ZEIT Helmut Schmidt Wir Schlafwandler

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http://www.zeit.de/2014/40/ukraine-krieg-weltpolitik/komplettansicht UKRAINE-KRISE Wir Schlafwandler Zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges taucht an Europas Horizont die Möglichkeit eines Krieges auf. Deshalb müssen in der Ukraine-Krise beide Seiten nachgeben VON HELMUT SCHMIDT DIE ZEIT Nº 40/201425. September 2014 08:00 Uhr 3 Kommentare Der Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren sollte uns zugleich an deren Bau im Jahre 1961 erinnern. Damals existierte das Nordatlantische Bündnis bereits seit mehr als einem Jahrzehnt. Weil aber die von Walter Ulbricht und Erich Honecker mit Zustimmung Moskaus errichtete Mauer die Sicherheit des Westens nicht zusätzlich zu gefährden schien, hat die Nato damals nicht ernsthaft reagiert. Schon fünf Jahre früher, als 1956 die Sowjetunion in Ungarn einmarschierte, hatte die Nato ebenfalls nicht reagiert, denn jene völkerrechtswidrige sowjetische Intervention schien die Sicherheit des Westens nicht zu gefährden. Völlig anders war es dagegen, als 1962 der damalige sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow atomare Raketen vor der Haustür der USA auf Kuba installiert hatte. Weil jene Raketen die Sicherheit der USA strategisch zusätzlich und entscheidend gefährdeten, geriet die ganze Welt an den Rand eines dritten Weltkrieges. Es war das gemeinsame Verdienst von John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, dass dieser dritte Weltkrieg abgewendet werden konnte. Beide haben damals im Bewusstsein ihrer Verantwortung nachgegeben. Der eine nahm seine Raketen aus Kuba zurück, der andere seine Raketen aus der Türkei. Das Prestige der beiden militärischen Weltmächte blieb unverletzt. Zur Zeit der Kuba-Krise hatte es vier atomar bewaffnete Staaten gegeben. Die USA und die damalige Sowjetunion hatten ihre atomaren Waffen auch bereits mit Raketen kombiniert; allerdings hatten die damaligen Atomraketen noch keine

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Comentário do antigo chanceler alemão sobre a crise da Europa

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    UKRAINE-KRISE

    Wir Schlafwandler

    Zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges taucht an

    Europas Horizont die Mglichkeit eines Krieges auf. Deshalb

    mssen in der Ukraine-Krise beide Seiten

    nachgeben VON HELMUT SCHMIDT

    DIE ZEIT N 40/201425. September 2014 08:00 Uhr 3 Kommentare

    Der Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren sollte uns zugleich an deren Bau im

    Jahre 1961 erinnern. Damals existierte das Nordatlantische Bndnis bereits seit

    mehr als einem Jahrzehnt. Weil aber die von Walter Ulbricht und Erich Honecker mit

    Zustimmung Moskaus errichtete Mauer die Sicherheit des Westens nicht zustzlich

    zu gefhrden schien, hat die Nato damals nicht ernsthaft reagiert. Schon fnf Jahre

    frher, als 1956 die Sowjetunion in Ungarn einmarschierte, hatte die Nato ebenfalls

    nicht reagiert, denn jene vlkerrechtswidrige sowjetische Intervention schien die

    Sicherheit des Westens nicht zu gefhrden.

    Vllig anders war es dagegen, als 1962 der damalige sowjetische Regierungschef

    Nikita Chruschtschow atomare Raketen vor der Haustr der USA auf Kuba installiert

    hatte. Weil jene Raketen die Sicherheit der USA strategisch zustzlich und

    entscheidend gefhrdeten, geriet die ganze Welt an den Rand eines dritten

    Weltkrieges.

    Es war das gemeinsame Verdienst von John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow,

    dass dieser dritte Weltkrieg abgewendet werden konnte. Beide haben damals im

    Bewusstsein ihrer Verantwortung nachgegeben. Der eine nahm seine Raketen aus

    Kuba zurck, der andere seine Raketen aus der Trkei. Das Prestige der beiden

    militrischen Weltmchte blieb unverletzt.

    Zur Zeit der Kuba-Krise hatte es vier atomar bewaffnete Staaten gegeben. Die USA

    und die damalige Sowjetunion hatten ihre atomaren Waffen auch bereits mit Raketen

    kombiniert; allerdings hatten die damaligen Atomraketen noch keine

  • transatlantischen Reichweiten. Heutzutage, ein halbes Jahrhundert spter, hat sich

    die Zahl der Atommchte verdoppelt. Alle haben sich sogar weitgehend eine

    Zweitschlagsfhigkeit zugelegt oder sind im Begriff, dies zu tun. Inzwischen stehen

    zustzlich mindestens zwei weitere Staaten im Verdacht, sich mit atomaren Raketen

    zu bewaffnen. Gleichwohl hat seit der Kuba-Krise keiner der vielen Kriege von

    Vietnam und Kambodscha ber Afghanistan bis zum Irak und zu Syrien oder den

    mehreren Kriegen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn die nuklear-

    strategische Qualitt der Kuba-Krise erreicht. Wohl aber hat die gegenseitige

    Auslschungsfhigkeit die Epoche des Kalten Krieges herbeigefhrt. Sie scheint sich

    im Jahre 2014 fortzusetzen.

    Der Kalte Krieg war keineswegs eine lange Epoche des Nichtkriegs, vielmehr haben

    viele Kriege seit der Kuba-Krise Millionen ziviler und militrischer Kriegstoter

    gekostet. Und auch heute noch kosten Kriege ungezhlte Opfer, ob in Gaza oder

    Israel, ob in Syrien oder dem Irak, ob im Osten der Ukraine oder immer noch auch in

    Afghanistan. Und zum ersten Mal seit dem scheinbaren Ende des Kalten Krieges

    taucht an Europas Horizont die Mglichkeit eines Krieges auf. Jedenfalls sind die

    gegenwrtigen Handlungen sowohl Wladimir Putins als auch der Europischen

    Union und der Nato geeignet, die Sicherheit beider Seiten erheblich zu gefhrden.

    Noch vor Jahresfrist schien die Situation normal. Aber im November 2013 erklrte

    Viktor Janukowitsch, damals Prsident der Ukraine, der EU, er wolle das fertig

    ausgehandelte Wirtschaftsabkommen mit der Europischen Union nicht mehr und

    akzeptierte zugleich ein finanzielles Gegenangebot der Russen. Dieser abrupte

    Meinungswechsel fhrte in groen Teilen der Ukraine zu regierungsfeindlichen

    Demonstrationen. Sie kulminierten auf dem Maidan in Kiew, es gab an die

    einhundert Tote. Am 22. Februar 2014 floh Janukowitsch nach Russland, seine

    Regierung wurde durch die prowestliche und antirussische Regierung unter

    Ministerprsident Arseni Jazenjuk ersetzt. Und im Mai 2014 wurde der erfolgreiche

    Unternehmer Petro Poroschenko zum Prsidenten gewhlt seither ist er der

    international anerkannte Sprecher der Ukraine. Doch schon Monate vorher hatte

    Putin die Halbinsel Krim annektiert und sie Russland angegliedert.

    Seit dem Februar 2014 folgte sowohl in Russland als auch im Westen eine Kette von

    sich gegenseitig steigernden Handlungen und Reden und Gesten. Von Woche zu

    Woche wechseln alarmierende und auch vershnliche Nachrichten einander ab. Ich

    gestehe meine wachsende Besorgnis.

    Denn die Ukraine-Krise steht nicht allein. Sondern zugleich und bereits seit Jahren

    haben wir es zu tun mit einer Krise der Europischen Union, die sich nicht nur

    militrisch, sondern auch auenpolitisch und konomisch als handlungsunfhig

    erweist. Die hochoptimistische und tatschlich leichtfertige Verdoppelung der Zahl

    ihrer Mitglieder hat die Europische Union zu einem zahnlosen Tiger werden lassen.

    Und in Euroland erleben wir die konjunkturelle Unwirksamkeit der Geldpolitik von

  • EZB-Chef Mario Draghi, weil diese nicht von entscheidenden wirtschaftspolitischen

    Schritten begleitet wird. Heute ein alter Mann, habe ich als Schler nach 1929 die

    groe weltweite Depression miterlebt ich wei, wie millionenfache

    Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland, in Italien oder Spanien wirken muss. Dabei

    geht es zwar uns Deutschen heute besser als jemals in frheren Jahrhunderten

    aber wir weigern uns immer noch, unseren Nachbarn und Partnern in der EU mit

    einem groen Investitionsprogramm zu helfen. Die Fhrung des Westens fllt dem

    amerikanischen Prsidenten zu der sie eigentlich nicht will.

    Zugleich tun alle Europer sich schwer mit dem Terrorismus des "Islamischen

    Staates" in Syrien und dem Irak, obschon er offensichtlich zunehmend junge

    Muslime aus ganz Europa in seinen Bann zieht. Seit vielen Jahren erleben wir den

    Kampf zwischen Israel und Hamas, der die Sicherheit des Kontinents gefhrdet.

    Gleichzeitig tun alle sich schwer mit dem massiven Ausbruch der Seuche Ebola, die

    nicht nur Westafrika bedroht, sondern auch Europa. Unsere Medien berichten tglich

    ber diese Probleme, wir lassen uns auch tglich aufregen von den Nachrichten ber

    die Ukraine, ber Putin, ber Beschlsse der Nato oder ber gegenseitige

    "Sanktionen". Und diese Aufregung ist gerechtfertigt. Tatschlich geht die

    Europische Union einer Phase der Deflation entgegen. Tatschlich gehen die

    Nordatlantische Allianz und ebenso die Russische Fderation einer militrischen

    Konfrontation la Kuba-Krise entgegen, ohne sie zu wollen. Weder Barack Obama

    noch Putin wollen Krieg, die Europer wollen erst recht keinen Krieg wohl aber

    mssen wir Angst vor dessen wachsender Wahrscheinlichkeit haben.

    Was ist zu tun?

    Als Erstes muss der normale diplomatische Verkehr zwischen den USA und

    Russland wiederhergestellt werden. Zu diesem Zweck kann die

    Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Putin und Poroschenko oder der Amtsantritt

    des neuen amerikanischen Botschafters in Moskau genutzt werden; auch die alten

    diplomatischen Backchannels knnen wiederbelebt werden.

    Das diplomatische Gesprch ber die Zukunft der Ukraine sollte nicht erst mit dem

    Jahr 1954 (Vereinigung mit der Krim) beginnen noch mit dem Jahr 1992

    (Selbststndigkeit der Ukraine). Es muss mindestens das Jahr 1772 einbeziehen, in

    dem Zar Peter III., der den Preuenknig Friedrich II. gerettet hatte, in Katharina II.

    eine tatkrftige Nachfolgerin fand. Zugleich wurde Polen damals durch Russland,

    sterreich und Preuen zum ersten Mal gewaltsam geteilt (insgesamt hat es bis

    1945 fnf gewaltsame Teilungen oder gewaltsame Verschiebungen Polens

    gegeben). Es war auch Katharina, die auf einem bis dahin ottomanischen Territorium

    im Westen der heutigen Ukraine die russische Stadt Odessa gegrndet hat. Die

    heutige Ukraine existiert seit zweiundzwanzig Jahren, aber sie hat eine sehr lange

    Vorgeschichte, die weit hinter die amerikanische Unabhngigkeitserklrung des

  • Jahres 1776 zurckreicht. Schon davor hat das heutige Territorium der Ukraine

    polnische, muslimische, sterreichische und russische Herrscher gehabt.

    Beide Seiten bentigen auch die langfristige Perspektive in die Zukunft. So muss

    Putin wissen, dass Russland, welches schon seit Langem erhebliche von

    muslimischen Kulturen geprgte Minderheiten umfasst, es in den kommenden

    Jahrzehnten mit einem schnell wachsenden muslimischen Bevlkerungsteil zu tun

    haben wird besonders im gegenwrtig sehr dnn besiedelten Sibirien, denn die

    Vorhersagen der Klimaforscher und der Demografen haben uns nicht in die Irre

    gefhrt. Und Obama muss wissen: Gegen Mitte dieses Jahrhunderts wird eine

    gewichtige spanische Minderheit einen bedeutenden Teil der amerikanischen

    Whlerschaft darstellen, der voraussichtlich ein deutlich gemindertes Interesse an

    amerikanischer Weltpolitik haben wird.

    Die Zahl der auf der Erde lebenden Menschen hat sich im Laufe des vorigen

    Jahrhunderts vervierfacht. Im Jahre 1900 standen wir noch bei 1,6 Milliarden, im

    Jahre 2050 werden ber neun Milliarden Menschen den Erdball bevlkern. Doch

    dieser explosive Zuwachs findet ausschlielich in Asien, in Afrika und in

    Lateinamerika statt nicht in der Europischen Union, kaum in Russland, auch nicht

    in der Ukraine. Am Ende dieses Jahrhunderts werden die Vlker Europas gerade

    noch fnf Prozent der Weltbevlkerung ausmachen. Die Jahrhunderte des

    europischen Imperialismus und ebenso des Kolonialismus sind an ihr Ende gelangt.

    Stattdessen sind mehrere Milliarden Menschen im Begriff, ihre Technologien und ihre

    Wirtschaften zu globalisieren und das bedeutet: Sie machen sich voneinander

    abhngig.

    Aber die gegenseitige Abhngigkeit macht keineswegs Kriege unmglich. Deshalb

    mssen Polen und die drei baltischen Staaten sich genauso auf die Nato verlassen

    knnen wie Finnland, wie Griechenland oder wie Deutschland. Es gibt jedoch keine

    Bndnisverpflichtung gegenber der Ukraine. Und das seinerzeitige Angebot der

    Europischen Union an Kiew war hnlich wie das seinerzeitige Bndnisangebot

    des Westens an Georgien eine trichte Herausforderung der Russen.

    Die nun notwendigen diplomatischen Verhandlungen ber die Ukraine werden

    schwierig sein, sie werden voraussichtlich lange dauern. Man wird aus den Fehlern

    lernen, die beide Seiten gemacht haben. Man wird ber die politische und die

    konomische Zukunft der Ukraine reden mssen, genauso aber ber die Rechte des

    russischsprachigen stlichen Teils der Ukraine. Noch 1990 hat niemand im Westen

    die seit Jahrhunderten bestehende Zugehrigkeit der Ukraine zu Russland in Zweifel

    gezogen. Seitdem ist die Ukraine ein selbststndiger Staat geworden, aber sie ist

    kein Nationalstaat. Man wird bei Verhandlungen beiderseits hoffentlich auf

    militrisches Imperialgehabe verzichten. Denn beide Seiten mssen erkennen:

    Tatschlich ist der bisherige Verlauf der Krise ein Spiel mit dem Feuer, an dessen

    Ende eine Krise la Kuba mglich werden kann. Die Lsung der Kuba-Krise gelang,

  • weil beide Seiten im Bewusstsein ihrer Verantwortung nachgegeben haben. Diese

    Lehre sollten die Diplomaten morgen und bermorgen beherzigen. Die Annexion der

    Krim jedoch wird nicht rckgngig gemacht werden knnen.

    Fr uns Deutsche aber wird weiterhin gelten: Sowohl Russland als auch Polen

    werden ber das Ende dieses Jahrhunderts hinaus unsere Nachbarn bleiben, egal,

    wie die heutige Ukraine-Krise gelst wird. Wir haben Jahrhunderte gemeinsamer

    Geschichte hinter uns, relativ selten im Guten, meist im Schlechten. Unzhlige

    Brger und Soldaten haben ihr Leben hergeben mssen am meisten die Polen und

    die Russen, ganz zu schweigen von den Juden in sehr vielen Staaten Europas. Wir

    werden auch in den kommenden Jahrhunderten einander Nachbarn sein. Die

    Kanzlerin wei das, Auenminister Frank-Walter Steinmeier wei das. Die

    allermeisten Deutschen haben es begriffen und zugleich haben die allermeisten

    Russen und die allermeisten Polen ihren Hass auf uns Deutsche hinter sich

    gelassen. Wir Deutschen sind seit sechs Jahrzehnten loyale Partner des

    Nordatlantischen Bndnisses. Aber wir knnen die Geschichte des 20. Jahrhunderts

    nicht vergessen deshalb drfen wir keine Schlafwandler werden.

    HELMUT SCHMIDT

    war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Er ist seit 1983 Mitherausgeber der ZEIT.