Heiliger, VSA, Hamburg 2008, S. 136 f. sowie der Originaltext: Morus, Thomas. Utopia – Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1964, S. 129 ff

3 Wimmer, Willy. Deutschland im Umbruch. Höhr-Grenzhausen 2018, S. 133

4 Kellerhoff, Sven Felix. Deutschlands Repara-tionszahlungen laufen aus. In: «Die Welt» vom 28.09.2010.

5 Clark, Christopher. Die Schlafwandler. München 1912, S. 716

6 Heisenko, Peter. England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert. München 2010, S. 297 ff

7 Friedman, George. Rede beim Chicago Council on Foreign Relations Anfang 2015, You Tube

8 Effenberger, Wolfgang. Europas Verhängnis 1914/18, Die Herren des Geldes greifen zur Welt-macht. Höhr-Grenzhausen, Mai 2018

9 Riemeck, Renate. Mitteleuropa – Bilanz eines Jahrhunderts. Freiburg 1965

10 Effenberger, Wolfgang. Europas Verhängnis 1914/18, Kritische angloamerikanische Stim-men zur Geschichte des ersten Weltkrieges. Höhr-Grenzhausen, November 2018

1244 – Schlüssel zum Frieden in EuropaZum neuen Buch des ehemaligen Aussenministers Jugoslawiens Živadin Jovanović

vom Belgrader Forum für eine Welt unter Gleichen

Die Serbische Literaturgenossenschaft, der älteste Verlag Serbiens, hat kürzlich das Buch «1244 – A Key to Peace in Europe» (Schlüs-sel zum Frieden in Europa) herausgegeben, das von Živadin Jovanović, dem ehemaligen Aussenminister Jugoslawiens (1998–2000), verfasst wurde. Das Buch wurde dem Pu-blikum und den Medien von Herrn Dragan Lakićević, Chefredakteur der Serbischen Li-teraturgenossenschaft, Prof. Milo Lompar, Botschafter Dragomir Vučićević und dem Verfasser vorgestellt.

Das Buch ist eine Sammlung von Arti-keln, Interviews und öffentlichen Reden des Autors über die Autonome Serbische Pro-vinz Kosovo und Metohijen, die in den letz-ten 20 Jahren (von 1997 bis September 2018) veröffentlicht wurden. Das Buch (890 Seiten) besteht aus 5 Kapiteln: Die Zeit des Terro-rismus, die Zeit der Aggression, die Zeit der Illusionen, die Zeit des Aufwachens und die Dokumente. Die Rezensenten sind der Aka-demiker Vlado Strugar, Prof. Dr. Milo Lom-par und Prof. Čedomir Štrbac sowie die Re-dakteure Botschafter Dragomir Vučićević (im Ruhestand) und der Schriftsteller Dra-gan Lakićević. Die Verlage: das Belgrader Forum für eine Welt unter Gleichen und die Serbische Literaturgenossenschaft.

Laut Professor Milo Lompar spiegelt das Buch die Kontinuität der Ansichten des Autors über die Eigenstaatlichkeit und die nationalen Interessen Serbiens und des serbischen Volkes wider, die in seiner jahrzehntelangen diplo-matischen Karriere und in seinen öffentlichen Ämtern deutlich erkennbar sind. Das kontinu-ierliche Eintreten des Autors für die uneinge-schränkte Einhaltung der Grundprinzipien des Völkerrechts und der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates bei der Lösung des Problems der serbischen Provinz Kosovo und Metohi-jen spiegelt beides wider – sein Verständnis für die langfristige und aktuelle Bedeutung des Kosovo und Metohijen, nicht nur für Ser-bien und das serbische Volk, sondern auch für Frieden und Stabilität auf dem Balkan und in Europa. Mit über 1300 serbischen mittelalter-lichen Denkmälern ist das Zentrum des Patri-archats der serbisch-orthodoxen Kirche – Ko-sovo und Metohijen – eng mit der staatlichen, nationalen, kulturellen und religiösen Identität verwoben, so Professor Lompar. Er kam zum Ergebnis, dass das Buch von Herrn Živadin Jovanović die Wurzeln der Eigenstaatlichkeit und die Tradition der im 19. Jahrhundert wie-derhergestellten serbischen Nation sowie das Recht auf Gleichheit und Selbstverwaltung aller in der Region lebenden Bürger und na-tionalen Gemeinschaften unabhängig von ihrer Nationalität oder Religion bekräftigt. Als Be-sonderheit würdigte er insbesondere den hohen dokumentarischen Wert des Buches.

In bezug auf die wichtigsten Thesen des Au-tors betonte Botschafter Dragomir Vučićević, dass Serbien viel mehr über sich selbst und

seine langfristigen Interessen nachdenken müsse und in geringerem Masse über die aktu-ellen Erwartungen der internationalen Interes-sengruppen, da diese sich in ihrer Positionie-rung gegenüber Serbien ausschliesslich von ihren eigenen geopolitischen Interessen leiten lassen. Serbien sollte sich an die Grundprin-zipien des Völkerrechts und die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates halten, unabhängig davon, wer es für geeignet hält oder nicht, und ausgewogene Beziehungen zu allen in-ternationalen Akteuren entwickeln, insbeson-dere zu bewährten, langjährigen Freunden, die nicht an der Nato-Aggression teilgenommen haben und die daraus resultierende illegale, einseitige Sezession nicht anerkannt haben. Vučićević hob auch die These des Autors her-vor, dass Serbien die Europäische Union nur so lange braucht, wie die Europäische Union Ser-bien braucht, und dass die EU-Mitgliedschaft ein legitimes Ziel ist, sofern sie nicht von der Aufgabe ihrer Souveränität und territorialen Integrität abhängig ist. Eine gerechte und dau-erhafte Lösung für Kosovo und Metohijen ist nur auf der Grundlage der Einhaltung der in der UN-Charta, der KSZE-Schlussakte (1975), der Resolution 1244 (1999) des UN-Sicher-heitsrates und der Verfassung Serbiens veran-kerten Grundsätze möglich. Versuche, Serbien Lösungen aufzuzwingen, die Verstösse gegen die Grundprinzipien des Völkerrechts und der Europäischen Sicherheit und Zusammenar-beit sowie UN-Resolutionen des Sicherheits-rats legalisieren, würden den Weg für die Ver-breitung von Instabilität und die Schaffung von Konfliktpotentialen auf dem Balkan und in Eu-ropa ebnen, warnte Vučićević.

Der Autor erinnerte daran, dass die Resolu-tion 1244 (1999) des UN-Sicherheitsrates das Ergebnis extrem schwieriger zweimonatiger Verhandlungen unter russischer Vermittlung war, während sich die Nato-Aggression noch in vollem Gange befand. Seiner Einschät-zung nach ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass das heutige enge und geschlossene Ver-handlungsformat von Brüssel zu einer ausge-wogenen, gerechten und nachhaltigen Lösung des Kosovo- und Metohijen-Problems führen wird. Wenn der Westen nicht in der Lage war, den Nato-Krieg 1999 ohne die Schlüsselrolle Russlands (Viktor Tschernomyrdin) zu been-den, wie realistisch ist es dann heute, 20 Jahre nach diesem Krieg, die Frage nach dem Sta-tus des Kosovo und Metohijen als Haupt-folge dieses Krieges zu lösen, wenn Russ-land vom gesamten Prozess ausgeschlossen bleibt! Ist Putins Russland heute weniger re-levant, weniger qualifiziert für die friedliche Lösung internationaler Probleme, einschliess-lich des Problems von Kosovo und Metohi-jen?! Oder anders ausgedrückt, ist der We-sten heute ein stärkerer, dominanterer Akteur auf der globalen und europäischen Bühne als 1999? Jovanović fügte hinzu, dass die UN-Si-cherheits-Resolution 1244 (1999) die Positio-

nen und Interessen aller wichtigen Akteure in den europäischen und globalen Beziehungen, einschliesslich Russland und China, umfasst. Ausgehend davon, dass dies bereits 1999 der Fall war – auf dem Höhepunkt der Dominanz der unipolaren Weltordnung –, folgt, dass dies heute vor dem Hintergrund multipolarer glo-baler Beziehungen nicht minder zwingend er-forderlich ist. Ein Versuch, das Problem in-nerhalb eines reinen EU-Formats zu lösen, offenbart die Absicht, Russland und China auszuschliessen und auf Erpressung zurückzu-greifen, um geopolitische Interessen des We-stens, nämlich der EU und der Nato, durchzu-setzen. Die Annahme solcher Versuche würde den globalen Trends zuwiderlaufen und zu einer weiteren Destabilisierung der Beziehun-gen auf dem Balkan und in Europa führen, an-statt eine ausgewogene und nachhaltige Lö-sung herbeizuführen.

Jovanović erinnerte an den bevorstehenden 80. Jahrestag des Münchner Abkommens über das Sudetenland, das angeblich die Rechte der deutschen nationalen Minderheit «schützen» und den Frieden in Eu ropa «retten» sollte. Wir alle wissen, wer an dieser «Vereinba-rung» teilgenommen hat und wer absicht-lich von ihr ausgeschlossen wurde und was das Ergebnis dieser «umfassenden rechtsver-bindlichen Vereinbarung» vom 30. September 1938 war, wie Jovanović mahnte. (Übersetzung Zeit-Fragen)

* * *Nach der Beendigung des Krieges gegen Ju-goslawien 1999 nahm der UN-Sicherheits-rat die Resolution 1244 (1999) vom 10. Juni 1999 an, in der Öffentlichkeit auch als Ko-sovo-Resolution bekannt. Seither sind annä-hernd 20 Jahre vergangen. Vor 20 Jahren, im Oktober 1998, wurde in einer schicksalhaf-ten Abstimmung im Deutschen Bundestag die deutsche Beteiligung am Krieg beschlossen – mit überwältigender Mehrheit. Man lese den Stenographischen Bericht der 248. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 16. Oktober 1998 (Plenarprotokoll 13/248).

Gegen die damaligen Kriegstreiber wurde von deutschen Völkerrechtlern und Anwalts-organisationen Strafanzeige erhoben. Der da-malige Generalbundesanwalt Nehm schmet-terte diese Anzeigen mit der Begründung ab, der Ausdruck «Angriffskrieg» dürfe nur eng gefasst als Militäreinsatz verstanden werden. Die Bundesregierung zog das Konstrukt der «humanitären Intervention» herbei, um die-sen Krieg zu rechtfertigen, jedoch auch dies ohne Entschluss des Sicherheitsrates der Uno.

Völkerrechtswidrig bleibt völkerrechts-widrig, man drehe und wende es, wie man will. Wie es scheint, ist dieser Vorgang weder politisch, noch rechtlich oder moralisch zur Genüge aufgearbeitet oder thematisiert. Wie wäre es sonst möglich, dass die deutschen Kriegstreiber so billig davonkamen, ohne grosses Aufhebens, ohne lautes Aufschreien,

ohne international verheerende Kritik? Je-denfalls war davon allzu wenig zu vernehmen.

Die heutige Regierung Merkel gibt nun offen zu, dass sie ihre damaligen Ziehkinder – die UÇK – für die Umformung zu einer regu-lären Armee im Kosovo beratend und finanzi-ell unterstützt. Worauf soll das hinauslaufen? Kaum sind die Toten von 1999 begraben, er-steht vor unseren Augen die nächste Bestiali-tät: Der Aufbau einer Armee im Kosovo bedeu-tet nichts anderes als: «Wir machen weiter.»

Der ehemalige Aussenminister Jugoslawi-ens Živadin Jovanović (1998–2000) gibt nun – zusammen mit dem «Belgrade Forum for a World of Equals» – ein neues umfangreiches Buch heraus, das sich mit der Friedenspoli-tik in Europa befasst und sich im speziellen mit der Resolution 1244 des UN-Sicherheits-rates und deren weitläufigen Konsequenzen auseinandersetzt. Eine Übersicht in engli-scher Sprache liegt bereits vor, die Überset-zung des gesamten Buches aus dem Serbi-schen wird wohl folgen.

Barbara Hug

Resolution 1244Diese Resolution, die am 19. Juni 1999 vom UN-Sicherheitsrat angenommen wurde, beendete die 78 Tage dauernde Nato-Aggression gegen Serbien (Bun-desrepublik Jugoslawien), legte die Ga-rantie der Souveränität und der territo-rialen Integrität Serbiens fest sowie eine wesentliche Autonomie für die Provinz Kosovo und Metohijen innerhalb von Serbien. Dessen ungeachtet prokla-mierte die Führung der Provinz im Jahr 2008 die einseitige Sezession von Ser-bien, welche im Gegenzug von Nato- und EU-Mitgliedern anerkannt wurde, mit Ausnahme von Spanien, Rumänien, Slowakei, Griechenland und Zypern.

«Krieg und Frieden» Fortsetzung von Seite 1

ISBN 978-3-943007-20-6ISBN 978-3-943007-19-0

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Zeit-FragenNr. 2, 15. Januar 2019 Seite 3

Die Gelbwesten oder die nicht verheilte Wunde des Referendums von 2005

von Arnaud Benedetti, Frankreich*

Für Arnaud Bene-detti ist die Gelbwe-sten-Bewegung in eine quasi revolu-tionäre Phase getre-ten. Die Wut, die ihr zugrunde liegt, hat sich in dem Masse verstärkt, wie der Wunsch nach mehr Volkssouveränität

zugunsten der Technokratie immer mehr be-schnitten wurde.

Die gelbe Sicherheitsweste ist in erster Linie ein Signal. Sie illustriert die Krise des Ma-cronismus, die ihre Ursprünge in einer frü-heren Welt hat, von der Macron und sein Ge-folge der «En marche»-Bewegung nur die Erben sind. Die Geschichte gleicht den rus-sischen Puppen, die ineinander verschach-telt sind. Die Verpackung kündigte das Neue an, während das Vergangene sich zu erneu-ern versuchte. Eigentlich verteidigte die «En marche»-Bewegung, ohne sich dessen be-wusst zu sein, eine alte Vorstellung von Eu-ropa: diejenige von Maastricht, einer oppor-tunistischen Verteidigung der Institutionen einer müden Fünften Republik und einer vor allem technokratischen Auffassung von Politik. Auf allen Ebenen wurden die ver-

schiedenen Bereiche der Volkssouveränität zunehmend eingeschränkt. Die damit ver-bundene Unzufriedenheit manifestiert sich Samstag für Samstag unkontrolliert und tu-multuös. Die Gelbwesten-Bewegung [«gi-letisme»] ist zuerst einmal Ausdruck dieser Situation. Einer Situation, in der ein Bruch beziehungsweise ein Wendepunkt stattfin-det – etwas, das eine radikal neue Situation schafft. Wenn Kommentatoren und Beteiligte sich die Zähne ausbeissen beim Versuch, die-sen Moment zu erfassen, zu verstehen, was passiert, dann liegt es daran, dass die Situa-tion allen Normen und Regeln zuwiderläuft – und das ist das Merkmal einer Revolution.

Vieles bricht zusammen, verwirrt und ver-blüfft. Der Ablauf, den wir seit einigen Wo-chen miterleben, ist solcher Art: Er ist quasi revolutionär, und zwar aus mindestens zwei Gründen: Einerseits, weil er eine spektakuläre und besorgniserregende Infragestellung des «rationalen Rechtsrahmens» zum Ausdruck bringt – um einen Begriff von Max Weber zu verwenden –, in dem wir interagieren. An-dererseits, weil er im Gegenzug zu einer Art «neuen» Reaktion führt, die in einer unbän-digen Selbstverteidigungsbewegung die di-rekt betroffenen politischen, intellektuellen, administrativen und wirtschaftlichen Kräfte zusammenschweisst, die alle ihre Positionen retten und schützen wollen. Auf beiden Sei-ten führt der Weg ins Extreme. Gemäss den bürgerlichen Anstandsregeln sind die Abwei-chungen, die sich die an der Konfrontation Beteiligten erlauben, das Zeichen für einen offensichtlichen Schaden an der institutionel-len Grundlage des Regimes. Einige Demon-stranten – jedoch bei weitem nicht alle – zö-gern nicht, gewalttätige Zusammenstösse mit der Polizei zu provozieren; die Exekutive ih-rerseits benutzt eine Sprache und ein Verhal-

ten, die explizit spaltend und autoritär wirken und keineswegs dazu angetan sind, die beun-ruhigende Stimmung zu besänftigen.

Was wir hier erleben, ist nichts anderes als ein Machtkampf. Aber ein Kampf, der sich ausserhalb des vorgegebenen, einvernehm-lich akzeptierten Spielplatzes entwickelt. Die Strasse ist wieder zum Schauplatz eruptiver politischer Gegensätze geworden. Ironie der Geschichte ist: Die «neue Welt» hat sich un-erwartet in eine «in die Vergangenheit füh-rende Zeitmaschine» verwandelt, um vormo-derne Formen der Politik neu zu erforschen.

Einige Personen glauben in der heutigen Zeit zu unrecht, Anzeichen der 1930er Jahren zu erkennen. Das ist Ausdruck einer Kurz-sichtigkeit, die alle Ereignisse unserer Zeit auf das 20. Jahrhundert zurückführt, auf die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Welt-krieg! Zweifellos müssen wir jedoch unser Augenmerk auf ein anderes Jahrhundert len-ken – nicht auf das vom Totalitarismus ge-prägte 20. Jahrhundert, sondern auf dasje-nige, das sich mit der demokratischen Frage und der Freiheit der Völker befasste, nämlich das 19. Jahrhundert. Wir sind dem Jahr 1848 viel näher als 1934 oder sogar 1968.

Der Ausbruch, der zunächst auf Grund der steuerlichen und sozialen Situation erfolgte, ist de facto ein politischer. Politisch, weil die Initiatoren im Verlauf der Mobilisierung entdeckt haben, dass der einzige Weg, die Debatte über soziale und wirtschaftliche Fragen zu führen, darin besteht, die Ausein-andersetzung mit der Demokratiefrage ins Zentrum zu rücken. Diese scheint jedoch blockiert zu sein, auf Grund des Maastrich-ter-Vertrags, der unter anderem den Bereich der Wirtschaft von jeglicher Infragestellung oder Umkehrbarkeit ausgeschlossen hat. Macron selber ist nur der ultimative Voll-

strecker dieser Maastrichter Fixierung auf die Wirtschaft, der sich alles Politische un-terordnen muss.

Er ist der verlorene Sohn, der versprochen hat, alles zu meistern – eine Rückkehr zu einer Form der Macht des Politischen. Nach achtzehn Monaten Amtszeit erweckt er aber den Eindruck, wie seine Vorgänger einem Fahrplan zu folgen, der sich in ganz anderen Händen befindet als denjenigen des souverä-nen Volkes. Beeinflusst von der noch nicht verheilten Wunde der Volksabstimmung von 2005,1 sind die Gelbwesten die erste Volks-bewegung, der es gelingt, die von Maastricht bestimmte technokratische Lehre in Frage zu stellen.

Eine zusätzliche Steuer, das Unverständnis der Regierung über den aufsteigenden Miss-mut, eine Prise Missachtung haben genügt, dass unter unseren Augen eine Situation ent-standen ist, deren Beginn zwar erkennbar ist, deren Ende jedoch nicht. Die «nationale De-batte», welche die EU- und die Migrations-frage völlig ausser acht lässt, zeigt auf, dass die Exekutive keinesfalls die Absicht hat, ir-gendwelche Konzessionen am Wesen ihrer Weltanschauung zu machen. Quelle: © Arnaud Benedetti/Le Figaro vom 7.1.2019(Übersetzung Zeit-Fragen)

1 Am 29. Mai 2005 verwarfen die französischen Stimmbürger in einer landesweiten Volksabstim-mung den von der EU präsentierten «Verfassungs-vertrag für Europa» mit 55 % der Stimmen. Zwei Tage später geschah das gleiche in den Niederlan-den. 2007 wurde von der EU den Mitgliedslän-dern eine leicht veränderte neue Fassung unter dem Namen «Lissaboner Vertrag» vorgelegt. Darauf än-derte der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy 2008 mit Unterstützung des Parlaments die Verfassung, um diesen EU-Vertrag drei Tage später – ohne Volksabstimmung – durchzwingen zu können. (Anm. des Übersetzers)

Lehren für die Demokratie beim Blick auf Frankreichvon Karl Müller

Das Angebot des französischen Präsidenten, mit den Bürgern seines Landes vom 15. Ja-nuar bis Ende März 2019 eine «grosse natio-nale Debatte» zu führen, ist – das zeigt sich schon vor Beginn der «Debatte» – wohl eher eine Mogelpackung. Offensichtlich hat Em-manuel Macron die Absicht, moderne Kon-troll- und Steuerungstechniken anzuwenden, um die Bürger in den Griff zu bekommen. Der Vorgang lädt zu grundsätzlichen Über-legungen ein.

Allzu viele Parallelen zwischen verschiede-nen geschichtlichen Epochen zu ziehen ist in der Regel fragwürdig. Aber es kann durch-aus interessant sein, einen Blick auf den Um-gang der Mächtigen verschiedener Epochen mit den Anliegen der Untertanen, heute Bür-gerinnen und Bürgern, zu werfen.

Ludwig XVI. …Als Ludwig der XVI. und seine Berater in den 1780er Jahren nicht mehr wussten, wie sie das stark ins Schwanken geratene fran-zösische Staatsschiff künftig lenken und vor allem den maroden Staatshaushalt sanieren sollten, hatten sie eine Idee. Sie beriefen die Jahrhunderte nicht mehr zusammengetretene Ständeversammlung ein, damit diese behilf-lich sei. Das sollte den Eindruck vermitteln, dass alle drei Stände der Gesellschaft, also Adel, Klerus sowie Bauern und Bürgertum, bei der Lösung der Staatskrise mitwirken könnten – auch wenn die Vertreter des dritten Standes (Bauern und Bürgertum), dem mehr als 95 Prozent der Bevölkerung Frankreichs angehörten, nur ein Drittel der Stimmen in dieser Ständeversammlung haben sollten.

Hinzu kam die Idee, allen Untertanen die Möglichkeit zu geben, Beschwerden zu for-mulieren und schriftlich einzureichen – eine interessante Idee in Anbetracht der Tatsa-che, dass der Grossteil der Menschen, vor allem aus dem dritten Stand, weder lesen noch schreiben konnte. Indes, der König und seine Berater hatten sich verrechnet. Die Be-schwerdebriefe zeugten ungeschminkt von der Situation der Menschen im Land und vom schreienden Unrecht – denn die Unzu-

friedenheit und Empörung hatte mittlerweile Vertreter aller Stände erfasst, und sehr, sehr viele meldeten sich zu Wort. Auch die Stän-deversammlung löste sich, kaum war sie zu-sammengetreten, wieder auf, und es kam zum ersten revolutionären Akt, dem Ball-hausschwur, Frankreich eine Verfassung geben zu wollen, und zur Bildung der Natio-nalversammlung.

… und Emmanuel MacronDas alles ist nun fast 230 Jahre her, heute gibt es in Frankreich keine Könige mehr, Frank-reich nennt sich Republik mit Bürger- und Menschenrechten, es soll ein Land sein, in dem alle Bürgerinnen und Bürger die glei-chen Rechte haben – und zu den Bürgerin-nen und Bürgern zählt auch der Präsident des Landes.

Der aber war in den vergangenen Wochen durch eine landesweite Protestbewegung – die Gelbwesten – in arge Bedrängnis geraten und hatte Entgegenkommen signalisiert. Be-sonders stark angeprangerte Gesetzesvorha-ben sollten für eine gewisse Zeit mit einem Moratorium belegt werden oder wurden zu-rückgezogen. Vor allem: Emmanuel Macron versprach eine «grosse nationale Debatte» über die Anliegen der Menschen im Land.

Nun ist herausgekommen, dass diese «grosse nationale Debatte» kein ehrlicher Dialog sein sollte, sondern eine Farce, ein Schauspiel. Walter Ulbricht, ein deutscher Kommunist und später Generalsekretär des Zentralkomitees der SED in der DDR, soll 1945 mit Blick auf seine Strategie für die so-wjetisch besetzte Zone gesagt haben: «Es muss demokratisch aussehen, aber wir müs-sen alles in der Hand haben.» Nicht anders hat offenbar auch Emmanuel Macron gehan-delt – aber es ist aufgeflogen.

Macron will die Themen des Dialogs mit den Bürgern des Landes von vornherein ein-schränken, und als Cheforganisatorin und Ko-ordinatorin der Debatte war – ohne Abspra-che mit den Gelbwesten – Chantal Jouanno vorgesehen, eine Staatsbeamtin: Sie ist seit März 2018 Präsidentin der CNDP (Commis-sion nationale du débat public). Besonders

stossend: Die als Koordinatorin ausgewählte ehemalige Ministerin und prominente Spit-zensportlerin verdient in ihrer jetzigen Funk-tion als Staatsbeamtin fast 15 000 Euro pro Monat – zehnmal so viel wie der offizielle Mindestlohn in Frankreich. Nun, wo dies be-kannt geworden ist, ist die von Macron ge-wünschte Koordinatorin von ihrem Amt zu-rückgetreten.

Moderne Kontroll- und Steuerungsmechanismen …

Man kennt diese Art von Top-down-Politik – bei der diejenigen, über die bestimmt wird, das Gefühl haben sollen, sie hätten selbst be-stimmt – aus dem Change Management für Kontroll- und Steuerungsprozesse in Unter-nehmen oder staatlichen Behörden, aus «Zu-kunftswerkstätten» und ähnlichem – Macron will es mit ganz Frankreich versuchen. Viel-sagendes Detail: Im Elysée-Palast nennt man Macrons Strategie gegenüber den Gelbwe-sten «Operation Reconquista» – so schrieb die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» am 9. Januar.

… oder direkte Demokratie?Der Versuch wird sehr wahrscheinlich schei-tern, und es ist gut nachvollziehbar, dass die Opposition gegen Macron dessen Versuche als «Alibiübung» bezeichnet und ihr grund-sätzliches Misstrauen gegenüber dem Präsi-denten bestätigt sieht. So wird die Forderung lauter nach einer echten Selbstbestimmung «durch das Volk für das Volk». Die Schweiz gilt als Modell. Ein Referendums- und Initia-tivrecht wird gefordert. Auf dem Referen-dumsweg sollen sogar gewählte Abgeordnete, Mitglieder der Regierung und auch der Prä-sident selbst abgesetzt werden können. Hier aber zeigen Macron und seine Regierung kei-nerlei Entgegenkommen. Sie sprechen von «Agitatoren» und wollen hart durchgreifen.

Um Gewalt zu verhindernLudwig XVI. hatte mit all seinen Versuchen, an der Macht zu bleiben, keinen Erfolg. Aber die Geschichte der Revolution ist mit einer furchtbaren Blutspur verbunden. Der Weg

der Schweiz im 19. Jahrhundert hingegen war der weitgehend gewaltlose hin zur di-rekten Demokratie. Aber auch die wurde den Schweizern nicht auf einem Präsentierteller geschenkt, sie musste politisch erkämpft wer-den – und es war ein durchaus langer Weg.

Ist Frankreich nicht überall in EU-Europa?

Frankreichs Präsident und Politik haben nicht nur Parallelen in der Geschichte Frankreichs. Sie haben auch Parallelen zu dem, was heute in vielen europäischen Staaten passiert. Der provokante und durchaus radikale franzö-sische Schriftsteller Michel Houllebecq hat gerade eben seinen neuesten Roman «Sero-tonin» veröffentlicht – gleichzeitig in franzö-sischer und in deutscher Sprache. Der durch und durch irritierte Lebensweg seines Prot-agonisten muss hier nicht Thema sein; aber der Hintergrund, vor dem sich die Roman-handlung abspielt, hat durchaus viel mit der Wirklichkeit zu tun: eine an der Globalisie-rung und der Politik der EU verarmte fran-zösische Bauern- und Arbeiterschaft. Auf andere Länder Europas ist das Muster zu übertragen.

Noch scheint es zu «funktionieren», wenn nur Regierungen ausgewechselt werden oder gar ganz neue Parteien die bisherigen in der Machtausübung ablösen. Auch Macron und seine «Bewegung» wurden als Retter aus der Not präsentiert.

Aber wie lange wird so etwas noch durch-gehen? Frankreich ist ein Menetekel. Nicht nur beim Blick auf die Proteste der vergan-genen Wochen, auch beim Blick auf den Um-gang der politischen Klasse mit diesen Pro-testen. Wo in EU-Europa werden denn die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger und deren Rechte als Souverän wirklich ernstge-nommen?

Aber das wird auf Dauer nicht gutgehen. Den Bürger als Souverän ernst nehmen kann nur heissen, direkte Demokratie zu leben. Auf dem Weg dorthin auf die politische Klasse zu hoffen, wird nicht zielführend sein. Sich als Bürger für die direkte Demokratie einzuset-zen, ist unverzichtbar.

* Arnaud Benedetti ist ausserordentlicher Profes-sor an der Universität Paris-Sorbonne. Er war zu-erst Kommunikationsdirektor des «Centre national de la recherche scientifique», dann des «Centre na-tional d’études spatiales» (CNES) und schliesslich des «Institut national de la santé et de la recherche médicale» (Inserm). Sein neuestes Buch heisst «Le coup de com permanent» [Die ständige PR-Aktion] (Editions du Cerf, 2018), in dem er die Kommuni-kationsstrategien von Emmanuel Macron analy-siert.

Arnaud Benedetti (Bild arnaud-bene-

detti.com)

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Zeit-FragenSeite 4 Nr. 2, 15. Januar 2019

Vor 40 Jahren kaum denkbar und heute Rea-lität: Während Marihuana in den USA auf Bundesebene immer noch als illegale Droge eingestuft wird, haben 30 US-amerikanische Staaten Cannabis für medizinische Zwecke zugelassen, und 10 US-Staaten haben Can-nabis für den Freizeitkonsum freigegeben.1 Nach Uruguay (2014) hat nun Kanada als zweites Land angekündigt, Cannabis für den Freizeitgebrauch zu legalisieren.2 Und dies, obwohl die nachteiligen Wirkungen von Cannabis auf den Menschen in der medizi-nischen Fachwelt seit Jahren bekannt sind und der medizinische Nutzen gering ist.3-7 Seit Mitte 2016 sind Marihuanaprodukte mit einem THC-Gehalt von unter 1 % auch in der Schweiz legal erhältlich. In der Schweiz sind bereits 580 Firmen in das Geschäft mit legalem Hanf eingestiegen, und der Boom hat 2017 erstmals 15 Millionen Franken in die Staatskasse gespült.8

In den USA hat sich inzwischen eine gewal-tige Cannabisindustrie mit einem Milliar-dengeschäft entwickelt.9 Dabei hat die Can-nabisindustrie viel von der Tabakindustrie gelernt.10,11 Marihuana-Verkäufe haben in denjenigen US-Staaten, in denen Marihuana legal erhältlich ist, im letzten Jahr 8 Milli-arden US-Dollar erreicht, und der Verkaufs-erlös im Jahre 2025 wird auf 24 Milliarden geschätzt.1 Dabei haben diese Bundesstaa-ten im letzten Jahr 745 Millionen US-Dol-lar an Steuern eingenommen, und im Jahre 2025 werden diese auf 4,3 Milliarden kalku-liert. Diese werden aber die Folgekosten (di-rekte Gesundheitskosten, Berufsausfälle, So-zialkosten) – wie bei der Tabakepidemie – in Zukunft nicht decken.

Die Anzahl der Cannabiskonsumenten, die älter als 12 Jahre sind, wird in den USA auf 22 Millionen Menschen geschätzt, davon benützen 10 % Cannabis nur für medizini-sche Zwecke. Die Anzahl der Cannabisrau-cher ist von 6,2 % im Jahre 2002 auf 8,3 % im Jahre 2015 angestiegen.12 Die Zahl der Can-nabisabhängigen wurde im Jahre 2014 auf 2,7 Millionen geschätzt, wobei 9 % aller Can-nabiskonsumenten eine Abhängigkeit entwik-keln. Diese Rate steigt aber auf 17 %, wenn der Cannabiskonsum in der Adoleszenz be-ginnt, und 25–50 %, wenn Cannabis täglich konsumiert wird.1 Seit 1992 ist der durch-schnittliche Gehalt von ∆9-Tetrahydrocanna-binol (THC), der wichtigsten psychoaktiven Substanz in der Cannabispflanze, von 3 % auf 12 % im Jahre 2012 angestiegen, inzwischen kann der THC-Gehalt im konzentrierten Can-nabisöl sogar 75 % betragen.1,13,14

Wer hat die Legalisierung finanziert?

In einem ausführlichen Bericht, «Tracking the Money that’s Legalizing Marijuana and Why It Matters», hat nun die National Fa-milies in Action (NIFA) erstmals detailliert die Geldflüsse dokumentiert, die für Ab-stimmungen zur Legalisierung von Cannabis in den USA in den letzten 20 Jahren einge-setzt wurden.15 Dabei wird auch offensicht-lich, dass der Kampf für die Zulassung von Cannabis für medizinische Zwecke nur als Vorstufe für die spätere vollständige Legali-sierung benutzt wurde. Seit 1996 haben drei Milliardäre – George Soros, Peter Lewis und John Sperling – rund 80 % des Geldes beige-tragen, das für die Abstimmungen in den ein-zelnen US-Staaten eingesetzt wurde. Schon 1992 hat George Soros, der sein Vermögen als Finanzspekulant gemacht hat, 15 Millio-nen US-Dollar für den Abstimmungskampf zur Legalisierung von Cannabis für medizi-nische Zwecke gespendet. Erst später hat er seine Open Society Foundation im Kampf für eine vollständige Legalisierung (zuerst in Uruguay) eingesetzt.16 Die anderen zwei Milliardäre, Peter Lewis und John Sperling, haben ihr Vermögen mit Versicherungsge-

schäften bzw. mit dem for-profit education movement im Bildungsbereich gemacht und sind inzwischen verstorben. Alle drei haben den Weg zur vollständigen Legalisierung in der vorgängigen Durchsetzung der Medizi-nalisierung von Cannabis gesehen. Im Jahre 1993 hat der damalige Direktor der National Organization for the Reform of Marijuana Laws (NORML), Richard Cowen, an einer Pressekonferenz unmissverständlich gesagt: «The key to it [full legalization] is medical access. Because, once you have hundreds of thousands of people using marijuana medi-cally, under medical supervision, the whole scam is going to be blown. The consensus here is that medical marijuana is our stron-gest suit. It is our point of leverage which will move us toward the legalization of mari-juana for personal use».15

Cannabis als Medizin?

Die wissenschaftliche Datenlage zum medi-zinischen Nutzen von Cannabis als Heilmit-tel ist gering, systematische wissenschaftli-che Forschung guter Qualität, insbesondere prospektive, randomisierte, Plazebo-kontrol-lierte doppelblinde Studien, liegt kaum vor.7 Bereits 1975 wurde Nabilon – ein vollsynthe-tisches Derivat des THC – von der US-Firma Eli Lilly als Tranquilizer und Anti emetikum patentiert. Später wurde es von der amerika-nischen Zulassungsbehörde FDA bei Anore-xie und Kachexie bei AIDS-Patienten sowie als Antiemetikum bei Übelkeit und Erbre-chen unter Zytostatika bzw. Bestrahlungs-therapie im Rahmen einer Krebstherapie zugelassen. Dronabinol ist das zweite THC-

haltige Medikament, das für die gleichen In-dikationen zugelassen ist. Eine medizinische Anwendung ist auch in der Schweiz mit einer Ausnahmebewilligung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) möglich. Der Wirkstoff wird vorwiegend in Form einer Lösung ver-abreicht und darf bei Appetitlosigkeit und Übelkeit infolge schwerer Erkrankungen und gegen starke Schmerzen und Spastik einge-setzt werden.

Die Wirkung dieser zwei THC-haltigen Medikamente ist jedoch gering und kann problemlos auch mit anderen Medikamen-ten erzielt werden. Im Jahre 2017 haben die amerikanischen National Academies of Sci-ences (NAS) die umfassendste Publikation zu Cannabis veröffentlicht: The Health Ef-fects of Cannabis and Cannabinoids: The Current State of Evidence and Recommen-dations for Research.12 Die NAS haben ins-gesamt 10 700 Abstracts von Marihuana-Pu-blikationen seit 1999 untersucht und sind zum Schluss gekommen, dass eine Wir-kung von Cannabinoiden nur bei einer durch Chemotherapie bewirkten Übelkeit und bei AIDS-verursachter Kachexie sowie teil-weise auch bei chronischen Schmerzen und Muskelspasmen im Rahmen der Krankheit Multiple Sklerose gezeigt werden konnte. Gleichzeitig weisen die NAS aber auch dar-auf hin, dass Cannabis das Risiko von Ver-kehrsunfällen erhöht, eine Gefahr von Intoxi-kationen bei Kindern darstellt und das Risiko für die Entwicklung einer Schizophrenie

und anderer Psychosen sowie von Angstzu-ständen erhöht. Im Bericht weisen die NAS auch darauf hin, dass der Cannabiskonsum eine eingeschränkte Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistung sowie verminderte Lern-fähigkeit zur Folge hat und Cannabiskonsum im frühen Kinder- und Jugendalter zu einer Abhängigkeit führt. Eine kürzlich publizierte Arbeit hat auch auf die verheerende Wirkung

von Cannabis auf die Hirnentwicklung von ungeborenen Kindern und von Neugebore-nen hingewiesen, weswegen schwangeren und stillenden Frauen vom Cannabiskonsum dringend abgeraten wird.17

Cannabis-Legalisierung und ihre Folgen

Die Legalisierung von Cannabis für den Frei-zeitgebrauch eröffnet Möglichkeiten der Ver-marktung, deren Folgen heute kaum abseh-bar sind.10,11 Debatten, wie man die dadurch verursachten Gesundheitsprobleme mit neuen regulativen Massnahmen in Grenzen halten kann, werden enorme finanzielle und juristi-sche Ressourcen binden.14 Die Marihuana-industrie könnte denselben Weg einschlagen wie die Tabakindustrie: Diese hat im letz-ten Jahrhundert die Tabakzigarette zum per-fekten Nikotin-Dispenser entwickelt und mit perfiden Werbekampagnen die Anzahl der Zigarettenraucher von 1 % im Jahre 1880 auf 50 % im Jahre 1950 erhöht.10,18,19 Wie Tabak wird die Legalisierung von Cannabis eine Reihe von noch nie dagewesenen Gesund-heits- und Sicherheitsproblemen sowie finan-zielle Konsequenzen für die einzelnen betrof-fenen Menschen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes nach sich ziehen, während sich einige wenige mit dem Cannabisgeschäft be-reichern werden.14,20 Neben Alkohol wird nun in Zukunft auch Cannabis ein relevantes Pro-blem am Arbeitsplatz und im Strassenverkehr werden. Die lang anhaltende Wirkung von THC wird sich auf die Qualität der Arbeit, aber auch auf die Häufigkeit der Verletzun-gen und der Gefährdung von Menschenleben auswirken. Auf Grund seiner Lipidlöslich-keit wird THC im Fettgewebe gespeichert und kann auch noch nach Stunden wieder ins Blut abgegeben und im Urin noch nach Tagen nachgewiesen werden.6 Dazu kommt eine zunehmende Anzahl von jungen Men-schen, die auf Grund des durch Cannabis bewirkten «Amotivations-Syndroms» ihre Schule oder Lehre abbrechen und dann von sozialen Werken und verschiedensten staatli-chen Institutionen wieder aufgefangen wer-den müssen bzw. eine Langzeitbetreuung be-nötigen.3,13,21–23

Neben den biologischen Cannabis-Produk-ten werden seit den achtziger Jahren in unzäh-ligen Labors zunehmend auch synthetische Cannabinoide hergestellt, die heute kaum mehr zu kontrollieren sind und bereits zu vie-len Todesfällen geführt haben.24,25 Heute ist es gerade bei Jugendlichen im Trend, Can-nabinoide mit den modernen, multifunktio-nellen E-Zigaretten zu «dampfen», was be-sonders in Frankreich sehr populär wurde.26

Schlussfolgerung

Entsprechend dem Tabak ist auch der Can-nabishandel ein Geschäft mit einer süchtig machenden Substanz, deren physische und psychische Folgen gut bekannt sind. Zum Zweck der Legalisierung wurde Marihuana gezielt verharmlost, und einige wenige ma-chen damit ein Milliardengeschäft.13 Nach-dem man in der Tabakepidemie – dank der weltweiten Anstrengung im Rahmen der WHO Framework Convention on Tobacco Control (www.fctc.org) – erste Erfolge erzie-len konnte, wird mit der Legalisierung von Cannabis eine neue Epidemie geschaffen, deren Folgen zurzeit kaum absehbar sind.10 Aus diesem Grunde haben jetzt auch ver-schiedene medizinische Fachorganisationen, wie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie oder die American Thora-cic Society, mit einem Positionspapier bzw. mit einem Report auf die Gefahren des Can-nabiskonsums aufmerksam gemacht.7,27

1 Haffajee, R.L.; MacCoun, R.J.; Mello, M.M. Behind Schedule – Reconciling Federal and State Marijuana Policy. N Engl J Med. 2018; 379(6): 501–4

2 Felder, K. Kanada – eine Grossmacht im Canna-bis-Geschäft. In: «Neue Zürcher Zeitung» vom 16.5.2018, S. 26

3 Taeschner, K.L. Cannabis – Biologie, Konsum und Wirkung. 4. erweiterte Auflage. Deutscher Ärzte-Verlag; 2005

4 Volkow, N.D.; Baler, R.D.; Compton, W.M.; Weiss, S.R. Adverse health effects of marijuana use. N Engl J Med. 2018;370(23): 2219–27

5 Hall, W. Degenhardt, L. Adverse health effects of non-medical cannabis use. Lancet. 2009;374(9698): 1383–91

6 Schuurmans, M.M.; Befruia, N.; Barben, J. Facts-heet 1: Cannabis. Primary and Hospital Care – All-gemeine Innere Medizin. 2016;16(20):384–6

7 Kreuter, M.; Nowak, D.; Ruther, T.; Hoch, E.; Tho-masius, R.; Vogelberg, C. et al. Cannabis-Position Paper of the German Respiratory Society (DGP). Pneumologie. 2016;70(2): 87–97

8 Friedli, D. Cannabis bringt Millionen ein. In: NZZ am Sonntag vom 8.4.2018; S. 9

9 Grundlehner,W. Cannabis benebelt die Investo-ren. In: «Neue Zürcher Zeitung» vom 27. Juni 2017; S. 29

10 Richter, K.P.; Levy, S. Bigmarijuana–lessonsfrom-bigtobacco. N Engl J Med. 2014;371(5):399–401

11 Barry, R.A.; Hiilamo, H.; Glantz, S.A. Waiting for the opportune moment: The tobacco industry and marijuana legalization. Milbank Q. 2014;92(2): 207–42

12 National Academies of Sciences. The Health Effects of Cannabis and Cannabinoids: The Current State of Evidence and Recommendations for Research. 2017. http://nap.edu/24625

13 Yazdi, K. Die Cannabis-Lüge – Warum Marihuana verharmlost wird und wer daran verdient. Berlin: Schwarzkopf-Verlag; 2018

14 Kilmer, B. Recreational Cannabis – Minimizing the Health Risks from Legalization. N Engl J Med. 2017;376(8): 705–7

15 Rusche, S. Tracking the Money That’s Legalizing Marijuana and Why It Matters. 2017. http://www.nationalfamilies org/ survey_report.html

16 Monsanto plant gentechnisch verändertes Ma-rihuana. Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 17.12.2013. https://deutsche-wirtschafts-nachrich-ten.de/2013/12/17/monsanto-plantgentechnisch-ve-raendertes-marihuana/

17 Jansson, L.M.; Jordan, C.J.; Velez, M.L. Perinatal Marijuana Use and the Developing Child. JAMA. 2018; Jul 16 [Epub ahead of print]

18 Barben, J. Tabaklobby und Kinderfänger – wie cool ist rauchen wirklich. Teil 1: Tabakepidemie, Werbung und Manipulation. Schweiz Med Forum. 2011;11:370–5

19 Barben, J. Tabaklobby und Kinderfänger – wie cool ist rauchen wirklich. Teil 2: Passivrauchen und Stra-tegien der Tabakindustrie. Schweiz Med Forum. 2011;11:389–93

20 Rusche, S.; Sabet, K. What Will Legal Marijuana Cost Employers? 2017. https://www.nationalfami-lies.org/reports/What_Will_Legal_ Marijuana_Cost_Employers--Complete.pdf

21 Lynskey, M.; Hall, W. The effects of adolescent can-nabis use on educational attainment: a review. Ad-diction. 2000;95(11):1621–30

22 Bray, J.W.; Zarkin, G.A.; Ringwalt, C.; Qi, J. The re-lationship between marijuana initiation and drop-ping out of high school. Health Econ. 2000;9(1):9–18

23 Horwood, L.J.; Fergusson, D.M.; Hayatbakhsh, M.R.; Najman, J.M.; Coffey, C.; Patton, G.C. et al. Cannabis use and educational achievement: findings from three Australasian cohort studies. Drug Alco-hol Depend. 2010;110(3):247–53

24 Trecki, J.; Gerona, R.R.; Schwartz, M.D. Synthetic Cannabinoid-Related Illnesses and Deaths. N Engl J Med. 2015;373(2):103–7

25 Adams, A.J.; Banister, S.D.; Irizarry, L.; Trecki, J.; Schwartz, M.; Gerona, R. «Zombie» Out-break Caused by the Synthetic Cannabinoid AMB-FUBINACA in New York. N Engl J Med. 2017;376(3):235–42

26 Pourchez, J.; Forest, V. E-cigarettes: from nico-tine to cannabinoids, the French situation. Lan-cet Respir Med. 2018;6(5):e16. doi: 10.1016/S2213-2600(18)30069-9

27 Douglas, I.S.; Albertson, T.E.; Folan, P.; Hana-nia, N.A.; Tashkin, D.P.; Upson, D.J. et al. Im-plications of Marijuana Decriminalization on the Practice of Pulmonary, Critical Care, and Sleep Medicine. A Report of the American Thoracic So-ciety Marijuana Workgroup. Ann Am Thorac Soc. 2015;12(11):1700–10

Quelle: Schweizerische Ärztezeitung – Bulletin Des Médecins Suisses – Bollettino Dei Medici Svizzeri 2018;99(48):1710–1712

Published under the copyright license «Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0». No com-mercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

«Die NAS haben insgesamt 10 700 Abstracts von Mari-huana-Publikationen seit 1999 untersucht.»

«Seit Mitte 2016 sind Marihua-naprodukte mit einem THC-Gehalt von unter 1 % auch in der Schweiz legal erhältlich.»

«Zum Zweck der Legalisierung wurde Marihuana gezielt ver-harmlost, und einige wenige machen damit ein Milliarden-geschäft.»

«Schwangeren und stillenden Frauen wird vom Cannabiskon-sum dringend abgeraten.»

Cannabis-Legalisierung – wer profitiert davon?von Prof. Dr. med. Jürg Barben, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, speziell Lungenerkrankungen

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Zeit-FragenNr. 2, 15. Januar 2019 Seite 5

Goldgräberstimmung in der Cannabisindustrievon Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Seit einiger Zeit liest man aus verschiedenen Gegenden der westlichen Welt Berichte und Vorstösse zur Legalisierung von Cannabis und weiteren Drogen – und reibt sich die Augen: Nicht mehr die «Drogen-Mafia», sondern die Staaten, die Tabak-, die Alkohol- und die Can-nabiskonzerne sollen nun also das grosse Geld verdienen. Durch den legalen Konsum soll der Schwarzmarkt zum Verschwinden gebracht und der Schutz der Jugend garantiert werden. Kein Wort über die gravierenden Auswirkun-gen auf die psychosoziale und körperliche Ent-wicklung vor allem bei jungen Menschen. Kein Wort über Auswirkungen des sich ausweiten-den Drogenkonsums auf gesellschaftliche Be-reiche wie Familien, Sozialversicherungen, Strassenverkehr und Berufsleben. – Nachdem zahlreiche US-Staaten THC-haltiges Canna-bis für medizinische Zwecke und auch als Ge-nussmittel freigegeben haben, hat sich in letz-ter Zeit der kanadische Premierminister Justin Trudeau vehement für die Liberalisierung und für einen staatlich kontrollierten Markt einge-setzt – auch als Wahlkampfversprechen. Es wurde am 17. Oktober 2018 wahr. Die Regale in den Läden waren an diesem Tag nach weni-gen Stunden leergeräumt, und in zwei Wochen wurden für mehr als 40 Millionen Dollar Can-nabisprodukte verkauft. Wie das Nachrichten-magazin Der Spiegel berichtet, wird der ehe-malige deutsche Bundesaussenminister und Vizekanzler Joschka Fischer Mitglied im in-ternational zusammengesetzten Beirat der ka-nadischen Cannabisgesellschaft Tilray. Das Unternehmen entwickelt zusammen mit der belgisch-brasilianischen Brauerei InBev alko-holfreie Getränke, die den Wirkstoff THC ent-halten.

Mike Gorenstein, CEO der kanadischen Cronos Group, hat sich bei CNN Business zu Wort gemeldet. Seine Firma vertreibt auf allen fünf Kontinenten Cannabisprodukte:

«Dies ist ein entscheidender Moment, der die Grundlage schafft für alle Teilnehmer in der Cannabisindustrie, sowohl in Kanada als auch auf den Märkten der Welt (gets the ball rolling globally). Herzlichen Glückwunsch an die vielen Führer und Fürsprecher, die so hart daran gearbeitet haben, um diesen Mei-lenstein zu erreichen.»

Seit einigen Wochen sind auch die Investo-ren der Wallstreet auf den fahrenden Zug auf-gesprungen. Die Aktienkurse einiger kleinerer Unternehmen auch in den USA, die Canna-bisprodukte produzieren, haben sich in kurzer Zeit verdoppelt und verdreifacht. Nun haben grosse Tabakfirmen Interesse angemeldet. Al-tria Group, das weltweit grösste amerikani-sche Tabakunternehmen, das unter anderem die Marlboro-Zigaretten verkauft, hat bekannt-gegeben, dass es für 1,8 Milliarden Dollar 45 Prozent der Cronos Group kaufen werde. Zudem erhalte es das Recht, für eine weitere Milliarde nochmals zehn Prozent der Aktien

zu kaufen und das Unternehmen ganz zu über-nehmen. Der Wert der Cronos-Aktie hat sich bereits im Sommer verdoppelt. Nun ist sie an einem Tag um weitere zwanzig Prozent ge-stiegen. Andere Gross konzerne haben ähnli-che Ziele. Coca-Cola will eine Getränkelinie auf den Markt bringen, die Cannabis enthält («Neue Zürcher Zeitung» vom 29.9.2018). Auch grosse, global ausgerichtete Brauereien und Spirituosenkonzerne haben bereits Milli-arden investiert, um alkoholfreie, cannabishal-tige Getränke herauszugeben. Heineken zum Beispiel hat in Kalifornien bereits ein Sprudel-wasser in dieser Art lanciert. Auch neu kreierte Cannabis enthaltende Süssigkeiten (Lolipop und Gummi bärchen usw.) sind auf den Markt. Die Analytiker der Wallstreet schätzen, dass die Cannabisindustrie in den USA 2018 be-reits 11 Milliarden Umsatz gemacht hat. Bis 2030 könnte dieser auf 75 Milliarden anstei-gen. Heute habe erst ein Prozent der Weltbe-völkerung Zugang zu legalem Marihuana. Das Marktpotential sei deshalb riesig.

Es scheint, dass ein eigentlicher «Goldrun» begonnen hat – wie einst in Kalifornien, als Gold gefunden wurde und die Stimmung auf-kam, dass man innert Tagen zum Millionär wird. – Anzeichen sind da, dass sich der Mari-huanakonsum unter den neuen Rahmenbedin-gungen vervielfachen wird. Auch im neuen Jahr setzt sich der «Goldrun» fort. Wer sich in Börsenkommentare der Wallstreet einklickt, wird schnell fündig. Am 9. Januar zum Bei-spiel sind die Aktienkurse allgemein wegen verschiedener Unsicherheiten (Handelsstreit mit China, Haushaltsstreit im Kongress, Fi-nanzsorgen usw.) massiv um 3,2 Prozent ein-gebrochen – nicht so die Cannabisaktien. Die Aktien der Cannabis-Gesellschaft Ma-riMed, die ihren Sitz in Boston hat, sind an diesem Tag um 9 Prozent gestiegen, nachdem ihr Kurs 2018 bereits um 371 Prozent ange-wachsen ist. Das Unternehmen versteht sich als «multi-state cannabis organisation that de-velops, owns and manages cannabis facilities and branded product lines».

Ist Jugendschutz so noch möglich?Die Absicht kanadischer oder auch amerika-nischer Behörden, den Markt staatlich zu re-glementieren und die Jugend zu schützen, soll hier nicht in Frage gestellt werden. Nur: Wer-den sie Erfolg haben, wenn noch weit mehr konsumiert wird? Wie reagieren Kinder, die miterleben, wie ihre Eltern oder gar ihre Leh-rerin oder ihr Lehrer Cannabis als etwas Nor-males konsumieren, das angeblich einfach zum Leben gehört? Wer schützt sie dann vor der Versuchung, neben Cannabis auch einmal Kokain oder Heroin zu versuchen, von denen ebenfalls behauptet wird, sie seien gar nicht so gefährlich und man könne jederzeit wie-

der damit aufhören? Wenn das Konsumieren von Cannabisprodukten als etwas Normales und Gewöhnliches gilt und allgemein akzep-tiert wird, ist der Schritt zu weiteren Rausch-drogen unweigerlich kleiner und verlocken-der. Wer hilft dann den Eltern wirklich, die noch stärker mit Suchtproblemen ihrer Kin-der konfrontiert sein werden? Wer steht ihnen bei, wenn sich Probleme in der Schule und in der Lehre einstellen? Fragen über Fragen.

Wie heisst es doch in der auch in der Schweiz sehr präsenten Propaganda für die Drogenlibe-ralisierung: Mit der Legalisierung (auch schön-färberisch «Regulierung» genannt) werde man der «Drogen-Mafia» das Geschäft abgraben. Auch Justin Trudeau hat mit diesem Argument für die Liberalisierung gekämpft. Er hat die Ge-setzesänderung auf Twitter mit dem Satz ange-kündigt: «Es war zu einfach für unsere Kinder, Marihuana zu bekommen – und für Kriminelle, die Profite davon einzusacken». – Ich denke, die kriminellen Organisationen gehören zu den er-sten, die realisiert haben, dass sie mit einer mas-siven Ausweitung des Rauschgiftkonsums noch viel bessere Geschäfte werden machen können. Und sie werden in diesem neuen, toleranteren Umfeld mit Sicherheit noch weitere und noch stärkere Substanzen verkaufen können. Auch die in unserer westlichen Welt gut vernetz-ten Drogenlegalisierungsbewegungen machen mit Sicherheit nicht bei den Cannabisproduk-ten halt. Schon heute finden sich in der Schweiz und in den umliegenden Ländern «Drogenfach-leute», die für die Liberalisierung/Legalisie-rung/Regulierung aller Rauschgifte plädieren.

Gegensteuer aus der UnoDer US-Präsident hat vor einigen Wochen – im September 2018 – während der ordentli-chen Generalversammlung der Uno in New York versucht, Gegensteuer zu geben. Er hat weltweit aufgerufen, nicht zu resignieren, aktiv zu werden und etwas zur Lösung bzw. zur Entschärfung des Drogenproblems beizu-tragen. Er nannte vier Bereiche für Aktionen: (1) Mehr Prävention und Achtsamkeit im Be-reich der Erziehung und Schulen sollen die Nachfrage senken, (2) Anstrengungen im Ge-sundheitsbereich sollen vorsorgen und Leben retten, (3) und (4) bessere Zusammenarbeit im Polizei- und Gerichtswesen soll dazu bei-tragen, dass die Produktion, der Anbau, die Herstellung und der Handel reduziert werden und damit das Angebot sinkt (United States Mission in The United Nations, 24.9.2018).

Der Uno-Generalsekretär Antonio Guter-res bedankte sich: «Sie, Herr Präsident, rich-ten das Scheinwerferlicht auf dieses glo-bale Problem. Das war nie nötiger als gerade jetzt.» 135 Länder haben den Aktionsplan un-terschrieben. Vor allem asiatische Länder wie China, Singapur und andere verfolgen zum

Teil nach wie vor eine konsequente Null-To-leranz-Politik. Auch in Japan ist eine Drogen-liberalisierung kein Thema. Es fällt auf, dass vor allem asiatische Länder in der Weltwirt-schaft mehr und mehr den Ton angeben. Die Schweiz hat nicht unterschrieben. Die mei-sten Medien haben dies kaum zur Kenntnis genommen. Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss ist Präsidentin einer privaten internationa-len Drogen-Kommission zur Legalisierung aller Drogen (Global Commission on Drug Policy). Sie war in New York anwesend und hat gegen den Vorschlag von Präsident Trump Stellung genommen. Sie setzt sich seit Be-ginn ihrer Zeit als Bundesrätin für die Libe-ralisierung von Rauschgiften und für einen staatlich regulierten Markt ein (SRF, Rendez-vous am Mittag vom 27.11.2018).

Darf man auch bei uns an allem verdienen?

In diesen Tagen ist die Marihuana-Legalisie-rungswelle aus den USA und Kanada für je-dermann ersichtlich in die Schweiz überge-schwappt: Die «Neue Zürcher Zeitung» hat am 11. Januar auf der ersten Seite von einem Positionspapier des Apothekerverbandes der Stadt Zürich berichtet. Die Autoren finden, dass die Prohibition ein Ende haben und Can-nabis legalisiert und der Markt reglementiert werden müsse – zuerst für den medizinischen Gebrauch und später auch als Genussmittel. Wer künftig Cannabis kaufen will, soll dies in einer Apotheke tun. Der Verband will damit den florierenden Schwarzmarkt bekämpfen und die Kosten für die «Repression» sparen. «Die Drogenpolitik müsse entstaubt werden», schreibt ein Kommentator der Zeitung dazu. Erste Stellungnahmen aus den Parteien liegen bereits vor. Damit ist wohl der Startschuss für eine neue Propagandakampagne auch in der Schweiz erfolgt, die wohl zwangsläufig zu einer weiteren Volksabstimmung führen wird.

2008 hat das Volk über die Initiative zur Cannabis-Liberalisierung abgestimmt. 63 Prozent der Stimmenden und alle Kantone haben sie abgelehnt. Etwas verwundert heute: Es ist in den letzten Jahren mit grossen An-strengungen gelungen, den Zigarettenkonsum etwas zu reduzieren (abschreckende Bilder auf den Packungen, hohe Preise, Rauchver-bote usw.). Den Tabakkonzernen hat es nicht gefallen. Und nun geschieht oder soll beim Cannabis genau das Gegenteil geschehen. Wahrscheinlich werden einst noch weit grös-sere Anstrengungen notwendig sein, um Ge-gensteuer zu geben und den steigenden Kon-sum von Marihuana wieder einzudämmen und seine Folgen zu bekämpfen. – Wir erle-ben heute im Drogenbereich gesellschaftli-che Abläufe und Ereignisse in globalen Aus-masse, die beunruhigen müssen!

Schluss mit «schbas»!Einspruch gegen Lernverhinderung in unseren Schulen

ds. Unter dem Titel «In Nidwalden ist der ‹schbas› vorbei» berichtet die «Neue Zür-cher Zeitung» am 29. Oktober 2018 darüber, dass die Schulbehörde im Kanton Nidwal-den dem Verlangen «genervter» Eltern nach-gegeben hat und die Schüler neu schon ab der 2. Klasse korrekt schreiben lernen dür-fen. Bis dahin war es den Lehrern erst ab der 3. Klasse erlaubt, den Kindern zu zeigen, wie man richtig schreibt.

Erfunden hat diese absurde Methode, nach der Kinder in den ersten Schuljahren nur nach Gehör und nicht korrekt schreiben lernen, ein Basler Grundschullehrer namens Rei-chen. Sie hat unter Namen wie «Lesen durch Schreiben» oder «Schreiben nach Gehör» im ganzen deutschsprachigen Raum Ver-breitung gefunden. Weder Lehrerinnen oder Lehrer noch Eltern dürfen nach Reichen Kin-der zur richtigen Schreibweise anleiten. Das störe die Kreativität und Freude am Schrei-ben; «fil» statt «viel», «schbas» statt «Spass» oder «anxt» statt «Angst» sind in den ersten Schuljahren also nicht falsch, sondern krea-tiv und originell. Wirklich eine verrückte Idee, dass Kinder kreativer werden und mehr Freude am Schreiben haben sollen, wenn sie alles falsch schreiben können.

«Eine in diesem Herbst veröffentlichte Studie von Wissenschaftern der Universität

Bonn stellt Reichens Vermächtnis aber ein schlechtes Zeugnis aus. Die Forscher kamen zum Schluss, dass Schüler Ende der 3. Klasse deutlich besser in Rechtschreibung waren, wenn sie nach der klassischen Fibelmethode unterrichtet worden waren. Bei dieser be-kommen die Kinder ein Bild eines Vogels, neben dem das Wort Vogel steht. So prägen sie sich von Beginn weg die richtige Schreib-weise ein», schreibt die «Neue Zürcher Zei-tung» in dem genannten Artikel.

Der Spiegel hatte bereits vor 5 Jahren im Leitartikel der Ausgabe 25/2013 unter dem Titel «Die neue Schlechtschreibung» auf die durch Reichen verursachte «Rechtschreib-katastrophe» in Deutschland aufmerksam ge-macht. Schon damals verlangten namhafte Fachleute ein Verbot dieser Methode. Inzwi-schen wurde in mehreren Bundesländern unter-sagt, nach Reichens Methode zu unterrichten.

Wie wäre es, wenn nun der Kanton Nid-walden und selbstverständlich auch alle an-deren Schweizer Kantone ganz auf «schbas» verzichten würden? Denn schliesslich lässt man die Kinder in der 1. Klasse ja auch nicht im Glauben, 2+2 sei 5, um es dann in der 2. Klasse zu korrigieren.

Aber vielleicht braucht es dazu noch mehr «genervte» Eltern, die gegen Lernverhinde-rung in unseren Schulen Einspruch erheben.

Zeit-FragenZeitung für freie Meinungsbildung,

Ethik und Verantwortung für die Bekräftigung und Einhaltung des Völkerrechts, der Menschenrechte

und des Humanitären VölkerrechtsHerausgeber: Genossenschaft Zeit-FragenChefredaktion: Erika VögeliRedaktion und Inserate: Zeit-Fragen, Postfach CH-8044 ZürichE-Mail: [email protected] [email protected] Internet: www.zeit-fragen.chDruck: Druckerei Nüssli, Mellingen AGJahresabonnement: Fr. 168.–/ Euro 108.–Das Abonnement verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn vor Ablauf keine Kündigung erfolgt.CH: Postcheck-Konto Nr. 87-644472-4D: VR Bank Tübingen eG, BIC GENODES1STW IBAN DE18 6406 1854 0067 5170 05A: Raiffeisen Landesbank, BIC RVVGAT2B IBAN AT55 3700 0001 0571 3599Die Redaktion freut sich über Zuschriften von Lesern. Sie behält sich aber vor, gegebenenfalls Texte zu kürzen.© 2019 für alle Texte und Bilder bei der Genossenschaft Zeit-Fragen. Abdruck von Bildern, ganzen Texten oder grösseren Aus-zügen nur mit Erlaubnis des Verlages oder der Redaktion, von Auszügen oder Zitaten nur mit ausdrücklicher Kennzeichnung der Quelle Zeit-Fragen, Zürich.

«Cannabis – Informationen zu Wirkung und Auswirkungen auf Körper und Psyche»ist eine informative 12seitige Broschüre für Jugendliche, Eltern, Lehrpersonen und weitere Interessierte.Herausgeber: Verein Jugend ohne Drogen, Zürich, www.jod.ch; Vereinigung Eltern gegen Drogen, Bern, www.elterngegendrogen.ch; Dachverband Drogenabstinenz Schweiz, Bern, www.drogenpolitik.chBestellungen:[email protected] / [email protected]

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Zeit-FragenSeite 6 Nr. 2, 15. Januar 2019

Eidg. Volksabstimmung vom 10. Februar 2019

Überlegungen zur Volksinitiative «Zersiedelung stoppen – für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung»

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Am 10. Februar wird das Schweizervolk über eine einzige Vorlage abstimmen, die Zersie-delungsinitiative, die von den Jungen Grü-nen, gemeinsam mit einer Reihe von Um-weltorganisationen und einigen weiteren Parteien (SP, Juso, Alternative Linke AL) eingereicht worden ist.

Die Schweiz ist ein kleines Land mit gros-sem Bevölkerungswachstum, beziehungsweise hoher Zuwanderung1 sowie einer florierenden Wirtschaft. Entsprechend wachsen die über-bauten Flächen, zwar unter Kontrolle von Bund, Kantonen und Gemeinden, aber nach Meinung vieler Bürger dennoch zu wenig ge-ordnet. In den letzten Jahren hat die Schweiz bereits verschiedene Massnahmen ergriffen, um der Zersiedelung, also der Einzonung von immer mehr Kulturland, etwas entgegenzuset-zen. So wurde am 11. März 2012 die Volksin-itiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweit-wohnungen!» knapp mit 50,6 % Ja-Stimmen angenommen, die forderte, dass in Gemein-den mit einem Zweitwohnungsanteil von über 20 % keine neuen Zweitwohnungen mehr be-willigt werden dürfen. 2013 sagte das Volk ja zur Revision des Raumplanungsgesetzes und beschloss damit, dass Bauzonen nur noch dem voraussichtlichen Bedarf für 15 Jahre entspre-chen dürfen. Zu grosse Bauzonen sind demge-mäss zu verkleinern.

Nach Ansicht der Urheber der Zersiede-lungsinitiative haben diese strengeren Vor-schriften jedoch nicht verhindert, dass den-noch neue Bauzonen errichtet werden. Deshalb verlangt die Initiative einen Einzo-nungsstopp: «Die Initiative sorgt dafür, dass Landschaft und Lebensqualität erhalten blei-ben. Sie holt die Versäumnisse der Revision des Raumplanungsgesetzes nach und ermög-licht einen haushälterischen Umgang mit dem Boden.»2

Die Initiative sowie die wichtigsten Argu-mente pro und kontra sollen hier dargestellt werden.

InitiativtextDie Bundesverfassung wird wie folgt geän-dert:Art. 75 Abs. 4–7 (3)4 Bund, Kantone und Gemeinden sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für günstige Rahmenbedingungen für nachhaltige Formen des Wohnens und Arbeitens in kleinräumigen Strukturen mit hoher Lebensqualität und kurzen Verkehrswegen (nachhaltige Quartiere).5 Anzustreben ist eine Siedlungsentwicklung nach innen, die im Einklang steht mit hoher Lebensqualität und besonderen Schutzbestimmungen.6 Die Ausscheidung neuer Bauzonen ist nur zulässig, wenn eine andere unversiegelte Fläche von mindestens gleicher Grösse und vergleichbarem potentiellem landwirt-schaftlichem Ertragswert aus der Bauzone ausgezont wird.7 Ausserhalb der Bauzone dürfen aus-schliesslich standortgebundene Bauten und Anlagen für die bodenabhängige Landwirtschaft oder standortgebundene Bauten von öffentlichem Interesse bewilligt werden. Das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen. Bestehende Bauten geniessen Be-standesgarantie und können geringfügig er-weitert und geringfügig umgenutzt werden.

Nachhaltige Quartiere und Wohnbau-genossenschaften in den Städten

Zu BV Art. 75 Absatz 4 neu: Die Zersiedelungsinitiative fordert eine deut-liche Verbesserung der Rahmenbedingungen für nachhaltige Quartiere.

Gemäss den Initianten beschreibt die Pu-blikation «Nachhaltige Quartiere» des Bun-des von 20113 einen «urbanen Raum mit rund 500 EinwohnerInnen, lokalem Zen-trum, grosszügigem Grünraum und trotzdem sehr geringem Landverbrauch. […] Optima-lerweise ist es [das Quartier] ring- oder u-för-mig angeordnet. Ein begrünter Innenhof oder Park bringt den Grünraum in die Siedlung. Die Abgrenzung von der Strasse macht den Wohn- und Freiraum ruhig. In den Erdge-

schossen gibt es Platz für lokales Gewerbe, dabei reicht die Palette von der Quartierbeiz bis zum Lebensmittelgeschäft. Auch ein Kin-dergarten ist vorhanden.»4

Eine wirklich positive Form des Zusam-menlebens, wobei wir das rechtliche Gefäss dafür schon längst haben: das Genossen-schaftsrecht im Schweizerischen Obligationen-recht (OR). «Die Utopie ist längst Realität», merken die Initianten richtig an. In den Wohn-baugenossenschaften verschiedenster Schwei-zer Städte leben seit langem viele Menschen auf relativ kleiner Bodenfläche und in beschei-denen Wohnungen, aber doch ein bisschen im Grünen. In den letzten Jahren werden aber viele dieser Siedlungen abgerissen und nach obigem Muster neu gebaut. Ob sich darin eine Gemeinschaftskultur entwickelt, hängt jedoch weniger von der Bauweise als vom persönli-chen Engagement einiger aktiver Bewohner ab. Und ob die Menschen in dicht gebauten Siedlungen leben möchten – mit einem grös-seren begrünten Platz statt der Wiesen und Bäume zwischen den Wohnblöcken – das ent-scheidet jeder selbst.

Auf dem Land ist die Situation ganz anders. Wie Hans Marti, Landwirt und Befürworter der Initiative, im persönlichen Gespräch sagt, sehen es in seinem Wohnort und anderen Ge-meinden manche Leute nicht gern, wenn im Dorf nach dem Abbruch alter Einfamilienhäu-ser Wohnblöcke gebaut werden. Sollen statt dessen noch mehr Wiesen und Äcker über-baut werden? Dem will die Zersiedelungsin-itiative entgegentreten, indem sie Kantone und Gemeinden dazu verpflichtet, die notwendigen Rahmenbedingungen für kompaktere Siedlun-gen, auch in Stadtnähe, zu gewährleisten (zum Beispiel gute öffentliche Verkehrsverbindun-gen, Bewilligungen für Kleingewerbe inner-halb der Siedlung).

Siedlungsentwicklung nach innen – braucht es dazu die Initiative?

Zu BV Art. 75 Absatz 5 neu: Grundsätzlich wird von vielen Menschen be-fürwortet, dass, wenn immer möglich, in-nerhalb der bestehenden Bauzonen gebaut werden soll, das heisst in den Städten und Dörfern und nicht auf der grünen Wiese. Denn in der kleinräumigen und relativ dicht bewohnten Schweiz mit ihren 25 % unpro-duktiven Flächen (Fels, Gletscher usw.) und mehr als 31 % Wald und Gehölze ist das Kul-turland knapp und muss deshalb verantwor-tungsvoll und umweltschonend genutzt wer-den. Dies ist auch das wichtigste Ziel der Zersiedelungsinitiative.

Mit Absatz 5 des Initiativtextes soll unter anderem «eine moderate Aufstockung mög-lich werden, im besonderen in Zonen niedriger Dichte». Das heisst, dass zum Beispiel auf ein zweistöckiges Gebäude ein dritter Stock auf-gebaut werden könnte, aber nicht nur zu Ren-

ditezwecken, sondern «unter Wahrung oder Steigerung der Lebensqualität». Dies ist in den heutigen Bauzonenplänen oft nicht erlaubt. «Ausgenommen sind besonders schützens-werte Bauten (z.B. historische Gebäude).»5

Uneinigkeit besteht in der Frage, ob eine vermehrte Siedlungsentwicklung nach innen auch mit dem neuen Raumplanungsge-setz (RPG) erreicht werden kann oder ob es dazu die radikaleren Methoden der Initiative braucht. Hier die beiden entgegengesetzten Standpunkte:

– Bundesrat: Die neuere Bauzonenstati-stik der Schweiz ergebe, dass die Gesamtflä-che der Bauzonen seit 2012 konstant geblie-ben sei, obwohl die Bevölkerung in dieser Zeit von knapp 8 Millionen auf 8,5 Millio-nen wuchs. Die Umsetzung des revidierten Raumplanungsgesetzes sei im Gange, so der Bundesrat: «Die Kantone müssen ihre Richt-pläne anpassen und mit den strengeren Mass-nahmen gegen die Zersiedelung bis Ende April 2019 vom Bundesrat genehmigen las-sen. Nach diesem Datum dürfen sie keine neuen Bauzonen schaffen, solange ihr Richt-plan vom Bundesrat nicht genehmigt ist.»6

– Initianten: «Das aktuelle Raumpla-nungsgesetz führt weiterhin zu einem ste-tigen Wachstum des Siedlungsgebiets auf Kosten der Grünflächen. Je schneller der Boden überbaut wird, desto schneller wird neues Bauland eingezont. Damit ist die Zer-siedelung keineswegs gestoppt. Die Zersie-delungsinitiative schliesst die Lücken des Raumplanungsgesetzes, indem es die beste-henden Massnahmen mit einem wirksamen Landschaftsschutz ergänzt.»7

Einzonungsstopp: nötig oder zu radikal?Zu BV Art. 75 Absatz 6 neu: Der Einzonungsstopp ist einer der umstrit-tensten Punkte der Initiative: Neue Bauzo-nen wären gemäss Absatz 6 nur noch zuläs-sig, «wenn eine andere unversiegelte Fläche8 von mindestens gleicher Grösse und ver-gleichbarem potentiellem landwirtschaftli-chem Ertragswert aus der Bauzone ausge-zont wird.»

– Initianten: «Das heisst, dass die Gesamt-menge an Bauzonen konstant bleibt. Ge-meinden können aber Bauland untereinander abtauschen. Dies garantiert, dass die verblei-benden Reserven auch dort eingesetzt werden können, wo sie benötigt werden.»9

– Bundesrat: «Ein starrer Bauzonen-Stopp lässt die Bedürfnisse von Bevölkerung und Wirtschaft ausser Acht, ebenso die kantona-len und regionalen Unterschiede.»10 Offen wäre dabei auch, «wie genau Bauzonen um-verteilt würden, falls in einem Kanton neues Bauland geschaffen werden müsste – ob nur innerhalb des betreffenden Kantons oder auch über kantonale Grenzen hinaus in der ganzen Schweiz. Ungewiss sind auch die Ko-

sten, die mit der Aufhebung und Umvertei-lung von Bauzonen verbunden wären.»11

Damit die Fläche des fruchtbaren Bodens konstant bleibt, wäre zudem gemäss Absatz 6 auch der Ertragswert des Bodens massge-bend. Der Bundesrat konkretisiert: «Der landwirtschaftliche Ertragswert wird anhand der Bodenqualität und weiterer Kriterien wie Klima oder Hangneigung berechnet.»12

Ohne uns vertiefter auf den möglichen Ab-lauf und die Umstände des Bauzonen-Aus-tausches einlassen zu können, würden dabei vermutlich einige Spannungen entstehen, das heisst, mancher Streit müsste gerichtlich aus-gefochten werden.

Strittig ist auch die Frage, ob die Woh-nungspreise mit der Initiative steigen wür-den oder nicht:

– Bundesrat: «Wo Bauland verknappt wird, wächst auch die Gefahr, dass die Grundstück- und Wohnungspreise steigen.»13

– Initianten: «Die Initiative schafft die Möglichkeit, mittels hochwertiger Verdichtung an vielen Orten mehr Wohnraum zu schaffen. Dadurch bleibt der Wohnraum bezahlbar und gleichzeitig wird die Zersiedelung gestoppt. Die bestehenden Reserven, die es zu nutzen gilt, sind so gross, dass sie nicht einmal vollständig ausgeschöpft werden müssen.»14

Eine weitere Frage, die sowohl die Initian-ten als auch der Bundesrat aufwerfen: «Wer-den nicht die Kantone und Gemeinden be-straft, die bisher sorgfältig mit dem Boden umgegangen sind?»

– Der Bundesrat bejaht dies und stellt fest: «Das ist ungerecht.»15

– Initianten: Nein, denn unter anderem «[…] sind fortschrittliche Gemeinden von der Initiative deutlich weniger betroffen, wenn sie ihre Siedlungsentwicklung bisher sowieso schon nachhaltig geplant haben. Diese Ge-meinden beweisen, dass die Forderungen der Zersiedelungsinitiative gut umsetzbar sind.»16

Einschränkung landwirtschaftlicher Bauten ausserhalb der Bauzone

Zu BV Art. 75 Absatz 7 neu: Die Initiative will die Bewilligung landwirt-schaftlicher Gebäude ausserhalb der Bauzone einschränken. Der betreffende Absatz 7 geht einem Teil der Schweizer Bauern zu weit.

Die Formulierung, ausserhalb der Bauzone dürften «ausschliesslich standortgebundene Bauten und Anlagen für die bodenabhängige Landwirtschaft» bewilligt werden [Hervorhe-bung mw], meint zum Beispiel Gemüse- und Obstprodukte, «wenn die Pflanzen im Boden verwurzelt sind».17

Das heisst: Gewächshäuser mit Hors-sol-Produktion dürften nur noch in der Bau-zone gebaut werden, ebenso Ställe für Kühe,

SVP-Landwirt und -Politiker stellt sich hinter die Initiative der Grünenmw. Im persönlichen Gespräch berich-tet Hans Marti*, dass er die Initiative aus Sorge um die fortlaufende Überbauung des Schweizer Bodens unterstützt. Dar-über werde seit Jahrzehnten diskutiert, jetzt müsse endlich gehandelt werden: «Im Kanton Solothurn beträgt der Leerwoh-nungsbestand über 3 %, das heisst, es ste-hen über 4000 Wohnungen leer. In Hutt-wil BE gibt es über 14 % Leerwohnungen. Es wird aber trotzdem munter weiter ge-baut. In Biberist wird extrem viel Land aus der Landwirtschafts- in die Bauzone umge-zont. Solange der Investor auf seinem Geld, das auf der Bank liegt, Negativzinsen zah-len muss, wird sich die Situation nicht än-dern. Das Schlimme daran: Was einmal zu-betoniert ist, wird nie mehr rückgängig gemacht werden können.»

Zeit-Fragen: Wären mit der Zersiedelungs-initiative nicht vor allem die Immobilienfir-men die Gewinner, welche auf Grund des knapperen Angebots die Wohnungen teu-rer vermieten oder verkaufen könnten?

Hans Marti: Die Mietpreise steigen dann, wenn der Wohnraum knapp wird. Weil die vorhandenen Reserven aber gross genug sind, wird es keine steigenden Mietpreise geben. Die meisten Immobilienfirmen haben erkannt, dass eine Verdichtung ohne Qualität nicht gefragt ist. Die inneren Re-serven sind so gross, dass wir genügend Wohnraum haben, sogar wenn das Wachs-tum der Bevölkerung höher ist als vom Bun-desrat erwartet. Es genügen dazu moderate Massnahmen, um noch mehr Wohnraum zu schaffen, z. B. drei- statt zweistöckig zu bauen.

Müssten wir nicht auch eine bessere Steue-rung der Zuwanderung einbeziehen, um der Überbauung unseres kleinen Landes entgegenzutreten?Die Zuwanderung müssen wir selbstver-ständlich auch an die Hand nehmen, das ist meine persönliche Meinung.

Ist die Forderung, landwirtschaftliche Ge-bäude zum Teil in der Bauzone anzusie-deln, nicht zu radikal?

Nein, denn die Scheune und das Wohn-haus können die Bauern immer noch in der Landwirtschaftszone bauen. Hors-sol-Ge-wächshäuser über weite Flächen sind aber eher als industrielle Produktion zu betrach-ten. Es ist Sache des Gesetzgebers, hier eine ausgewogene Regelung zu schaffen.

Denken Sie, die Zersiedelungsinitiative hat gute Chancen bei der Bevölkerung?Ja, denn es ist im Interesse aller, die Zersie-delung zu stoppen und das Land zu schüt-zen, auch für unsere Nachkommen. Der Hauptgrund für eine Ablehnung wäre, dass die Initiative von den Jungen Grünen kommt. Deshalb stelle ich mich, unabhän-gig von der Parteimitgliedschaft, dahinter. Es braucht eine Regelung, wie wir sie beim Wald haben: Für jedes Stück Wald, das ab-geholzt wird, muss entsprechend neu auf-geforstet werden.

Vielen Dank, Herr Marti, für das Gespräch.

* Hans Marti lebt in Biberist, einer Gemeinde mit 8775 Einwohnern, in der Nähe von Solothurn.

Er ist Bauer und alt Kantonsrat SVP.

Fortsetzung auf Seite 7

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Zeit-FragenNr. 2, 15. Januar 2019 Seite 7

Geflügel oder Schweine, falls der überwie-gende Teil des Futters nicht im eigenen Bau-ernhof produziert, sondern zugekauft wird. Während Markus Ritter, Direktor des Schwei-zerischen Bauernverbands, von einem «in-akzeptablen Verbot jeglicher bodenunabhän-gigen Produktion» spricht, meint Markus Schwegler, Vorstandsmitglied bei der Klein-bauern-Vereinigung, «eine nachhaltige Le-bensmittelproduktion sei zwingend boden-gebunden» («St. Galler Tagblatt» vom 9. Januar).

Man kann mit guten Gründen der einen oder anderen Meinung zuneigen. Problema-tisch ist es jedoch, einem Teil der Schwei-zer Landwirtschaft, die ohnehin mit den tie-fen Preisen der ausländischen Produkte kaum konkurrieren kann, Bauten in der teuren Bau-zone zuzumuten. Eine zusätzliche Schwie-rigkeit wäre für die Baubewilligungsbehör-den die Entscheidung, welcher Bauernbetrieb genügend «im Boden verwurzelt» produziert und welcher nicht. Die Anmerkung der In-itianten zu dieser Frage führt eher zu weite-ren Unsicherheiten: «Es ist dabei die Auf-gabe des Gesetzgebers, mit dem geeigneten

Mix an Regulierungen und Ausnahmen so-wohl eine lokale Pflanzenproduktion zu er-möglichen und gleichzeitig zu verhindern, dass ganze Landstriche mit Gewächshäu-sern überdeckt werden. Ein mögliches Mit-tel dafür können Speziallandwirtschaftszo-nen sein.»18

FazitDie Sorge der Initianten und der mehr als 110 000 Bürgerinnen und Bürger, welche die Initiative unterzeichnet haben, angesichts der seit Jahrzehnten unmässigen Überbauung von Kulturland, naturnahen Landschaften und weiteren Grünflächen, ist sehr berech-tigt. Ein haushälterischer Umgang mit dem knappen kulturfähigen Boden im Kleinstaat Schweiz ist dringend angesagt. Dem hat ja die Mehrzahl des Stimmvolks in der Abstim-mung zum revidierten Raumplanungsgesetz zugestimmt.

Andererseits kann man auch der Ansicht sein, dem Regime des neuen RPG noch ei-nige Jahre eine Chance zu geben und notfalls das Gesetz zu ergänzen. Ein weiterer Aspekt, den es einzubeziehen gilt, ist die hohe Zu-wanderung (siehe Fussnote 1). Wer als Ar-beitskraft oder als Flüchtling in die Schweiz kommt, geniesst richtigerweise alle Rechte

als Einwohner unseres Landes, auch das-jenige auf Familiennachzug. Wenn immer mehr Menschen hier leben, hat dies aber not-wendigerweise den Ausbau der Infrastruk-tur zur Folge: Wohnhäuser, Schulen, Stras-sen, Bus- und Bahnlinien usw. Deshalb ist der Entscheid des Souveräns, die Zuwande-rung wieder selbst steuern zu wollen, in die Frage des Umgangs mit dem knappen Boden einzubeziehen. Auch die Wirtschaft benötigt Boden: Für die allseits begrüsste Schaffung neuer Arbeitsplätze braucht es Platz, der zur Verfügung stehen muss.

Es ist das Privileg jedes Bürgers in der di-rekten Demokratie, sich vor dieser wie jeder Volksabstimmung zu informieren, die Pro- und Kontra-Argumente abzuwägen und sich seine eigene Meinung zu bilden. Diese Zeilen sollen dabei eine Hilfestellung sein.

1 Einwohnerzahl am 31.12.1997 (vor der Personen-freizügigkeit mit der EU): 7 096 465; zwanzig Jahre später, am 31.12.2017: 8 484 130; Zunahme fast 20 % (19,5 %).

2 Abstimmungsbüchlein zur Volksabstimmung vom 10. Februar 2019, S. 5

3 BV Art. 75 Raumplanung Abs. 1–3 bisher4 Bundesamt für Energie & Bundesamt für Raument-

wicklung. (2011). Nachhaltige Quartiere: Heraus-forderungen und Chancen für die urbane Entwick-

lung. Genauere Beschreibung: siehe Homepage der Initiative. Nachhaltige Quartiere. https://www.zer-siedelung-stoppen.ch/initiative/

5 Homepage der Initiative, «Moderat aufstocken». https://www.zersiedelung-stoppen.ch/initiative/

6 Abstimmungsbüchlein, S. 7/8 mit Verweisen auf «Bauzonenstatistik Schweiz (2017)» (are.admin.ch/bauzonen) sowie auf den aktuellsten Stand der Richtpläne: are.admin.ch/richtplan

7 Abstimmungsbüchlein, S. 138 Unversiegelte Flächen sind Wiesen, Wege, Äcker,

Gärten usw., wo das anfallende Wasser versickern kann. «Als versiegelte Flächen gelten insbesondere Gebäude und Strassen. Durch die Versiegelung ver-liert der Boden seine natürliche ökologische Funk-tion als Lebensraum, Speicher und Filter sowie die Fähigkeit, Stoffe umzuwandeln und abzubauen.» (Bundesamt für Statistik, Umweltindikator – Bo-denversiegelung)

9 Homepage der Initiative. Bauzonen auf ein ver-nünftiges Mass festlegen

10 Abstimmungsbüchlein, S. 511 Abstimmungsbüchlein, S. 1012 Abstimmungsbüchlein, S. 913 Abstimmungsbüchlein, S. 1414 Homepage der Initianten, Erläuterungen. Ad Abs. 615 Abstimmungsbüchlein S. 1416 Homepage, Fragen & Antworten17 Homepage, Fragen & Antworten. Schadet die In-

itiative der Schweizer Landwirtschaft?18 Homepage, Fragen & Antworten. Schadet die In-

itiative der Schweizer Landwirtschaft?

«Überlegungen zur Volksinitiative …» Fortsetzung von Seite 6

Erziehung und Bildung im Dienste des FriedensZum Buch von Sara Randell «Den Krieg beenden –

Die Operation Sunrise und Max Husmann»von Dr. phil. Winfried Pogorzelski

Zu Beginn des Jahres 1945 spitzte sich der Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu: An allen Fronten in Europa, Asien und Nordafrika war die Lage für Hitlers Truppen aussichts-los, so auch an der Südfront in Oberitalien. Am 2. Mai 1945 um 18.00 Uhr – also eine knappe Woche vor der eigentlichen Kapi-tulation Hitlerdeutschlands – gab Winston Churchill bekannt, dass die Heeresgruppe C der deutschen Wehrmacht in Oberitalien ka-pituliert hatte. Dies geschah auf Grund ge-heimdienstlicher Aktivitäten, die unter dem Namen «Operation Sunrise» bekannt wurden und Gegenstand einiger Publikationen sind.1 Im vergangenen Jahr erschien ein weiteres Buch, und zwar von Dr. phil. Sara Randell, Historikerin der Oxford University, mit dem Titel «Den Krieg beenden – Die Operation Sunrise und Max Husmann».2

Erziehung und Bildung zum FriedenDr. Max Husmann (1888–1965) war Päd-agoge und gründete im Jahre 1926 auf dem Zugerberg das Institut Montana, eine heute noch bestehende internationale Schule mit In-ternat, zweisprachiger Primarschule, Schwei-zer Gymnasium und der International School (High School, IB). Er leitete die Schule bis 1946. Ich selbst war dort von 1990 bis 2017 als Gymnasiallehrer für Deutsch und Ge-schichte tätig und erlebte mit, wie Sara Ran-dell vergangenen Sommer beim Ehemaligen-Treffen ihr Buch vorstellte.

Max Husmann war, wie der Titel schon vermuten lässt, nicht nur als Pädagoge tätig; er war auch massgeblich an der Operation Sunrise beteiligt. Der Autorin geht es in ihrem Werk vor allem darum aufzuzeigen, dass Hus-mann mit seinen Aktivitäten bei der genann-ten Geheimdienst-Operation und seinem En-gagement als Schulgründer und aktiver Lehrer sein wichtigstes Anliegen verfolgte, nämlich einen Beitrag für Frieden und Völkerverstän-digung zu leisten. Mit seiner Gründung des Instituts und seinem Eingreifen in die Zeit-läufe in Form der Operation Sunrise gegen Ende des Zweiten Weltkriegs habe er «seine Ansichten über die Ethik von Krieg und Frie-den in die Praxis»3 umgesetzt.

Nach dem Ersten Weltkrieg, dem bis zu diesem Zeitpunkt schlimmsten aller Kriege, beschäftigte Husmann die Frage, wie Kata-strophen solchen Ausmasses in Zukunft ver-hindert werden könnten. Sein pädagogischer Ansatz bestand darin, Schüler aus den ver-schiedensten Nationen zusammenzuführen, ihnen «Respekt vor ihren Mitmenschen und klares Denken» zu vermitteln, «um der Propa-ganda widerstehen» zu können.4 Dieses Ziel versuchte er mit seinem pädagogischen Kon-zept zu erreichen, das sich folgendermassen umreissen lässt: Unterricht in kleineren, in-

ternational zusammengesetzten Klassen (zehn bis maximal zwölf Schüler), altersdurch-mischtes Zusammenleben auch ausserhalb des Unterrichts im Internat, beim täglichen Erledigen der Hausaufgaben («Studium»), bei Sport und Spiel, bei den Mahlzeiten und bei Ausflügen.

Die Operation Sunrise – wechselvoller Verlauf und glückliches Ende

Der Ablauf der Operation Sunrise lässt sich wie folgt zusammenfassen:5 Im Frühjahr 1945 ist der Krieg für Deutschland an allen Fron-ten verloren; die Kapitulation der Wehrmacht ist nur noch eine Frage der Zeit, auch in Ober-italien, dessen Zerstörung nach dem Prinzip der Verbrannten Erde durch das deutsche Mi-litär droht. Husmann lernt den italienischen Baron und Geschäftsmann Luigi Parrilli ken-nen, dessen Neffe Schüler des Instituts war und der Kontakte zu hochrangigen SS-Leu-ten hat, die bereit sind zu kapitulieren. Hus-mann informiert darüber seinen Freund Max Waibel, den Offizier des schweizerischen Nachrichtendienstes. Waibel und Parrilli treffen sich, und es beginnen Verhandlungen, die unbedingt geheim bleiben müssen: Ein-mal vor dem Bundesrat wegen der Neutralität der Schweiz und auch vor den Alliierten, war es doch nach einem entsprechenden Abkom-men zwischen Churchill, Roosevelt und Sta-lin strikt untersagt, Gespräche untereinander zu führen ohne Kenntnis bzw. Beteiligung der Russen. Zudem durfte Berlin sprich Hitler auf keinen Fall davon Wind bekommen, dass man hohe deutsche Militärs davon zu überzeugen versuchte zu kapitulieren.

Max Waibel, der von Husmann kontaktiert worden war, wendet sich an Allen Dulles, den damaligen Gesandten des US-Geheimdien-stes OSS in Bern. Ihm gegenüber steht Karl Wolff, Berater Hitlers und Himmlers, höch-ster SS- und Polizeiführer in Italien, für den die Niederlage der Achsenmächte in Italien nicht mehr abzuwenden ist und der sich mil-dernde Umstände für die Zeit nach dem Krieg verspricht, wenn er sich für eine frühere Be-endigung der Kämpfe einsetzt. Hier knüpft Max Husmann an, indem er Wolff in Aus-sicht stellt, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Klar ist aber auch, dass die Kapitulation der Deutschen bedingungslos erfolgen muss und nicht darauf spekuliert werden darf, «die an-gloamerikanischen Alliierten von den sowjeti-schen Verbündeten zu trennen und als geeinte Front gegen Stalin zu kämpfen».6

Waibel und Husmann gelingt es unter strengster Geheimhaltung, Karl Wolff in die Schweiz zu bringen. Während der Zugfahrt durch die Schweizer Alpen sprechen Wolff und Husmann hinter zugezogenen Vorhän-gen zwei Stunden unter vier Augen mitein-ander. Husmann sieht eine Chance, Wolff vom Sinn einer vorzeitigen Kapitulation zu überzeugen. Zunächst vertritt Wolff jedoch die Position, die «Grundsäulen der mensch-lichen Existenz» seien «Gehorsam und Ge-lübde. Wir können für sie sterben, aber sie nicht brechen und weiterleben.»7 Husmann entgegnet – so die Aufzeichnungen von Max Waibel – mit den Worten Johann Heinrich Pestalozzis: «Verbietet das Prinzip des Ge-horsams das Denken?»8 Gehorsam, so der grosse Schweizer Pädagoge und Schriftstel-

ler – bedeute, von den Zwängen der eige-nen Selbstsucht befreit, dem eigenen Gewis-sen gehorchen zu können. Persönlichkeiten in verantwortungsvollen Positionen, so Hus-mann zu Wolff, sollten Befehle nicht wider-spruchs- und bedingungslos ausführen, son-dern über sie nachdenken. Schliesslich gelingt es Husmann, Wolff davon zu überzeugen, dass die bedingungslose Kapitulation kein Verrat am Führer, sondern eine patriotische Tat für das deutsche Volk sei. Wolff sagt spä-ter, ihm sei bewusst geworden, dass er seinen Eid eigentlich auf das deutsche Volk und nicht auf Hitler geschworen habe.

Der Weg von den ersten Gesprächen bis zur Unterzeichnung der Kapitulations-Do-kumente ist nicht nur steinig, sondern auch kompliziert und bisweilen verwirrend, was Sara Randell in ihrem Buch deutlich macht.9 Eine Vielzahl von Personen unterschiedlich-ster Herkunft und Stellung waren involviert, die Handlung dieses Polit-Thrillers spielte an den verschiedensten Schauplätzen in Italien, der Schweiz und Deutschland, und mehr als einmal stand die Aktion wegen unerwartet auftauchender Probleme vor dem Scheitern. Diverse Schwierigkeiten sind zu bewältigen, so zum Beispiel die Versetzung Albert Kes-selrings, des obersten deutschen Heeres- und Luftwaffenoffiziers, der die Operation Sun-rise befürwortet, an die Westfront oder die Tatsache, dass die West-Alliierten nun doch die Sowjets über das Unternehmen informie-ren … Zudem starten die Alliierten eine neue Offensive in Italien, wo doch die Soldaten den Befehl zur Niederlegung der Waffen erhalten sollten. Wolff hat seine liebe Mühe, die Ge-neräle mit ihren «verbohrten Egos, mit der Angst vor Hitler, aber auch mit der unerschüt-terlichen Treue gegenüber dem Führer»10 zu überzeugen. Am 2. Mai schliesslich, nach-dem die Nachricht von Hitlers Selbstmord (30. April) eingetroffen ist, und lediglich eine Woche vor der endgültigen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai schweigen in Italien die Waffen. Bereits seit März, das heisst seit den Gesprächen mit Max Waibel, hatte Wolff auf die geplante und zum Teil befohlene Ver-nichtung von Industrieanlagen und Verkehrs-wegen verzichtet. Damit blieben die für die Schweiz wichtigen Versorgungswege – Häfen und Eisenbahnlinien – erhalten.

Max Husmanns Herkunft – Motivation für sein Engagement

Aufschlussreich ist das Kapitel «Toleranz ler-nen», in dem die Autorin Einblick in Hus-manns Biographie gibt, um der Frage nachzu-gehen, warum der Schulgründer des Instituts Montana sich mit Herz und Seele für Frie-den und Völkerverständigung einsetzte.

Fortsetzung auf Seite 8

Husmann, der Lehrer. Josef Ostermayer, der ihn als Direktor des Instituts ablöste, beschrieb Hus-mann als besonders talentiert beim Erklären von komplizierten mathematischen Problemen.

(Bild aus dem besprochenen Buch)

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Zeit-FragenSeite 8 Nr. 2, 15. Januar 2019

Genossenschaft Ärztehaus Stadt Tengen gegründetvon Jörg Sieg, Gottmadingen, Deutschland

«Ich werde Mitglied der Genossenschaft, weil ich es wichtig finde, dass wir Bürgerin-nen und Bürger von Tengen unabhängig und gemeinschaftlich unsere Zukunft in unserem Städtchen mitbestimmen und gestalten kön-nen.» – Diese Aussage einer Tengener Bür-gerin in einem Flyer der Stadt gibt einen Kerngedanken wieder, der unmittelbar mit der Genossenschaftsidee verbunden ist: Ge-nossenschaften können nicht nur vielfältig-ste Aufgaben im überschaubaren wirtschaft-lichen, kulturellen und sozialen Bereich lösen, sie tun dies auch auf eine hervorra-gend menschenwürdige Art und Weise, näm-lich gemeinschaftlich und selbstbestimmt. So auch die neugegründete Genossenschaft für ein Ärztehaus der Stadt Tengen.

Es gibt in Baden-Württemberg 1001 Gemein-den. Davon haben 180 jetzt schon keine ärzt-liche Versorgung mehr. 30 % der niederge-lassenen Ärzte in diesem südwestdeutschen Bundesland sind älter als 60 Jahre. Die «Be-rentungswelle» läuft. Ein heute praktizierender Hausarzt, der jedoch auch älter wird, müsste drei Stellen besetzen. Es muss dringend Nach-wuchs von jungen Ärzten kommen.

Tengen ist eine der 1001 Gemeinden Baden-Württembergs. Sie liegt direkt an der Schwei-zer Grenze am südlichen Rand des Schwarz-waldes, rund 10 Kilometer vom südlich gelegenen Schaffhausen und ein wenig wei-ter von der nächsten grösseren deutschen Stadt Singen entfernt. Tengen ist eine Kleinstadt mit 4550 Einwohnern. Und selbstverständlich hat sie die Probleme, die auch viele andere deut-sche Gemeinden haben. Jetzt aber war für Ten-gen die Sicherung der ärztlichen Versorgung vorrangig! Besonders für die Zukunft.

Die Tengener hatten eine Idee, wie das Problem drohender unzureichender ärztlicher Versorgung im Ort gelöst werden könnte: durch die gemeinsame Anstrengung interes-sierter Bürgerinnen und Bürger, der Gemein-

deverwaltung und anderer wichtiger Ein-richtungen des Ortes, eine Genossenschaft für den Bau eines Ärztehauses zu gründen. So soll gesichert werden, dass alle Tengener Ärzte im Ort bleiben.

Zur Genossenschaftsgründung trafen sich am 19. Dezember 2018 300 Tengener und interessierte Gäste aus anderen Orten im vollbesetzten Saal der Tengener Randenhalle. Bürgermeister Marian Schreier und der Ten-gener Arzt Dr. Andreas Luckner stellten das neue Projekt vor: Das Finanzierungsvolu-men für einen Neubau für ein Ärztehaus be-trägt 1,9 Millionen Euro. Zunächst hatte sich die Gemeinde verschiedene Fragen gestellt: Suchen wir einen privaten Investor? Soll die Gemeinde die Investitionskosten überneh-men? Oder gründen die Stadt und ihre Bür-ger eine Genossenschaft? – Damit könnten alle Bürger der Stadt beteiligt werden. Bei

ihren Überlegungen half ihnen das Kon-zept des Genossenschaftsbegründers Fried-rich Wilhelm Raiffeisen. Nun sollen von den 1,9 Millionen Euro 40 % aus Eigenkapi-tal gedeckt werden, das sind 760 000 Euro. 200 000 davon gibt es als öffentliche Förder-gelder, also bleibt für die Genossenschaft die Aufgabe, 560 000 Euro zusammen zu bekom-men. Und wenn 1 Anteilsschein einen Wert von 500 Euro hat, sind 1120 solcher Anteils-scheine zu vergeben.

Der Gemeinderat war sich sehr schnell einig, eine solche Genossenschaft zu grün-den. Jedes Mitglied erhält 1 Stimme, gleich-gültig, wieviel Anteile es hat. Die Stadt Tengen wird voraussichtlich 320 Anteile zeichnen (mehr Anteile sind für einen ein-zelnen Genossenschaftler nicht möglich). Die Mehrheit der Genossenschaftler ent-scheidet dann über weitere Prozesse. Es gibt

keine Nachschusspflicht über die Anteile der Genossenschaftler hinaus! Selbstverständ-lich sollen alle Formalien, zum Beispiel das Gründungsgutachten, vom Genossenschafts-verband geprüft werden.

Schon vor dem Treffen hatten sich viele Personen entschieden und 200 Anteile ge-kauft. Die Referenten betonten zum Schluss ihres Referates, warum die Bürger mitma-chen sollten: Die zukünftige Sicherung der ärztlichen Versorgung im Ort kann gesichert werden – ohne ortsfremden Investor. Alles bleibt vor Ort. Die Genossenschaft engagiert sich langfristig. Und der grösste Reiz bei der Sache ist: Alle können mitmachen. Schön, wie es in der «Absichtserklärung zur Beteili-gung an der Genossenschaft Ärztehaus Stadt Tengen» heisst: Jeder Unterzeichner erklärt: «Ziel und Zweck der Genossenschaft ist die Sicherstellung sowie die Förderung der ärzt-lichen Versorgung mittels Bau und Vermie-tung eines Ärztehauses sowie die Förderung des sozialen Zusammenhalts in der Stadt Ten-gen.» (Hervorhebung durch Verfasser)

Nach den einführenden Reden gab es nicht nur viel Beifall, sondern es wurden auch viele Fragen gestellt, zum Beispiel: Kann der Anteil vererbt werden? Kann ein Genossen-schafter auch wieder austreten? Ist der Kauf eines Anteils vom Alter abhängig?

Die Stimmung im Saal war grossartig. Ich habe gehört, dass die Bürger froh sind, end-lich einmal direkt mitmachen zu können, ohne von jemandem abhängig zu sein.

Der Ansturm auf die «Absichtserklärun-gen zur Beteiligung an der Genossenschaft Ärztehaus Stadt Tengen» sowie auf den vor-bereiteten Flyer mit allen Angaben und Hin-weisen war gross. Auch der Autor dieses Berichtes war begeistert von der guten Stim-mung im Saal und der grossen Bereitschaft der Bürger, sich zu beteiligen. Und hat sich gedacht: Tengen – das könnte doch überall in Deutschland sein.

1889 in der Ukraine in eine Familie mit jüdi-schen Wurzeln geboren, die unter der Russifi-zierungs-Politik Zar Alexanders II. leidet, er-lebt er die brutalen Folgen von Nationalismus und Antisemitismus. Die Familie mit weiter zurückliegenden Wurzeln im luzernischen Dorf Malters wandert nach Zürich aus, als Max zehn Jahre alt ist. Eine grausame Nie-derschlagung der Unabhängigkeitsbewegung der Ukraine am Ende des Ersten Weltkriegs wird von der Familie und vom inzwischen studierenden Max von der sicheren Schweiz aus mitverfolgt. Nichts liegt für Husmann, der schon als Student Nachhilfeunterricht – vor allem in Mathematik – erteilte, näher, als eine Schule zu gründen, um auf eine Gesellschaft hinzuwirken, die «andere Wege als Blutver-giessen und Schlachten»11 findet, um ihre Pro-bleme zu lösen.

Darum gründet er das Institut Montana, das er als sein «liebstes Kind»12 bezeichnet. Den Herkunftsländern entsprechend richtet er ver-schiedene Sektionen ein, wo die Schüler nicht nur «die akademischen Qualifikationen ihres Heimatlandes»13 erwerben, sondern auch zur Überzeugung gelangen, «dass man die Werte des eigenen Geburtslandes kennen und ach-ten muss. Nur dann kann man jene von an-deren Ländern wertschätzen».14 Husmann kann – zusammen mit einem der wichtigsten Lehrer seiner Schule, Huldrich Sauerwein – als Vertreter der Reformpädagogik verstan-den werden, deren Ziel es war, über die reine Stoffvermittlung hinaus den Schülern eine Art von Bildung zu vermitteln, die sie dazu be-fähigt, am Aufbau einer besseren künftigen Welt mitzuarbeiten. Sara Randell nennt hier die Namen von John Dewey, Georg Kerschen-steiner, A. S. Neill, Rudolf Steiner und Maria Montessori, die 1932 – neben Sauerwein – vor dem Völkerbund in Genf über Erziehung und Frieden sprach und mehrere Friedenskon-ferenzen organisierte.

Husmanns Einsatz für Karl Wolff bei den Nürnberger ProzessenBei den Nürnberger Prozessen setzt Husmann sich für Karl Wolff ein: Wenn man eine mili-

tärische Kapitulation und damit eine Verkür-zung von Kriegshandlungen erreichen könne, müsse man notfalls auch einen Pakt «mit dem Teufel»15 schliessen. Man habe Wolff eine loyale Behandlung nach dem Krieg verspro-chen, «und so haben wir heute kein Recht, unser Versprechen nicht zu halten mit der Be-gründung, er sei SS-General und die ganze SS-Organisation sei als eine Verbrecheror-ganisation verurteilt».16 Wolff tritt in Nürn-berg nur als Zeuge auf, wohl auch aus dem Grund, dass die Alliierten vermeiden wollen, dass die Operation Sunrise öffentlich bekannt wird. 1964 wird er vom Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord an 300 000 Juden zu 15 Jahren Haft verurteilt. Und Max Hus-mann muss damit leben, sich für die Haftver-schonung eines der grössten Kriegsverbrecher der Nazizeit eingesetzt zu haben.

Nachwirkung der Operation SunriseSchliesslich widmet sich die Historikerin der Nachwirkung der Operation Sunrise von den Zeiten der Vertuschung unmittelbar nach dem Krieg, in denen man die Rolle von Max Hus-mann mit einer gehörigen Portion Misstrauen unter die Lupe nahm, bis zur Rehabilitierung seit den sechziger Jahren. Am 6. Mai 2002 veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» einen Artikel mit dem Titel «Den Krieg ver-kürzt», wo es um eine Gedenkveranstaltung für Max Waibel ging. Erst im Jahre 2005, anlässlich des 60. Jahrestages der Operation Sunrise, anerkannte die offizielle Schweiz die Bedeutung der Operation. Der damalige Bundespräsident Samuel Schmid würdigte Max Waibels Handeln ausdrücklich und «an-erkannte zudem die wichtige Rolle, die Max Husmann gespielt hatte».17

Lehren über die Vergangenheit und für die Zukunft in Sachen Frieden

Besonders beeindruckt hat mich der mit «Politik und Friede» überschriebene Ab-schnitt gegen Ende des Buches, wo Sara Ran-dell den Genfer Philosophen Jean-Jacques Rousseau zitiert: «Der Krieg ist also keine Beziehung von Mensch zu Mensch, sondern eine Beziehung von Staat zu Staat, in dem die einzelnen nur durch Zufall Feinde sind.»18 Die Autorin lässt anschliessend Max Husmann zu

Wort kommen: Er habe seine Aufgabe darin gesehen, «das Verantwortungsgefühl auf das Gewissen des einzelnen zu verschieben, das ausserhalb politischer Doppelzüngigkeit steht».19 Und sie resümiert: «Es mag sein, dass man nicht immer richtig handelt – und die herausfordernden ethischen Überlegungen im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Karl Wolff zeigten, wie schwierig es ist, zwischen schwarz und weiss zu unterscheiden. Aber die Geschichte der Operation Sunrise beschreibt Max Husmanns sehr menschliches Bestreben, einen Weg durch die Zweideutigkeiten der Politik zu finden, um das eigentliche und höchste Ziel zu erreichen: Frieden.»20

Sara Randells reich bebildertes Buch bie-tet nicht nur eine äusserst spannende Lektüre, in deren Zentrum eine der wichtigsten Epo-chen der Geschichte steht, sondern es offen-bart auch dem Leser, was für eine engagierte Persönlichkeit der Gründer des Instituts Mon-tana war. Seine Einstellung zu Krieg und Frie-den, sein Engagement als Pädagoge und als aktiv ins Zeitgeschehen eingreifender Zeitge-nosse ist bis zum heutigen Tag beeindruckend und vorbildlich.

1 Dulles, Allen; von Schulze-Gaervernitz, Gero. Un-ternehmen Sunrise, Die geheime Geschichte des Kriegsendes in Italien. Wien 1967

Fuhrer, H.R., Orlansky, Michael. Antreiber und Getriebene. Die ‹deutschen Beteiligten› und das frühzeitige Kriegsende in Italien, 1945. In: Ope-ration Sunrise. Atti del Convegno internazionale (Locarno, 2 maggio 2005), a cura di Marino Vi-gano e Dominic M. Pedrazzini, Lugano 2006

Halbrock, Stephen. Operation Sunrise: America’s OSS, Swiss Intelligence and the German Surrender 1945. In: Operation Sunrise. Atti del Convegno in-ternazionale (Locarno, 2 maggio 2005), a cura di Marino Vigano e Dominic M. Pedrazzini, Lugano 2006

Waibel, Max. Operation Sunrise 1945 – Kapitula-tion in Norditalien, Originalbericht des Vermitt-lers, Schaffhausen 1981

Den Krieg verkürzt. In: Neue Zürcher Zeitung vom 6.5.2002

Ginsberg, Inge. Wie die Schweiz den Krieg ver-kürzte. In: Weltwoche vom 23.4.2015, ebd. S. 64, vgl. auch ebd. S. 104–107

2 Randell, Sara. Den Krieg beenden. Die Operation Sunrise und Max Husmann, Bern 2018, englische Version: R.S., Ending the War Operation Sunrise and Max Husmann, Bern 2018

3 vgl. ebd., S. 84 ebd., S. 64, vgl. auch ebd. S. 104–1075 Einen informativen Überblick über die Operation

gibt auch Joseph Mächler in seinem Buch «Wie sich die Schweiz rettete, Grundlagenbuch zur Ge-schichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg», Zolli-kofen 2017, S. 480–484

6 Randell, Sara, a.a.O., S. 297 ebd., S. 618 ebd., S. 629 Eine Chronologie der Ereignisse sowie ein Perso-

nenverzeichnis wären hilfreich.10 ebd., S. 8311 ebd., S. 6112 ebd.13 ebd., S. 10514 ebd., S. 105f.15 ebd., S. 9616 ebd.17 ebd., S. 11618 ebd., S. 11719 ebd. 20 ebd.

«Erziehung und Bildung …» Fortsetzung von Seite 7

ISBN 978-3-727-60-13-1

Tengen, eine deutsche Kleinstadt an der Schweizer Grenze. (Bild Stadt Tengen)