ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen...

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Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013

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Eine Konferenz derAlfred Herrhausen Gesellschaft und der

Frankfurter Allgemeinen Zeitung

ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND

2013

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VON THOMAS MATUSSEKWo sind die zufriedenen Deutschen? Wennman den internationalen Medien folgt,ist das Land auf dem richtigen Weg: Die Ar-beitslosigkeit sinkt, die Konsumfreude wirktungebrochen, und selbst das Gewittergrollender Euro-Krise scheint sich zu entfernen.Und doch: Die Bürgerinnen und Bürger schei-nen nicht zufrieden, eher resigniert.

Grund dafür ist ein Verlust an Vertrauen inunserer Gesellschaft: in eine Politik, die kurz-atmig wirkt; in ein System, dem man die Be-wältigung großer Herausforderungen nichtzutraut. Die Bürgerinnen und Bürger wolleneinfache Antworten auf komplexe Probleme.Dies können Politiker nicht leisten, wie auchder Wahlkampf zeigt.

Also fühlen sich die Menschen von der Poli-tik und dem System alleingelassen und verlie-ren an Interesse. Dass vor allem die Stimmender jungen Generation weitgehend verloren-gehen, ist eine gefährliche Entwicklung, dennder Vertrauensverlust von heute wird so zumDauerzustand von morgen.

Für die Politik gilt es, verlorenes Vertrauenzurückzugewinnen. Und die Bürger? Solltensie – nach dem Motto „Es wird schon werden“

– mit den gleichen Ritualen weitermachenwie bisher? Sich abwenden vom System?

Um die Demokratie lebendig zu halten,brauchen wir die Mitwirkung der Bürger. Die-se geschieht in unserem System am bestendurch Wahlen. Demokratie verlangt Verant-wortung des Einzelnen, Wahlverweigerungwird dieser Verantwortung nicht gerecht.

Als deutscher Botschafter habe ich in In-dien, den Vereinigten Staaten und Großbri-tannien gearbeitet und lebe nun in Deutsch-land. Ich habe also unterschiedlicheDemokratieformen und Wahlsysteme kennen-gelernt. Denke ich an Deutschland, dann den-ke ich an die vielen Möglichkeiten der Mitwir-kung und an die bewegte und bewegende Ge-schichte der deutschen Demokratie.

Sie denken an Deutschland und sind nichtzufrieden? Mit Ihrer Stimmabgabe könnenSie daran etwas ändern! Ihre Einflussmöglich-keiten sind groß.

DIE KONFERENZZUM MAGAZINWie kann es sein, dass die Wahl– der Erneuerungsmechanismuspolitischer Herrschaft – ähnli-che Gefühle hervorruft wie eineunliebsame Familienfeier? Esgehört zum guten Ton, dass manerscheint, aber wenn man malnicht hingeht, hat das keineKonsequenzen. Werden Wahlentatsächlich zum Relikt derDemokratie?

Am 6. September 2013 wollenwir auf der fünften „Denk ich anDeutschland“-Konferenz inBerlin nicht nur die Heraus-forderungen thematisieren, mitdenen sich unser politischesSystem konfrontiert sieht; wirwollen auch versuchen, Ant-worten aufzuzeigen.

Anregen werden dieseDiskussion Hamel Abdel-Samad, Ali Aslan, Holm Friebe,Francis Fukuyama, Gerd Gige-renzer, Wolfgang Gründinger,Anshu Jain, Renate Köcher, Bert-hold Kohler, Andreas Korn,Karl-Rudolf Korte, HerfriedMünkler, Günther Nonnen-macher, Julia Schramm, ThomasMatussek, Sebastian Turner,Franz Walter und viele andere.

Foto Jens Gyarmaty

Die Konferenz ist bereitsausgebucht. Wir bitten umVerständnis dafür, dass wirkeine weiteren Anmeldungenberücksichtigen können.Informationen finden Sie unterwww.denkichandeutschland.net;dort werden im Anschluss Texteund Dokumente veröffentlicht.

VON BERTHOLD KOHLERWer die Wahl hat, hat die Qual. Das alte deut-sche Sprichwort scheint von Wahl zu Wahl ak-tueller zu werden. Selbst überzeugte Demo-kraten wie die Deutschen tun sich offenbarimmer schwerer damit, ihre Wahlentschei-dung zu treffen. Die Zahl derer, die auch kurzvor der Wahl noch nicht wissen, wen sie wäh-len sollen, wächst, die Wahlbeteiligung sinkt.Viele Bürger fahren am Wahlsonntag lieberins Grüne als ins Wahllokal.

Alles nur Zeichen einer um sich greifendenPolitik- und Parteienverdrossenheit? Oderkönnte es da auch ein Element der uneinge-standenen Zufriedenheit geben? Der Zorn der„Wutbürger“ auf das politische System und sei-ne Repräsentanten ist offenkundig nicht sogroß, dass Wahlen dazu genutzt würden, diebestehenden Verhältnisse auf den Kopf zu stel-len. Die „Piraten“, die wie vor ihnen die Grü-nen alles anders machen wollten als die ande-ren, stünden dafür zur Verfügung. Doch stel-len sie wie auch die „Alternative für Deutsch-land“ ausweislich der Umfragen nur für eineüberschaubare Zahl der Deutschen eine tat-sächliche „Alternative“ dar. Der deutscheWähler meckert, aber er meutert nicht.

Verglichen mit anderen Weltgegenden hater dazu auch keinen Grund. Die Völker, diesich erst kürzlich von ihren autoritären Re-

gimen befreien konnten, müssen auf demWeg zu Freiheit und Rechtsstaat ganz andereQualen ertragen. Die Demokratie fällt nichtvom Himmel. In den Ländern des „Arabi-schen Frühlings“ werden die ersten Wahl-kämpfe nicht selten noch mit dem Gewehrausgetragen. Und auch dort können, wie inÄgypten oder im Gazastreifen geschehen, ausdemokratischen Wahlen Sieger hervorgehen,die alles andere als demokratisch gesinnt sind,jedenfalls nach westlichem Verständnis.

Und doch gibt es unter dem Banner derVolksherrschaft keine Alternative zu Wahlund Abstimmung, weder in saturierten Wohl-standsgesellschaften noch in blutjungen De-mokratien, die sich und anderen erst bewei-sen müssen, dass sie solche sind. Der Akt derMachtübertragung und auch des Machtent-zugs steht im Zentrum der repräsentativenDemokratie. In Zeiten des Umbruchs inAfrika und Arabien sowie kurz vor einer Bun-destagswahl gibt es Grund genug, über ihnauf einer Konferenz und in dieser Beilagenachzudenken.

IMPRESSUMZur Konferenz der Alfred HerrhausenGesellschaft und der Frankfurter Allge-meinen Zeitung erscheint die BeilageDenk ich an Deutschland 2013.Die Beilage ist eine Produktion derFrankfurter Allgemeinen Zeitung.Verantwortlicher Redakteur:Klaus-Dieter Frankenberger.Zuständiger Redakteur: BertramEisenhauer. Art Director: Peter Breul.Bildredakteur: Christian Pohlert.Gestaltung: Tobias Stier, Boris Wilde.Repro/Produktion: Michael Lukas,Annette Tillmann.Verantwortlich für Anzeigen:Andreas Formen (Verlagsgeschäfts-führer); für Anzeigenproduktion:Stephan Puls.Druck: Westdeutsche Verlags- undDruckerei GmbH, Mörfelden-Walldorf.© Copyright Frankfurter AllgemeineZeitung, Frankfurt am Main.Redaktion und Verlag, Postanschrift:Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH,Hellerhofstraße 2–4, 60267 Frankfurtam Main.Diese Sonderbeilage und alle in ihrenthaltenen Beiträge und Abbildungensind urheberrechtlich geschützt. MitAusnahme der gesetzlich zugelassenenFälle ist eine Verwertung ohneEinwilligung des Verlags strafbar.

Zum Titelbild: 17. Juni 1953.Zu den Forderungen der De-monstranten in Ost-Berlin wiein vielen anderen ostdeutschenStädten gehörte die nach freienund geheimen Wahlen. DasSED-Regime empfand dieForderung als Bedrohung seinerHerrschaft, der Volksaufstandwurde brutal niedergeschlagen.Doch die Erhebung vonArbeitern und Angestelltenvor sechzig Jahren symbolisiertbis heute den Anspruch aufpolitische Teilhabe durchWahlen in Freiheit.

Foto AKG

ES WIRD SCHON WERDEN!?

Thomas Matussekist Geschäftsführer derAlfred Herrhausen Gesellschaft.

GANZ ANDERE QUALEN

Berthold Kohlerist Herausgeber der FrankfurterAllgemeinen Zeitung.

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VON THOMAS MATUSSEKWo sind die zufriedenen Deutschen? Wennman den internationalen Medien folgt,ist das Land auf dem richtigen Weg: Die Ar-beitslosigkeit sinkt, die Konsumfreude wirktungebrochen, und selbst das Gewittergrollender Euro-Krise scheint sich zu entfernen.Und doch: Die Bürgerinnen und Bürger schei-nen nicht zufrieden, eher resigniert.

Grund dafür ist ein Verlust an Vertrauen inunserer Gesellschaft: in eine Politik, die kurz-atmig wirkt; in ein System, dem man die Be-wältigung großer Herausforderungen nichtzutraut. Die Bürgerinnen und Bürger wolleneinfache Antworten auf komplexe Probleme.Dies können Politiker nicht leisten, wie auchder Wahlkampf zeigt.

Also fühlen sich die Menschen von der Poli-tik und dem System alleingelassen und verlie-ren an Interesse. Dass vor allem die Stimmender jungen Generation weitgehend verloren-gehen, ist eine gefährliche Entwicklung, dennder Vertrauensverlust von heute wird so zumDauerzustand von morgen.

Für die Politik gilt es, verlorenes Vertrauenzurückzugewinnen. Und die Bürger? Solltensie – nach dem Motto „Es wird schon werden“

– mit den gleichen Ritualen weitermachenwie bisher? Sich abwenden vom System?

Um die Demokratie lebendig zu halten,brauchen wir die Mitwirkung der Bürger. Die-se geschieht in unserem System am bestendurch Wahlen. Demokratie verlangt Verant-wortung des Einzelnen, Wahlverweigerungwird dieser Verantwortung nicht gerecht.

Als deutscher Botschafter habe ich in In-dien, den Vereinigten Staaten und Großbri-tannien gearbeitet und lebe nun in Deutsch-land. Ich habe also unterschiedlicheDemokratieformen und Wahlsysteme kennen-gelernt. Denke ich an Deutschland, dann den-ke ich an die vielen Möglichkeiten der Mitwir-kung und an die bewegte und bewegende Ge-schichte der deutschen Demokratie.

Sie denken an Deutschland und sind nichtzufrieden? Mit Ihrer Stimmabgabe könnenSie daran etwas ändern! Ihre Einflussmöglich-keiten sind groß.

DIE KONFERENZZUM MAGAZINWie kann es sein, dass die Wahl– der Erneuerungsmechanismuspolitischer Herrschaft – ähnli-che Gefühle hervorruft wie eineunliebsame Familienfeier? Esgehört zum guten Ton, dass manerscheint, aber wenn man malnicht hingeht, hat das keineKonsequenzen. Werden Wahlentatsächlich zum Relikt derDemokratie?

Am 6. September 2013 wollenwir auf der fünften „Denk ich anDeutschland“-Konferenz inBerlin nicht nur die Heraus-forderungen thematisieren, mitdenen sich unser politischesSystem konfrontiert sieht; wirwollen auch versuchen, Ant-worten aufzuzeigen.

Anregen werden dieseDiskussion Hamel Abdel-Samad, Ali Aslan, Holm Friebe,Francis Fukuyama, Gerd Gige-renzer, Wolfgang Gründinger,Anshu Jain, Renate Köcher, Bert-hold Kohler, Andreas Korn,Karl-Rudolf Korte, HerfriedMünkler, Günther Nonnen-macher, Julia Schramm, ThomasMatussek, Sebastian Turner,Franz Walter und viele andere.

Foto Jens Gyarmaty

Die Konferenz ist bereitsausgebucht. Wir bitten umVerständnis dafür, dass wirkeine weiteren Anmeldungenberücksichtigen können.Informationen finden Sie unterwww.denkichandeutschland.net;dort werden im Anschluss Texteund Dokumente veröffentlicht.

VON BERTHOLD KOHLERWer die Wahl hat, hat die Qual. Das alte deut-sche Sprichwort scheint von Wahl zu Wahl ak-tueller zu werden. Selbst überzeugte Demo-kraten wie die Deutschen tun sich offenbarimmer schwerer damit, ihre Wahlentschei-dung zu treffen. Die Zahl derer, die auch kurzvor der Wahl noch nicht wissen, wen sie wäh-len sollen, wächst, die Wahlbeteiligung sinkt.Viele Bürger fahren am Wahlsonntag lieberins Grüne als ins Wahllokal.

Alles nur Zeichen einer um sich greifendenPolitik- und Parteienverdrossenheit? Oderkönnte es da auch ein Element der uneinge-standenen Zufriedenheit geben? Der Zorn der„Wutbürger“ auf das politische System und sei-ne Repräsentanten ist offenkundig nicht sogroß, dass Wahlen dazu genutzt würden, diebestehenden Verhältnisse auf den Kopf zu stel-len. Die „Piraten“, die wie vor ihnen die Grü-nen alles anders machen wollten als die ande-ren, stünden dafür zur Verfügung. Doch stel-len sie wie auch die „Alternative für Deutsch-land“ ausweislich der Umfragen nur für eineüberschaubare Zahl der Deutschen eine tat-sächliche „Alternative“ dar. Der deutscheWähler meckert, aber er meutert nicht.

Verglichen mit anderen Weltgegenden hater dazu auch keinen Grund. Die Völker, diesich erst kürzlich von ihren autoritären Re-

gimen befreien konnten, müssen auf demWeg zu Freiheit und Rechtsstaat ganz andereQualen ertragen. Die Demokratie fällt nichtvom Himmel. In den Ländern des „Arabi-schen Frühlings“ werden die ersten Wahl-kämpfe nicht selten noch mit dem Gewehrausgetragen. Und auch dort können, wie inÄgypten oder im Gazastreifen geschehen, ausdemokratischen Wahlen Sieger hervorgehen,die alles andere als demokratisch gesinnt sind,jedenfalls nach westlichem Verständnis.

Und doch gibt es unter dem Banner derVolksherrschaft keine Alternative zu Wahlund Abstimmung, weder in saturierten Wohl-standsgesellschaften noch in blutjungen De-mokratien, die sich und anderen erst bewei-sen müssen, dass sie solche sind. Der Akt derMachtübertragung und auch des Machtent-zugs steht im Zentrum der repräsentativenDemokratie. In Zeiten des Umbruchs inAfrika und Arabien sowie kurz vor einer Bun-destagswahl gibt es Grund genug, über ihnauf einer Konferenz und in dieser Beilagenachzudenken.

IMPRESSUMZur Konferenz der Alfred HerrhausenGesellschaft und der Frankfurter Allge-meinen Zeitung erscheint die BeilageDenk ich an Deutschland 2013.Die Beilage ist eine Produktion derFrankfurter Allgemeinen Zeitung.Verantwortlicher Redakteur:Klaus-Dieter Frankenberger.Zuständiger Redakteur: BertramEisenhauer. Art Director: Peter Breul.Bildredakteur: Christian Pohlert.Gestaltung: Tobias Stier, Boris Wilde.Repro/Produktion: Michael Lukas,Annette Tillmann.Verantwortlich für Anzeigen:Andreas Formen (Verlagsgeschäfts-führer); für Anzeigenproduktion:Stephan Puls.Druck: Westdeutsche Verlags- undDruckerei GmbH, Mörfelden-Walldorf.© Copyright Frankfurter AllgemeineZeitung, Frankfurt am Main.Redaktion und Verlag, Postanschrift:Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH,Hellerhofstraße 2–4, 60267 Frankfurtam Main.Diese Sonderbeilage und alle in ihrenthaltenen Beiträge und Abbildungensind urheberrechtlich geschützt. MitAusnahme der gesetzlich zugelassenenFälle ist eine Verwertung ohneEinwilligung des Verlags strafbar.

Zum Titelbild: 17. Juni 1953.Zu den Forderungen der De-monstranten in Ost-Berlin wiein vielen anderen ostdeutschenStädten gehörte die nach freienund geheimen Wahlen. DasSED-Regime empfand dieForderung als Bedrohung seinerHerrschaft, der Volksaufstandwurde brutal niedergeschlagen.Doch die Erhebung vonArbeitern und Angestelltenvor sechzig Jahren symbolisiertbis heute den Anspruch aufpolitische Teilhabe durchWahlen in Freiheit.

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Thomas Matussekist Geschäftsführer derAlfred Herrhausen Gesellschaft.

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Berthold Kohlerist Herausgeber der FrankfurterAllgemeinen Zeitung.

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Als die SPD noch für die Kernkraft warund die CDU auf Helmut Schmidt setzte:Zeitgeschichte entlang der Werbeplakate.

1969

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19531953

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Als die SPD noch für die Kernkraft warund die CDU auf Helmut Schmidt setzte:Zeitgeschichte entlang der Werbeplakate.

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„WEREINEREGIERUNGWÄHLT,MUSSDAMITRECHNEN,DASSSIEAUCHREGIERT“

In Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es:„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Siewird vom Volke in Wahlen und Abstimmun-gen und durch besondere Organe der Gesetz-gebung, der vollziehenden Gewalt und derRechtsprechung ausgeübt.“ Wahlen stehenan erster Stelle. Ist die Wahl der harte Kernder Demokratie?Das Grundgesetz geht vom Prinzip derrepräsentativen Demokratie aus. Das Han-deln der Regierenden bedarf der Legitima-tion durch das Votum der Wählerinnen undWähler. Die Abstimmung wird demgegen-über im Grundgesetz nachrangig behandeltund bleibt auf die Fälle der Länderneu-gliederung und der Verfassungsablösungbeschränkt. Deshalb kann man sicherlichsagen: Die Wahl ist der zentrale demokra-tische Akt im System des Grundgesetzes.

Angesichts sinkender Wahlbeteiligung stelltsich doch die Frage: Wie kommt es, dass im-mer weniger Bürger von ihrem urdemokrati-schen Grundrecht des Wählens Gebrauchmachen?Ich glaube, dass es dafür nicht nur eineUrsache, sondern eine Vielzahl von Ursachengibt. Das oft bemühte Phänomen der Poli-tiker- und Parteienverdrossenheit vermag nurzum Teil zu erklären, warum die Wahl-beteiligung gesunken ist. Für eine weitereUrsache halte ich, dass die Individualisierungund Segmentierung der Gesellschaft zuge-nommen hat. Die Verantwortlichkeit für dasStaatswesen in seiner Gesamtheit und dasGemeinwohl wird vielleicht nicht mehr sostark empfunden wie früher. Die Menschensehen das Wahlrecht nicht mehr als großeErrungenschaft, sondern als Selbstverständ-lichkeit an. Zudem sind die großen Ausein-andersetzungen über politische Grundsatz-fragen deutlich weniger geworden: der Streitüber repräsentative Demokratie oder „Volks-demokratie“, zentral gelenkte Wirtschaftoder Marktwirtschaft, der Ost-West-Konflikt– all dies spielt heute keine besonders großeRolle mehr. Die Probleme der Gegenwart,etwa die Krise im Euroraum, eignen sich vielweniger zur politischen Polarisierung. Mit an-deren Worten: Die Demokratie ist komplexergeworden und die Alternativen schwerernachvollziehbar. Auch das mag dazu bei-tragen, dass der eine oder andere zurück-haltend ist bei der Entscheidung darüber, obund wem er seine Stimme gibt.

Ihr ehemaliger Kollege als Ministerpräsi-dent, Bernhard Vogel, hat gesagt: Wer nichtzur Wahl geht, hat sein Mitbestimmungs-recht verwirkt und muss sich nicht beschwe-ren, wenn anschließend etwas anderes heraus-kommt, als er gewollt hat. Sehen Sie das ge-nauso?Ich habe als Ministerpräsident immer gesagt:Wer nicht wählt, darf auch nicht meckern.Das ist zugespitzt, aber der Satz enthält imKern etwas Richtiges. Wer nicht dazu bei-trägt, seine Repräsentanten auszuwählen, hatein Stück weit den Anspruch verwirkt, dasHandeln der gewählten Repräsentantenkritisch zu hinterfragen.

Es wird kritisiert, dass Parteien, die lautGrundgesetz an der politischen Willens-bildung „mitwirken“, diese durch ihrMonopol bei Wahlen quasi gekapert hätten.Braucht es da ein Korrektiv? Im Grundge-setz ist ja nicht nur von Wahlen, sondernauch von „Abstimmungen“ die Rede.Zunächst ist es ja nicht so, dass alle Wahlenvon Parteien dominiert werden. Bei Land-rats- oder Bürgermeisterwahlen erleben wirimmer wieder, dass auch Kandidaten erfolg-reich sein können, die an keine Partei ge-bunden sind oder nicht von einer Parteigetragen werden. Natürlich ist auch klar, dassdies bei Landtags- oder Bundestagswahlenkaum vorstellbar ist. Insofern kommt denParteien eine zentrale Stellung in unseremdemokratischen System zu. Dass sie dieseStellung wahrnehmen, kann man ihnen abernicht vorwerfen.

Der ehemalige Bundespräsident Richardvon Weizsäcker hat die Machtversessenheitder Parteien kritisiert. Immer wieder ist er-wogen worden, andere Beteiligungsformenzu verstärken, also Abstimmungen, wie essie auf kommunaler und auf Landesebenegibt. Haben die sich bewährt?Die Kritik, das Handeln von Parteien könneman auf Machtvergessenheit und Macht-versessenheit reduzieren, halte ich für über-zogen. Natürlich streben Parteien nach poli-tischer Verantwortung, natürlich wollen sieMehrheiten gewinnen. Dafür sind sie da, dasist ihr Auftrag. Ich habe aber nicht den Ein-druck, dass die Parteien ausschließlich nachMacht um ihrer selbst willen streben, son-

dern dass auch die Verwirklichung politi-scher Konzepte ihr Handeln entschei-

dend bestimmt. Trotzdem kannman fragen, ob es nicht der Ergän-

zung der Wahlen durch ein stärkeres Gewichtder Abstimmungen bedarf. Meines Erachtenssollte differenziert werden: Auf kommunalerEbene und auf Landesebene haben sich ple-biszitäre Elemente bewährt. Ich glaube aber,dass umso besser auf diese Instrumente zu-rückgegriffen werden kann, je überschauba-rer die Entscheidungssituation ist. Ob eineStraße gebaut werden soll oder nicht, ob künf-tig in öffentlichen Räumen oder in Kneipengeraucht werden darf – das sind überschauba-re Fragestellungen. Dagegen halte ich die Ent-scheidung, ob und in welchem Umfang esrichtig ist, den Euro mit Instrumenten der Eu-ropäischen Zentralbank zu stabilisieren,kaum geeignet für eine Abstimmung. Ichkann daher die Reserviertheit des Grundge-setzes gegenüber dem Instrument der Abstim-mung auch vor dem Hintergrund des damali-gen historischen Kontextes gut verstehen.

Immerhin haben auch Mitglieder desBundesverfassungsgerichts, etwa der ehemali-ge Präsident Hans-Jürgen Papier, aber auchIhr jetziger Kollege Peter Huber, immer wie-der Sympathie für die Idee gezeigt, mehr Ele-mente direkter Demokratie auch auf Bundes-ebene zuzulassen.Über Abstimmungen kann in Einzelfällensicherlich zusätzliche Legitimation geschaf-fen werden. Sie können insoweit eine sinn-volle Ergänzung des repräsentativen Systemssein. Sie werden dieses System allerdings nieersetzen können.

In der oft als Vorbild angeführten Schweizgenießen Volksabstimmungen eine höhereLegitimität als Parlamentsentscheidungen.Ist das nicht ein Risiko, dass eine Ver-mehrung von Elementen direkter Demo-kratie die Legitimität der repräsentativen,parlamentarischen Demokratie aushöhlt?Das glaube ich nicht. Eine solche Aushöh-lung findet weder in anderen Staaten stattnoch in den deutschen Bundesländern, in de-nen Volksbegehren und Volksentscheide mög-lich sind. Repräsentative Demokratie ist Herr-schaft auf Zeit. Plebiszite eröffnen die Mög-lichkeit, Regierungshandeln punktuell zu kor-rigieren, ohne dass die Legitimation der je-weils Regierenden dadurch in Frage gestelltwird. Flapsig gesagt: Wenn das Volk sich eineRegierung wählt, muss es damit rechnen,dass diese auch regiert.

Das heißt, auch etwas tut, was dem Volknicht unbedingt gefällt?

Ja. Manchmal wird die Qualität einer Regie-rung in der Rückschau auch gerade daran ge-messen, dass sie unpopuläre Dinge getan hat.Der Nato-Doppelbeschluss oder die Agenda2010 waren zum Entscheidungszeitpunktnicht mehrheitsfähig. Das repräsentative Sys-tem erlaubt, dass eine Regierung nicht tut,was die Repräsentierten erwarten, sonderngegen die Stimmung und gegen demoskopi-sche Mehrheiten Verantwortung wahrnimmt.

Wie kommt es eigentlich, dass in Deutsch-land, wenn man Umfragen trauen kann,zwei Institutionen, nämlich die Bundesbankund das Bundesverfassungsgericht, derenMitglieder nur indirekt demokratisch legiti-miert sind, das höchste Ansehen genießen?Sie erwarten doch jetzt sicherlich von mirkein Eigenlob. Stattdessen möchte ich daraufhinweisen, dass die Rahmenbedingungen fürpolitisches Handeln besonders schwierigsind: Politiker befinden sich im täglichenMeinungsstreit. Sie sind permanent intensiv-ster öffentlicher Beobachtung ausgesetzt. DasVersagen Einzelner wird bisweilen der poli-tischen Klasse insgesamt zugerechnet. DieVersuchung wechselseitiger Diskreditierungist hoch; die mediale Begleitung nicht seltenpejorativ. Und wie gesagt, Regierende müs-sen bisweilen auch unpopuläre Entscheidun-gen treffen. Auch wenn die Vertrauens-bildung dadurch nicht vereinfacht wird – alldies gehört zum Wesen moderner Demo-kratie.

Häufig heißt es, Politiker handelten nachOpportunitätskriterien, die mit dem Gemein-wohl, das Sie am Anfang erwähnt haben,nicht unbedingt übereinstimmen.Ich weiß nicht, ob Opportunität und Gemein-wohlorientierung sich wirklich zwingend aus-schließen. Sicher ist: Politik braucht Mehrhei-ten. „Wahrheit“ ohne Mehrheit ist in einemdemokratischen System ein unbefriedigenderZustand. Natürlich denken Parteien und Poli-tiker daher darüber nach, wie sie Mehrheitenerringen können. Dies beeinflusst bereits dieFormulierung von Wahlprogrammen. Dassman dann nicht alles halten kann, was manversprochen und sich vielleicht selbst vorge-nommen hat, ist eigentlich kein überraschen-der Befund.

Nicht nur Abstimmungen in Form direkterDemokratie, sondern auch nach Brüssel dele-gierte Kompetenzen schränken tendenziellden Spielraum des nationalen Gesetzgebers,

bei uns des Bundestages, ein. Ist diese „Sand-wich-Position“ nicht eine Gefahr für die Le-gitimität des Bundestages?Aus meiner Sicht handelt es sich um zweiverschiedene Phänomene. Was die Verlage-rung von Kompetenzen auf die europäischeEbene angeht: Ob zusätzliche Kompetenzennach Europa verlagert werden, ist eine Ent-scheidung, die der Bundestag im Rahmen derverfassungsrechtlichen Vorgaben selbst trifft.Die Nationalstaaten sind nach wie vor dieHerren der Verträge. Das Europäische Parla-ment vermittelt noch nicht das gleiche Maßan demokratischer Legitimation wie dienationalen Parlamente. Dies wird der Gesetz-geber bei der Verlagerung von Zuständigkei-ten auf die europäische Ebene sicher berück-sichtigen. Zudem müsste man sich eigentlich,wenn man das Subsidiaritätsprinzip ernstnähme, auch die umgekehrte Frage stellen:ob es nicht auch Rückverlagerungen vonZuständigkeiten geben kann, ohne den Pro-zess der europäischen Integration negativ zubeeinflussen. Was die direkte Demokratiebetrifft: Mehr plebiszitäre Elemente auf Bun-desebene würden die Politik vielleicht stärkerdazu zwingen, die eigenen Entscheidungenso zu erklären, dass die Menschen sie leichternachvollziehen können. Eine solche gesteiger-te Argumentationsnotwendigkeit sehe ichpositiv. Die Politik wäre stärker gehalten, zuerklären, was sie macht und warum sie esmacht, um die Korrektur durch Abstimmun-gen zu vermeiden. Ansonsten bin ich einiger-maßen gelassen. Wenn man Länder betrach-tet, die auf nationaler Ebene stärker ausge-prägte plebiszitäre Elemente haben, habe ichnicht den Eindruck, dass das dazu geführthat, die Akzeptanz der Parlamente zu schwä-chen oder gar die Funktionsfähigkeit des re-präsentativen Systems zu beeinträchtigen.

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Vom Ministerpräsidenten zumVerfassungsrichter: Peter Müllerüber Bürger und Abstinenzler,machtversessene Parteien und denBundestag als „Sandwich“.

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ZUR PERSON: PETER MÜLLER

Geboren 1955 in Illingen/Saar, studierte derkünftige Verfassungsrichter Rechts- und Poli-tikwissenschaften in Bonn und Saarbrücken;er war Wissenschaftlicher Assistent, dannRichter, zuletzt am Landgericht Saarbrücken.Von 1990 bis 2011 war der CDU-Politiker Mit-glied des Saarländischen Landtages, seit 1999Ministerpräsident. Seit Dezember 2011 gehörter dem Zweiten Senat des Bundesverfassungs-gerichts an. Mit ihm sprachen GüntherNonnenmacher, Herausgeber der F.A.Z., undReinhard Müller, verantwortlicher Redakteur„Zeitgeschehen“ und „Staat und Recht“.

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„WEREINEREGIERUNGWÄHLT,MUSSDAMITRECHNEN,DASSSIEAUCHREGIERT“

In Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es:„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Siewird vom Volke in Wahlen und Abstimmun-gen und durch besondere Organe der Gesetz-gebung, der vollziehenden Gewalt und derRechtsprechung ausgeübt.“ Wahlen stehenan erster Stelle. Ist die Wahl der harte Kernder Demokratie?Das Grundgesetz geht vom Prinzip derrepräsentativen Demokratie aus. Das Han-deln der Regierenden bedarf der Legitima-tion durch das Votum der Wählerinnen undWähler. Die Abstimmung wird demgegen-über im Grundgesetz nachrangig behandeltund bleibt auf die Fälle der Länderneu-gliederung und der Verfassungsablösungbeschränkt. Deshalb kann man sicherlichsagen: Die Wahl ist der zentrale demokra-tische Akt im System des Grundgesetzes.

Angesichts sinkender Wahlbeteiligung stelltsich doch die Frage: Wie kommt es, dass im-mer weniger Bürger von ihrem urdemokrati-schen Grundrecht des Wählens Gebrauchmachen?Ich glaube, dass es dafür nicht nur eineUrsache, sondern eine Vielzahl von Ursachengibt. Das oft bemühte Phänomen der Poli-tiker- und Parteienverdrossenheit vermag nurzum Teil zu erklären, warum die Wahl-beteiligung gesunken ist. Für eine weitereUrsache halte ich, dass die Individualisierungund Segmentierung der Gesellschaft zuge-nommen hat. Die Verantwortlichkeit für dasStaatswesen in seiner Gesamtheit und dasGemeinwohl wird vielleicht nicht mehr sostark empfunden wie früher. Die Menschensehen das Wahlrecht nicht mehr als großeErrungenschaft, sondern als Selbstverständ-lichkeit an. Zudem sind die großen Ausein-andersetzungen über politische Grundsatz-fragen deutlich weniger geworden: der Streitüber repräsentative Demokratie oder „Volks-demokratie“, zentral gelenkte Wirtschaftoder Marktwirtschaft, der Ost-West-Konflikt– all dies spielt heute keine besonders großeRolle mehr. Die Probleme der Gegenwart,etwa die Krise im Euroraum, eignen sich vielweniger zur politischen Polarisierung. Mit an-deren Worten: Die Demokratie ist komplexergeworden und die Alternativen schwerernachvollziehbar. Auch das mag dazu bei-tragen, dass der eine oder andere zurück-haltend ist bei der Entscheidung darüber, obund wem er seine Stimme gibt.

Ihr ehemaliger Kollege als Ministerpräsi-dent, Bernhard Vogel, hat gesagt: Wer nichtzur Wahl geht, hat sein Mitbestimmungs-recht verwirkt und muss sich nicht beschwe-ren, wenn anschließend etwas anderes heraus-kommt, als er gewollt hat. Sehen Sie das ge-nauso?Ich habe als Ministerpräsident immer gesagt:Wer nicht wählt, darf auch nicht meckern.Das ist zugespitzt, aber der Satz enthält imKern etwas Richtiges. Wer nicht dazu bei-trägt, seine Repräsentanten auszuwählen, hatein Stück weit den Anspruch verwirkt, dasHandeln der gewählten Repräsentantenkritisch zu hinterfragen.

Es wird kritisiert, dass Parteien, die lautGrundgesetz an der politischen Willens-bildung „mitwirken“, diese durch ihrMonopol bei Wahlen quasi gekapert hätten.Braucht es da ein Korrektiv? Im Grundge-setz ist ja nicht nur von Wahlen, sondernauch von „Abstimmungen“ die Rede.Zunächst ist es ja nicht so, dass alle Wahlenvon Parteien dominiert werden. Bei Land-rats- oder Bürgermeisterwahlen erleben wirimmer wieder, dass auch Kandidaten erfolg-reich sein können, die an keine Partei ge-bunden sind oder nicht von einer Parteigetragen werden. Natürlich ist auch klar, dassdies bei Landtags- oder Bundestagswahlenkaum vorstellbar ist. Insofern kommt denParteien eine zentrale Stellung in unseremdemokratischen System zu. Dass sie dieseStellung wahrnehmen, kann man ihnen abernicht vorwerfen.

Der ehemalige Bundespräsident Richardvon Weizsäcker hat die Machtversessenheitder Parteien kritisiert. Immer wieder ist er-wogen worden, andere Beteiligungsformenzu verstärken, also Abstimmungen, wie essie auf kommunaler und auf Landesebenegibt. Haben die sich bewährt?Die Kritik, das Handeln von Parteien könneman auf Machtvergessenheit und Macht-versessenheit reduzieren, halte ich für über-zogen. Natürlich streben Parteien nach poli-tischer Verantwortung, natürlich wollen sieMehrheiten gewinnen. Dafür sind sie da, dasist ihr Auftrag. Ich habe aber nicht den Ein-druck, dass die Parteien ausschließlich nachMacht um ihrer selbst willen streben, son-

dern dass auch die Verwirklichung politi-scher Konzepte ihr Handeln entschei-

dend bestimmt. Trotzdem kannman fragen, ob es nicht der Ergän-

zung der Wahlen durch ein stärkeres Gewichtder Abstimmungen bedarf. Meines Erachtenssollte differenziert werden: Auf kommunalerEbene und auf Landesebene haben sich ple-biszitäre Elemente bewährt. Ich glaube aber,dass umso besser auf diese Instrumente zu-rückgegriffen werden kann, je überschauba-rer die Entscheidungssituation ist. Ob eineStraße gebaut werden soll oder nicht, ob künf-tig in öffentlichen Räumen oder in Kneipengeraucht werden darf – das sind überschauba-re Fragestellungen. Dagegen halte ich die Ent-scheidung, ob und in welchem Umfang esrichtig ist, den Euro mit Instrumenten der Eu-ropäischen Zentralbank zu stabilisieren,kaum geeignet für eine Abstimmung. Ichkann daher die Reserviertheit des Grundge-setzes gegenüber dem Instrument der Abstim-mung auch vor dem Hintergrund des damali-gen historischen Kontextes gut verstehen.

Immerhin haben auch Mitglieder desBundesverfassungsgerichts, etwa der ehemali-ge Präsident Hans-Jürgen Papier, aber auchIhr jetziger Kollege Peter Huber, immer wie-der Sympathie für die Idee gezeigt, mehr Ele-mente direkter Demokratie auch auf Bundes-ebene zuzulassen.Über Abstimmungen kann in Einzelfällensicherlich zusätzliche Legitimation geschaf-fen werden. Sie können insoweit eine sinn-volle Ergänzung des repräsentativen Systemssein. Sie werden dieses System allerdings nieersetzen können.

In der oft als Vorbild angeführten Schweizgenießen Volksabstimmungen eine höhereLegitimität als Parlamentsentscheidungen.Ist das nicht ein Risiko, dass eine Ver-mehrung von Elementen direkter Demo-kratie die Legitimität der repräsentativen,parlamentarischen Demokratie aushöhlt?Das glaube ich nicht. Eine solche Aushöh-lung findet weder in anderen Staaten stattnoch in den deutschen Bundesländern, in de-nen Volksbegehren und Volksentscheide mög-lich sind. Repräsentative Demokratie ist Herr-schaft auf Zeit. Plebiszite eröffnen die Mög-lichkeit, Regierungshandeln punktuell zu kor-rigieren, ohne dass die Legitimation der je-weils Regierenden dadurch in Frage gestelltwird. Flapsig gesagt: Wenn das Volk sich eineRegierung wählt, muss es damit rechnen,dass diese auch regiert.

Das heißt, auch etwas tut, was dem Volknicht unbedingt gefällt?

Ja. Manchmal wird die Qualität einer Regie-rung in der Rückschau auch gerade daran ge-messen, dass sie unpopuläre Dinge getan hat.Der Nato-Doppelbeschluss oder die Agenda2010 waren zum Entscheidungszeitpunktnicht mehrheitsfähig. Das repräsentative Sys-tem erlaubt, dass eine Regierung nicht tut,was die Repräsentierten erwarten, sonderngegen die Stimmung und gegen demoskopi-sche Mehrheiten Verantwortung wahrnimmt.

Wie kommt es eigentlich, dass in Deutsch-land, wenn man Umfragen trauen kann,zwei Institutionen, nämlich die Bundesbankund das Bundesverfassungsgericht, derenMitglieder nur indirekt demokratisch legiti-miert sind, das höchste Ansehen genießen?Sie erwarten doch jetzt sicherlich von mirkein Eigenlob. Stattdessen möchte ich daraufhinweisen, dass die Rahmenbedingungen fürpolitisches Handeln besonders schwierigsind: Politiker befinden sich im täglichenMeinungsstreit. Sie sind permanent intensiv-ster öffentlicher Beobachtung ausgesetzt. DasVersagen Einzelner wird bisweilen der poli-tischen Klasse insgesamt zugerechnet. DieVersuchung wechselseitiger Diskreditierungist hoch; die mediale Begleitung nicht seltenpejorativ. Und wie gesagt, Regierende müs-sen bisweilen auch unpopuläre Entscheidun-gen treffen. Auch wenn die Vertrauens-bildung dadurch nicht vereinfacht wird – alldies gehört zum Wesen moderner Demo-kratie.

Häufig heißt es, Politiker handelten nachOpportunitätskriterien, die mit dem Gemein-wohl, das Sie am Anfang erwähnt haben,nicht unbedingt übereinstimmen.Ich weiß nicht, ob Opportunität und Gemein-wohlorientierung sich wirklich zwingend aus-schließen. Sicher ist: Politik braucht Mehrhei-ten. „Wahrheit“ ohne Mehrheit ist in einemdemokratischen System ein unbefriedigenderZustand. Natürlich denken Parteien und Poli-tiker daher darüber nach, wie sie Mehrheitenerringen können. Dies beeinflusst bereits dieFormulierung von Wahlprogrammen. Dassman dann nicht alles halten kann, was manversprochen und sich vielleicht selbst vorge-nommen hat, ist eigentlich kein überraschen-der Befund.

Nicht nur Abstimmungen in Form direkterDemokratie, sondern auch nach Brüssel dele-gierte Kompetenzen schränken tendenziellden Spielraum des nationalen Gesetzgebers,

bei uns des Bundestages, ein. Ist diese „Sand-wich-Position“ nicht eine Gefahr für die Le-gitimität des Bundestages?Aus meiner Sicht handelt es sich um zweiverschiedene Phänomene. Was die Verlage-rung von Kompetenzen auf die europäischeEbene angeht: Ob zusätzliche Kompetenzennach Europa verlagert werden, ist eine Ent-scheidung, die der Bundestag im Rahmen derverfassungsrechtlichen Vorgaben selbst trifft.Die Nationalstaaten sind nach wie vor dieHerren der Verträge. Das Europäische Parla-ment vermittelt noch nicht das gleiche Maßan demokratischer Legitimation wie dienationalen Parlamente. Dies wird der Gesetz-geber bei der Verlagerung von Zuständigkei-ten auf die europäische Ebene sicher berück-sichtigen. Zudem müsste man sich eigentlich,wenn man das Subsidiaritätsprinzip ernstnähme, auch die umgekehrte Frage stellen:ob es nicht auch Rückverlagerungen vonZuständigkeiten geben kann, ohne den Pro-zess der europäischen Integration negativ zubeeinflussen. Was die direkte Demokratiebetrifft: Mehr plebiszitäre Elemente auf Bun-desebene würden die Politik vielleicht stärkerdazu zwingen, die eigenen Entscheidungenso zu erklären, dass die Menschen sie leichternachvollziehen können. Eine solche gesteiger-te Argumentationsnotwendigkeit sehe ichpositiv. Die Politik wäre stärker gehalten, zuerklären, was sie macht und warum sie esmacht, um die Korrektur durch Abstimmun-gen zu vermeiden. Ansonsten bin ich einiger-maßen gelassen. Wenn man Länder betrach-tet, die auf nationaler Ebene stärker ausge-prägte plebiszitäre Elemente haben, habe ichnicht den Eindruck, dass das dazu geführthat, die Akzeptanz der Parlamente zu schwä-chen oder gar die Funktionsfähigkeit des re-präsentativen Systems zu beeinträchtigen.

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Vom Ministerpräsidenten zumVerfassungsrichter: Peter Müllerüber Bürger und Abstinenzler,machtversessene Parteien und denBundestag als „Sandwich“.

6 DENK ICH AN DEUTSCHLAND DENK ICH AN DEUTSCHLAND 7

ZUR PERSON: PETER MÜLLER

Geboren 1955 in Illingen/Saar, studierte derkünftige Verfassungsrichter Rechts- und Poli-tikwissenschaften in Bonn und Saarbrücken;er war Wissenschaftlicher Assistent, dannRichter, zuletzt am Landgericht Saarbrücken.Von 1990 bis 2011 war der CDU-Politiker Mit-glied des Saarländischen Landtages, seit 1999Ministerpräsident. Seit Dezember 2011 gehörter dem Zweiten Senat des Bundesverfassungs-gerichts an. Mit ihm sprachen GüntherNonnenmacher, Herausgeber der F.A.Z., undReinhard Müller, verantwortlicher Redakteur„Zeitgeschehen“ und „Staat und Recht“.

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Die Leute spürenUnterschiede zwischenden Parteiangeboten undden Spitzenkandidaten.Die Unterschiede habenaber viel mehr mitPsychologie zu tun alsmit den empirischenKernforderungen in deneinzelnen Politikfeldern.

WASPARTEIENWÄHLERNERZÄHLEN

ODER:DIESTUFEN

DERWAHRHEIT

Alles ist auf Zeit angelegt. Aber giltdas auch für Wahlversprechen?Wahlprogramme beschreiben alsVisitenkarten der Parteien zeitli-

che Projekte. Sie sind als kondensierte Wahl-versprechen Momentaufnahmen mit baldi-gem Verfallsdatum. Doch das ist nur die halbeWahrheit. Denn Wahlprogramme dienen in ih-rer über Wochen in Parteigremien ausgearbei-teten Langversion immer auch der Selbstver-ständigung. Wahlversprechen sind insofernstrategische Instrumente der Wählermobilisie-rung. Ohne Wahlprogramm ist eine Parteinicht mobilisierungsfähig. Auf was sich einePartei in einer bestimmten Phase einigt, be-schreibt die aktuellen Machtgewichte zwi-schen ihren verschiedenen Strömungen undFlügeln. So fügen die Programme für ein paarMonate das diszipliniert zusammen, was an-sonsten den innerparteilichen Alltag von Par-teien als lose verkoppelte Anarchien faktischausmacht.

Meist dienen die ausformulierten Langfas-sungen der Programme als konkrete Vorlagenfür die Koalitionsverhandlungen. Die wenigenBefunde der Wahlprogrammforschung doku-mentieren, dass angesichts der innerparteili-chen Suche nach Kompromissen die Verständ-lichkeit der Formulierungen eher in den Hin-tergrund tritt. Vielfach sind die Aussagen des-halb nicht nur vage, sondern gleichzeitig ver-klausuliert und für Außenstehende nurschwer zu verstehen. Größere Außenwirkungerfahren die Programme durch die jeweiligeKurzfassung, die eine hohe Verständlichkeitvoraussetzt, medial aufbereitet ist und zudemidealerweise mit einem Gesicht als Programm-träger verbunden werden kann.

DIE NEUEN TEILHABEMODELLE

Im Bundestagswahlkampf 2013 übertreffensich die Parteien bei der Erstellung ihrer Wahl-programme erstmals im originellen Wettbe-werb um die Beteiligung ihrer Mitglieder. Diepolitisch-kulturelle Grundstimmung von neu-en bunten, partizipativen Beteiligungsarchi-tekturen hat diesen Wahlkampf erfasst. AlleParteien haben sowohl ihren Mitgliedern wieauch den Nichtmitgliedern mehr oder wenigerkollaborative Mitwirkungsmöglichkeiten er-öffnet. Die Grünen organisierten als einzigeBundestagspartei sogar einen formellen Mit-gliederentscheid über das Wahlprogramm,auch wenn dieser Prozess, in dem über die

prioritären Themen abgestimmt wurde, derEntstehung des Bundestagswahlprogrammsnachgelagert angelegt war.

Doch Wahlprogramme bleiben, trotz neuerTeilhabemodelle, für die allermeisten Wählerunbekannt. Wählerische Wähler kennen die

Bundestagswahlprogramme genauso wenigwie die Stammwähler. Wissen ist insofernkein Hauptmotiv für die Wahlentscheidung.Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der Wäh-ler zu wissen glaubt, welche Partei die für ihnindividuell relevanten Probleme künftig amkompetentesten zu lösen vermag. Wahltagesind keine Erntedankfeste. Die Leistungsbi-lanz interessiert den Wähler nur am Rande.Stattdessen wird die Zukunft gewählt und da-mit immer auch eine Anmutung von unter-stelltem Politikmanagement.

DER GRUPPENORIENTIERTE BÜRGER

Da Politik weitestgehend medienvermitteltist, erfährt der Bürger über das Bundestags-wahljahr all das, was er liest, hört, sieht. Diewenigsten haben direkten Kontakt zu einemPolitiker oder besuchen Wahlveranstaltungenmit dem politischen Spitzenpersonal. Man istsomit auf Informationen aus zweiter Hand an-gewiesen, um sich ein Urteil zu bilden – es seidenn, man kann live mithören oder im Fernse-hen bei einer Talkrunde sogenannte O-Tönemitnehmen. Dass die interpersonale Kommu-nikation wahlentscheidend ist, weist die Wahl-forschung nach: Was wir aus medial vermittel-ter Politik in unsere persönlichen Gesprächeübernehmen, hinterlässt Spuren, die bis zumWahltag wirken. Was wir zum individuellenGesprächsthema machen, ist jedoch häufigmedial gesteuert. So erklärt sich der indirekteEinfluss der Medien auf die Entscheidungender Politik.

Wenn Wähler keine Wahlprogramme lesenund nur extrem selten einen unmittelbarenKontakt zu Politikern haben, sind sie in der Be-urteilung der Politik und der Politiker auf sichselbst gestellt und auf das medienvermittelteBild vom Wahlkampf angewiesen. Doch siesind nicht allein. Denn Bürger sind gruppen-orientiert: Wir lieben bei den Wahlen die Fa-voriten! Wir möchten gerne zu den Siegern ge-hören! Unser Einstellungssetting richtet sichan der Meinung derer aus, die uns wichtigsind! Wahlverhalten ist immer noch sozialesGruppenverhalten, wenngleich sich traditio-nelle Milieus aufgelöst und Parteihochburgeninzwischen Seltenheitscharakter haben.

Zu alldem kommt die gewachsene Erfah-rung hinzu. Die allermeisten Bürger misstrau-en den Versprechungen im Wahlkampf. Dochder Grad des Misstrauens variiert zwischenden verschiedenen Parteien. Den größten Ver-

trauensvorsprung haben dabei die Grünen.Das generelle Misstrauen hängt mit diffusenKenntnissen des Regierungssystems zusam-men. Denn Alleinregierungen sind höchst sel-ten, im Bund noch nie da gewesen – voneinigen Einzeltagen abgesehen. In einer poli-tisch-kulturellen Schlichtungsdemokratiewie der Bundesrepublik Deutschland ist esnicht ungewöhnlich, von Koalitionsregierun-gen im Regierungsalltag Kompromisse zu er-warten und zu akzeptieren. Keine Parteikann ihr Wahlprogramm vollständig umset-zen, sondern braucht für die Mehrheit einenPartner, der wiederum seine eigenen Interes-sen beim Regieren einbringt. Die Bürger le-sen also keine Wahlprogramme und misstrau-en den Zusagen der Parteien. Gleichwohl hatdie Regierungsforschung nachgewiesen, dasskonkrete Wahlversprechen mit hoher Wahr-scheinlichkeit auch tatsächlich in der Legisla-turperiode umgesetzt werden. Gegenbeispie-le waren in den vergangenen sechzig Jahrendie Ausnahme.

Wähler spüren Unterschiede zwischen denParteiangeboten und den Spitzenkandidaten.Und das gilt sogar im aktuellen Wahlkampf,der keine polarisierenden Lager-Themen her-vorbringt. Die Unterschiede haben aber vielmehr mit Psychologie zu tun als mit den empi-rischen Kernforderungen in den Politikfel-dern. In vielen Bereichen bleiben die Wahlpro-gramme souverän unscharf, denn nur der poli-tische Dilettant formuliert glasklar. Unschärfein der Rhetorik sichert politische Optionen,die ein Politiker immer offenhalten muss, umbei stimmungsflüchtigen Mehrheiten hand-lungsfähig zu bleiben. Da mittlerweile Exper-ten die Wahlprogramme öffentlich analysie-ren und sezieren, zahlt sich auch hierfür Vag-heit in der Programmaussage aus. Selektivwerden nicht nur Teilinhalte medial vermark-tet, sondern eben auch Teilaussagen einemFaktencheck unterzogen. Da ist mystifizieren-der Sprachnebel strategisch hilfreich.

DIE NÜTZLICHE UNSCHÄRFE

Die Aura der Intransparenz sichert Macht. Un-schärfe im Wahlprogramm ist aber auch dien-lich für die Phase nach dem Wahltag, wenn kei-ne klaren Mehrheiten erkennbar sind. Das giltvor allem für Koalitionsaussagen. Keine Regie-rung wird durch einen offenen Bruch ihres Ko-alitionsversprechens ins Amt kommen. Wahr-haftigkeit ist hier wichtiger als Klarheit. Rheto-

risch haben sich die Parteien viele Auswege ge-lassen, so dass es am Ende Hierarchien derWahrheit gibt, denen sie folgen werden, umeine Mehrheit zu erreichen – vielleicht erstnach vielen Monaten des Verhandelns.

Wer es als Politiker schafft, anschaulich zubegründen, warum Aussagen vor der Wahlnicht mit denen nach der Wahl übereinstim-men, verliert keineswegs gleich die Mehrheit.Das hängt zunächst mit der Vergesslichkeitvon Wählern zusammen, die sich nur rudimen-tär an Wahlversprechen erinnern. Aber vor al-

lem können Politiker einen Politikwechsel or-ganisieren, wenn sich die Zeitläufe sichtbarverändert haben. Wichtig bleibt, dass immerein positiver und vor allem systematischer Be-zug zu den politisch-kulturellen Grundströ-mungen den Politikwechsel kommunikativund substantiell begleitet. Wer von der soge-nannten Pfadabhängigkeit bei Veränderungs-prozessen abweicht, wird abgestraft – egal, ober es zuvor angekündigt hatte oder nicht.

DER ENTSPANNTE FATALISMUS

Die Anzahl der wählerischen Wähler nimmtzu. Nutzenorientiertes Wählen löst die bin-dungsorientierte Anhängerschaft ab. Hinzukommt der Langzeittrend, dass mehr undmehr Wähler erst in der Woche vor dem Wahl-tag ihre Wahlentscheidung treffen. Spätent-scheider verändern das Gewicht der Wahl-kämpfe, die zu einem Marathonlauf mit Foto-Finish werden. Es gibt zudem einen steigen-den Nichtwähleranteil. Immer weniger ent-scheiden damit über immer mehr. Denn weni-ger Wähler verzerren die Wahlergebnisse.Wenn Bundestagswahlen wie im Jahr 2013ohne erkennbares Großthema im Klima eines„entspannten Fatalismus“ mehr ertragen alsgetragen werden, mobilisiert das keine zusätz-lichen Wähler. Wenn zudem noch unklar ist,was mit der Stimme am Ende passiert, weilsich gleich starke Lager gegenüberstehen, för-dert das auch nicht die Absicht zum Wählen.Eine Wahllotterie über Zufallsmehrheitensenkt jede Form von Begeisterung für denWahltag.

Wähler brauchen Orientierungsaussagender Parteien, um wählen zu gehen und um zuwissen, wen sie wählen sollen. Sie sind aberauch selbstkritisch. Keineswegs wollen sienach der Wahl betrogen werden. Doch ange-sichts der eigenen inneren Widersprüche desWählers, welche die Umfragen eindrucksvolldokumentieren, bleiben mögliche „Betrugs-szenarien“ eingebettet in den Strom des Resi-lienzmanagements: Das Politik- und Politiker-Bild der Deutschen ist gegenüber Störungenziemlich widerstandsfähig. Zudem wird derPolitik zwar alles zugetraut, von ihr aber im-mer weniger erwartet. Auch das senkt die Kos-ten, eigene Wahlversprechen einzuhalten.

Wahlversprechen glaubt ohnehinkeiner, richtig? Aber wer

diese Versprechen bricht, kriegtdoch Ärger, oder? Alles nicht

ganz so einfach.Von Karl-Rudolf Korte

8 DENK ICH AN DEUTSCHLAND DENK ICH AN DEUTSCHLAND 9

Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korteist Direktor der NRW School of Governancean der Universität Duisburg-Essen.

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Die Leute spürenUnterschiede zwischenden Parteiangeboten undden Spitzenkandidaten.Die Unterschiede habenaber viel mehr mitPsychologie zu tun alsmit den empirischenKernforderungen in deneinzelnen Politikfeldern.

WASPARTEIENWÄHLERNERZÄHLEN

ODER:DIESTUFEN

DERWAHRHEIT

Alles ist auf Zeit angelegt. Aber giltdas auch für Wahlversprechen?Wahlprogramme beschreiben alsVisitenkarten der Parteien zeitli-

che Projekte. Sie sind als kondensierte Wahl-versprechen Momentaufnahmen mit baldi-gem Verfallsdatum. Doch das ist nur die halbeWahrheit. Denn Wahlprogramme dienen in ih-rer über Wochen in Parteigremien ausgearbei-teten Langversion immer auch der Selbstver-ständigung. Wahlversprechen sind insofernstrategische Instrumente der Wählermobilisie-rung. Ohne Wahlprogramm ist eine Parteinicht mobilisierungsfähig. Auf was sich einePartei in einer bestimmten Phase einigt, be-schreibt die aktuellen Machtgewichte zwi-schen ihren verschiedenen Strömungen undFlügeln. So fügen die Programme für ein paarMonate das diszipliniert zusammen, was an-sonsten den innerparteilichen Alltag von Par-teien als lose verkoppelte Anarchien faktischausmacht.

Meist dienen die ausformulierten Langfas-sungen der Programme als konkrete Vorlagenfür die Koalitionsverhandlungen. Die wenigenBefunde der Wahlprogrammforschung doku-mentieren, dass angesichts der innerparteili-chen Suche nach Kompromissen die Verständ-lichkeit der Formulierungen eher in den Hin-tergrund tritt. Vielfach sind die Aussagen des-halb nicht nur vage, sondern gleichzeitig ver-klausuliert und für Außenstehende nurschwer zu verstehen. Größere Außenwirkungerfahren die Programme durch die jeweiligeKurzfassung, die eine hohe Verständlichkeitvoraussetzt, medial aufbereitet ist und zudemidealerweise mit einem Gesicht als Programm-träger verbunden werden kann.

DIE NEUEN TEILHABEMODELLE

Im Bundestagswahlkampf 2013 übertreffensich die Parteien bei der Erstellung ihrer Wahl-programme erstmals im originellen Wettbe-werb um die Beteiligung ihrer Mitglieder. Diepolitisch-kulturelle Grundstimmung von neu-en bunten, partizipativen Beteiligungsarchi-tekturen hat diesen Wahlkampf erfasst. AlleParteien haben sowohl ihren Mitgliedern wieauch den Nichtmitgliedern mehr oder wenigerkollaborative Mitwirkungsmöglichkeiten er-öffnet. Die Grünen organisierten als einzigeBundestagspartei sogar einen formellen Mit-gliederentscheid über das Wahlprogramm,auch wenn dieser Prozess, in dem über die

prioritären Themen abgestimmt wurde, derEntstehung des Bundestagswahlprogrammsnachgelagert angelegt war.

Doch Wahlprogramme bleiben, trotz neuerTeilhabemodelle, für die allermeisten Wählerunbekannt. Wählerische Wähler kennen die

Bundestagswahlprogramme genauso wenigwie die Stammwähler. Wissen ist insofernkein Hauptmotiv für die Wahlentscheidung.Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der Wäh-ler zu wissen glaubt, welche Partei die für ihnindividuell relevanten Probleme künftig amkompetentesten zu lösen vermag. Wahltagesind keine Erntedankfeste. Die Leistungsbi-lanz interessiert den Wähler nur am Rande.Stattdessen wird die Zukunft gewählt und da-mit immer auch eine Anmutung von unter-stelltem Politikmanagement.

DER GRUPPENORIENTIERTE BÜRGER

Da Politik weitestgehend medienvermitteltist, erfährt der Bürger über das Bundestags-wahljahr all das, was er liest, hört, sieht. Diewenigsten haben direkten Kontakt zu einemPolitiker oder besuchen Wahlveranstaltungenmit dem politischen Spitzenpersonal. Man istsomit auf Informationen aus zweiter Hand an-gewiesen, um sich ein Urteil zu bilden – es seidenn, man kann live mithören oder im Fernse-hen bei einer Talkrunde sogenannte O-Tönemitnehmen. Dass die interpersonale Kommu-nikation wahlentscheidend ist, weist die Wahl-forschung nach: Was wir aus medial vermittel-ter Politik in unsere persönlichen Gesprächeübernehmen, hinterlässt Spuren, die bis zumWahltag wirken. Was wir zum individuellenGesprächsthema machen, ist jedoch häufigmedial gesteuert. So erklärt sich der indirekteEinfluss der Medien auf die Entscheidungender Politik.

Wenn Wähler keine Wahlprogramme lesenund nur extrem selten einen unmittelbarenKontakt zu Politikern haben, sind sie in der Be-urteilung der Politik und der Politiker auf sichselbst gestellt und auf das medienvermittelteBild vom Wahlkampf angewiesen. Doch siesind nicht allein. Denn Bürger sind gruppen-orientiert: Wir lieben bei den Wahlen die Fa-voriten! Wir möchten gerne zu den Siegern ge-hören! Unser Einstellungssetting richtet sichan der Meinung derer aus, die uns wichtigsind! Wahlverhalten ist immer noch sozialesGruppenverhalten, wenngleich sich traditio-nelle Milieus aufgelöst und Parteihochburgeninzwischen Seltenheitscharakter haben.

Zu alldem kommt die gewachsene Erfah-rung hinzu. Die allermeisten Bürger misstrau-en den Versprechungen im Wahlkampf. Dochder Grad des Misstrauens variiert zwischenden verschiedenen Parteien. Den größten Ver-

trauensvorsprung haben dabei die Grünen.Das generelle Misstrauen hängt mit diffusenKenntnissen des Regierungssystems zusam-men. Denn Alleinregierungen sind höchst sel-ten, im Bund noch nie da gewesen – voneinigen Einzeltagen abgesehen. In einer poli-tisch-kulturellen Schlichtungsdemokratiewie der Bundesrepublik Deutschland ist esnicht ungewöhnlich, von Koalitionsregierun-gen im Regierungsalltag Kompromisse zu er-warten und zu akzeptieren. Keine Parteikann ihr Wahlprogramm vollständig umset-zen, sondern braucht für die Mehrheit einenPartner, der wiederum seine eigenen Interes-sen beim Regieren einbringt. Die Bürger le-sen also keine Wahlprogramme und misstrau-en den Zusagen der Parteien. Gleichwohl hatdie Regierungsforschung nachgewiesen, dasskonkrete Wahlversprechen mit hoher Wahr-scheinlichkeit auch tatsächlich in der Legisla-turperiode umgesetzt werden. Gegenbeispie-le waren in den vergangenen sechzig Jahrendie Ausnahme.

Wähler spüren Unterschiede zwischen denParteiangeboten und den Spitzenkandidaten.Und das gilt sogar im aktuellen Wahlkampf,der keine polarisierenden Lager-Themen her-vorbringt. Die Unterschiede haben aber vielmehr mit Psychologie zu tun als mit den empi-rischen Kernforderungen in den Politikfel-dern. In vielen Bereichen bleiben die Wahlpro-gramme souverän unscharf, denn nur der poli-tische Dilettant formuliert glasklar. Unschärfein der Rhetorik sichert politische Optionen,die ein Politiker immer offenhalten muss, umbei stimmungsflüchtigen Mehrheiten hand-lungsfähig zu bleiben. Da mittlerweile Exper-ten die Wahlprogramme öffentlich analysie-ren und sezieren, zahlt sich auch hierfür Vag-heit in der Programmaussage aus. Selektivwerden nicht nur Teilinhalte medial vermark-tet, sondern eben auch Teilaussagen einemFaktencheck unterzogen. Da ist mystifizieren-der Sprachnebel strategisch hilfreich.

DIE NÜTZLICHE UNSCHÄRFE

Die Aura der Intransparenz sichert Macht. Un-schärfe im Wahlprogramm ist aber auch dien-lich für die Phase nach dem Wahltag, wenn kei-ne klaren Mehrheiten erkennbar sind. Das giltvor allem für Koalitionsaussagen. Keine Regie-rung wird durch einen offenen Bruch ihres Ko-alitionsversprechens ins Amt kommen. Wahr-haftigkeit ist hier wichtiger als Klarheit. Rheto-

risch haben sich die Parteien viele Auswege ge-lassen, so dass es am Ende Hierarchien derWahrheit gibt, denen sie folgen werden, umeine Mehrheit zu erreichen – vielleicht erstnach vielen Monaten des Verhandelns.

Wer es als Politiker schafft, anschaulich zubegründen, warum Aussagen vor der Wahlnicht mit denen nach der Wahl übereinstim-men, verliert keineswegs gleich die Mehrheit.Das hängt zunächst mit der Vergesslichkeitvon Wählern zusammen, die sich nur rudimen-tär an Wahlversprechen erinnern. Aber vor al-

lem können Politiker einen Politikwechsel or-ganisieren, wenn sich die Zeitläufe sichtbarverändert haben. Wichtig bleibt, dass immerein positiver und vor allem systematischer Be-zug zu den politisch-kulturellen Grundströ-mungen den Politikwechsel kommunikativund substantiell begleitet. Wer von der soge-nannten Pfadabhängigkeit bei Veränderungs-prozessen abweicht, wird abgestraft – egal, ober es zuvor angekündigt hatte oder nicht.

DER ENTSPANNTE FATALISMUS

Die Anzahl der wählerischen Wähler nimmtzu. Nutzenorientiertes Wählen löst die bin-dungsorientierte Anhängerschaft ab. Hinzukommt der Langzeittrend, dass mehr undmehr Wähler erst in der Woche vor dem Wahl-tag ihre Wahlentscheidung treffen. Spätent-scheider verändern das Gewicht der Wahl-kämpfe, die zu einem Marathonlauf mit Foto-Finish werden. Es gibt zudem einen steigen-den Nichtwähleranteil. Immer weniger ent-scheiden damit über immer mehr. Denn weni-ger Wähler verzerren die Wahlergebnisse.Wenn Bundestagswahlen wie im Jahr 2013ohne erkennbares Großthema im Klima eines„entspannten Fatalismus“ mehr ertragen alsgetragen werden, mobilisiert das keine zusätz-lichen Wähler. Wenn zudem noch unklar ist,was mit der Stimme am Ende passiert, weilsich gleich starke Lager gegenüberstehen, för-dert das auch nicht die Absicht zum Wählen.Eine Wahllotterie über Zufallsmehrheitensenkt jede Form von Begeisterung für denWahltag.

Wähler brauchen Orientierungsaussagender Parteien, um wählen zu gehen und um zuwissen, wen sie wählen sollen. Sie sind aberauch selbstkritisch. Keineswegs wollen sienach der Wahl betrogen werden. Doch ange-sichts der eigenen inneren Widersprüche desWählers, welche die Umfragen eindrucksvolldokumentieren, bleiben mögliche „Betrugs-szenarien“ eingebettet in den Strom des Resi-lienzmanagements: Das Politik- und Politiker-Bild der Deutschen ist gegenüber Störungenziemlich widerstandsfähig. Zudem wird derPolitik zwar alles zugetraut, von ihr aber im-mer weniger erwartet. Auch das senkt die Kos-ten, eigene Wahlversprechen einzuhalten.

Wahlversprechen glaubt ohnehinkeiner, richtig? Aber wer

diese Versprechen bricht, kriegtdoch Ärger, oder? Alles nicht

ganz so einfach.Von Karl-Rudolf Korte

8 DENK ICH AN DEUTSCHLAND DENK ICH AN DEUTSCHLAND 9

Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korteist Direktor der NRW School of Governancean der Universität Duisburg-Essen.

Page 10: ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen Grund. Die Völker, die sich erst kürzlich von ihren autoritären Re-gimen befreien

„EINPOLITIKERDARFSICHNICHTZUSEHREX-PONIEREN“

Herr Teufel, Sie waren mal der jüngste Bür-germeister in Deutschland, Sie waren imLandtag, Sie sind Ministerpräsident a.D.,also: Sind Wahlkämpfe Zeiten unrealisti-scher Versprechungen?Ich glaube nicht, dass man damit heute nochWahlen gewinnen kann. Aber mit dem Ge-genteil, mit der Ankündigung schmerzhafterReformen, vermutlich auch nicht. Ich er-innere mich an die vorletzte Bundestags-wahl. Die CDU hatte ins Wahlprogramm hin-eingeschrieben, wir würden die Mehrwert-steuer um zwei Prozent erhöhen; diese undeinige andere Aussagen haben dazu geführt,dass wir, entgegen früheren Umfragen, amSchluss noch mit drei Mandaten Vorsprunggewonnen haben und in der Koalition mitder SPD die Mehrwertsteuer um drei Prozenterhöht haben. Man wird einen Mittelweg ge-hen müssen. Man darf, nach meinem Ver-ständnis, unter keinen Umständen etwas ver-sprechen, was man erkennbar nachher nichthalten kann. Aber man macht auch schlechteErfahrungen, wenn man die nackte Wahr-heit sagt.

Müssen sich Politiker im Wahlkampf alsoopportunistisch verhalten?Da ist etwas dran. Ich glaube, ein Politikersollte Rechenschaft geben über die letztenJahre der Verantwortung, und er sollte Per-spektiven aufzeigen, aber sich weder in dereinen noch in der anderen Richtung, überdie wir gerade diskutiert haben, zu sehrexponieren.

Ihr Nach-Nachfolger Stefan Mappus hatsich wenige Tage vor dem Wahltag, als dieKatastrophe von Fukushima eintrat, vom en-gagierten Befürworter der Kernkraft zum„Schnellabschalter“ gewandelt.Ja, aber der „Schnellabschalter“ war schondie Bundeskanzlerin. Sie wollte ein Moratori-um von drei Monaten und in dieser Zeit alleKernkraftwerke nach den neuen Erfahrun-gen überprüfen. Das habe ich für vernünftiggehalten. Aber sie hat ein paar Tage späterein halbes Dutzend Kernkraftwerke einfachabschalten lassen. Was sollte da ein Moratori-um, was sollte dann eine Überprüfung? Unddies alles ein halbes Jahr nach der Entschei-dung, die Laufzeiten von Kernkraftwerken zuverlängern. Da ist eine Glaubwürdigkeitslü-cke entstanden, die nicht leicht zu schließenist, vor allem bei Leuten, die denken können.

Ist die Schuldenbremse nicht auch eine Wahl-kampfbremse? Sie legt Politikern ein Kor-sett an, in dem sie sich nur sehr schwierig be-wegen können, auch in dem Sinne, dass siekeine großen Versprechungen mehr machenkönnen.Die Schuldenbremse bremst noch keinen Poli-tiker, weil sie bisher kein für Wahlkämpfe ent-scheidendes Thema ist. Man wird die Schul-

denbremse erst bemerken, wenn die Folgeneintreten und eintreten müssen, nämlichwenn es zu rigorosen Sparmaßnahmenkommt, die jeder Politiker vor seiner Land-tagswahl und vor der nächsten Bundestags-wahl vermeiden will.

Die Schuldenbremse ist ja eingeführt wordenals eine Art von Selbstbindung der Politik.Denn es gehört zur Alltagserfahrung, dassPolitiker immer mehr Geld ausgeben, als derStaat einnimmt. Können Sie sich vorstellen,

dass die Schuldenbremse dieses Phänomenbricht?Viele Politiker werden nach Auswegen su-chen. Es wird sich jemand leichter tun, der inseinem Land mit einer Milliarde in der Jahres-verschuldung steht, als die Regierung in ei-nem Land wie Nordrhein-Westfalen, dasschon mehrere Milliarden Schulden abzutra-gen hat. Da möchte ich mal wissen, wie diedas machen wollen.

Im Unterschied zur Nachkriegszeit, als derFinanzminister Fritz Schäffer noch Rückla-gen gebildet hat, fällt es heute sehr schwer,den Leuten Abstriche am Lebensstandard zu-zumuten oder Sozialleistungen zu kürzen.Ich glaube, dass man den Bürgern sehr wohlklarmachen kann, dass man im privaten Le-ben zwar drei Monate hintereinander dasKonto überziehen kann, aber spätestens nachdem dritten Monat überlegen muss, wie manden Ausgleich schafft. Man muss den Bür-gern sagen, dass man auf Dauer nicht überseine Verhältnisse leben kann. Und der zwei-te Grund, der wirklich überzeugend ist: Dienächste Generation wird es schwerer habenals wir heute. Denn es wird eine Generationmit einer arbeitsfähigen und steuerzahlendenBevölkerung sein, die viel schmaler ist als dieheutige. Die Jahrgänge im erwerbsfähigen Al-ter müssen ihre Kinder unterhalten und füreine ältere Generation bezahlen, die Rechts-ansprüche erworben hat, ohne dass bei derRentenversicherung dafür ausreichende Re-serven gebildet worden wären. Es muss dochjedem einleuchten, dass wir nicht auf Kostender jungen Generation leben können und de-nen zusätzlich Schulden vererben, nur weilwir über unsere Verhältnisse leben.

In absehbarer Zeit wird die Alterskohorteder Rentner viel stärker sein als die der jun-gen Wähler. Warum sollten Rentner eigent-lich gegen ihre eigenen Interessen wählen?Glauben Sie tatsächlich, dass die Rentner zu-gunsten der Jüngeren verzichten werden?Aber da geht es bei den Rentnern doch umihre Kinder und Enkelkinder, zu denen sieeine persönliche Beziehung haben. Außer-dem gehören zur Rentnergeneration vieleLeute, die noch einfacher gelebt haben, alsdas heute der Fall ist.

Die Wahl ist der Schlüsselakt des Souveräns,am Wahltag schlägt seine Stunde. In Ländern, in denen der friedliche

Machtwechsel nicht selbstverständlich ist, kann der Urnengangzu einem mutigen und stolzen Akt politischer Willensbekundung werden.

Auch anderswo ist sie ein großes Abenteuer.

DASHERZDERDEMOKRATIE

ÄGYPTEN: IST DAS EX-PERIMENT GESCHEITERT?Als im Juni 2012 die Stimm-zettel für die Präsidenten-wahl ausgezählt wurden,träumten viele Ägypter nochvon einer neuen demokrati-schen Ordnung der Freiheit.

Dafür hatten sie gekämpft.An die Spitze des Staates ge-langte der Islamist Muham-mad Mursi. Der neue Präsi-dent verstand seinen Siegallerdings als Lizenz zur Isla-misierung des Landes undnicht als Auftrag, die innere

Spaltung zu überwinden.Ein Jahr später übernahmdas Militär die Macht – unterdem Jubel jener Ägypter, dienicht wollten, dass demarabischen Frühling ein kalterislamistischer Winter folgte.Und dann ist Blut geflossen.

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Er müsste wissen, wie viel Ehr-lichkeit Kandidaten den Wählernwirklich zumuten können: ErwinTeufel, Ministerpräsident a. D.

10 DENK ICH AN DEUTSCHLAND DENK ICH AN DEUTSCHLAND 11

ZUR PERSON: ERWIN TEUFEL

Geboren 1939 in Rottweil a. N., wurde derDiplom-Verwaltungswirt Teufel 1964Bürgermeister der Stadt Spaichingen; 1972wurde er – zum ersten von insgesamt achtMalen – in den Landtag von Baden-Württem-berg gewählt. Er war Staatssekretär, späterlange Jahre Vorsitzender der CDU-Landtags-fraktion; von 1991 bis 2005 war er Minister-präsident. Mit ihm sprach F.A.Z.-HerausgeberGünther Nonnenmacher.

Page 11: ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen Grund. Die Völker, die sich erst kürzlich von ihren autoritären Re-gimen befreien

„EINPOLITIKERDARFSICHNICHTZUSEHREX-PONIEREN“

Herr Teufel, Sie waren mal der jüngste Bür-germeister in Deutschland, Sie waren imLandtag, Sie sind Ministerpräsident a.D.,also: Sind Wahlkämpfe Zeiten unrealisti-scher Versprechungen?Ich glaube nicht, dass man damit heute nochWahlen gewinnen kann. Aber mit dem Ge-genteil, mit der Ankündigung schmerzhafterReformen, vermutlich auch nicht. Ich er-innere mich an die vorletzte Bundestags-wahl. Die CDU hatte ins Wahlprogramm hin-eingeschrieben, wir würden die Mehrwert-steuer um zwei Prozent erhöhen; diese undeinige andere Aussagen haben dazu geführt,dass wir, entgegen früheren Umfragen, amSchluss noch mit drei Mandaten Vorsprunggewonnen haben und in der Koalition mitder SPD die Mehrwertsteuer um drei Prozenterhöht haben. Man wird einen Mittelweg ge-hen müssen. Man darf, nach meinem Ver-ständnis, unter keinen Umständen etwas ver-sprechen, was man erkennbar nachher nichthalten kann. Aber man macht auch schlechteErfahrungen, wenn man die nackte Wahr-heit sagt.

Müssen sich Politiker im Wahlkampf alsoopportunistisch verhalten?Da ist etwas dran. Ich glaube, ein Politikersollte Rechenschaft geben über die letztenJahre der Verantwortung, und er sollte Per-spektiven aufzeigen, aber sich weder in dereinen noch in der anderen Richtung, überdie wir gerade diskutiert haben, zu sehrexponieren.

Ihr Nach-Nachfolger Stefan Mappus hatsich wenige Tage vor dem Wahltag, als dieKatastrophe von Fukushima eintrat, vom en-gagierten Befürworter der Kernkraft zum„Schnellabschalter“ gewandelt.Ja, aber der „Schnellabschalter“ war schondie Bundeskanzlerin. Sie wollte ein Moratori-um von drei Monaten und in dieser Zeit alleKernkraftwerke nach den neuen Erfahrun-gen überprüfen. Das habe ich für vernünftiggehalten. Aber sie hat ein paar Tage späterein halbes Dutzend Kernkraftwerke einfachabschalten lassen. Was sollte da ein Moratori-um, was sollte dann eine Überprüfung? Unddies alles ein halbes Jahr nach der Entschei-dung, die Laufzeiten von Kernkraftwerken zuverlängern. Da ist eine Glaubwürdigkeitslü-cke entstanden, die nicht leicht zu schließenist, vor allem bei Leuten, die denken können.

Ist die Schuldenbremse nicht auch eine Wahl-kampfbremse? Sie legt Politikern ein Kor-sett an, in dem sie sich nur sehr schwierig be-wegen können, auch in dem Sinne, dass siekeine großen Versprechungen mehr machenkönnen.Die Schuldenbremse bremst noch keinen Poli-tiker, weil sie bisher kein für Wahlkämpfe ent-scheidendes Thema ist. Man wird die Schul-

denbremse erst bemerken, wenn die Folgeneintreten und eintreten müssen, nämlichwenn es zu rigorosen Sparmaßnahmenkommt, die jeder Politiker vor seiner Land-tagswahl und vor der nächsten Bundestags-wahl vermeiden will.

Die Schuldenbremse ist ja eingeführt wordenals eine Art von Selbstbindung der Politik.Denn es gehört zur Alltagserfahrung, dassPolitiker immer mehr Geld ausgeben, als derStaat einnimmt. Können Sie sich vorstellen,

dass die Schuldenbremse dieses Phänomenbricht?Viele Politiker werden nach Auswegen su-chen. Es wird sich jemand leichter tun, der inseinem Land mit einer Milliarde in der Jahres-verschuldung steht, als die Regierung in ei-nem Land wie Nordrhein-Westfalen, dasschon mehrere Milliarden Schulden abzutra-gen hat. Da möchte ich mal wissen, wie diedas machen wollen.

Im Unterschied zur Nachkriegszeit, als derFinanzminister Fritz Schäffer noch Rückla-gen gebildet hat, fällt es heute sehr schwer,den Leuten Abstriche am Lebensstandard zu-zumuten oder Sozialleistungen zu kürzen.Ich glaube, dass man den Bürgern sehr wohlklarmachen kann, dass man im privaten Le-ben zwar drei Monate hintereinander dasKonto überziehen kann, aber spätestens nachdem dritten Monat überlegen muss, wie manden Ausgleich schafft. Man muss den Bür-gern sagen, dass man auf Dauer nicht überseine Verhältnisse leben kann. Und der zwei-te Grund, der wirklich überzeugend ist: Dienächste Generation wird es schwerer habenals wir heute. Denn es wird eine Generationmit einer arbeitsfähigen und steuerzahlendenBevölkerung sein, die viel schmaler ist als dieheutige. Die Jahrgänge im erwerbsfähigen Al-ter müssen ihre Kinder unterhalten und füreine ältere Generation bezahlen, die Rechts-ansprüche erworben hat, ohne dass bei derRentenversicherung dafür ausreichende Re-serven gebildet worden wären. Es muss dochjedem einleuchten, dass wir nicht auf Kostender jungen Generation leben können und de-nen zusätzlich Schulden vererben, nur weilwir über unsere Verhältnisse leben.

In absehbarer Zeit wird die Alterskohorteder Rentner viel stärker sein als die der jun-gen Wähler. Warum sollten Rentner eigent-lich gegen ihre eigenen Interessen wählen?Glauben Sie tatsächlich, dass die Rentner zu-gunsten der Jüngeren verzichten werden?Aber da geht es bei den Rentnern doch umihre Kinder und Enkelkinder, zu denen sieeine persönliche Beziehung haben. Außer-dem gehören zur Rentnergeneration vieleLeute, die noch einfacher gelebt haben, alsdas heute der Fall ist.

Die Wahl ist der Schlüsselakt des Souveräns,am Wahltag schlägt seine Stunde. In Ländern, in denen der friedliche

Machtwechsel nicht selbstverständlich ist, kann der Urnengangzu einem mutigen und stolzen Akt politischer Willensbekundung werden.

Auch anderswo ist sie ein großes Abenteuer.

DASHERZDERDEMOKRATIE

ÄGYPTEN: IST DAS EX-PERIMENT GESCHEITERT?Als im Juni 2012 die Stimm-zettel für die Präsidenten-wahl ausgezählt wurden,träumten viele Ägypter nochvon einer neuen demokrati-schen Ordnung der Freiheit.

Dafür hatten sie gekämpft.An die Spitze des Staates ge-langte der Islamist Muham-mad Mursi. Der neue Präsi-dent verstand seinen Siegallerdings als Lizenz zur Isla-misierung des Landes undnicht als Auftrag, die innere

Spaltung zu überwinden.Ein Jahr später übernahmdas Militär die Macht – unterdem Jubel jener Ägypter, dienicht wollten, dass demarabischen Frühling ein kalterislamistischer Winter folgte.Und dann ist Blut geflossen.

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ZUR PERSON: ERWIN TEUFEL

Geboren 1939 in Rottweil a. N., wurde derDiplom-Verwaltungswirt Teufel 1964Bürgermeister der Stadt Spaichingen; 1972wurde er – zum ersten von insgesamt achtMalen – in den Landtag von Baden-Württem-berg gewählt. Er war Staatssekretär, späterlange Jahre Vorsitzender der CDU-Landtags-fraktion; von 1991 bis 2005 war er Minister-präsident. Mit ihm sprach F.A.Z.-HerausgeberGünther Nonnenmacher.

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KENIA: KEINE SPUR VONGLEICHGÜLTIGKEIT.In einigen westlichen Demokra-tien sind die Nichtwähler diegrößte Gruppe, und Politikerwie Wissenschaftler machensich Sorgen um die Attraktivitätdes demokratischen Modells.Als im März in Kenia ein neuerPräsident gewählt wurde, ström-ten dagegen so viele Wähler zuden Urnen wie noch nie: VonPolitikverdrossenheit undGleichgültigkeit, den Standard-motiven für die Nichtteilnahmein Europa, war in Ostafrika of-fenbar keine Spur! Lang warendie Schlangen vor den Wahlloka-len, nicht nur in den Siedlungs-gebieten der Massai, aber diewarteten besonders geduldig.Das allein verdient Anerken-nung: Bei der Wahl 2007 standder Vielvölkerstaat am Randedes Bürgerkriegs. Und der Ge-winner heute? Kein anderer alsder Sohn des StaatsgründersJomo Kenyatta, Uhuru. Dermuss sich zwar in Den Haag we-gen Verbrechen gegen dieMenschlichkeit verantworten,seine Wahl wurde dennoch fürrechtmäßig erklärt.

12 DENK ICH AN DEUTSCHLAND DENK ICH AN DEUTSCHLAND 13

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KENIA: KEINE SPUR VONGLEICHGÜLTIGKEIT.In einigen westlichen Demokra-tien sind die Nichtwähler diegrößte Gruppe, und Politikerwie Wissenschaftler machensich Sorgen um die Attraktivitätdes demokratischen Modells.Als im März in Kenia ein neuerPräsident gewählt wurde, ström-ten dagegen so viele Wähler zuden Urnen wie noch nie: VonPolitikverdrossenheit undGleichgültigkeit, den Standard-motiven für die Nichtteilnahmein Europa, war in Ostafrika of-fenbar keine Spur! Lang warendie Schlangen vor den Wahlloka-len, nicht nur in den Siedlungs-gebieten der Massai, aber diewarteten besonders geduldig.Das allein verdient Anerken-nung: Bei der Wahl 2007 standder Vielvölkerstaat am Randedes Bürgerkriegs. Und der Ge-winner heute? Kein anderer alsder Sohn des StaatsgründersJomo Kenyatta, Uhuru. Dermuss sich zwar in Den Haag we-gen Verbrechen gegen dieMenschlichkeit verantworten,seine Wahl wurde dennoch fürrechtmäßig erklärt.

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AFGHANISTAN: URNENGANG MIT TINTE UND BURKA

Millionen afghanische Frauenwählten 2004 erstmals in ihremLeben: einen Präsidenten. Im Par-lament ist ein Viertel der Size fürFrauen reserviert. In der konser-vativen Stammesgesellschaft hatdie Präsenz der Frauen im politi-schen Leben zu einem Wertewan-del beigetragen. Dennoch wollenviele Männer ihre Frauen nichtan die Urnen lassen. Immer wie-

der erscheinen Männer mit vie-len Stimmkarten in den Wahllo-kalen und wollen für die weibli-chen Familienmitglieder abstim-men. Manche Wahlleiter lassensie gewähren. Die Stimmkartender Wählerinnen sind beliebte In-strumente für Wahlbetrug, weilsie keine Fotos haben. Beliebtsind auch Wahlplakate von Kan-didatinnen: als Sammelobjekte.

WEISSRUSSLAND: KONKURRENZ UNERWÜNSCHT

Von Frankfurt dauert der Flugnach Minsk rund zwei Stunden,aber bei der Landung in der weiß-russischen Hauptstadt ist man inder Vergangenheit angekommen.Denn Weißrussland ist die letzteDiktatur Europas; dort herrschtseit 1994 Aleksandr Lukaschen-ka, der Präsident. Wer sich ihmentgegenstellt, der wird verfolgt

und landet im Gefängnis, wennihm oder ihr nicht Schlimmereszustößt. Politische Konkurrenzist unerwünscht. Wahlen sindeine Farce, sie sind weder fairnoch frei. Die Beschaulichkeitdes Landlebens maskiert den Um-stand, dass dort die Stimm-abgabe zugunsten der Opposi-tion so gut wie unmöglich ist.

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VEREINIGTE STAATEN: WERBLICKT DA NOCH DURCH?Den Zutritt zum Weißen Hausfür George W. Bush eröffneteerst das Oberste Gericht. In Flo-rida ging es im November 2000drunter und drüber; Wahlzettelwaren verschwunden oder konn-ten nicht mehr genau identifi-ziert werden. Es wurde nachge-zählt und nachgezählt, die Su-permacht, deren politische Ord-nung auf der Verfassung von1787 beruht, machte sich zumGespött der Welt. Am Endemussten die Gerichte entschei-den. Dass es auch anders, mo-derner gehe, wollte der Bundes-staat Ohio beweisen und führtedas Abstimmen per Mausklickein. Aber auch das ist nicht soeinfach. Die Entscheidung zwi-schen den Kandidaten nimmtdie Elektronik den Wählern so-wieso nicht ab.

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AFGHANISTAN: URNENGANG MIT TINTE UND BURKA

Millionen afghanische Frauenwählten 2004 erstmals in ihremLeben: einen Präsidenten. Im Par-lament ist ein Viertel der Size fürFrauen reserviert. In der konser-vativen Stammesgesellschaft hatdie Präsenz der Frauen im politi-schen Leben zu einem Wertewan-del beigetragen. Dennoch wollenviele Männer ihre Frauen nichtan die Urnen lassen. Immer wie-

der erscheinen Männer mit vie-len Stimmkarten in den Wahllo-kalen und wollen für die weibli-chen Familienmitglieder abstim-men. Manche Wahlleiter lassensie gewähren. Die Stimmkartender Wählerinnen sind beliebte In-strumente für Wahlbetrug, weilsie keine Fotos haben. Beliebtsind auch Wahlplakate von Kan-didatinnen: als Sammelobjekte.

WEISSRUSSLAND: KONKURRENZ UNERWÜNSCHT

Von Frankfurt dauert der Flugnach Minsk rund zwei Stunden,aber bei der Landung in der weiß-russischen Hauptstadt ist man inder Vergangenheit angekommen.Denn Weißrussland ist die letzteDiktatur Europas; dort herrschtseit 1994 Aleksandr Lukaschen-ka, der Präsident. Wer sich ihmentgegenstellt, der wird verfolgt

und landet im Gefängnis, wennihm oder ihr nicht Schlimmereszustößt. Politische Konkurrenzist unerwünscht. Wahlen sindeine Farce, sie sind weder fairnoch frei. Die Beschaulichkeitdes Landlebens maskiert den Um-stand, dass dort die Stimm-abgabe zugunsten der Opposi-tion so gut wie unmöglich ist.

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VEREINIGTE STAATEN: WERBLICKT DA NOCH DURCH?Den Zutritt zum Weißen Hausfür George W. Bush eröffneteerst das Oberste Gericht. In Flo-rida ging es im November 2000drunter und drüber; Wahlzettelwaren verschwunden oder konn-ten nicht mehr genau identifi-ziert werden. Es wurde nachge-zählt und nachgezählt, die Su-permacht, deren politische Ord-nung auf der Verfassung von1787 beruht, machte sich zumGespött der Welt. Am Endemussten die Gerichte entschei-den. Dass es auch anders, mo-derner gehe, wollte der Bundes-staat Ohio beweisen und führtedas Abstimmen per Mausklickein. Aber auch das ist nicht soeinfach. Die Entscheidung zwi-schen den Kandidaten nimmtdie Elektronik den Wählern so-wieso nicht ab.

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Man könnte meinen, die Deutschenverlören die Lust an der Politik.1998 gingen noch mehr als 82 Pro-zent der Wahlberechtigten zur

Bundestagswahl, bei der letzten nur nochknapp 71 Prozent. Bisher deutet wenig daraufhin, dass der bevorstehende Wahltermin beiden Bürgern auf mehr Interesse stößt als derletzte. Während vor den Wahlen 1994 bis2005 konstant über 80 Prozent der Bürgerüberzeugt waren, es stehe eine wichtige Wahlbevor, waren vor der letzten Bundestagswahl78 Prozent dieser Meinung; der Wert diesesMal: 75 Prozent. Zurzeit interessieren sich nur27 Prozent der Bürger ausgeprägt für dieWahl; weitere 52 Prozent nehmen zwar An-teil, jedoch ohne größere Emotion. Es siehtnach einer nüchternen, pragmatischen Ent-scheidung aus, nach einer Wahl ohne The-men, die den Bürgern unter die Haut gehen.

Der Langzeittrend der Wahlbeteiligungzeigt jedoch, dass wir keine kontinuierlich sin-kende Wahlbeteiligung haben. An der Wahlvon 1990, die als erste gesamtdeutsche Bundes-tagswahl eine Zäsur markierte, beteiligten sichknapp 78 Prozent der Wahlberechtigten. Bei al-len drei folgenden Wahlen lag die Wahlbeteili-gung höher, insbesondere 1998, als GerhardSchröders Wahlsieg die anderthalb Jahrzehnteregierende schwarz-gelbe Koalition beendete.Erst danach ging die Wahlbeteiligung wiederkontinuierlich zurück, zunächst nur graduell,bei der letzten Wahl fast erdrutschartig. BeiErstwählern sank die Wahlbeteiligung seit2002 von 70 auf 63 Prozent, bei 21- bis 25-Jäh-rigen sogar von 68 auf 59 Prozent.

Als wesentlicher Grund für sinkende Wahl-beteiligungen werden oft Politikmüdigkeit undParteienverdrossenheit angeführt. Diese The-se enthält meist implizit eine Schuldzuweisungan die Adresse der Parteien und idealisiert teil-weise die Motivation der Nichtwähler: Da dieParteien so wenig volksnah agierten, sich zuwenig voneinander abhöben, Strahlkraft, Cou-rage, Uneigennützigkeit und Wahrhaftigkeitzu sehr vermissen ließen, protestierten vieleBürger durch Wahlenthaltung.

Analysiert man die schon sprichwörtlich ge-wordene Parteienverdrossenheit, zeigt sich je-doch kein einheitlicher Trend. In den vergange-nen drei Jahren schwankte der Anteil der Bür-ger, die über alle im Bundestag vertretenen Par-teien enttäuscht waren, zwischen 43 und fünf-zig Prozent – bemerkenswert hohe Werte in ei-ner Legislaturperiode, nach der die Mehrheitder Regierung ein durchaus wohlwollendesZeugnis ausstellt. Gleichzeitig sind es keine sin-gulären Unmutsbekundungen. In den letztenzwei Jahrzehnten zeigte sich wiederholt dieMehrheit über alle im Bundestag vertretenenParteien enttäuscht. 1993 waren es 57 Prozent,1997 bis zu 55 Prozent, 2004 bis 65 Prozentund auch Ende 2005 61 Prozent. Die starkenSchwankungen dieser pauschalen Parteienkri-tik zeigen, dass sie sehr stark von Themen undkurzfristigen Entwicklungen getrieben wird.

Parteienverdrossenheit und Wahlbeteili-gung sind keineswegs kommunizierende Röh-ren in dem Sinne, dass die Wahlbeteiligungsinkt, wenn die Parteienverdrossenheitwächst. Vor der letzten Bundestagswahl, ander sich deutlich weniger Bürger beteiligten als2005, äußerten 31 Prozent der Bürger pauscha-

le Parteienkritik, vor der Wahl 2005 dagegenmehr als 50 Prozent.

Auch der Erklärungsansatz, dass sich dieProfile der Parteien so angleichen, dass diesein den Augen der Bürger austauschbar werdenund entsprechend Wahlen keine Alternativeneröffnen, lässt sich empirisch nur schwer unter-mauern. Zweifelsohne würde eine Exegese derWahlprogramme in vielen Punkten Überein-stimmungen belegen. Auch sind viele Kontro-versen durch eine Annäherung der Positionender Parteien abgeschwächt oder beendet wor-den – sei es in der Energiepolitik, bei der Wehr-pflicht, der rechtlichen Stellung gleichge-schlechtlicher Partnerschaften.

Trotzdem hat die große Mehrheit der Bürgerkeineswegs den Eindruck, keine klar konturier-ten Alternativen zu haben. 65 Prozent sehenzwischen den im Bundestag vertretenen Partei-en große Unterschiede, 24 Prozent empfindendie Parteien als austauschbar. In den Neunzi-gern hatten bemerkenswerterweise mehr Bür-ger das Empfinden, dass Programme und Zieleder Parteien sich nicht groß unterscheiden.

Zwar bekennen viele Bürger freimütig, dasssie über keine genauere Kenntnis der Program-me der Parteien verfügen. Gleichzeitig hat diegroße Mehrheit jedoch sehr klare Vorstellun-gen, für welche Ziele Parteien stehen, undzeichnet scharf konturierte Profile, die sichauch gravierend unterscheiden. So assoziiertdie große Mehrheit die Unionsparteien mitwirtschaftlichen Zielen wie der Förderung desWachstums und der Schaffung günstiger Rah-menbedingungen für die Wirtschaft, mit inne-rer Sicherheit, der europäischen Integrationund nach wie vor auch mit christlichen Werten– Ziele, die nur eine Minderheit mit der SPDverbindet. Diese gilt nach wie vor als Anwalt ei-nes starken Sozialstaates, von sozialer Gerech-tigkeit, Mindestlöhnen und der Vereinbarkeitvon Familie und Beruf.

Der FDP wird zugeschrieben, dass sie für un-ternehmerische Freiheit eintritt, sich gegen zuhohe Steuerbelastungen für Unternehmen undBürger wendet und sich bemüht, staatliche In-terventionen zu begrenzen. Die Grünen gelten

unverändert als Anwalt der Umwelt, der Um-steuerung auf regenerative Energien, von Ver-änderungen in der Landwirtschaft und vonVerbraucherinteressen. Die Linke, die nur inOstdeutschland stark ist, wird dort als Anwaltostdeutscher Interessen gesehen, als an egalitä-ren Zielen und dem Leitbild eines starken Staa-tes ausgerichtet. Damit haben die Bürger nacheigenem Eindruck durchaus die Wahl zwi-schen klar konturierten Alternativen.

Sie wandern auch nicht so beweglich zwi-schen diesen Alternativen hin und her, wie oftsuggeriert wird. Zwar wird der Anteil der Wäh-ler kontinuierlich kleiner, für die nur eine einzi-ge Partei in Frage kommt. In den neunziger Jah-ren wählte noch die Mehrheit immer dieselbePartei; heute liegt der Anteil der Wähler, fürdie die Entscheidung immer von vornhereinfeststand, noch bei 41 Prozent. Die Mehrheithat schon für verschiedene Parteien gestimmt.Viele wechseln jedoch zwischen benachbartenParteien des politischen Spektrums, also zwi-schen Unionsparteien und FDP oder zwischenSPD und Grünen oder SPD und Linke. Vor derletzten Wahl schwankten zwölf Prozent derWahlberechtigten zwischen den drei Parteienim linken Teil des politischen Spektrums, nursieben aber Prozent zwischen CDU und SPD.

Nach wie vor spielen auch traditionelle Bin-dungen an bestimmte Parteien eine beachtli-che Rolle. 51 Prozent der Bürger berichten,dass es in der eigenen Familie bereits seit Ge-nerationen Tradition ist, eine bestimmte Par-tei oder zumindest bestimmte politische Rich-tungen zu unterstützen. Von diesen Traditio-nen profitieren in erster Linie die Volkspartei-en: 25 Prozent der Bevölkerung ziehen die Bi-lanz, dass es in ihrer Familie traditionelle Bin-dungen an die CDU/CSU gibt, 21 Prozent be-richten von generationenübergreifenden Bin-dungen an die SPD. Von den kleineren Partei-en kann nur die Linke in Ostdeutschland aufsolche langfristigen Bindungen bauen. Die Ero-sion der Unterstützung für die SPD in der Zeitder rot-grünen Koalition und während der fol-genden großen Koalition zeigt allerdings, dasssolche stabilisierenden Faktoren teilweise au-ßer Kraft gesetzt werden, wenn eine Partei ge-gen die Erwartungen ihrer Klientel agiert odersich die wirtschaftlichen Probleme zuspitzen,wie das zwischen 2000 und 2005 der Fall war.

Sowenig Wahlenthaltung mit einer ver-meintlich kontinuierlich wachsenden Parteien-verdrossenheit erklärt werden kann, so wenigtaugt auch der Versuch, sie von einem Unbeha-gen am politischen System abzuleiten. Überdie vergangenen zehn Jahre hinweg ist die Zu-friedenheit mit der Demokratie bundesdeut-scher Prägung angestiegen. Zwar identifiziertsich nur eine Minderheit enthusiastisch mit die-sem System; die große Mehrheit ist jedoch imGroßen und Ganzen damit zufrieden, lediglichelf Prozent sind unzufrieden. Lange Zeit gab esbei der Bewertung des politischen wie des wirt-

schaftlichen Systems eine gravierende Diskre-panz zwischen West und Ost. Noch vor zehnJahren beurteilten 72 Prozent der westdeut-schen, aber nur 47 Prozent der ostdeutschenBürger das politische System positiv – heute 84Prozent der westdeutschen und 74 Prozent derostdeutschen. Es hat rund zwei Jahrzehnte ge-dauert, bis sich die weitverbreitete distanzierteHaltung zu dem übernommenen System in Ost-deutschland aufzulösen begann.

Während Parteienverdrossenheit und Sys-temkritik nur wenig zur Erklärung der niedri-gen Wahlbeteiligung taugen, spielen gesell-schaftliche Veränderungen eine erheblicheRolle. Die Gültigkeit und Allgemeinverbind-lichkeit gesellschaftlicher Normen hat sich inden letzten Jahrzehnten abgeschwächt. So wiedie Norm an Bedeutung verloren hat, dass„man“ Mitglied einer Konfessionsgemein-schaft sein sollte, ist auch die normative Kraftder Forderung, ein guter Bürger müsse sich anWahlen beteiligen, schwächer geworden. Inder modernen Gesellschaft werden Verhaltens-weisen, die früher stärker als verbindlichePflichten aufgefasst wurden, zur Option – auchdie Teilnahme an Wahlen. Zwar ist die großeMehrheit prinzipiell überzeugt, dass WählenBürgerpflicht ist. Wenn eine Entscheidungssi-tuation simuliert wird, bei der ein schönerSonntagsausflug durch den Gang ins Wahllo-

kal unterbrochen werden müsste, sind sich je-doch nur 46 Prozent sicher, dass sie den Aus-flug tatsächlich unterbrechen würden. DreißigProzent geben dagegen freimütig zu Protokoll,dass ihnen die Teilnahme an der Wahl wenigerwichtig wäre als das Freizeitvergnügen. Je jün-ger die Befragten sind, desto stärker tendierensie im Konflikt mit anderen Interessen zumWahlverzicht.

Wenn die Teilnahme an Wahlen stärker alsOption empfunden wird, gewinnt das politi-sche Interesse als Einflussfaktor an Bedeu-tung. Von den politisch interessierten Wahlbe-rechtigten sind zurzeit 83 Prozent sicher, dasssie an der Bundestagswahl teilnehmen wer-den, von den politisch Desinteressierten dage-gen nur 45 Prozent. Die Schwankungen undder Rückgang der Wahlbeteiligung gehen pri-mär auf das Konto der politisch desinteressier-ten Bevölkerungskreise, die sich deutlich weni-ger und weniger regelmäßig beteiligen. Bei ih-nen hängt die Wahlbeteiligung weitaus stärkerdavon ab, ob eine Wahl als besonders wichtigeingeschätzt wird und ob Reformen zur Debat-te stehen, die in ihre Interessen eingreifen.Dies war beispielsweise sowohl 2002 wie auch2005 der Fall.

Der Kreis politisch Desinteressierter ist inder gesamten Bevölkerung in den letzten an-derthalb Jahrzehnten nicht gewachsen, wohlaber in der jungen Generation und besondersausgeprägt bei unter 25-Jährigen aus den einfa-chen sozialen Schichten. Politisches Interesseist heute stärker altersgebunden und auch ver-mehrt eine Frage der sozialen Schicht. Dieshat nicht zuletzt mit den Veränderungen des In-formationsverhaltens zu tun. Es gibt einen en-gen Zusammenhang zwischen Printaffinitätund insbesondere der Lektüre von Tageszeitun-gen und dem politischen Interesse. Die Verän-derung des Informationsverhaltens verändertdie politische Kultur auf eine Weise, die bishernoch völlig unterschätzt wird.

DIENORMATIVEKRAFTDESSONNTAGS-AUSFLUGSDie Deutschen sind politik-und parteienverdrossen?Nicht wirklich. Ein paar über-raschende demoskopischeBefunde. Von Renate Köcher

16 DENK ICH AN DEUTSCHLAND

Prof. Dr. Renate Köcherist Geschäftsführerin des Institutsfür Demoskopie Allensbach.

DENK ICH AN DEUTSCHLAND 17

Page 17: ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen Grund. Die Völker, die sich erst kürzlich von ihren autoritären Re-gimen befreien

Man könnte meinen, die Deutschenverlören die Lust an der Politik.1998 gingen noch mehr als 82 Pro-zent der Wahlberechtigten zur

Bundestagswahl, bei der letzten nur nochknapp 71 Prozent. Bisher deutet wenig daraufhin, dass der bevorstehende Wahltermin beiden Bürgern auf mehr Interesse stößt als derletzte. Während vor den Wahlen 1994 bis2005 konstant über 80 Prozent der Bürgerüberzeugt waren, es stehe eine wichtige Wahlbevor, waren vor der letzten Bundestagswahl78 Prozent dieser Meinung; der Wert diesesMal: 75 Prozent. Zurzeit interessieren sich nur27 Prozent der Bürger ausgeprägt für dieWahl; weitere 52 Prozent nehmen zwar An-teil, jedoch ohne größere Emotion. Es siehtnach einer nüchternen, pragmatischen Ent-scheidung aus, nach einer Wahl ohne The-men, die den Bürgern unter die Haut gehen.

Der Langzeittrend der Wahlbeteiligungzeigt jedoch, dass wir keine kontinuierlich sin-kende Wahlbeteiligung haben. An der Wahlvon 1990, die als erste gesamtdeutsche Bundes-tagswahl eine Zäsur markierte, beteiligten sichknapp 78 Prozent der Wahlberechtigten. Bei al-len drei folgenden Wahlen lag die Wahlbeteili-gung höher, insbesondere 1998, als GerhardSchröders Wahlsieg die anderthalb Jahrzehnteregierende schwarz-gelbe Koalition beendete.Erst danach ging die Wahlbeteiligung wiederkontinuierlich zurück, zunächst nur graduell,bei der letzten Wahl fast erdrutschartig. BeiErstwählern sank die Wahlbeteiligung seit2002 von 70 auf 63 Prozent, bei 21- bis 25-Jäh-rigen sogar von 68 auf 59 Prozent.

Als wesentlicher Grund für sinkende Wahl-beteiligungen werden oft Politikmüdigkeit undParteienverdrossenheit angeführt. Diese The-se enthält meist implizit eine Schuldzuweisungan die Adresse der Parteien und idealisiert teil-weise die Motivation der Nichtwähler: Da dieParteien so wenig volksnah agierten, sich zuwenig voneinander abhöben, Strahlkraft, Cou-rage, Uneigennützigkeit und Wahrhaftigkeitzu sehr vermissen ließen, protestierten vieleBürger durch Wahlenthaltung.

Analysiert man die schon sprichwörtlich ge-wordene Parteienverdrossenheit, zeigt sich je-doch kein einheitlicher Trend. In den vergange-nen drei Jahren schwankte der Anteil der Bür-ger, die über alle im Bundestag vertretenen Par-teien enttäuscht waren, zwischen 43 und fünf-zig Prozent – bemerkenswert hohe Werte in ei-ner Legislaturperiode, nach der die Mehrheitder Regierung ein durchaus wohlwollendesZeugnis ausstellt. Gleichzeitig sind es keine sin-gulären Unmutsbekundungen. In den letztenzwei Jahrzehnten zeigte sich wiederholt dieMehrheit über alle im Bundestag vertretenenParteien enttäuscht. 1993 waren es 57 Prozent,1997 bis zu 55 Prozent, 2004 bis 65 Prozentund auch Ende 2005 61 Prozent. Die starkenSchwankungen dieser pauschalen Parteienkri-tik zeigen, dass sie sehr stark von Themen undkurzfristigen Entwicklungen getrieben wird.

Parteienverdrossenheit und Wahlbeteili-gung sind keineswegs kommunizierende Röh-ren in dem Sinne, dass die Wahlbeteiligungsinkt, wenn die Parteienverdrossenheitwächst. Vor der letzten Bundestagswahl, ander sich deutlich weniger Bürger beteiligten als2005, äußerten 31 Prozent der Bürger pauscha-

le Parteienkritik, vor der Wahl 2005 dagegenmehr als 50 Prozent.

Auch der Erklärungsansatz, dass sich dieProfile der Parteien so angleichen, dass diesein den Augen der Bürger austauschbar werdenund entsprechend Wahlen keine Alternativeneröffnen, lässt sich empirisch nur schwer unter-mauern. Zweifelsohne würde eine Exegese derWahlprogramme in vielen Punkten Überein-stimmungen belegen. Auch sind viele Kontro-versen durch eine Annäherung der Positionender Parteien abgeschwächt oder beendet wor-den – sei es in der Energiepolitik, bei der Wehr-pflicht, der rechtlichen Stellung gleichge-schlechtlicher Partnerschaften.

Trotzdem hat die große Mehrheit der Bürgerkeineswegs den Eindruck, keine klar konturier-ten Alternativen zu haben. 65 Prozent sehenzwischen den im Bundestag vertretenen Partei-en große Unterschiede, 24 Prozent empfindendie Parteien als austauschbar. In den Neunzi-gern hatten bemerkenswerterweise mehr Bür-ger das Empfinden, dass Programme und Zieleder Parteien sich nicht groß unterscheiden.

Zwar bekennen viele Bürger freimütig, dasssie über keine genauere Kenntnis der Program-me der Parteien verfügen. Gleichzeitig hat diegroße Mehrheit jedoch sehr klare Vorstellun-gen, für welche Ziele Parteien stehen, undzeichnet scharf konturierte Profile, die sichauch gravierend unterscheiden. So assoziiertdie große Mehrheit die Unionsparteien mitwirtschaftlichen Zielen wie der Förderung desWachstums und der Schaffung günstiger Rah-menbedingungen für die Wirtschaft, mit inne-rer Sicherheit, der europäischen Integrationund nach wie vor auch mit christlichen Werten– Ziele, die nur eine Minderheit mit der SPDverbindet. Diese gilt nach wie vor als Anwalt ei-nes starken Sozialstaates, von sozialer Gerech-tigkeit, Mindestlöhnen und der Vereinbarkeitvon Familie und Beruf.

Der FDP wird zugeschrieben, dass sie für un-ternehmerische Freiheit eintritt, sich gegen zuhohe Steuerbelastungen für Unternehmen undBürger wendet und sich bemüht, staatliche In-terventionen zu begrenzen. Die Grünen gelten

unverändert als Anwalt der Umwelt, der Um-steuerung auf regenerative Energien, von Ver-änderungen in der Landwirtschaft und vonVerbraucherinteressen. Die Linke, die nur inOstdeutschland stark ist, wird dort als Anwaltostdeutscher Interessen gesehen, als an egalitä-ren Zielen und dem Leitbild eines starken Staa-tes ausgerichtet. Damit haben die Bürger nacheigenem Eindruck durchaus die Wahl zwi-schen klar konturierten Alternativen.

Sie wandern auch nicht so beweglich zwi-schen diesen Alternativen hin und her, wie oftsuggeriert wird. Zwar wird der Anteil der Wäh-ler kontinuierlich kleiner, für die nur eine einzi-ge Partei in Frage kommt. In den neunziger Jah-ren wählte noch die Mehrheit immer dieselbePartei; heute liegt der Anteil der Wähler, fürdie die Entscheidung immer von vornhereinfeststand, noch bei 41 Prozent. Die Mehrheithat schon für verschiedene Parteien gestimmt.Viele wechseln jedoch zwischen benachbartenParteien des politischen Spektrums, also zwi-schen Unionsparteien und FDP oder zwischenSPD und Grünen oder SPD und Linke. Vor derletzten Wahl schwankten zwölf Prozent derWahlberechtigten zwischen den drei Parteienim linken Teil des politischen Spektrums, nursieben aber Prozent zwischen CDU und SPD.

Nach wie vor spielen auch traditionelle Bin-dungen an bestimmte Parteien eine beachtli-che Rolle. 51 Prozent der Bürger berichten,dass es in der eigenen Familie bereits seit Ge-nerationen Tradition ist, eine bestimmte Par-tei oder zumindest bestimmte politische Rich-tungen zu unterstützen. Von diesen Traditio-nen profitieren in erster Linie die Volkspartei-en: 25 Prozent der Bevölkerung ziehen die Bi-lanz, dass es in ihrer Familie traditionelle Bin-dungen an die CDU/CSU gibt, 21 Prozent be-richten von generationenübergreifenden Bin-dungen an die SPD. Von den kleineren Partei-en kann nur die Linke in Ostdeutschland aufsolche langfristigen Bindungen bauen. Die Ero-sion der Unterstützung für die SPD in der Zeitder rot-grünen Koalition und während der fol-genden großen Koalition zeigt allerdings, dasssolche stabilisierenden Faktoren teilweise au-ßer Kraft gesetzt werden, wenn eine Partei ge-gen die Erwartungen ihrer Klientel agiert odersich die wirtschaftlichen Probleme zuspitzen,wie das zwischen 2000 und 2005 der Fall war.

Sowenig Wahlenthaltung mit einer ver-meintlich kontinuierlich wachsenden Parteien-verdrossenheit erklärt werden kann, so wenigtaugt auch der Versuch, sie von einem Unbeha-gen am politischen System abzuleiten. Überdie vergangenen zehn Jahre hinweg ist die Zu-friedenheit mit der Demokratie bundesdeut-scher Prägung angestiegen. Zwar identifiziertsich nur eine Minderheit enthusiastisch mit die-sem System; die große Mehrheit ist jedoch imGroßen und Ganzen damit zufrieden, lediglichelf Prozent sind unzufrieden. Lange Zeit gab esbei der Bewertung des politischen wie des wirt-

schaftlichen Systems eine gravierende Diskre-panz zwischen West und Ost. Noch vor zehnJahren beurteilten 72 Prozent der westdeut-schen, aber nur 47 Prozent der ostdeutschenBürger das politische System positiv – heute 84Prozent der westdeutschen und 74 Prozent derostdeutschen. Es hat rund zwei Jahrzehnte ge-dauert, bis sich die weitverbreitete distanzierteHaltung zu dem übernommenen System in Ost-deutschland aufzulösen begann.

Während Parteienverdrossenheit und Sys-temkritik nur wenig zur Erklärung der niedri-gen Wahlbeteiligung taugen, spielen gesell-schaftliche Veränderungen eine erheblicheRolle. Die Gültigkeit und Allgemeinverbind-lichkeit gesellschaftlicher Normen hat sich inden letzten Jahrzehnten abgeschwächt. So wiedie Norm an Bedeutung verloren hat, dass„man“ Mitglied einer Konfessionsgemein-schaft sein sollte, ist auch die normative Kraftder Forderung, ein guter Bürger müsse sich anWahlen beteiligen, schwächer geworden. Inder modernen Gesellschaft werden Verhaltens-weisen, die früher stärker als verbindlichePflichten aufgefasst wurden, zur Option – auchdie Teilnahme an Wahlen. Zwar ist die großeMehrheit prinzipiell überzeugt, dass WählenBürgerpflicht ist. Wenn eine Entscheidungssi-tuation simuliert wird, bei der ein schönerSonntagsausflug durch den Gang ins Wahllo-

kal unterbrochen werden müsste, sind sich je-doch nur 46 Prozent sicher, dass sie den Aus-flug tatsächlich unterbrechen würden. DreißigProzent geben dagegen freimütig zu Protokoll,dass ihnen die Teilnahme an der Wahl wenigerwichtig wäre als das Freizeitvergnügen. Je jün-ger die Befragten sind, desto stärker tendierensie im Konflikt mit anderen Interessen zumWahlverzicht.

Wenn die Teilnahme an Wahlen stärker alsOption empfunden wird, gewinnt das politi-sche Interesse als Einflussfaktor an Bedeu-tung. Von den politisch interessierten Wahlbe-rechtigten sind zurzeit 83 Prozent sicher, dasssie an der Bundestagswahl teilnehmen wer-den, von den politisch Desinteressierten dage-gen nur 45 Prozent. Die Schwankungen undder Rückgang der Wahlbeteiligung gehen pri-mär auf das Konto der politisch desinteressier-ten Bevölkerungskreise, die sich deutlich weni-ger und weniger regelmäßig beteiligen. Bei ih-nen hängt die Wahlbeteiligung weitaus stärkerdavon ab, ob eine Wahl als besonders wichtigeingeschätzt wird und ob Reformen zur Debat-te stehen, die in ihre Interessen eingreifen.Dies war beispielsweise sowohl 2002 wie auch2005 der Fall.

Der Kreis politisch Desinteressierter ist inder gesamten Bevölkerung in den letzten an-derthalb Jahrzehnten nicht gewachsen, wohlaber in der jungen Generation und besondersausgeprägt bei unter 25-Jährigen aus den einfa-chen sozialen Schichten. Politisches Interesseist heute stärker altersgebunden und auch ver-mehrt eine Frage der sozialen Schicht. Dieshat nicht zuletzt mit den Veränderungen des In-formationsverhaltens zu tun. Es gibt einen en-gen Zusammenhang zwischen Printaffinitätund insbesondere der Lektüre von Tageszeitun-gen und dem politischen Interesse. Die Verän-derung des Informationsverhaltens verändertdie politische Kultur auf eine Weise, die bishernoch völlig unterschätzt wird.

DIENORMATIVEKRAFTDESSONNTAGS-AUSFLUGSDie Deutschen sind politik-und parteienverdrossen?Nicht wirklich. Ein paar über-raschende demoskopischeBefunde. Von Renate Köcher

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Prof. Dr. Renate Köcherist Geschäftsführerin des Institutsfür Demoskopie Allensbach.

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Page 18: ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen Grund. Die Völker, die sich erst kürzlich von ihren autoritären Re-gimen befreien

Andreas Schockenhoff ist sechsmalin den Bundestag gewählt worden.Nun tritt er zum siebten Mal an –und wird vermutlich wieder gewähltwerden. Doch diese Wahl ist anders.Von Timo Frasch

WASMUSSDERKERLINBERLINHERUM-TURNEN?

Ein heißer Tag Ende Juli, vormittagsist bekanntgeworden, dass der Euro-päische Gerichtshof für Menschen-rechte Russland gerügt hat. Es ging

um den Fall Chodorkowskij. Für so etwas ist inder CDU Andreas Schockenhoff zuständig.Der Bundestagsabgeordnete, der sich für dieRegierung um die Koordination der „deutsch-russischen zwischengesellschaftlichen Zusam-menarbeit“ kümmern soll, hat schon einen An-ruf von der ARD bekommen, er möge doch einpaar Sätze zum Straßburger Urteil sagen. Ausder Ruhe kann ihn so etwas nicht mehr brin-gen. Als die Fernsehleute zur Kaffeezeit vor sei-nem Haus in Ravensburg stehen, wechselt ernur rasch vom Poloshirt zu Hemd und Krawat-te, der Bürstenhaarschnitt sitzt sowieso.

Der ARD-Reporter will „russlandspezifi-sche Bilder“. Schockenhoff, der mit Humornormalerweise eher dosiert umgeht, sagt:„Glauben Sie, ich habe Matroschkas da?“Halb genervt, halb amüsiert setzt er sich anseinen Schreibtisch, zwei Meter hinter ihm ste-hen hohe Bücherregale, in denen sich reihen-weise Werke von Tolstoi, Dostojewskij undTschechow finden – zu weit weg für die ARD,in jeder Hinsicht. Der Reporter schlägt vor,Schockenhoff könne doch eine Zeitung mitder Chodorkowskij-Nachricht in die Kamerahalten. Schockenhoff gibt zu bedenken, dasses eine solche Zeitung heute noch gar nicht ge-ben könne. Dann solle er eben auf dem Bild-schirm eine Internetseite mit einem Artikelüber Chodorkowskij aufmachen. Macht er.Keine fünf Minuten später sind die State-ments – „politisch gelenkte Justiz“, „mangeln-de Rechtsstaatlichkeit in Russland“ und soweiter – im Kasten. Der Reporter sagt: „Kurzund schmerzlos, immer wieder gern.“

DER SCHOCK EINER NACHT

Die Leute, die öfter mit Schockenhoff zu tunhaben, wissen: Er ist vielleicht keine Granate,aber er ist ein Profi. Seit 1990 sitzt er im Bun-destag, seit 2005 ist er stellvertretender Frakti-onsvorsitzender, zuständig für die Bereiche Au-ßen, Verteidigung und Europa. Auch das wirdman nicht einfach mal so. Schockenhoff kannkenntnisreich und ausführlich über diedeutsch-französischen, die deutsch-amerikani-schen oder ebendie deutsch-russischen Bezie-hungen referieren. Zum Verdruss mancher Kol-legen tut er das bisweilen auch in der Fraktion.Wenn aber die Kamera auf ihn gerichtet ist,weiß er, was von ihm erwartet wird: kurze prä-gnante Sätze zu einem klar umrissenen Themaaus seinem Fachgebiet.

Vor zwei Jahren war das plötzlich anders, dakonnten die Reporter gar nicht genug von ihmbekommen. Am Abend des 2. Juli 2011 hattesich Schockenhoff nach dem Besuch des Kreis-musikfests nahe Ravensburg in alkoholisier-tem Zustand in sein Auto gesetzt und beim Aus-parken einen anderen Wagen leicht beschä-digt. Danach fuhr er heim, ohne sich beim Hal-ter des Wagens, den er kannte und den er an-geblich am nächsten Tag ansprechen wollte, zumelden. Unfallflucht also. Die Polizei wurdevon einem Augenzeugen benachrichtigt. Nocham selben Abend veranlasste sie eine Blutpro-be: deutlich mehr als zwei Promille. Schocken-hoff erklärte den Wert damit, dass er zu Hauseweitergetrunken habe. Trotzdem wurde fürden Tatzeitraum noch genug Alkohol errech-net, um ihm den Führerschein abzunehmen.

In der Politik spricht sich so etwas schnellherum. Es passte ja auch gut, schließlich warschon jahrelang bekannt, dass Schockenhoffzu viel trank. „Er ist nicht der Typ Mann, demman nach zwei oder drei Flaschen Wein nichtsanmerkt“, sagt einer, der ihn bei abendlichenVeranstaltungen erlebt hat. Schockenhoff istdrahtig, fast ein Hemd. Mit der Jeansgröße, dieer trägt, laufen sie anderswo über den Lauf-steg. Manchmal, wenn die Tage in Berlin stres-sig waren, habe er einfach vergessen zu essen,sagt er. Und viel Sport habe er immer gemacht,Fußball, Skifahren, Bergsteigen, auch in seinerAlkoholzeit.

Vielleicht hätte Schockenhoff noch eineWeile so weitergemacht: weitergetrunken, je-des Jahr von Aschermittwoch bis Karsamstageine Abstinenzphase eingelegt, sich darin be-stätigt gesehen, dass er aufhören könne, wenner nur wolle. Im Sommer 2011 musste Scho-ckenhoff dann aufhören wollen. Der Bogenwar überspannt, auch politisch. Er hat das ge-spürt. Ein paar Tage nach dem Bluttest, alsschon die Nachfragen von den Medien kamen,ging er über seine Heimatzeitung an die Öffent-lichkeit und sagte ohne vorherige Absprachemit Arzt oder Anwalt, dass er „alkoholkrank“sei. Er hätte auch von einem „Alkoholpro-blem“ sprechen können, das hätte dem späte-ren medizinischen Befund eher entsprochen.Aber er wollte Klarheit schaffen. Kurz daraufverabschiedete er sich für fünf Wochen in eineFachklinik für psychosomatische Krankheiten.

Äußerlich betrachtet hatte Schockenhoffbis dahin eine überdurchschnittliche Lebensbi-lanz aufzuweisen: zwei Söhne und eine Toch-ter in die Welt gesetzt, den Gipfel eines Sechs-tausenders erklommen, seinen Doktor ge-macht, als Gymnasiallehrer für Französisch

und Deutsch gearbeitet. Zweimal war er nichtin den Stadtrat von Ravensburg gekommen –aber was macht das schon, wenn man danachsechsmal hintereinander direkt in den Bundes-tag gewählt wurde und wenn man es im Be-zirksverband Württemberg-Hohenzollern zwi-schenzeitlich zum Vorsitzenden gebracht hat.Dass es für die allererste Reihe nie gereichthat – auch damit konnte Schockenhoff gut le-ben. Er ist kein übertriebener Ehrgeizling, au-ßerdem gab es immer auch Gründe, für die ernichts konnte, den Regionalproporz zum Bei-spiel. „Eigentlich hatte ich nie Anlass, michtiefer mit meinem Leben zu beschäftigen“,sagt Schockenhoff.

Vielleicht fehlte ihm auch die Ruhe dafür.Sein erster Sohn Ferdinand kam kurz vor derBundestagswahl 1990 zur Welt, Theresa, dieTochter, folgte 1991, 1994 kam Philipp, ein hal-bes Jahr später erkrankte Schockenhoffs Frauan Krebs, sieben Jahre später, nach einer lan-gen Leidensgeschichte für alle Beteiligten,starb sie, eine zweite Ehe Schockenhoffs ging2011 endgültig in die Brüche. In all der Zeitwar Schockenhoff meist in Bonn oder Berlin –zu weit weg, um ein reines Gewissen zu haben,nicht weit genug, um das Tuscheln der Leute inseinem Wahlkreis nicht zu hören: „Was mussder im Bundestag rumturnen, wo ihn die Kin-der doch so dringend zu Hause brauchen?“

Aus heutiger Sicht hatte Schockenhoff auchGlück, er weiß das. Seine Kinder sind allesamtwohlgeraten, selbständig, „tolle Persönlichkei-ten“, wie der nicht zur Übertreibung neigendeVater sagt. Die drei kommen gerne nach Hauseund untereinander gut zurecht. Manches ha-ben sie dem Vater sogar voraus: den Führer-schein zum Beispiel. Jedenfalls war das biszum 21. August so, dem Tag, an dem Schocken-hoff seine Fahrerlaubnis wiederbekam. Zuvorhatten die Kinder im Wahlkampf ab und zumal den Chauffeur für ihn gemacht.

Der Vater ist nämlich wieder im Wahl-kampf.

Nur ein paar Tage nach Verlassen der Thera-pieklinik hatte er bekanntgegeben, dass erauch diesmal für den Bundestag kandidierenwolle, und zwar nicht trotz der „Alkoholge-schichte“, wie er sie mittlerweile fast unbetei-ligt nennt, sondern auch wegen ihr. Schocken-hoffs dritte Frau, eine gebürtige Ravensburge-rin, die er seit 35 Jahren kennt, ist davon nachwie vor nicht begeistert.

Heute: Isny, eine kleine Stadt im württem-bergischen Allgäu, Verteidigungsminister Tho-mas de Maizière gibt sich die Ehre und hälteine Rede. Die für Schockenhoff entscheiden-

de Passage kommt gleich am Anfang: „Ich binheute Abend nach Isny gekommen, weil michAndreas Schockenhoff eingeladen hat. Ich be-komme viele Einladungen, und ich kann beiweitem nicht alle annehmen. Ich will Ihnenmal sagen, was Sie längst wissen: was für einenguten und tüchtigen Abgeordneten Sie in Ber-lin haben.“ De Maizière könnte das sogar ernstmeinen, er selbst hat schließlich davon profi-tiert, als ihn Schockenhoff in der Drohnenaffä-re bei „Anne Will“ verteidigte und dabei einegute Figur machte. Die nächste Passage derRede ist dann schon ein bisschen kniffliger,weil sie an eines von Schockenhoffs größerenpolitischen Problemen rührt: „Im Grundgesetzin Artikel 38 steht nicht drin, dass die Abgeord-neten möglichst viel für ihren Wahlkreis raus-holen sollen, sondern da steht, dass sie Vertre-ter des ganzen Volkes sind. Die Qualität desAbgeordneten bemisst sich also nur zum Teildanach, was er für den Wahlkreis macht, zumanderen Teil aber auch danach, was er fürDeutschland macht. Andreas Schockenhoff istein kluger Mann, mutig, durchsetzungsstark,einflussreich. Wenn Sie das von einem Bundes-minister hören, glauben Sie es vielleicht, erselbst sagt es ja nicht.“

SAULUS UND PAULUS

Schockenhoff weiß, dass viele in seinem Wahl-kreis unzufrieden sind mit dem Ausbau derStraßen und des Bahnnetzes und dass sie dasauch ihm zur Last legen: „Was muss sich derum die Zivilgesellschaft in Russland küm-mern, wo bei uns doch die Autos im Stau ste-hen?“ Wenn man allerdings in Berlin nach-fragt, dann sagt keiner, Schockenhoff setzesich nicht mit Nachdruck für den Infrastruktur-ausbau in seinem Wahlkreis ein, eher im Ge-genteil. Er kann auch Erfolge vorweisen, denBaubeginn für die B 30 Ravensburg-Süd zumBeispiel, aber eben nie genug. Deswegen ist erdazu übergegangen, den stolzen Oberschwa-ben und Allgäuern, die sich traditionell vonStuttgart und Berlin übergangen fühlen, im-mer wieder vorzubeten, dass etwa die starkenAutozulieferer in ihrem Wahlkreis an Autokon-zerne liefern, die wiederum, nur zum Beispiel,an Russland liefern, womit dann auch er, Scho-ckenhoff, ins Spiel komme, weil ein starker rus-sischer Absatzmarkt auch politische und recht-liche Rahmenbedingungen und so weiter.

Vor der Halle in Isny steht ein ulkiges Ge-fährt, ein Zwischending aus Motorroller undKastenwagen, auf dem steht: „Andreas Scho-ckenhoff. Engagiert für Sie. Daheim & unter-wegs“. Schockenhoffs Sohn Ferdinand, der ge-

rade in den Semesterferien ist, hat es von Ra-vensburg nach Isny gefahren. Der Wahl-kampfgag ist eigentlich nur dadurch zu erklä-ren, dass der Sieg Schockenhoffs bei der Bun-destagswahl schon so gut wie feststeht. Ver-kehrsprobleme hin, Verkehrsprobleme her –der Region geht es gut, die SPD macht dortschon länger keinen Stich mehr, und die Be-werberin der Grünen trägt zu wenig Kretsch-mann in sich, um Schockenhoff gefährlichwerden zu können. Die eigentliche Hürde fürihn war jedenfalls die CDU-interne Nominie-rung. Schockenhoff galt nach der Alkohol-beichte als angezählt und sah sich im Juli2012 gleich fünf CDU-Mitbewerbern gegen-über, die selbst für die parteiinterne Ausein-andersetzung zum Teil weit mehr aufbotenals nur ein niedliches Wahlkampfmobil. Wie-der ging es um die Straßen und den Abgeord-neten, der angeblich zu viel in Berlin und inder Weltgeschichte herumschwirrt. Aberauch der Alkohol war ein Thema. Nicht unbe-dingt direkt, sondern wie man das eben somacht. Schockenhoff hat sich trotzdem durch-gesetzt, in der Stichwahl mit 58 Prozent ge-gen einen Land- und Gastwirt.

Auch an diesem siegreichen Tag hat Scho-ckenhoff keinen Alkohol getrunken. Nie mehrhat er das getan seit jenem Schock im Juli2011, sagt er. Wenn es anders wäre, fügt er hin-zu, hätten das die Haarproben gezeigt, die erzur Bestätigung seiner Fahrtauglichkeit nochein weiteres Jahr in der Berliner Charité abge-ben muss. Oder die Boulevardjournalisten hät-ten darüber geschrieben. Schließlich telefonie-ren sie nach wie vor regelmäßig die Abgeordne-ten ab, um zu erfahren, ob Schockenhoff viel-leicht nicht doch rückfällig geworden ist.

Auch Politik sei eine Sucht, sagen viele.Schon deshalb seien Politiker auch für andereDrogen anfällig. Schockenhoff hat sich dage-gen stets verwahrt. Bei Jauch in der Talkshowhat er gesagt: „Alkoholkrankheit ist nicht dieStaublunge der Politiker.“ Auch die Anfragenvon Selbsthilfegruppen hat er abgelehnt. „Ichwill nicht als Saulus-Paulus-Beispiel auftre-ten.“ Ein Paulus reicht ihm schon, der Apostelnämlich, der in seinem 1. Brief an die Thessalo-nicher schreibt: „Prüft aber alles, und das Gutebehaltet.“ Schockenhoff hält das für die besteDefinition des Konservatismus. Es passt aberauch sonst ganz gut.

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18 DENK ICH AN DEUTSCHLAND DENK ICH AN DEUTSCHLAND 19

Timo Fraschist politischer Redakteur bei der FrankfurterAllgemeinen Sonntagszeitung.

Page 19: ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen Grund. Die Völker, die sich erst kürzlich von ihren autoritären Re-gimen befreien

Andreas Schockenhoff ist sechsmalin den Bundestag gewählt worden.Nun tritt er zum siebten Mal an –und wird vermutlich wieder gewähltwerden. Doch diese Wahl ist anders.Von Timo Frasch

WASMUSSDERKERLINBERLINHERUM-TURNEN?

Ein heißer Tag Ende Juli, vormittagsist bekanntgeworden, dass der Euro-päische Gerichtshof für Menschen-rechte Russland gerügt hat. Es ging

um den Fall Chodorkowskij. Für so etwas ist inder CDU Andreas Schockenhoff zuständig.Der Bundestagsabgeordnete, der sich für dieRegierung um die Koordination der „deutsch-russischen zwischengesellschaftlichen Zusam-menarbeit“ kümmern soll, hat schon einen An-ruf von der ARD bekommen, er möge doch einpaar Sätze zum Straßburger Urteil sagen. Ausder Ruhe kann ihn so etwas nicht mehr brin-gen. Als die Fernsehleute zur Kaffeezeit vor sei-nem Haus in Ravensburg stehen, wechselt ernur rasch vom Poloshirt zu Hemd und Krawat-te, der Bürstenhaarschnitt sitzt sowieso.

Der ARD-Reporter will „russlandspezifi-sche Bilder“. Schockenhoff, der mit Humornormalerweise eher dosiert umgeht, sagt:„Glauben Sie, ich habe Matroschkas da?“Halb genervt, halb amüsiert setzt er sich anseinen Schreibtisch, zwei Meter hinter ihm ste-hen hohe Bücherregale, in denen sich reihen-weise Werke von Tolstoi, Dostojewskij undTschechow finden – zu weit weg für die ARD,in jeder Hinsicht. Der Reporter schlägt vor,Schockenhoff könne doch eine Zeitung mitder Chodorkowskij-Nachricht in die Kamerahalten. Schockenhoff gibt zu bedenken, dasses eine solche Zeitung heute noch gar nicht ge-ben könne. Dann solle er eben auf dem Bild-schirm eine Internetseite mit einem Artikelüber Chodorkowskij aufmachen. Macht er.Keine fünf Minuten später sind die State-ments – „politisch gelenkte Justiz“, „mangeln-de Rechtsstaatlichkeit in Russland“ und soweiter – im Kasten. Der Reporter sagt: „Kurzund schmerzlos, immer wieder gern.“

DER SCHOCK EINER NACHT

Die Leute, die öfter mit Schockenhoff zu tunhaben, wissen: Er ist vielleicht keine Granate,aber er ist ein Profi. Seit 1990 sitzt er im Bun-destag, seit 2005 ist er stellvertretender Frakti-onsvorsitzender, zuständig für die Bereiche Au-ßen, Verteidigung und Europa. Auch das wirdman nicht einfach mal so. Schockenhoff kannkenntnisreich und ausführlich über diedeutsch-französischen, die deutsch-amerikani-schen oder ebendie deutsch-russischen Bezie-hungen referieren. Zum Verdruss mancher Kol-legen tut er das bisweilen auch in der Fraktion.Wenn aber die Kamera auf ihn gerichtet ist,weiß er, was von ihm erwartet wird: kurze prä-gnante Sätze zu einem klar umrissenen Themaaus seinem Fachgebiet.

Vor zwei Jahren war das plötzlich anders, dakonnten die Reporter gar nicht genug von ihmbekommen. Am Abend des 2. Juli 2011 hattesich Schockenhoff nach dem Besuch des Kreis-musikfests nahe Ravensburg in alkoholisier-tem Zustand in sein Auto gesetzt und beim Aus-parken einen anderen Wagen leicht beschä-digt. Danach fuhr er heim, ohne sich beim Hal-ter des Wagens, den er kannte und den er an-geblich am nächsten Tag ansprechen wollte, zumelden. Unfallflucht also. Die Polizei wurdevon einem Augenzeugen benachrichtigt. Nocham selben Abend veranlasste sie eine Blutpro-be: deutlich mehr als zwei Promille. Schocken-hoff erklärte den Wert damit, dass er zu Hauseweitergetrunken habe. Trotzdem wurde fürden Tatzeitraum noch genug Alkohol errech-net, um ihm den Führerschein abzunehmen.

In der Politik spricht sich so etwas schnellherum. Es passte ja auch gut, schließlich warschon jahrelang bekannt, dass Schockenhoffzu viel trank. „Er ist nicht der Typ Mann, demman nach zwei oder drei Flaschen Wein nichtsanmerkt“, sagt einer, der ihn bei abendlichenVeranstaltungen erlebt hat. Schockenhoff istdrahtig, fast ein Hemd. Mit der Jeansgröße, dieer trägt, laufen sie anderswo über den Lauf-steg. Manchmal, wenn die Tage in Berlin stres-sig waren, habe er einfach vergessen zu essen,sagt er. Und viel Sport habe er immer gemacht,Fußball, Skifahren, Bergsteigen, auch in seinerAlkoholzeit.

Vielleicht hätte Schockenhoff noch eineWeile so weitergemacht: weitergetrunken, je-des Jahr von Aschermittwoch bis Karsamstageine Abstinenzphase eingelegt, sich darin be-stätigt gesehen, dass er aufhören könne, wenner nur wolle. Im Sommer 2011 musste Scho-ckenhoff dann aufhören wollen. Der Bogenwar überspannt, auch politisch. Er hat das ge-spürt. Ein paar Tage nach dem Bluttest, alsschon die Nachfragen von den Medien kamen,ging er über seine Heimatzeitung an die Öffent-lichkeit und sagte ohne vorherige Absprachemit Arzt oder Anwalt, dass er „alkoholkrank“sei. Er hätte auch von einem „Alkoholpro-blem“ sprechen können, das hätte dem späte-ren medizinischen Befund eher entsprochen.Aber er wollte Klarheit schaffen. Kurz daraufverabschiedete er sich für fünf Wochen in eineFachklinik für psychosomatische Krankheiten.

Äußerlich betrachtet hatte Schockenhoffbis dahin eine überdurchschnittliche Lebensbi-lanz aufzuweisen: zwei Söhne und eine Toch-ter in die Welt gesetzt, den Gipfel eines Sechs-tausenders erklommen, seinen Doktor ge-macht, als Gymnasiallehrer für Französisch

und Deutsch gearbeitet. Zweimal war er nichtin den Stadtrat von Ravensburg gekommen –aber was macht das schon, wenn man danachsechsmal hintereinander direkt in den Bundes-tag gewählt wurde und wenn man es im Be-zirksverband Württemberg-Hohenzollern zwi-schenzeitlich zum Vorsitzenden gebracht hat.Dass es für die allererste Reihe nie gereichthat – auch damit konnte Schockenhoff gut le-ben. Er ist kein übertriebener Ehrgeizling, au-ßerdem gab es immer auch Gründe, für die ernichts konnte, den Regionalproporz zum Bei-spiel. „Eigentlich hatte ich nie Anlass, michtiefer mit meinem Leben zu beschäftigen“,sagt Schockenhoff.

Vielleicht fehlte ihm auch die Ruhe dafür.Sein erster Sohn Ferdinand kam kurz vor derBundestagswahl 1990 zur Welt, Theresa, dieTochter, folgte 1991, 1994 kam Philipp, ein hal-bes Jahr später erkrankte Schockenhoffs Frauan Krebs, sieben Jahre später, nach einer lan-gen Leidensgeschichte für alle Beteiligten,starb sie, eine zweite Ehe Schockenhoffs ging2011 endgültig in die Brüche. In all der Zeitwar Schockenhoff meist in Bonn oder Berlin –zu weit weg, um ein reines Gewissen zu haben,nicht weit genug, um das Tuscheln der Leute inseinem Wahlkreis nicht zu hören: „Was mussder im Bundestag rumturnen, wo ihn die Kin-der doch so dringend zu Hause brauchen?“

Aus heutiger Sicht hatte Schockenhoff auchGlück, er weiß das. Seine Kinder sind allesamtwohlgeraten, selbständig, „tolle Persönlichkei-ten“, wie der nicht zur Übertreibung neigendeVater sagt. Die drei kommen gerne nach Hauseund untereinander gut zurecht. Manches ha-ben sie dem Vater sogar voraus: den Führer-schein zum Beispiel. Jedenfalls war das biszum 21. August so, dem Tag, an dem Schocken-hoff seine Fahrerlaubnis wiederbekam. Zuvorhatten die Kinder im Wahlkampf ab und zumal den Chauffeur für ihn gemacht.

Der Vater ist nämlich wieder im Wahl-kampf.

Nur ein paar Tage nach Verlassen der Thera-pieklinik hatte er bekanntgegeben, dass erauch diesmal für den Bundestag kandidierenwolle, und zwar nicht trotz der „Alkoholge-schichte“, wie er sie mittlerweile fast unbetei-ligt nennt, sondern auch wegen ihr. Schocken-hoffs dritte Frau, eine gebürtige Ravensburge-rin, die er seit 35 Jahren kennt, ist davon nachwie vor nicht begeistert.

Heute: Isny, eine kleine Stadt im württem-bergischen Allgäu, Verteidigungsminister Tho-mas de Maizière gibt sich die Ehre und hälteine Rede. Die für Schockenhoff entscheiden-

de Passage kommt gleich am Anfang: „Ich binheute Abend nach Isny gekommen, weil michAndreas Schockenhoff eingeladen hat. Ich be-komme viele Einladungen, und ich kann beiweitem nicht alle annehmen. Ich will Ihnenmal sagen, was Sie längst wissen: was für einenguten und tüchtigen Abgeordneten Sie in Ber-lin haben.“ De Maizière könnte das sogar ernstmeinen, er selbst hat schließlich davon profi-tiert, als ihn Schockenhoff in der Drohnenaffä-re bei „Anne Will“ verteidigte und dabei einegute Figur machte. Die nächste Passage derRede ist dann schon ein bisschen kniffliger,weil sie an eines von Schockenhoffs größerenpolitischen Problemen rührt: „Im Grundgesetzin Artikel 38 steht nicht drin, dass die Abgeord-neten möglichst viel für ihren Wahlkreis raus-holen sollen, sondern da steht, dass sie Vertre-ter des ganzen Volkes sind. Die Qualität desAbgeordneten bemisst sich also nur zum Teildanach, was er für den Wahlkreis macht, zumanderen Teil aber auch danach, was er fürDeutschland macht. Andreas Schockenhoff istein kluger Mann, mutig, durchsetzungsstark,einflussreich. Wenn Sie das von einem Bundes-minister hören, glauben Sie es vielleicht, erselbst sagt es ja nicht.“

SAULUS UND PAULUS

Schockenhoff weiß, dass viele in seinem Wahl-kreis unzufrieden sind mit dem Ausbau derStraßen und des Bahnnetzes und dass sie dasauch ihm zur Last legen: „Was muss sich derum die Zivilgesellschaft in Russland küm-mern, wo bei uns doch die Autos im Stau ste-hen?“ Wenn man allerdings in Berlin nach-fragt, dann sagt keiner, Schockenhoff setzesich nicht mit Nachdruck für den Infrastruktur-ausbau in seinem Wahlkreis ein, eher im Ge-genteil. Er kann auch Erfolge vorweisen, denBaubeginn für die B 30 Ravensburg-Süd zumBeispiel, aber eben nie genug. Deswegen ist erdazu übergegangen, den stolzen Oberschwa-ben und Allgäuern, die sich traditionell vonStuttgart und Berlin übergangen fühlen, im-mer wieder vorzubeten, dass etwa die starkenAutozulieferer in ihrem Wahlkreis an Autokon-zerne liefern, die wiederum, nur zum Beispiel,an Russland liefern, womit dann auch er, Scho-ckenhoff, ins Spiel komme, weil ein starker rus-sischer Absatzmarkt auch politische und recht-liche Rahmenbedingungen und so weiter.

Vor der Halle in Isny steht ein ulkiges Ge-fährt, ein Zwischending aus Motorroller undKastenwagen, auf dem steht: „Andreas Scho-ckenhoff. Engagiert für Sie. Daheim & unter-wegs“. Schockenhoffs Sohn Ferdinand, der ge-

rade in den Semesterferien ist, hat es von Ra-vensburg nach Isny gefahren. Der Wahl-kampfgag ist eigentlich nur dadurch zu erklä-ren, dass der Sieg Schockenhoffs bei der Bun-destagswahl schon so gut wie feststeht. Ver-kehrsprobleme hin, Verkehrsprobleme her –der Region geht es gut, die SPD macht dortschon länger keinen Stich mehr, und die Be-werberin der Grünen trägt zu wenig Kretsch-mann in sich, um Schockenhoff gefährlichwerden zu können. Die eigentliche Hürde fürihn war jedenfalls die CDU-interne Nominie-rung. Schockenhoff galt nach der Alkohol-beichte als angezählt und sah sich im Juli2012 gleich fünf CDU-Mitbewerbern gegen-über, die selbst für die parteiinterne Ausein-andersetzung zum Teil weit mehr aufbotenals nur ein niedliches Wahlkampfmobil. Wie-der ging es um die Straßen und den Abgeord-neten, der angeblich zu viel in Berlin und inder Weltgeschichte herumschwirrt. Aberauch der Alkohol war ein Thema. Nicht unbe-dingt direkt, sondern wie man das eben somacht. Schockenhoff hat sich trotzdem durch-gesetzt, in der Stichwahl mit 58 Prozent ge-gen einen Land- und Gastwirt.

Auch an diesem siegreichen Tag hat Scho-ckenhoff keinen Alkohol getrunken. Nie mehrhat er das getan seit jenem Schock im Juli2011, sagt er. Wenn es anders wäre, fügt er hin-zu, hätten das die Haarproben gezeigt, die erzur Bestätigung seiner Fahrtauglichkeit nochein weiteres Jahr in der Berliner Charité abge-ben muss. Oder die Boulevardjournalisten hät-ten darüber geschrieben. Schließlich telefonie-ren sie nach wie vor regelmäßig die Abgeordne-ten ab, um zu erfahren, ob Schockenhoff viel-leicht nicht doch rückfällig geworden ist.

Auch Politik sei eine Sucht, sagen viele.Schon deshalb seien Politiker auch für andereDrogen anfällig. Schockenhoff hat sich dage-gen stets verwahrt. Bei Jauch in der Talkshowhat er gesagt: „Alkoholkrankheit ist nicht dieStaublunge der Politiker.“ Auch die Anfragenvon Selbsthilfegruppen hat er abgelehnt. „Ichwill nicht als Saulus-Paulus-Beispiel auftre-ten.“ Ein Paulus reicht ihm schon, der Apostelnämlich, der in seinem 1. Brief an die Thessalo-nicher schreibt: „Prüft aber alles, und das Gutebehaltet.“ Schockenhoff hält das für die besteDefinition des Konservatismus. Es passt aberauch sonst ganz gut.

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18 DENK ICH AN DEUTSCHLAND DENK ICH AN DEUTSCHLAND 19

Timo Fraschist politischer Redakteur bei der FrankfurterAllgemeinen Sonntagszeitung.

Page 20: ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen Grund. Die Völker, die sich erst kürzlich von ihren autoritären Re-gimen befreien

Günter Bannasist Leiter der F.A.Z.-Politikredaktion Berlin.

EUCH HAB’ICH’S GEZEIGTAbgerechnet wird zum Schluss: am Wahlabend. Dann grinsen die Sieger,und die Verlierer tun so, als sei nichts gewesen. Oder sie gehen ins Fernsehenund zocken. Die Geschichte eines Auftritts. Von Günter Bannas

Ich meine, wir müssen die Kirche dochmal im Dorf lassen.“ Es ist der 18. Sep-tember 2005, die Wahllokale sind längstgeschlossen, und in der „Berliner Runde“

läuft Gerhard Schröders größter Fernsehauf-tritt. „Da müssen Sie, Frau Merkel, mal sagen,ob Sie sich vorstellen können, mit einer Koaliti-on zu regieren, die besteht aus Herrn Wester-welle und dem Nachfolger von Herrn Fischer.Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.“ DerKanzler poltert. Dem Moderator, weil der inder Anrede dauernd noch von dem staatsmän-nischen „Herr Bundeskanzler“ ins schlichte„Herr Schröder“ wechselt, ruft der Kanzler daslegendäre „Sie können auch Otto zu mir sa-gen“ zu. Im Willy-Brandt-Haus sitzen sie imobersten Stock im Eckzimmer des Vorsitzen-

den – Franz Müntefering, seine Frau Ankepe-tra, Schröders Frau Doris, Mitarbeiter der bei-den SPD-Gewaltigen und natürlich Kajo Was-serhövel, der Wahlkampfleiter. Sie schauenSchröder zu. Ihre Stimmung schwankt zwi-schen skeptischem „Oh je, was macht der Gerddenn da“ und begeistertem „Vorwärts, Gerd“.

Ein Wahlabend, wie er im Buche steht.Tage zuvor noch Depressionen in der SPD; diePartei im Keller; die Kanzlerschaft verloren.An das Wunder von 2002, als Schröders Geg-ner Edmund Stoiber in München als Sieger insFlugzeug stieg und als Verlierer in Berlin lan-dete, glaubten sie nicht mehr. Doch dann:20 000 Leute am Römer in Frankfurt zweiTage vor der Wahl, Schröder heiser, nachmehr als hundert Auftritten. Rückfahrt. EinDemoskop meldet sich: Immer besser würdendie Zahlen und Prognosen.

Sonntags dann, mittags, sitzen im Kanzler-amt die Vertrauten beisammen. Schröder,Peer Steinbrück, Otto Schily, natürlich Frank-Walter Steinmeier, der Chef des Kanzleram-tes. Heiko Geue, Steinmeiers Büroleiter,steckt ihnen einen Zettel zu. Die Institute sa-gen steigende Werte für die SPD voraus. Stein-brück, der im Mai Nordrhein-Westfalen verlo-ren hat, jetzt aber für neue Aufgaben vorgese-hen ist, zeigt sich begeistert: Geue soll raus-gehen und dann mit noch besseren Zahlenwieder reinkommen.

Schröder fährt hinüber in die Parteizentra-le. Es ist nicht mehr so wie früher zu Aden-auers Zeiten, als die Polit-Junkies bis zumMorgen Wahlkreisergebnis für Wahlkreis-ergebnis auf einen Trend hin untersuchten. Esist auch nicht mehr so wie zu Schmidts undKohls Zeiten, als erst die Hochrechnungenvon 18.30 Uhr an Auskünfte über das Ergeb-nis brachten. Die Prognosen, veröffentlichtmit der Schließung der Wahllokale, internaber Stunden früher bekannt, sind das Maß al-ler Dinge.

Gegen 17 Uhr sind die Werte valide. CDU –schlechter als gedacht, aber vorn. SPD – bes-ser als befürchtet, aber auf Platz zwei. Schrö-der und Müntefering reden über den fälligenFernsehauftritt. Der Kanzler wendet sich anseinen Vorsitzenden. Schröder: „Franz, dugehst ins Fernsehen.“ Müntefering: „Nein,Kanzler, du musst.“ Schröder bleibt hart – vor-erst. Müntefering geht hinunter ins Atriumdes Willy-Brandt-Hauses. „Das Land wirdGerhard Schröder als Bundeskanzler haben.“Jubel. Wein und Bier und etwas zu essen, wiees so ist auf den Wahlpartys. Zigarettenqualm,damals noch. Zehn Punkte seien im Wahl-kampf wettgemacht worden, von 24 auf 34.„Die Menschen haben Vertrauen zu GerhardSchröder. Sie haben kein Vertrauen zu FrauMerkel.“ Kurze Sätze, das lieben Müntefe-rings Sozialdemokraten. Nochmals fährt derVorsitzende hinauf ins Eckzimmer.

Im Fernsehen wird von einem neuen Trendgesprochen: Überhangmandate für die SPD,wie 2002. Schröder wechselt die Meinung.

Fernsehauftritt? „Das muss ich jetzt machen.“Müntefering findet es, natürlich, richtig. Was-ser und Tee haben sie getrunken, kein Bier undkeinen Wein und keinen Sekt. Unten im Atri-um sind die Leute immer noch begeistert.Schröder kommt. „Gerhard, Gerhard.“ DerMeister reckt die Daumen, wie immer in denvergangenen Monaten. „Ich bin stolz auf dieMenschen im Land.“ Einen Führungsan-spruch der Union, gar Angela Merkels? „Daswird es nicht geben.“ Müntefering steht und

strahlt. Alles könnte geklappt haben – zu guterLetzt. Das Vorziehen der Bundestagswahl, we-gen NRW. Der Wahlkampf, obwohl der dochunter dem Mangel litt, eine Koalition fortzuset-zen, die man soeben beendet hatte. „Ich fühlemich bestätigt, dass es auch in Zukunft einestarke Regierung unter meiner Führung gebenwird“, brüllt der Kanzler. Das wollen die Leutehören. Er schimpft auf die „Macht der ver-machteten Medien“. Der Wahlkampf ist nichtbeendet. „Beugt euch nicht dem Machtan-

spruch der anderen Seite.“ Jubel. „Beugt euchnicht.“ In der Pose „Euch hab’ ich’s gezeigt“geht der Kanzler an den Journalisten vorbei.Ab ins Fernsehen. „Meinen Sie im Ernst, dassmeine Partei auf ein Gesprächsangebot vonFrau Merkel bei dieser Sachlage einginge?“Der Rest der Runde guckt konsterniert.

Im Willy-Brandt-Haus feiern sie weiter.Nur Doris, SchröderS Frau, findet den Auftritt„suboptimal“, weil nicht staatsmännisch. Ver-suche, seinen Auftritt zu erklären, wenn

schon kein Alkohol im Spiel gewesen sei:Adrenalin, natürlich. Und Endorphine, wievon Drogenexperten körpereigene Glückshor-mone genannt werden. Zwei Tage später. Zi-garre. Bela Anda, sein Sprecher, ist auch da-bei. Ob sein Auftritt geschadet habe? „Weißich nicht.“ Er habe so sein müssen. „Sach mal,Bela, was sind eigentlich Endorphine?“

Beugt euch nicht dem Machtanspruch der anderen Seite: Merkel und Schröder beim Händedruck. Foto Action Press

Suboptimal: So sahen Millionen Bürgerdie Kandidaten in der „Berliner Runde“ deröffentlich-rechtlichen Sender. Foto Saba Laudanna

20 DENK ICH AN DEUTSCHLAND DENK ICH AN DEUTSCHLAND 21

Page 21: ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen Grund. Die Völker, die sich erst kürzlich von ihren autoritären Re-gimen befreien

Günter Bannasist Leiter der F.A.Z.-Politikredaktion Berlin.

EUCH HAB’ICH’S GEZEIGTAbgerechnet wird zum Schluss: am Wahlabend. Dann grinsen die Sieger,und die Verlierer tun so, als sei nichts gewesen. Oder sie gehen ins Fernsehenund zocken. Die Geschichte eines Auftritts. Von Günter Bannas

Ich meine, wir müssen die Kirche dochmal im Dorf lassen.“ Es ist der 18. Sep-tember 2005, die Wahllokale sind längstgeschlossen, und in der „Berliner Runde“

läuft Gerhard Schröders größter Fernsehauf-tritt. „Da müssen Sie, Frau Merkel, mal sagen,ob Sie sich vorstellen können, mit einer Koaliti-on zu regieren, die besteht aus Herrn Wester-welle und dem Nachfolger von Herrn Fischer.Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.“ DerKanzler poltert. Dem Moderator, weil der inder Anrede dauernd noch von dem staatsmän-nischen „Herr Bundeskanzler“ ins schlichte„Herr Schröder“ wechselt, ruft der Kanzler daslegendäre „Sie können auch Otto zu mir sa-gen“ zu. Im Willy-Brandt-Haus sitzen sie imobersten Stock im Eckzimmer des Vorsitzen-

den – Franz Müntefering, seine Frau Ankepe-tra, Schröders Frau Doris, Mitarbeiter der bei-den SPD-Gewaltigen und natürlich Kajo Was-serhövel, der Wahlkampfleiter. Sie schauenSchröder zu. Ihre Stimmung schwankt zwi-schen skeptischem „Oh je, was macht der Gerddenn da“ und begeistertem „Vorwärts, Gerd“.

Ein Wahlabend, wie er im Buche steht.Tage zuvor noch Depressionen in der SPD; diePartei im Keller; die Kanzlerschaft verloren.An das Wunder von 2002, als Schröders Geg-ner Edmund Stoiber in München als Sieger insFlugzeug stieg und als Verlierer in Berlin lan-dete, glaubten sie nicht mehr. Doch dann:20 000 Leute am Römer in Frankfurt zweiTage vor der Wahl, Schröder heiser, nachmehr als hundert Auftritten. Rückfahrt. EinDemoskop meldet sich: Immer besser würdendie Zahlen und Prognosen.

Sonntags dann, mittags, sitzen im Kanzler-amt die Vertrauten beisammen. Schröder,Peer Steinbrück, Otto Schily, natürlich Frank-Walter Steinmeier, der Chef des Kanzleram-tes. Heiko Geue, Steinmeiers Büroleiter,steckt ihnen einen Zettel zu. Die Institute sa-gen steigende Werte für die SPD voraus. Stein-brück, der im Mai Nordrhein-Westfalen verlo-ren hat, jetzt aber für neue Aufgaben vorgese-hen ist, zeigt sich begeistert: Geue soll raus-gehen und dann mit noch besseren Zahlenwieder reinkommen.

Schröder fährt hinüber in die Parteizentra-le. Es ist nicht mehr so wie früher zu Aden-auers Zeiten, als die Polit-Junkies bis zumMorgen Wahlkreisergebnis für Wahlkreis-ergebnis auf einen Trend hin untersuchten. Esist auch nicht mehr so wie zu Schmidts undKohls Zeiten, als erst die Hochrechnungenvon 18.30 Uhr an Auskünfte über das Ergeb-nis brachten. Die Prognosen, veröffentlichtmit der Schließung der Wahllokale, internaber Stunden früher bekannt, sind das Maß al-ler Dinge.

Gegen 17 Uhr sind die Werte valide. CDU –schlechter als gedacht, aber vorn. SPD – bes-ser als befürchtet, aber auf Platz zwei. Schrö-der und Müntefering reden über den fälligenFernsehauftritt. Der Kanzler wendet sich anseinen Vorsitzenden. Schröder: „Franz, dugehst ins Fernsehen.“ Müntefering: „Nein,Kanzler, du musst.“ Schröder bleibt hart – vor-erst. Müntefering geht hinunter ins Atriumdes Willy-Brandt-Hauses. „Das Land wirdGerhard Schröder als Bundeskanzler haben.“Jubel. Wein und Bier und etwas zu essen, wiees so ist auf den Wahlpartys. Zigarettenqualm,damals noch. Zehn Punkte seien im Wahl-kampf wettgemacht worden, von 24 auf 34.„Die Menschen haben Vertrauen zu GerhardSchröder. Sie haben kein Vertrauen zu FrauMerkel.“ Kurze Sätze, das lieben Müntefe-rings Sozialdemokraten. Nochmals fährt derVorsitzende hinauf ins Eckzimmer.

Im Fernsehen wird von einem neuen Trendgesprochen: Überhangmandate für die SPD,wie 2002. Schröder wechselt die Meinung.

Fernsehauftritt? „Das muss ich jetzt machen.“Müntefering findet es, natürlich, richtig. Was-ser und Tee haben sie getrunken, kein Bier undkeinen Wein und keinen Sekt. Unten im Atri-um sind die Leute immer noch begeistert.Schröder kommt. „Gerhard, Gerhard.“ DerMeister reckt die Daumen, wie immer in denvergangenen Monaten. „Ich bin stolz auf dieMenschen im Land.“ Einen Führungsan-spruch der Union, gar Angela Merkels? „Daswird es nicht geben.“ Müntefering steht und

strahlt. Alles könnte geklappt haben – zu guterLetzt. Das Vorziehen der Bundestagswahl, we-gen NRW. Der Wahlkampf, obwohl der dochunter dem Mangel litt, eine Koalition fortzuset-zen, die man soeben beendet hatte. „Ich fühlemich bestätigt, dass es auch in Zukunft einestarke Regierung unter meiner Führung gebenwird“, brüllt der Kanzler. Das wollen die Leutehören. Er schimpft auf die „Macht der ver-machteten Medien“. Der Wahlkampf ist nichtbeendet. „Beugt euch nicht dem Machtan-

spruch der anderen Seite.“ Jubel. „Beugt euchnicht.“ In der Pose „Euch hab’ ich’s gezeigt“geht der Kanzler an den Journalisten vorbei.Ab ins Fernsehen. „Meinen Sie im Ernst, dassmeine Partei auf ein Gesprächsangebot vonFrau Merkel bei dieser Sachlage einginge?“Der Rest der Runde guckt konsterniert.

Im Willy-Brandt-Haus feiern sie weiter.Nur Doris, SchröderS Frau, findet den Auftritt„suboptimal“, weil nicht staatsmännisch. Ver-suche, seinen Auftritt zu erklären, wenn

schon kein Alkohol im Spiel gewesen sei:Adrenalin, natürlich. Und Endorphine, wievon Drogenexperten körpereigene Glückshor-mone genannt werden. Zwei Tage später. Zi-garre. Bela Anda, sein Sprecher, ist auch da-bei. Ob sein Auftritt geschadet habe? „Weißich nicht.“ Er habe so sein müssen. „Sach mal,Bela, was sind eigentlich Endorphine?“

Beugt euch nicht dem Machtanspruch der anderen Seite: Merkel und Schröder beim Händedruck. Foto Action Press

Suboptimal: So sahen Millionen Bürgerdie Kandidaten in der „Berliner Runde“ deröffentlich-rechtlichen Sender. Foto Saba Laudanna

20 DENK ICH AN DEUTSCHLAND DENK ICH AN DEUTSCHLAND 21

Page 22: ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen Grund. Die Völker, die sich erst kürzlich von ihren autoritären Re-gimen befreien

Prof. Dr. Herfried Münklerhat den Lehrstuhl für Theorie der Politikam Fachbereich Sozialwissenschaften derHumboldt-Universität zu Berlin inne.

Die Beantwortung der Frage, ob einedauerhaft niedrige Wahlbeteili-gung die Demokratie gefährde odervielmehr ein Indiz für die Zufrie-

denheit der Bürger sei, hängt davon ab, wel-che Vorstellung man von der Demokratie hat:Wenn man ein Anhänger der ökonomischenDemokratietheorie ist, derzufolge die Wahl ei-ner Kaufentscheidung gleicht, bei der sich derKonsument zwischen zwei oder mehr einan-der vergleichbaren, aber nicht gleichen Pro-dukten entscheiden kann, dann steht einewachsende Zahl von Nichtwählern bloß fürNachfragesättigung, die als Zufriedenheit in-terpretiert wird.

Hängt man dagegen re-publikanischen Demokratie-vorstellungen an, so steht sin-kende Wahlbeteiligung fürden Rückzug aus jener Mini-malverantwortung, die derBürger im Wahlakt für dasGemeinwesen übernimmt:Wer nicht wählt, nimmt einePosition notorischer Unver-antwortlichkeit ein. Weil ernicht gewählt hat, hat er mitdem, was entschieden wird,auch nichts zu tun. Aber des-wegen ist er aus der Politiknicht verschwunden; geradeweil er nicht gewählt hat,kann er ungehemmt meckernund drohen. Meckern über al-les, was sich politischen Ent-scheidungen zurechnen lässt;drohen damit, dass er dem-nächst doch wieder wählenwerde, dann aber die „Richti-gen“. Die Nichtwähler sinddas Reservoir, aus dem Populisten schöpfen.

In der politiktheoretischen Reflexion hatder Nichtwähler also (mindestens) zwei Ge-sichter: Im ersten Fall schaut er zufriedendrein, und die Nachricht, die er durch seinenWahlverzicht aussendet, lautet im Grundsatz:Alles in Ordnung, es kann so weitergehen wiebisher. Im zweiten Fall dagegen schaut er ver-drossen drein, er ist mit nichts wirklich zufrie-den, sieht aber vorerst auch keine Möglich-keit, wie er die Dinge verbessern und sichselbst zufriedener machen könnte. Die Wahlist für ihn keine attraktive Form der Einfluss-nahme, weil „die“ ja sowieso alle gleich seienoder „die da oben“ ohnehin machten, was siewollten, und auf den „kleinen Mann“ nichthörten.

Der Erste neigt dazu, seinen Wahlverzichtdamit zu begründen, dass er von der Politiknicht genug versteht; der Letztgenannte ist da-von überzeugt, dass er es besser weiß. BeideTypen des Nichtwählers sind nicht nur theore-tische Konstruktionen, sondern es gibt siewirklich, mit einer Fülle von Schattierungen

dazwischen. Für die Stabilität der Demokratieist ausschlaggebend, welcher Typ überwiegt.

Solange man die Demokratie als Mechanis-mus der Machtverteilung und Machtkontrollesieht, ist der Nichtwähler, auch wenn er in grö-ßeren Scharen auftritt, kein Problem; er istbloß einer, der die Chance zur Einflussnahmeauf die Machtverteilung nicht wahrnimmt. So-bald man aber die Demokratie als ein an Vor-aussetzungen gebundenes politisches Arrange-ment ansieht, ist der Nichtwähler ein Verant-wortungsverweigerer, einer, der sich nicht indie Pflicht nehmen lassen will. In einer an-spruchsvollen Demokratiekonzeption muss

der Bürger ein Mindestmaß an Kenntnissenüber die formalen Prozeduren und inhaltli-chen Voraussetzungen erfüllen, um seiner Auf-gabe als Kontrolleur und Evaluateur der Poli-tik nachkommen zu können. Er muss also poli-tisches Interesse und ein Mindestmaß an politi-scher Bildung haben, und die Vermittlungs-agentur dessen ist der Wahlakt: Er motiviert zuInteresse und Kenntnis und belohnt beides.

Interesse und Kenntnisse sind jedoch we-der an formale Voraussetzungen noch an Prü-fungen gebunden (außer bei denen, die keineStaatsbürger sind, es aber werden wollen).Das Wahlrecht ist weder von Bildungszertifi-katen noch von der Höhe des Steueraufkom-mens abhängig, wie dies im 19. Jahrhundertder Fall war. Es ist eine stillschweigende Er-wartung, der zu genügen eine Frage des bür-gerschaftlichen Ethos ist. Immanuel Kant hatnoch sehr genau zwischen Aktiv- und Passiv-bürgern unterschieden, und die Vorausset-zung des Ersteren war, dass er bei der Subsis-tenzsicherung sein eigener Herr sei und vonkeinem anderen Willen abhängig. In einer sei-

ner berühmten Zuspitzungen hat Kant dieseVoraussetzung beim Perückenmacher erfülltgesehen, nicht aber beim Friseur, denn dieserarbeite an einem Objekt, das nicht sein eigenist. Kant hat die Passivbürger, die kein Wahl-recht haben, Schutzbefohlene genannt.

Man könnte also sagen, der Nichtwähler seieiner, der freiwillig aus dem Status einesSchützers in den eines Schutzbefohlenen hin-überwechsele: Er kann Recht und Gesetz fürsich in Anspruch nehmen wie jeder andere,hat aber auf dessen Zustandekommen und Ver-änderung keinen Einfluss. Er begibt sich frei-willig in die Abhängigkeit von anderen.

Vermutlich würde dasGros der Nichtwähler sich da-gegen wehren, so angesehenzu werden. Das wäre etwasanderes, wenn nach dreimali-ger Nichtteilnahme das Wahl-recht verfiele und man, umes wiederzubekommen, sichdenselben Prozeduren unter-ziehen müsste wie Migran-ten, die deutsche Staatsbür-ger werden wollen. Vermut-lich würde eine solche Rege-lung dazu führen, dass dieZahl der Nichtwähler deut-lich zurückginge. Eine libera-le Politikverfassung trautsich solche Formen, den Bür-gerstatus ernst zu nehmen,nicht zu; sie vertraut auf dasjeweilige Eigeninteresse undbelässt es dabei. Die republi-kanische Verfassungsidee,die den Bürger im Recht undin der Pflicht sieht, ist weni-ger zurückhaltend; sie will

die Korrespondenz von Recht und Pflichternst genommen wissen.

Dabei sind die Kompetenzanforderungen,die eine repräsentative Demokratie an ihreBürger stellt, eher bescheiden. Weder sind be-sondere Sachkenntnisse noch großer Zeitauf-wand erforderlich – im Unterschied zu einerVerfassung mit ausgeprägt plebiszitären Ele-menten, wo „das Volk“ beständig aufgerufenist, über Sachfragen zu entscheiden. Hier wirdder Bürger ganz anders in die Pflicht genom-men: nicht bloß, weil er viel häufiger zur Ab-stimmung aufgerufen ist, sondern auch, weiler sich in die Sachfragen einarbeiten muss unddies nicht selten genaue Kenntnisse des Sach-verhalts zur Voraussetzung hat. Da ist leichtnachzuvollziehen, warum die Beteiligung anReferenden oft unter fünfzig Prozent liegt.

Plebiszitäre Ordnungen begünstigen die An-gehörigen der mittleren Schichten, die vonAusbildung und Berufstätigkeit her die proze-duralen wie fachlichen Kompetenzen zur Be-urteilung der abzustimmenden Fragen mit-bringen. Und weil das der Fall ist, nehmen sie

sich die Zeit für eine aktivere Teilnahmeselbst dann, wenn sie eigentlich keine Zeit ha-ben. Dagegen kennt die auf dem allgemeinenWahlrecht begründete repräsentative Demo-kratie eine solche Begünstigung der mittlerenSchichten nicht: Die Parteiendemokratie zu-mal ist ein Verfahren der Komplexitätsredukti-on, das jeden abstimmungsfähig macht. Inden ersten Jahrzehnten der Bundesrepublikhat dieser Inklusionsmodus gut funktioniert,und die Bundestagswahlen wiesen eine Betei-ligung von deutlich über neunzig Prozent auf.

Das ist seit einiger Zeit nicht mehr der Fall– warum? Die erodierende Parteibindungdürfte dabei eine Rolle spielen, denn ohne fes-te Parteibindung wachsen Zeit- und Informati-onsaufwand vor einer Wahl. Man hat sehr vielfrüher das Gefühl, doch nicht zu verstehen,worum es geht. Es gibt aber auch das Problemder fehlenden Alternativen. Die repräsentati-ve Demokratie beruht letzten Endes darauf,dass die Opposition permanent Alternativenzum Regierungshandeln formuliert und sichso als Reserveregierung präsentiert, die aufdie nächste Wahl wartet, um die Verantwor-tung zu übernehmen. Wo dagegen ständig vonAlternativlosigkeit die Rede ist, macht sichdie Vorstellung breit, man habe gar keineWahl bei den Wahlen. Warum soll man sichdann an ihnen beteiligen?

Das Auswandern einer Reihe von Gestal-tungsfragen aus dem Parteienfeld in die Nicht-regierungsorganisationen kommt hinzu. Um-weltschützer und Menschenrechtler, Kita-For-derer und Müllkippenverhinderer sind oftwichtiger als die Parteien. Permanent werdenzentrale Probleme der Lebensgestaltung zwi-schen unterschiedlichen Akteuren jenseits derparteiengestützten Wahlentscheidung ausge-handelt. Governance vollzieht sich jenseits derWahlen. Man geht zur Wahl, wenn man nichtsBesseres zu tun hat, aber wichtig ist es nicht.

Wer den wachsenden Anteil Nichtwählerals bedrohlich für die Demokratie ansieht –und dafür gibt es gute Gründe –, sollte alsonicht bloß über die Nichtwähler reden, son-dern sie auch als Symptom ansehen: als Symp-tom für die nachlassende Attraktivität der De-mokratie. Natürlich kann man den Demokra-tiebegriff so weit fassen, dass jede Ordnungmit selektiver Beteiligung und gelegentlichenWahlen als Demokratie bezeichnet wird. Aberdann hat der Begriff seine Trennschärfe unddas Politikmodell seine distinktive Kraft verlo-ren. Demokratien müssen immer wieder er-neuert beziehungsweise verjüngt werden,wenn sie nicht altern und vergehen sollen.Sinkende Wahlbeteiligung ist ein Indikator fürErneuerungsbedarf.

Der jähe Auf-stieg der Pi-ratenparteiim vergange-

nen Jahr war einSchock für die Etablier-ten. Aber er währte nurkurz, und schnell wichder Schrecken einerHoffnung – dass im In-ternet neben einemneuen Wählerpotenti-al ein weiterer Gold-schatz zu heben wäre:bisher ungenutzte For-men der Legitimation– durch Interaktionauch jenseits von Wah-len, durch permanenteKommunikation, auchmit Menschen, die derPolitikbetrieb längstverloren geglaubt hat-te. Nur: Diese Hoff-nung hat sich bishernicht erfüllt. Mag dieZahl der Online-Petitio-nen, der politischen Blogs und Kampa-gnenplattformen auch steigen – die Par-teien profitieren davon kaum.

Denn so einfach, wie es zunächstschien, ist das Goldschürfen nicht. AlsErstes fiel die große Vision der Piraten,der Überbau ihres Politikansatzes, insich zusammen wie ein Käsesoufflé:die „liquid democracy“. Das zugehörigeProgramm, mit dem Parteimitglieder ineinem ständigen virtuellen Abstim-mungsmarathon über Themen entschei-den oder ihre Stimmen an andere Perso-nen delegieren können, liegt wegen ge-ringer Nutzung brach. Das Problem,dass elektronische Wahlen niemals ge-heim und nachprüfbar zugleich seinkönnen, die „Wahlcomputerproblema-tik“, ist ebenfalls noch nicht gelöst.

Immerhin griffen die Parteien denoffensichtlichen Wunsch nach Mitspra-che auf. SPD, CDU und FDP überbo-ten sich dieses Jahr im Werben umNichtmitglieder, die Vorschläge für dieWahlprogramme einreichen sollten.40 000 Ideen gingen bei der SPD ein.Aber sind die Menschen, die zu so vielEngagement bereit sind, überhauptdas Problem? Waren sie nicht auchohne Internet schon interessiert, ge-

hen sie nicht selbstver-ständlich zur Wahl?

Es ist ein Angebot,das jedenfalls die Ver-drossenen nicht kö-dern dürfte. Sie habenim Internet längst einanderes Ventil gefun-den – die Kommentar-funktion. Wenn sieeine Partei unterstüt-zen, dann die Piratenoder die AfD; beide ha-ben mehr Unterstüt-zer auf Facebook alsalle anderen. Ist daspolitisches Handeln inzeitgemäßer Form – ei-ner Partei mit einemKlick die Sympathieauszusprechen? EineStudie sieht das so;demnach beteiligt sichschon jeder dritteWahlberechtigte amOnline-Wahlkampf,eben durch das „Li-

ken“ oder Weiterleiten von politischenInhalten.

Gegen diese Entwicklung haben diegroßen Parteien nichts einzuwenden,im Gegenteil: Ihre Auftritte im Netz ver-stärken sie noch. Brav ordnen sie sichden dort herrschenden Mechanismenunter, sind „präsent“ in allen erdenkli-chen Netzwerken, twittern Belanglo-ses, bieten kleine Informationshäpp-chen, lustige Bilder, Mitmach-Ideen imWahlkampf für jedes Zeitkontingent(eine, fünf oder zehn Minuten?) undverhöhnen den Gegner auf eigens dafüreingerichteten Blogs (besonders aktiv:SPD und CDU).

So hat die Digitalisierung für die Par-teien bisher vor allem eine Folge: dassauch ihre Prozesse beschleunigt, zerstü-ckelt, bequemer und leichter, aber auchoberflächlicher werden. Mehr Reichwei-te mag dadurch entstehen, mehr Legiti-mität nicht. Denn sobald Legitimität inKlicks gemessen werden kann, müsstendie Piraten mit all ihren Facebook-Fansden nächsten Kanzler stellen.

Nicht nur Piratenhoffen, das Digitale biete

neue Formen derLegimität. Zu sehen istdavon bisher – wenig.

Von MarieKatharina Wagner

DER SCHNELLE KLICKDER SYMPATHIE

22 DENK ICH AN DEUTSCHLAND

Die einen warnen: Wer nicht wählt,gefährdet die Demokratie. Die anderen beruhigen:

Wer nicht wählt, ist einfach nur zufrieden.Über die (mindestens) zwei Gesichter des

Nichtwählers. Von Herfried Münkler

DENK ICH AN DEUTSCHLAND 23

Marie Katharina Wagnerist politische Redakteurin der Frank-furter Allgemeinen Sonntagszeitung.

STELLDIR VOR,KEINER

GEHT HIN

Page 23: ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND 2013 - FAZ.NETVerglichen mit anderen Weltgegenden hat erdazu auch keinen Grund. Die Völker, die sich erst kürzlich von ihren autoritären Re-gimen befreien

Prof. Dr. Herfried Münklerhat den Lehrstuhl für Theorie der Politikam Fachbereich Sozialwissenschaften derHumboldt-Universität zu Berlin inne.

Die Beantwortung der Frage, ob einedauerhaft niedrige Wahlbeteili-gung die Demokratie gefährde odervielmehr ein Indiz für die Zufrie-

denheit der Bürger sei, hängt davon ab, wel-che Vorstellung man von der Demokratie hat:Wenn man ein Anhänger der ökonomischenDemokratietheorie ist, derzufolge die Wahl ei-ner Kaufentscheidung gleicht, bei der sich derKonsument zwischen zwei oder mehr einan-der vergleichbaren, aber nicht gleichen Pro-dukten entscheiden kann, dann steht einewachsende Zahl von Nichtwählern bloß fürNachfragesättigung, die als Zufriedenheit in-terpretiert wird.

Hängt man dagegen re-publikanischen Demokratie-vorstellungen an, so steht sin-kende Wahlbeteiligung fürden Rückzug aus jener Mini-malverantwortung, die derBürger im Wahlakt für dasGemeinwesen übernimmt:Wer nicht wählt, nimmt einePosition notorischer Unver-antwortlichkeit ein. Weil ernicht gewählt hat, hat er mitdem, was entschieden wird,auch nichts zu tun. Aber des-wegen ist er aus der Politiknicht verschwunden; geradeweil er nicht gewählt hat,kann er ungehemmt meckernund drohen. Meckern über al-les, was sich politischen Ent-scheidungen zurechnen lässt;drohen damit, dass er dem-nächst doch wieder wählenwerde, dann aber die „Richti-gen“. Die Nichtwähler sinddas Reservoir, aus dem Populisten schöpfen.

In der politiktheoretischen Reflexion hatder Nichtwähler also (mindestens) zwei Ge-sichter: Im ersten Fall schaut er zufriedendrein, und die Nachricht, die er durch seinenWahlverzicht aussendet, lautet im Grundsatz:Alles in Ordnung, es kann so weitergehen wiebisher. Im zweiten Fall dagegen schaut er ver-drossen drein, er ist mit nichts wirklich zufrie-den, sieht aber vorerst auch keine Möglich-keit, wie er die Dinge verbessern und sichselbst zufriedener machen könnte. Die Wahlist für ihn keine attraktive Form der Einfluss-nahme, weil „die“ ja sowieso alle gleich seienoder „die da oben“ ohnehin machten, was siewollten, und auf den „kleinen Mann“ nichthörten.

Der Erste neigt dazu, seinen Wahlverzichtdamit zu begründen, dass er von der Politiknicht genug versteht; der Letztgenannte ist da-von überzeugt, dass er es besser weiß. BeideTypen des Nichtwählers sind nicht nur theore-tische Konstruktionen, sondern es gibt siewirklich, mit einer Fülle von Schattierungen

dazwischen. Für die Stabilität der Demokratieist ausschlaggebend, welcher Typ überwiegt.

Solange man die Demokratie als Mechanis-mus der Machtverteilung und Machtkontrollesieht, ist der Nichtwähler, auch wenn er in grö-ßeren Scharen auftritt, kein Problem; er istbloß einer, der die Chance zur Einflussnahmeauf die Machtverteilung nicht wahrnimmt. So-bald man aber die Demokratie als ein an Vor-aussetzungen gebundenes politisches Arrange-ment ansieht, ist der Nichtwähler ein Verant-wortungsverweigerer, einer, der sich nicht indie Pflicht nehmen lassen will. In einer an-spruchsvollen Demokratiekonzeption muss

der Bürger ein Mindestmaß an Kenntnissenüber die formalen Prozeduren und inhaltli-chen Voraussetzungen erfüllen, um seiner Auf-gabe als Kontrolleur und Evaluateur der Poli-tik nachkommen zu können. Er muss also poli-tisches Interesse und ein Mindestmaß an politi-scher Bildung haben, und die Vermittlungs-agentur dessen ist der Wahlakt: Er motiviert zuInteresse und Kenntnis und belohnt beides.

Interesse und Kenntnisse sind jedoch we-der an formale Voraussetzungen noch an Prü-fungen gebunden (außer bei denen, die keineStaatsbürger sind, es aber werden wollen).Das Wahlrecht ist weder von Bildungszertifi-katen noch von der Höhe des Steueraufkom-mens abhängig, wie dies im 19. Jahrhundertder Fall war. Es ist eine stillschweigende Er-wartung, der zu genügen eine Frage des bür-gerschaftlichen Ethos ist. Immanuel Kant hatnoch sehr genau zwischen Aktiv- und Passiv-bürgern unterschieden, und die Vorausset-zung des Ersteren war, dass er bei der Subsis-tenzsicherung sein eigener Herr sei und vonkeinem anderen Willen abhängig. In einer sei-

ner berühmten Zuspitzungen hat Kant dieseVoraussetzung beim Perückenmacher erfülltgesehen, nicht aber beim Friseur, denn dieserarbeite an einem Objekt, das nicht sein eigenist. Kant hat die Passivbürger, die kein Wahl-recht haben, Schutzbefohlene genannt.

Man könnte also sagen, der Nichtwähler seieiner, der freiwillig aus dem Status einesSchützers in den eines Schutzbefohlenen hin-überwechsele: Er kann Recht und Gesetz fürsich in Anspruch nehmen wie jeder andere,hat aber auf dessen Zustandekommen und Ver-änderung keinen Einfluss. Er begibt sich frei-willig in die Abhängigkeit von anderen.

Vermutlich würde dasGros der Nichtwähler sich da-gegen wehren, so angesehenzu werden. Das wäre etwasanderes, wenn nach dreimali-ger Nichtteilnahme das Wahl-recht verfiele und man, umes wiederzubekommen, sichdenselben Prozeduren unter-ziehen müsste wie Migran-ten, die deutsche Staatsbür-ger werden wollen. Vermut-lich würde eine solche Rege-lung dazu führen, dass dieZahl der Nichtwähler deut-lich zurückginge. Eine libera-le Politikverfassung trautsich solche Formen, den Bür-gerstatus ernst zu nehmen,nicht zu; sie vertraut auf dasjeweilige Eigeninteresse undbelässt es dabei. Die republi-kanische Verfassungsidee,die den Bürger im Recht undin der Pflicht sieht, ist weni-ger zurückhaltend; sie will

die Korrespondenz von Recht und Pflichternst genommen wissen.

Dabei sind die Kompetenzanforderungen,die eine repräsentative Demokratie an ihreBürger stellt, eher bescheiden. Weder sind be-sondere Sachkenntnisse noch großer Zeitauf-wand erforderlich – im Unterschied zu einerVerfassung mit ausgeprägt plebiszitären Ele-menten, wo „das Volk“ beständig aufgerufenist, über Sachfragen zu entscheiden. Hier wirdder Bürger ganz anders in die Pflicht genom-men: nicht bloß, weil er viel häufiger zur Ab-stimmung aufgerufen ist, sondern auch, weiler sich in die Sachfragen einarbeiten muss unddies nicht selten genaue Kenntnisse des Sach-verhalts zur Voraussetzung hat. Da ist leichtnachzuvollziehen, warum die Beteiligung anReferenden oft unter fünfzig Prozent liegt.

Plebiszitäre Ordnungen begünstigen die An-gehörigen der mittleren Schichten, die vonAusbildung und Berufstätigkeit her die proze-duralen wie fachlichen Kompetenzen zur Be-urteilung der abzustimmenden Fragen mit-bringen. Und weil das der Fall ist, nehmen sie

sich die Zeit für eine aktivere Teilnahmeselbst dann, wenn sie eigentlich keine Zeit ha-ben. Dagegen kennt die auf dem allgemeinenWahlrecht begründete repräsentative Demo-kratie eine solche Begünstigung der mittlerenSchichten nicht: Die Parteiendemokratie zu-mal ist ein Verfahren der Komplexitätsredukti-on, das jeden abstimmungsfähig macht. Inden ersten Jahrzehnten der Bundesrepublikhat dieser Inklusionsmodus gut funktioniert,und die Bundestagswahlen wiesen eine Betei-ligung von deutlich über neunzig Prozent auf.

Das ist seit einiger Zeit nicht mehr der Fall– warum? Die erodierende Parteibindungdürfte dabei eine Rolle spielen, denn ohne fes-te Parteibindung wachsen Zeit- und Informati-onsaufwand vor einer Wahl. Man hat sehr vielfrüher das Gefühl, doch nicht zu verstehen,worum es geht. Es gibt aber auch das Problemder fehlenden Alternativen. Die repräsentati-ve Demokratie beruht letzten Endes darauf,dass die Opposition permanent Alternativenzum Regierungshandeln formuliert und sichso als Reserveregierung präsentiert, die aufdie nächste Wahl wartet, um die Verantwor-tung zu übernehmen. Wo dagegen ständig vonAlternativlosigkeit die Rede ist, macht sichdie Vorstellung breit, man habe gar keineWahl bei den Wahlen. Warum soll man sichdann an ihnen beteiligen?

Das Auswandern einer Reihe von Gestal-tungsfragen aus dem Parteienfeld in die Nicht-regierungsorganisationen kommt hinzu. Um-weltschützer und Menschenrechtler, Kita-For-derer und Müllkippenverhinderer sind oftwichtiger als die Parteien. Permanent werdenzentrale Probleme der Lebensgestaltung zwi-schen unterschiedlichen Akteuren jenseits derparteiengestützten Wahlentscheidung ausge-handelt. Governance vollzieht sich jenseits derWahlen. Man geht zur Wahl, wenn man nichtsBesseres zu tun hat, aber wichtig ist es nicht.

Wer den wachsenden Anteil Nichtwählerals bedrohlich für die Demokratie ansieht –und dafür gibt es gute Gründe –, sollte alsonicht bloß über die Nichtwähler reden, son-dern sie auch als Symptom ansehen: als Symp-tom für die nachlassende Attraktivität der De-mokratie. Natürlich kann man den Demokra-tiebegriff so weit fassen, dass jede Ordnungmit selektiver Beteiligung und gelegentlichenWahlen als Demokratie bezeichnet wird. Aberdann hat der Begriff seine Trennschärfe unddas Politikmodell seine distinktive Kraft verlo-ren. Demokratien müssen immer wieder er-neuert beziehungsweise verjüngt werden,wenn sie nicht altern und vergehen sollen.Sinkende Wahlbeteiligung ist ein Indikator fürErneuerungsbedarf.

Der jähe Auf-stieg der Pi-ratenparteiim vergange-

nen Jahr war einSchock für die Etablier-ten. Aber er währte nurkurz, und schnell wichder Schrecken einerHoffnung – dass im In-ternet neben einemneuen Wählerpotenti-al ein weiterer Gold-schatz zu heben wäre:bisher ungenutzte For-men der Legitimation– durch Interaktionauch jenseits von Wah-len, durch permanenteKommunikation, auchmit Menschen, die derPolitikbetrieb längstverloren geglaubt hat-te. Nur: Diese Hoff-nung hat sich bishernicht erfüllt. Mag dieZahl der Online-Petitio-nen, der politischen Blogs und Kampa-gnenplattformen auch steigen – die Par-teien profitieren davon kaum.

Denn so einfach, wie es zunächstschien, ist das Goldschürfen nicht. AlsErstes fiel die große Vision der Piraten,der Überbau ihres Politikansatzes, insich zusammen wie ein Käsesoufflé:die „liquid democracy“. Das zugehörigeProgramm, mit dem Parteimitglieder ineinem ständigen virtuellen Abstim-mungsmarathon über Themen entschei-den oder ihre Stimmen an andere Perso-nen delegieren können, liegt wegen ge-ringer Nutzung brach. Das Problem,dass elektronische Wahlen niemals ge-heim und nachprüfbar zugleich seinkönnen, die „Wahlcomputerproblema-tik“, ist ebenfalls noch nicht gelöst.

Immerhin griffen die Parteien denoffensichtlichen Wunsch nach Mitspra-che auf. SPD, CDU und FDP überbo-ten sich dieses Jahr im Werben umNichtmitglieder, die Vorschläge für dieWahlprogramme einreichen sollten.40 000 Ideen gingen bei der SPD ein.Aber sind die Menschen, die zu so vielEngagement bereit sind, überhauptdas Problem? Waren sie nicht auchohne Internet schon interessiert, ge-

hen sie nicht selbstver-ständlich zur Wahl?

Es ist ein Angebot,das jedenfalls die Ver-drossenen nicht kö-dern dürfte. Sie habenim Internet längst einanderes Ventil gefun-den – die Kommentar-funktion. Wenn sieeine Partei unterstüt-zen, dann die Piratenoder die AfD; beide ha-ben mehr Unterstüt-zer auf Facebook alsalle anderen. Ist daspolitisches Handeln inzeitgemäßer Form – ei-ner Partei mit einemKlick die Sympathieauszusprechen? EineStudie sieht das so;demnach beteiligt sichschon jeder dritteWahlberechtigte amOnline-Wahlkampf,eben durch das „Li-

ken“ oder Weiterleiten von politischenInhalten.

Gegen diese Entwicklung haben diegroßen Parteien nichts einzuwenden,im Gegenteil: Ihre Auftritte im Netz ver-stärken sie noch. Brav ordnen sie sichden dort herrschenden Mechanismenunter, sind „präsent“ in allen erdenkli-chen Netzwerken, twittern Belanglo-ses, bieten kleine Informationshäpp-chen, lustige Bilder, Mitmach-Ideen imWahlkampf für jedes Zeitkontingent(eine, fünf oder zehn Minuten?) undverhöhnen den Gegner auf eigens dafüreingerichteten Blogs (besonders aktiv:SPD und CDU).

So hat die Digitalisierung für die Par-teien bisher vor allem eine Folge: dassauch ihre Prozesse beschleunigt, zerstü-ckelt, bequemer und leichter, aber auchoberflächlicher werden. Mehr Reichwei-te mag dadurch entstehen, mehr Legiti-mität nicht. Denn sobald Legitimität inKlicks gemessen werden kann, müsstendie Piraten mit all ihren Facebook-Fansden nächsten Kanzler stellen.

Nicht nur Piratenhoffen, das Digitale biete

neue Formen derLegimität. Zu sehen istdavon bisher – wenig.

Von MarieKatharina Wagner

DER SCHNELLE KLICKDER SYMPATHIE

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Die einen warnen: Wer nicht wählt,gefährdet die Demokratie. Die anderen beruhigen:

Wer nicht wählt, ist einfach nur zufrieden.Über die (mindestens) zwei Gesichter des

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Marie Katharina Wagnerist politische Redakteurin der Frank-furter Allgemeinen Sonntagszeitung.

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Eine Konferenz derAlfred Herrhausen Gesellschaft und der

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2013