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Zentrum für Medizinische Ethik MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN Heft 179 Ethische Orientierung für ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten Der aktuelle Stand einer noch ganz jungen Debatte Clemens Ruhnau August 2008

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Zentrum für Medizinische Ethik

MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN

Heft 179

Ethische Orientierung für ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten

Der aktuelle Stand einer noch ganz jungen Debatte

Clemens Ruhnau

August 2008

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Clemens Ruhnau, geb. 1946, promoviert in katholischer Theologie (Sozialethik), arbeitet als Klinikseelsorger und Mitglied des Klinischen Ethikkomitees sowie der Ethikberatergruppe an der Universitätsklinik Tübingen und ist mitverantwortlich für die medizinethische Fortbildung der Klinikseelsorger/innen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die hier vorgelegte Studie entstand als sog. „publishable paper“ im Rahmen der Zusatzqualifikation zum „(European) Master of Bioethics“ (2005-2007 in Nijmegen, Leuven, Basel und Padua).

EINLEITUNG 1

1. WARUM SIND RATIONIERUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN 6

UNVERMEIDBAR?

2. WARUM SOLL DER ARZT RATIONIERUNGSVERANTWORTUNG 7

ÜBERNEHMEN?

3. WIE SOLL ÄRZTLICHES RATIONIEREN BEIM EINZELNEN 10

PATIENTEN PRAKTIZIERT WERDEN, UM ETHISCH

AKZEPTABEL ZU SEIN?

4. IMPLIKATIONEN FÜR DAS ARZTETHOS UND DAS VERTRAUEN 30

DER PATIENTEN

5. ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION 33

Herausgeber: Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Prof. Dr. med. Michael Zenz

Zentrum für Medizinische Ethik Bochum, Ruhr-Universität Bochum, Gebäude GA 3/53, 44780 Bochum TEL +49 234 32-22749 FAX +49 234 3214-598 Email: [email protected] Internet: http://www.medizinethik-bochum.deDer Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des

ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren

verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor.

© Clemens Ruhnau 1. Auflage August 2008 Schutzgebühr: € 6,00

Bankverbindung: Sparkasse Bochum Kto.-Nr. 133 189 035 BLZ: 430 500 00

ISBN: 978-3-931993-60-3

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ETHISCHE ORIENTIERUNG FÜR ÄRZTLICHES RATIONIEREN BEIM EINZELNEN PATIENTEN

Der aktuelle Stand einer noch ganz jungen Debatte

Clemens Ruhnau

EINLEITUNG

Schon lange wird in vielen Ländern der Erde das praktiziert, was man im Fachjargon

„explizite Rationierung“ nennt. Dabei geht es darum, dass der Gesetzgeber oder bestimmte

legitimierte Institutionen des Gesundheitswesens dem ärztlichen Handeln aus Kostengründen

explizite Leistungsbegrenzungen vorgeben: Durch konkrete Regeln ist festgelegt, welcher

Patient bei welcher Indikation welche medizinische Leistung erhält oder nicht erhält. Und

mindestens ebenso lange gibt es eine umfangreiche ethische Debatte darüber, was es für das

ärztliche Selbstverständnis und Handeln sowie für die Arzt-Patient-Beziehung bedeutet, wenn

der Arzt bei seiner Sorge um das Wohl seiner Patienten solche Rationierungsvorgaben zu

vollziehen hat.1

Ebenfalls schon lange wird die Frage heftig diskutiert, ob es grundsätzlich ethisch

akzeptabel ist oder nicht, d.h. mit dem Arztethos und dem unverzichtbaren Vertrauen des

Patienten zum Arzt vereinbar oder nicht, wenn Ärzte in jenen Bereichen, die nicht von

vorgegebenen Rationierungsregeln erfasst oder erfassbar sind, im Blick auf den einzelnen

1 Aufschlussreiche Überlegungen zur Frage, wie Ärzte in ihrer Praxis mit diesem expliziten Rationieren („rule-based rationing“) ethisch klarkommen sollen, finden sich z.B. bei JE Sabin: “Fairness as a problem of love and the heart: A clinician’s perspective on priority setting” ([26] ; vgl. dazu unten Anm.64) und bei SD Pearson: “Caring and cost: The challenge for physician advocacy” [22]. Pearson entwickelt die Idee einer „proportional advocacy“, wonach der Arzt nicht einseitig nur Anwalt der Belange des Patienten zu sein hat, sondern auch Verantwortung trägt im Blick auf die mit vielen anderen Patienten zu teilenden begrenzten Resourcen. Pearson ist vor allem an der Frage interessiert, wie auch unter der Bedingung dieser proportional advocacy das Vertrauen des Patienten zu seinem Arzt erhalten bleiben kann, und er markiert als entscheidendes Problem: Wie und unter welchen Rahmenbedingungen ist es dem Arzt möglich, seine Rationierungsentscheidung so zu kommunizieren, dass der Patient diese Entscheidung als „fair und einsichtig“ akzeptieren kann. Als Lösung formuliert Pearson sechs interessante, praxisnahe „Criteria für Ethical Proportional Advocacy“: Open communication of rationing - Communication of justification of rationing – Group determination of high-value and low-value services – Impartial application: same across patients and physicians – Minimal conflict of interest for individual physicians – Recourse for challenge of any rationing decision”. Das dritte dieser Kriterien – “Group determination of high-value and low-value services“ – soll, Pearson zufolge, in der Praxis darauf hinauslaufen, dass konkrete inhaltliche Regeln für ärztliches Rationieren entwickelt werden, die der einzelnen ärztlichen Entscheidung vorgegeben sind. Deshalb gehört Pearsons Entwurf in die Gruppe jener Konzepte, die sich mit „explizitem Rationieren“ („rule-based rationing“) befassen. (Vgl. die ausführlicheren Überlegungen zu dieser Terminologie unten S.8f.) – Einen speziellen Problemaspekt dieses „expliziten Rationierens“ untersuchen Daniels/Sabin ([4] und [5], S.25-66): Unter welchen Bedingungen sollen Ärzte und Patienten die von Managed Care Organisationen vorgegebenen Leistungsbegrenzungen als „fair“ akzeptieren? Als Antwort auf diese Frage entwickeln Daniels/Sabin vier formale Kriterien, die die sog. „accountability for reasonableness“ von Leistungsbegrenzungen konstituieren. Diese vier Kriterien spielen in den Konzepten von Hurst/Danis [11] und Marckmann [21] eine wichtige Rolle, bieten jedoch für sich genommen keine ausreichende Hilfe, um das konkrete „ärztliche Rationieren beim einzelnen Patienten“ ethisch zu orientieren. Vgl. unten S.14 und S.18.

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konkreten Patienten entscheiden, dass eine bestimmte medizinische Leistung aus

Kostengründen vorzuenthalten sei? 2

Noch ganz jung hingegen ist die Debatte, wie denn solch ärztliches Rationieren beim

einzelnen Patienten auf ethisch vertretbare Weise praktiziert werden könnte und sollte.

Dieser Frage kann man sich auf verschiedene Weise nähern:

Man kann die finanziellen Anreizsysteme (Bonus-/Malus-Regelungen) fokussieren, mit

denen Ärzte zu Leistungsbegrenzungen beim einzelnen Patienten motiviert werden.

Daniels/Sabin haben dies getan und gefragt: Welchen Kriterien müssen solche finanziellen

Anreizsysteme entsprechen, damit das Patientenvertrauen nicht beschädigt wird; damit

zumindest „fair-minded people“ diese Anreizsysteme in ihrer konkreten Ausgestaltung und

Wirkung als „fair“ akzptieren können ([5], S.121-133)?3

Man kann aber auch die ärztliche Rationierungsentscheidung beim einzelen Patienten

als solche fokussieren und danach fragen: Unter welchen Bedingungen und gemessen an

welchen Kriterien können solche Entscheidungen als ethisch akzeptabel gelten? Genau auf

dieser Frage liegt der Fokus der folgenden Untersuchung.

Die Debatte um diese Frage wird erst seit etwa 10 Jahren geführt.4 Noch jünger sind

die ersten ausgearbeiteten Konzepte, die beanspruchen, konkrete ethische Orientierung zu

bieten für ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten. Weltweit scheint es dazu – Stand

Sommer 2007 – nur drei veröffentlichte bzw. in Publikation befindliche Entwürfe zu geben.

Die erste Pionierarbeit in diesem Bereich hat der US-Amerikaner Peter A. Ubel5 im

Jahr 2000 geleistet [31]. Ubels Vorstoß wurde anfangs geradezu enthusiastisch begrüßt6, aber

auch scharf kritisiert [1, 32]. Doch dann gab es eine jahrelange keine Versuche mehr, auf

2 Aus Sorge um das Arztethos statuierte z.B. Urban Wiesing 1995: „Wenn Rationierungen im Gesundheitswesen für notwendig erachtet werden, dann sollte der Arzt diese Aufgabe von sich weisen. Die Instanz der Verteilung, der Kostenträger, sollte die Verantwortung für die Verteilung übernehmen und sie oberhalb der Arzt-Patient-Beziehung regeln... Der Arzt ist als Instanz nicht dafür zuständig, begrenzt zur Verfügung stehende Mittel unter seinen Patienten zu verteilen.“ ([35], S.154). 3 Das einschlägige Kapitel trägt die Überschrift: „Indirect limit setting: Accountability for physician incentives“. 4 Soweit ich sehe, ist MA Hall einer der ersten, die sich um eine Antwort auf diese Frage gekümmert haben. In seinem 1997 erschienen Buch „Making medical spending decisions. The law, ethics, and economics of rationing mechanisms“ trägt er dazu auf einer halben Seite einige unverzichtbarer Grundsätze und Kriterien zusammen und betont zugleich, dass er mit dieser „kurzen Skizze“ noch weit entfernt sei von einem praktikablen Konzept ethischer Orientierung für die konkrete Praxis ärztlichen Rationierens beim einzelnen Patienten ([7], S.155). 5 Peter Ubel war seit den späten 80er Jahren als Internist tätig – schreibt also auf der Basis einer reichen Erfahrung als ein praktizierender Arzt, der täglich vor ökonomisch-ethisch problematischen Entscheidungen stand (und solche bei Kollegen beobachtete). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Pricing Life“ war Ubel Assistent Professor of Medicine an der University of Pennsylvania School of Medicine. 6 Renommierte US-amerikanische Medizinethiker werteten seine Publikation als einen Meilenstein in der Debatte um Rationierung und die Zukunft von Gesundheitssystemen. Z.B. Dan W. Brock: “Ubel makes a decisive case for the ubiquity and desirability of health care rationing, and clarifies the limitations and promises of cost-effectiveness analysis for making rationing choices… No other book does more to illuminate these difficult and important issues.” Oder Ezekiel J. Emanuel: “Pricing Life provides an original and penetrating analysis of health care rationing and cost-effectiveness analysis by a physician who confronts these issues every day. Peter Ubel`s insights need to be taken seriously by anyone interested in both a fairer and more efficient health care system” ([31] Cover).

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konzeptioneller Ebene die einschlägigen Fragen weiter zu entwickeln, bis Samia Hurst und

Marion Danis7 in jüngster Zeit einen ethischen Orientierungsrahmen für ärztliches

Rationieren entwickelten, der sich ebenfalls auf die US-amerikanischen Verhältnisse bezieht:

„A Framework for Rationing by Clinical Judgment“ [11].

Und schließlich hat fast zeitgleich Georg Marckmann – im Kontext der

deutschsprachigen Diskussion – ein Plädoyer für ärztliches Rationieren „im Einzelfall“

gewagt und dafür ein Konzept zur ethischen Orientierung entworfen. Er ist davon überzeugt,

dass es – auch bezogen auf das Handeln des einzelnen Arztes - nicht mehr nur um die Frage

geht, „ob Gesundheitsleistungen rationiert werden müssen, sondern wie dies auf eine ethisch

am ehesten vertretbare Weise geschehen kann“ ([21], S.34).8

Es erscheint mir reizvoll, diese drei sehr unterschiedlichen Entwürfe miteinander zu

vergleichen, um den aktuellen Stand der Debatte verfügbar zu machen. Die Eigenart dieser

Konzepte, ihre unterschiedlichen Ausgangspunkte, Zugangsweisen und Anliegen sollen

transparent werden, aber auch deren Stärken und Schwächen. Außerdem soll auf diese Weise

das ganze Panorama der sehr vielschichtigen Probleme einer „Ethischen Orientierung für

ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten“ differenziert in den Blick kommen.

Allerdings ist dieser Vergleich wegen der hohen Komplexität der Materie nicht ganz

einfach. Hinzu kommt noch eine besondere Schwierigkeit: Die drei Entwürfe sind von sehr

unterschiedlichen kulturellen Hintergründen geprägt, dem US-amerikanischen und dem

deutschen. Das betrifft Denkweisen und Begrifflichkeiten ebenso wie die institutionellen

Rahmenbedingungen der jeweiligen Gesundheitssysteme. Dabei handelt es sich nicht selten

um implizite Voraussetzungen, die von den Autoren gar nicht oder nur beiläufig artikuliert

und jedenfalls nicht weiter reflektiert werden. Erst wenn man diese Voraussetzungen deutlich

wahrnimmt, relativiert sich manches spontane Befremden, und die Ansätze werden

untereinander vergleichbar.

Der Vergleich wird vier Themenkomplexe umfassen:

Die beiden ersten beziehen sich in der gebotenen Kürze auf einige wichtige

Rahmenbedingungen für die Notwendigkeit von ärztlichem Rationieren beim einzelnen

Patienten: (1)Warum sind Rationierungen im Gesundheitswesen unumgänglich? Und (2)

warum soll die Ärzte aktiv Zuteilungsverantwortung übernehmen im Blick auf die einzelnen

7 Hurst arbeitet als Oberärztin einer internistischen Intensivstation der Universitätsklinik Genf und als Ethikerin am Institute for Biomedical Ethics/Universität Genf. Sie ist bekannt für ihre empirischen Forschungen im Feld von ärztlichen Rationierungsentscheidungen. Danis ist Ärztin (u.a. eine Zeit lang tätig als leitende Oberärztin einer internistischen Intensivstation) und Ethikerin. Sie arbeitet am Department of Clinical Bioethics, National Institutes of Health, Bethesda/USA, als Head of the Section on Ethics and Health Policy. 8 Marckmann ist Arzt und Ethiker am Lehrstuhl für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen und befasst sich intensiv mit Fragen der Rationierung und der Zukunft des deutschen Gesundheitssystems.

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Patienten? In Teil (3) werden differenziert die drei zur Debatte stehenden Ansätze verglichen

– insbesondere natürlich die Kriterien, Einschränkungen, Bedingungen und Formen der

Ausgestaltungen, die die Autoren geltend machen, damit ärztliches Rationieren als ethisch

akzeptabel gelten kann? Schließlich fragt Teil (4) danach, wie die Autoren die Implikationen

ärztlichen Rationierens für das ärztliche Ethos und für das Vertrauensverhältnis zwischen

Patient und Arzt einschätzen?

Zunächst jedoch sollen die Grundbegriffe „Rationierung“ und „Ärztliches

Rationieren beim einzelnen Patienten“ geklärt werden. Dazu hat Ubel wesentliche Beiträge

geleistet. Hurst/Danis und Marckmann übernehmen von ihm die bewusst weit gefasste

Definition von Rationierung: „Rationierung im Gesundheitsbereich ist jeder Mechanismus,

der dazu führt, dass jemand eine (möglicherweise) nützliche Leistung vorenthalten wird“ –

und sei es auch ein nur „marginally beneficial service“ ([31], S.14 u. 24).9 Diese Definition

weicht – das ihr Nachteil – vom Sprachgebrauch in der öffentlichen Diskussion ab; denn dort

wird „Rationierung“ enger gefasst und bezieht sich von vornherein auf bestimmte Standards,

z.B. auf die Normen der „Notwendigkeit“ und der „Wirtschaftlichkeit“ im Sinne des

deutschen Sozialgesetzbuches. Das hat zur Folge, dass sich dann der Streit um Rationierung

beschränkt auf die Frage, ob ein Unterschreiten der bisherigen Schwelle des

Leistungsanspruchs (gegenüber den Gesetzlichen Krankenkassen) gerechtfertigt werden kann

oder nicht. Demgegenüber besitzt Ubels weit gefasste Definition den Vorteil, dass sie die mit

dem Begriff des „medizinisch Notwendigen“ verbundene Verschleierung ethischer Probleme

vermeidet und dazu zwingt, sich mit den ethischen Fragen des Rationierens wirklich in ihrer

uneingeschränkten und nicht so leicht durchschaubaren Komplexität zu befassen.

Der Begriff Ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten (= äR) setzt voraus,

dass Rationierungsentscheidungen im Gesundheitswesen auf unterschiedlichen Ebenen und

durch unterschiedliche Entscheidungsträger gefällt werden können [15]. „Ärztliches

Rationieren beim einzelnen Patienten“ bezieht sich auf die Mikro-Ebene der konkreten Arzt-

Patient-Beziehung und beinhaltet, dass der Arzt im Blick auf den einzelnen Patienten über das

Vorenthalten nützlicher Leistungen entscheidet, ohne dass ihm dabei inhaltlich konkrete

Regelungen der Leistungsbegrenzung vorgegeben sind. Im Englischen gibt es für diese Form

des Rationierens „at the bedside“ die bündige und für Ubel zentrale Formel „Bedside

Rationing“. Hurst/Danis kreieren dafür den Begriff „Rationing by Clinical Judgment“ [11].

Sie heben damit das Subjekt dieser Form von Rationierung hervor sowie die zentrale Rolle

des darin implizierten ärztlichen Entscheidungsprozesses; sie erweitern damit aber auch den

9 Von „Rationierung“ zu unterscheiden ist „Rationalisierung“: Letztere zielt darauf ab, denselben Nutzen mit geringerem Ressourcenverbrauch zu erzielen oder mit denselben Ressourcen größeren Nutzen zu erreichen. Rationalisierung impliziert daher nicht per se, dass dem Patienten ein Nutzen vorenthalten wird.

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traditionellen Begriff des „klinischen Urteils“ um eine ganz neue Bedeutungsdimension,

nämlich die des kosten-ethischen Abwägens.

Im Deutschen ist der Sprachgebrauch uneinheitlich:

Häufig wird „Ärztliches Rationieren im Blick auf den einzelnen Patienten“ als

„implizite Rationierung“ bezeichnet ([14], [17], [21]).10 Es erscheint mir jedoch als nicht

hilfreich, diesen Begriff als Schlüsselkategorie zu wählen, wenn es darum geht, nach

ethischer Orientierung für solch ärztliches Handeln zu suchen. Denn „implizite Rationierung“

wird meist von vornherein negativ assoziiert mit „verdecktem“, „verschleiertem“,

intransparentem Handeln ([27] und [28]). Das Anliegen der genannten Autoren aber ist es ja

gerade, Kriterien zu entwickeln und Wege zu finden, wie das äR – trotz des Handicaps

fehlender „allgemein verbindlicher, inhaltlich konkreter Regeln“ ([21], S.43). – auf ethisch

akzeptable Weise praktiziert werden kann und nicht mehr per se mit diesen negativen

Konnotationen verknüpft sein muss.

Marckmann wählt daher als wertneutrale Spezifizierung dieser Form von Rationierung

den Zusatz „im Einzelfall“. Doch kann diese Formulierung m.E. leicht die völlig

unbeabsichtigte Assoziation „selten“ hervorrufen. Deshalb bevorzuge ich den Ausdruck

„Ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten“.11

Ubel hat wesentlich zur genaueren Fassung dieses Begriffs beigetragen, indem er zwei

konstitutive Elemente namhaft machte: Bedside Rationing liegt vor, wenn der Arzt aus

finanziellen Gründen12 eine Leistung vorenthält, einstellt oder zu empfehlen versäumt, die

erstens nach bestem ärztlichem Urteil im besten gesundheitlichen Interesse des Patienten

wäre; und die zweitens innerhalb des Rahmens liegt, über den er als Arzt auch wirklich

verfügen kann ([31], S.111f.).

Diese Charakteristik erscheint plausibel und hinreichend klar, doch der Schein trügt.

Denn Ubel sieht die Verfügungsmacht des Arztes selbst dort noch als gegeben an, wo eine

konkrete Leistung durch verpflichtende Vorgaben ausgeschlossen ist; denn – so sein

Argument, das sich zweifellos aus praktischer Erfahrung speist – der Arzt habe ja

grundsätzlich die Möglichkeit, diese vorgegebene Begrenzung durch verschiedene Tricks

(etwa bei der Diagnose-Formulierung) zu unterlaufen. „Bedside Rationing“, so verdeutlicht

Ubel durch entsprechende Beispiele, findet also auch dort statt, wo der Arzt auf die

Möglichkeit der Manipulation verzichtet und sich an vorgegebene Leistungsbegrenzungen

hält. Nur auf diesem Hintergrund ist seine zunächst befremdlich klingende, mehrfach

wiederholte These zu verstehen: „Es gibt keinen einzigen akzeptablen

10 Zum Begriffspaar „explizite“ versus „implizite“ Rationierung vgl. unten S.8f. 11 „Ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten“ und „Bedside rationing“ verwende ich als Äquivalente. 12 In der Regel mit dem Ziel „gesellschaftliche Ressourcen zu schonen“ ([31], S.99). Vgl. dazu unten S.29f.

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Rationierungsmechanismus, der ohne die Mithilfe von Bedside Rationing erfolgreich zur

Kontrolle der Gesundheitskosten beitragen kann“ ([31], S.147f. u. S.110; [30]).

Aus ethischer Sicht freilich macht es einen bedeutenden Unterschied, ob sich ein Arzt

beim Rationieren schlicht an vorgegebene Regeln der Leistungsbegrenzung hält, also das sog.

„rule-based rationing“ praktiziert, oder ob er ohne solch klare Regeln dem einzelnen Patienten

(aus Kostengründen) nützliche Leistungen vorenthält.13 Im Einklang mit Hurst/Danis und

Marckmann beschränke ich daher den Begriff des „äR“ auf Situationen ohne verbindlich

vorgegebene konkrete Regeln der Leistungsbegrenzung. 14

1. WARUM SIND RATIONIERUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN

UNVERMEIDBAR?

Ubel und Hurst/Danis halten sich nicht lange bei dieser Frage auf. Für sie ist der Zwang zur

Rationierung bereits aufgrund des medizinisch-technologischen Fortschritts evident:

„Angesichts der Fülle an neuen kostspieligen medizinischen Technologien, die geringfügigen

Zusatznutzen zu hohen Zusatzkosten offerieren, ist es ausgeschlossen, dass wir jede Leistung

jedem Patienten zukommen lassen, der vielleicht davon profitieren könnte...15 Wir müssen

anfangen herauszufinden, wie Leistungen begrenzt werden können“ ([31], S.xviiif).

„Rationierung muss stattfinden, weil die Inanspruchnahme jeder einzelnen Intervention, die

auch nur die geringste Chance eines winzigen Nutzens brächte, finanziell untragbar scheint“

[11].

Marckmann stimmt diesen Gesichtspunkten zu, legt jedoch Wert auf eine

mehrstufige Argumentation, die auch umfassendere Aspekte einer gerechten

Gesellschaftsordnung mit einbezieht. Demnach ist Rationierung aus drei Gründen

unvermeidlich:

Erstens werden „medizinisch-technischer Fortschritt und demographischer Wandel

den Kostendruck im Gesundheitswesen aller Voraussicht nach weiter verschärfen“ ([21],

S.37). Zweitens gibt es „gute – auch ethische! – Gründe“, die Gesundheitsausgaben nicht zu

erhöhen, sondern zu begrenzen: (1) Der Gesundheitssektor konkurriert mit anderen

öffentlichen Aufgaben wie Bildung, Umweltschutz, Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit

und Wohnungsnot oder innere Sicherheit um prinzipiell begrenzte öffentliche Finanzmittel.

(2) Einschränkungen in diesen Bereichen würden sich negativ auf die Gesundheit der

13 Vgl. dazu ausführlicher unten S.8f. 14 In Ubels These wäre dann die Worte „ohne die Mithilfe von Bedside Rationing“ zu ersetzen durch „ohne die Kooperationsbereitschaft der Ärzte“: ihre Bereitschaft nämlich, vorgegebene Leistungsbegrenzungen auch wirklich beim einzelnen Patienten umzusetzen und sich auf diese Weise in ihrer Patientenanwaltschaft beschränken zu lassen. 15 Ubels Buch liefert dazu eine überwältigende Fülle an Beispielen aus Diagnostik und Therapie.

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Bevölkerung auswirken, da sozialer Status, Arbeitsbedingungen, Umweltqualität,

Wohnverhältnisse und die verfügbaren Mittel für den Konsum die Lebenserwartung und die

Morbidität erheblich beeinflussen. (3) Viele medizinische Verfahren weisen einen

abnehmenden Grenznutzen auf; d.h. der Nutzengewinn durch neue Behandlungsverfahren

erfordert oft überproportional hohe zusätzliche Ausgaben ([21], S.37f.).

Drittens führt die oft vertretene Devise „Rationalisieren statt Rationieren!“ auf Dauer

nicht weiter. Natürlich ist es – ethisch gesehen – vorrangig, auf dem Weg vernünftigen

Rationalisierens Ausgaben zu reduzieren bzw. zu begrenzen, statt dieses Ziel durch

Vorenthalten nützlicher Leistungen anzustreben ([21], S.42). 16 Doch Rationalisierungen

werden „allenfalls einen zeitlichen Aufschub für Rationierungen gewähren“ ([21], S.55). „Sie

werden ein weiteres Auseinanderklaffen von Machbarem und Finanzierbarem insbesondere

langfristig nicht verhindern können“ ([21], S.42).

Mit dieser differenzierenden Argumentation ermöglicht Marckmann, was aus meiner

Sicht unverzichtbar ist: eine gründlich zu führende Diskussion, in welchem Umfang – etwa

im deutschen Gesundheitssystem – die genannten drei Bedingungen tatsächlich erfüllt sind

und in welchem Umfang folglich Rationierung tatsächlich unumgänglich ist.

2. WARUM SOLL DER ARZT RATIONIERUNGSVERANTWORTUNG

ÜBERNEHMEN?

Ubel macht zwei Gründe geltend, warum der Arzt sich am unvermeidlichen Rationieren

beteiligen soll. Erstens: Nur der Arzt kann, was Rationierungsmechanismen auf höherer

Ebene nicht vermögen, nämlich beim Rationieren die individuellen Charakteristiken und

Präferenzen von Patienten berücksichtigen ([31], S.124). Und zweitens: Es wird fatale

Konsequenzen haben, wenn die Ärzte weiterhin darauf bestehen, ohne Rücksicht auf die

Kosten die besten Interessen ihrer Patienten zu verfolgen. Denn dann werden die Kostenträger

dagegenhalten und zwecks Kostenbegrenzung immer ausgeklügeltere und lästigere

bürokratische Rationierungsmechanismen entwickeln – ein System also, das die Orientierung

am Wohl des Patienten massiv behindern wird ([31], S.138-150). Deshalb fordert Ubel im

sprachlichen Duktus der Zehn Gebote: „Physicians, thou shalt ration!“ [32] – im Namen der

notwendigen Kostenkontrolle, der zu erhaltenden ärztlichen Freiheit und der beim Rationieren

zu ermöglichenden individuellen Patientenorientierung. Dass dieses „Gebot“ vielen Ärzten als

unerträgliche Zumutung erscheinen wird, ist Ubel klar. Daher stellt er seine Überlegungen

unter das markante Leitwort „The unbearable rightness of bedside rationing“ ([31], S.137ff

16 Marckmann fügt hinzu: „Dabei „geht es nicht nur um das Unterlassen ineffektiver Maßnahmen, sondern auch – und vielleicht sogar vor allem – um die richtige Indikationsstellung bei nachgewiesen effektiven Maßnahmen“ ([21], S.41).

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Im Vergleich dazu argumentieren Hurst/Danis und Marckmann viel nüchterner:

Hurst/Danis versuchen erst gar nicht, vorweg schlüssig zu begründen, warum Ärzte

rationieren sollen. Stattdessen referieren sie kurz die Pros und Contras aus der über dreißig-

jährigen Kontroverse um Bedside Rationing und setzen als gegeben voraus: Empirisch ist

evident, dass Bedside Rationing in vielen Ländern weit verbreitet ist. Außerdem sind „einige

typische Beispiele für Bedside Rationing routinemäßig akzeptiert... Die ärztliche Beteiligung

an Rationierungsentscheidungen ist ein Teil der klinischen Praxis und wird es bleiben.“ –

Indirekt jedoch versuchen sie durch den gesamten Artikel hindurch evident zu machen, wie

sehr gerade das kompetent ausgeführte Rationieren auf der Arzt-Patient-Ebene ein hohes Maß

an individueller Patientenorientierung ermöglicht. Wie Ubel sehen sie deshalb den Arzt in der

besten Position, wenn es darum geht, in angemessener und gut zu rechtfertigenden Weise zu

rationieren [11].

Bei Marckmann ist die Argumentation noch einmal komplexer. Er geht davon aus,

dass äR in zweifacher Hinsicht ethisch problematisch und daher auf zweifache Weise

strukturell so weit wie möglich zu beschränken ist:

Erstens ist und bleibt es ethisch fragwürdig, einem Patienten einen Nutzen

vorzuenthalten, auch wenn dies aus Gründen der Kostenbegrenzung unumgänglich sein mag.

Marckmann fordert daher ein umfassenderes „ethisches Kostenbewusstsein“ [20] des Arztes.

Dieser ist dazu verpflichtet, verantwortungsvoll mit knappen Ressourcen umzugehen. ÄR ist

erst dann gerechtfertigt, wenn zuvor die ethisch unproblematischen Sparstrategien

ausgeschöpft wurden, nämlich „das Unterlassen ineffektiver Maßnahmen im Sinne einer

evidenzbasierten Medizin; die konsequente Berücksichtigung von individuellen

Patientenpräferenzen17; und schließlich die Minimierung des Ressourcenverbrauchs für das

Erreichen eines bestimmten Therapieziels“, also Rationalisierung ([21], S.57).

Zweitens ist äR ethisch problematisch, weil es konzeptionell zu den Formen des sog.

„impliziten“ Rationierens gehört, die im Vergleich zu „expliziten“ Rationierungsformen

gewichtige ethische Nachteile aufweisen.18 Prinzipiell sollten daher explizite Rationierungs-

17 An sich ist diese Regel zweischneidig. Sie beruht hier auf der Einschätzung, dass in Deutschland aktuell – zumindest bei Behandlungen in der letzten Lebensphase – „Übertherapie“ ([21], S.63) vorherrscht, also mehr getan wird, als es nach entsprechender Aufklärung dem (mutmaßlichen) Willen des Patienten entspräche. 18 Bei expliziter Leistungsbegrenzung ist ausdrücklich geregelt und von ‚oberhalb’ der konkreten Arzt-Patient-Beziehung dem ärztlichen Handeln vorgegeben, welcher Patient unter welchen Bedingungen welche Intervention (nicht) bekommt. Damit ist gewährleistet: - Transparenz: Die Zuteilungsregeln sind ausdrücklich und öffentlich zugänglich. - Konsistenz: Die Patienten werden – im Sinne dieser Regeln – gleich behandelt: keine Diskriminierung. - Weniger Interessenkonflikte für den Arzt: Innerhalb der vorgegebenen Regeln kann er sich ganz dem

Patientenwohl hingeben. - Weniger Belastung der Arzt-Patient-Beziehung: Der Patient kann davon ausgehen, dass ihm innerhalb der

vorgegebenen Regeln die bestmögliche Behandlung zuteil wird. - Und - im Falle von Versorgungsstandards - gleichzeitige Kontrolle von Qualität und Kosten. Allerdings schränken explizite Leistungsbegrenzungen die ärztliche Freiheit ein.

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mechanismen (und deren Entwicklung) Vorrang haben vor impliziten Leistungsbegrenzungen

([21], S.47). Von diesem Grundsatz ausgehend, will Marckmann äR so weit wie möglich

erübrigen durch die Einführung so genannter „kostensensibler Leitlinien“, zu deren

Grundstruktur es gehört, dass sie Spielraum geben für begründete Ausnahmen: Der Arzt hat

im Einzelfall die Möglichkeit, im Blick auf eine besondere Patientenkonstellation mit guten

Gründen über jene Leistungsbegrenzung hinauszugehen, die für den Normalfall

(verpflichtend) vorgegeben ist. Beispiele dafür gibt es auf verschiedenen Ebenen: Auf

nationaler Ebene etwa die schwedischen Kardiologie-Leitlinien, die den Ärzten für die

Entscheidung im Einzelfall Orientierungshilfe bieten, indem sie die verfügbaren

kardiologischen Interventionen unter Berücksichtigung des Schweregrades der Erkrankung,

des zu erwartenden Nutzens und der Kosteneffektivität indikationsabhängig in 10 Stufen

unterschiedlicher Priorität einteilen ([21], S.52f.); auf Klinikebene sog. „lokale Versorgungs-

standards“ ([21], S.55), die die Indikation für teure Maßnahmen (z.B. Xigris) – auf der Basis

der Evidenzlage zur Wirksamkeit – beschränken auf diejenigen Patienten, die am meisten

profitieren. Solch kostensensible Leitlinien reduzieren ärztliche Entscheidungskonflikte,

entlasten die Arzt-Patient-Beziehung und fördern gerechte (lokale) Gleichbehandlung der

Patienten, ohne der ärztlichen Entscheidung den notwendigen Ermessensspielraum zu nehmen

[20].19

Warum dann noch äR? „Aus pragmatischen Gründen wird es sich nicht vermeiden

lassen, dass Ärzte im Rahmen von impliziten Rationierungen Verantwortung für Verteilungs-

entscheidungen im Einzelfall übernehmen. (Denn) auch bei bestem Willen ist es schlichtweg Bei impliziter Leistungsbegrenzung fehlt es per definitionem an vorgegebenen Regeln der Rationierung, so dass „letztlich die Ärzte Verantwortung für die Einschränkung medizinischer Maßnahmen tragen.“ Dem Arzt ist damit größere Flexibilität eröffnet als bei der expliziten Leistungsbegrenzung; anderseits sind darin tendenziell folgende Risiken impliziert: - Intransparenz der Zuteilungskriterien und damit Mangel an Nachprüfbarkeit. - Inkonsistenz: In der Praxis werden unterschiedliche Kriterien der Zuteilung angewendet und damit Patienten

ungleich behandelt. - Unklare Doppelrolle des Arztes, die das Arzt-Patient-Verhältnis belastet. - Irrationale, d.h. nicht an nachgewiesener Wirksamkeit und Effizienz orientierte Ressourcenzuteilung. - Einseitige Kontrolle der Kosten, während die Qualität unkontrolliert bleibt (Vgl. [21], S.43-48; [16, 17, 19]). 19 Die ärztliche Profession als solche sollte bei der Entwicklung und Durchführung solcher Modelle expliziter Leistungsbegrenzung konstruktiv mitwirken und so die Chance nutzen, die eigenen Entscheidungsspielräume selbst zu gestalten und – im Hinblick auf die eigene Profession – möglichst offen zu halten. Immerhin kann sie argumentieren, dass mit ihrem Sachverstand medizinisch unsinnige Rationierungen verhindert werden können. Von diesem Entscheidungsspielraum können auch die Patienten im Einzelfall profitieren ([21], S.50f.). – Hurst bagatellisiert den Unterschied zwischen bedside rationing und diesem sog. rule-based rationing: “Applying rules may not be so different from rationing by clinical judgment.” Psychologisch mag das stimmen, weil der Arzt in beiden Fällen zu weitergehenden Wünschen von Patienten „Nein!“ zu sagen bzw. die ausschließliche Orientierung am Besten des Patienten zu relativieren hat. Doch die genannten ethischen Vorteile sind doch erheblich. Und wenn Hurst hinzufügt: „In addition, application of (rationing) rules always involves clinical judgment“, dann ist das einerseits unbestreitbar, anderseits unterscheidet sich dieses ärztliche Urteil, ob jemand unter die Regel fällt oder nicht, doch ganz wesentlich von dem, was der Begriff des „Rationing by clinical Judgment“ impliziert, nämlich das Werturteil, dass eine bestimmte Intervention vorzuenthalten ist, weil sie jenseits eines vertretbaren Kosten-Effektivitäts-Levels liegt [10].

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unmöglich, die gesamte Medizin mit Versorgungsstandards zu überziehen... Überdies können

sich die Ärzte im aktuellen Gesundheitswesen durch Budgetgrenzen und die prospektive

DRG-Vergütung im Krankenhaus nicht der impliziten Rationierung entziehen“ ([21], S.47f).

Außerdem, so betont Marckmann – der Sache nach Ubels Argument aufnehmend –,

dass implizites Rationieren zwar in einem Spannungsverhältnis zum traditionellen Arztethos

steht, „aber im Hinblick auf die ärztliche Berufsfreiheit durchaus Vorteile aufweist. Wenn

Ärzte selbst Verantwortung für einen ethisch vertretbaren Umgang mit knappen Ressourcen

übernehmen, gewinnen sie einen größeren Entscheidungsspielraum im Einzelfall, der es ihnen

ermöglicht, flexibler auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten einzugehen“ ([21], S.59).

Zusammenfassend lässt sich sagen: Zentrales Anliegen aller Entwürfe ist es,

unvermeidbare Rationierungen möglichst patientenorientiert zu gestalten. Ubel und Hurst/

Danis sehen die Möglichkeit dazu nur auf der Ebene und im Rahmen von äR gegeben.

Marckmann hingegen vermeidet diese Engführung. Er plädiert dafür, Umfang und Häufigkeit

des unvermeidlichen, aber ethisch problematischen äR zu reduzieren durch die Einführung

leistungs-begrenzender kostensensibler Standards einführt, die ebenfalls Spielraum für

Orientierung am individuellen Patienten bieten.

3. WIE SOLL ÄRZTLICHES RATIONIEREN BEIM EINZELNEN PATIENTEN

PRAKTIZIERT WERDEN, UM ETHISCH AKZEPTABEL ZU SEIN?

Die Art und Weise, wie äR vollzogen wird, ist zweifellos eine Schlüsselfrage, wenn es darum

geht, äR als akzeptabel oder nicht akzeptabel zu beurteilen. Welche Orientierung geben dazu

die drei Entwürfe? Um darüber Auskunft zu erhalten, wird zunächst das Profil der drei

Konzepte charakterisiert. Auf diesem Hintergrund werden dann wesentliche Einzelaspekte

vergleichend unter die Lupe genommen.

a) Die Profile der drei Konzepte

Ubels Entwurf 1. Ausgangspunkt und Anliegen

Ubel sieht sich vor folgende Situation gestellt: In der US-amerikanischen Öffentlichkeit wird

zwar Kontrolle der Gesundheitskosten verlangt, doch „Rationierung“ ist verpönt. Das

allgegenwärtige BR geschieht verdeckt und wird tabuisiert, und Kosteneffektivitätsanalysen

(= CEAs) haben seit den negativen Erfahrungen mit der ersten Prioritätenliste des Medicaid

Programms in Oregon (1987) ihren Kredit als brauchbare Richtschnur für Rationierungs-

entscheidungen verloren. Durch dieses Dickicht bahnt sich Ubel seinen Weg mit dem Ziel,

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dazu beizutragen, dass offenen und ehrlich über das Thema „Rationierung im

Gesundheitssystem“ diskutiert wird; dass die Ärzte die Notwendigkeit erfassen, sich in Form

von äR am Rationieren zu beteiligen; und dass die Bedeutung von CEAs für

Rationierungsentscheidungen richtig erkannt wird. Dieses Thema ist nicht populär. Das sieht

Ubel ebenso klar wie das Faktum, dass er nur eine erste Sondierung des Geländes bietet:

“Viele Fragen müssen noch bearbeitet werden, bis wir in der Lage sein werden, ethischer zu

rationieren“ ([31], S.xix).

2. Die grundsätzliche Beschränkung des äR auf „marginal nützliche Leistungen“

Bedside Rationing bei lebensrettenden Maßnahmen auch nur in Erwägung zu ziehen, hält

Ubel für absolut unangemessen ([31], S.178). Ethisch akzeptables Bedside Rationing ist

darauf beschränkt, „to reduce marginally beneficial services that bring small or infrequent

benefits at great financial cost“ ([31], S.150). Wie ist diese komplexe Formel zu verstehen?

Grammatikalisch ist klar: Akzeptables Bedside Rationing ist nicht begrenzt auf Leistungen,

die ein nur „geringes“ Ausmaß an (Zusatz-) Nutzen brächten, sondern umfasst auch solche

mit einem „seltenen“ Nutzen; und beides wird zusammengefasst unter dem Oberbegriff

„marginal nützliche Leistungen“. Mit „seltenem“ Nutzen wird offenkundig die

Eintrittswahrscheinlichkeit eines (kleineren oder größeren) Nutzens markiert. Für diesen

Begriff der „Seltenheit“ bietet Ubel keine positive Bestimmung, doch wiederholt macht er am

Beispiel von Krebsvorsorgeuntersuchungen deutlich, worum es ihm geht: In diesem Bereich

hat man ja die Möglichkeit, durch die Anwendung der jeweils besten, aber teuren

diagnostischen Verfahren und durch die Verkürzung der zeitlichen Intervalle zwischen den

Untersuchungen immer noch einmal, vielleicht bei jedem 100 000. Untersuchten, einen Krebs

früher zu entdecken – zum Vorteil des betreffenden Patienten. Doch dabei können kumulierte

Kosten von einigen Millionen Dollars pro zusätzlich gewonnenem Lebensjahr entstehen.

Derartigen Umgang mit den finanziellen Ressourcen des Gesundheitswesens hält Ubel für

absolut inakzeptabel. Hier sei Bedside Rationing unumgänglich ([31], S.40).20

3. Die angemessene Rolle von CEAs beim ärztlichen Rationieren

Auch wenn CEAs keineswegs perfekt sind, so sind sie doch „unser nützlichstes Werkzeug,

sowohl beim äR als auch beim Erstellen von Richtlinien“ ([31], S.xix). Denn ihr Vorzug ist

es, dass sie „informativ, explizit und quantitativ sind“ ([31], S.6). Sie bieten die entscheidende

Hilfe, wenn es darum geht, Interventionen zu identifizieren, die nur „geringen oder seltenen“

Nutzen bringen, aber einen großen kumulierten Kostenaufwand implizieren, wie das z.B. bei 20 Auf diesen Bereich der Vorsorgemaßnahmen gehen Hurst/Danis nur am Rande ein. Marckmann klammert ihn ganz aus – vermutlich deshalb, weil dieser Bereich in Deutschland durch explizite Rationierung geregelt ist.

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Vorsorgemaßnahmen der Fall sein kann. Sie geben dem Arzt „einen Bezugspunkt, um

Interventionen zu vergleichen und zu beurteilen“ ([31], S.177). Andernfalls würde womöglich

nur nach Gefühl und Augenschein gespart, also ineffektiv und irrational und damit unethisch

([31], S.6). Doch die Ärzte müssen bei der Anwendung von CEAs um deren Grenzen in

methodischer(1) und ethischer(2) Hinsicht wissen: Ad 1: CEAs kalkulieren Durchschnitts-

kosten einer Intervention dividiert durch deren Durchschnittsnutzen in Bezug auf eine

bestimmte Kategorie von Patienten; „aber die meisten Patienten sind nicht Durchschnitt“

([31], S.100). – Ad 2: CEAs fokussieren ausschließlich die Kosteneffektivität und

unterschätzen bzw. diskriminieren damit den Wert jener – oft nicht sehr kosteneffektiven –

Interventionen, die sich auf Lebensrettung beziehen oder auf die Verbesserung der

gesundheitlichen Situation Schwerkranker, chronisch Kranker und Behinderter ([31], S.178).

Außerdem klammern sie die Bedeutung „fairer Verteilung“ von Gesundheitsleistungen oder

Gesundheitschancen aus, weil faire Verteilung den Verzicht auf das nach utilitaristischen

Regeln mögliche Optimum an durchschnittlicher Gesundheit der Bevölkerung impliziert.

Aufgrund dieser Grenzen können CEAs beim Rationieren prinzipiell nur als Anhaltspunkt

(„guide“) für Entscheidungen fungieren und nie als deren ausschließliche Determinante ([31],

S.170). „At the bedside“, d.h. im Blick auf den einzelnen Patienten, kann und soll der Arzt

erstens die klinischen Faktoren berücksichtigen, die die tatsächliche Kosteneffektivität in

diesem konkreten Fall – u.U. in Differenz zur entsprechenden CEA – bestimmen, und

zweitens diese Kosteneffektivität in Beziehung setzen zu anderen ethisch relevanten

Gesichtspunkten ([31], S.100). Es geht um „balancing cost-effectiveness and fairness“ ([31],

S.67). Weil dies so nur auf der individuellen Arzt-Patient-Ebene möglich ist, könnte gerade

der Arzt in der besten Lage sein, die Stärken von CEAs zu nutzen und zugleich deren

Schwächen zu minimieren ([31], S.151).21 Das setzt voraus, dass die Ärzte durch

entsprechendes Training mit der Interpretation von CEAs vertraut gemacht werden und die

Kompetenz erwerben, CEAs angemessen in ihre Entscheidungen einzubeziehen ([31], S.143).

4. Ärztlicher Widerstand gegen unethisches Rationieren

Ubel versteht sein Plädoyer für BR von „marginal beneficial services“ keineswegs als einen

Blankoscheck für die Ökonomisierung des Gesundheitswesens: „Ärzte – so fordert er –

müssen viel offensiver sein in der Debatte über institutionelle Vorgaben zur Rationierung und 21 Diese Möglichkeit führt Ubel zu der bemerkenswerten These: “CEA may be better able to guide rationing decisions for individual clinicians ‘at the bedside’ than for a large health care provider or state Medicaid program trying to devise a global plan” ([31], S.100). – Ubels Option für die Zukunft ist die Entwicklung modifizierter CEAs, bei denen die „societal preferences“ bereits einkalkuliert sind. Dem Stand der Forschung zu diesem „attempt to quantify equity“ ([31], S.172) widmet er ein eigenes Kapitel ([31], S.155ff.). Ob solche CEAs auch für Bedside Rationing von Bedeutung sein sollen oder nur für Rationierungsentscheidungen auf Systemebene, bleibt unklar.

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Finanzierung. Wenn Institutionen des Gesundheitswesens aggressiv Profitmaximierung

betreiben, dann müssen die Ärzte einschreiten und diese Institutionen an andere Prioritäten

erinnern!“ ([31], S.181).

Hurst/Danis’ „Orientierungsrahmen“

1. Ausgangspunkt und Anliegen

Die Autorinnen gehen davon aus, dass – wie ihre eigenen empirischen Studien zeigen –äR

international weit verbreitet ist, die Ärzte jedoch diese Praxis eher selten unter dem

Gesichtspunkt der Gerechtigkeit reflektieren [8]. Damit besteht die reale Gefahr, dass diese

Entscheidungen sehr subjektiv und von Voreingenommenheiten geprägt sind [11]. Außerdem

sehen Hurst/Danis, trotz der Ansätze bei Ubel, noch zu wenig geklärt, wie Bedside Rationing

fair zu praktizieren ist. Mit ihrem Orientierungsrahmen antworten sie auf diese ethisch

gesehen unbefriedigende Situation und formulieren als bescheidene Zielsetzung: „The

framework is intended to begin attempts to refine the practice of rationing by clinical

judgment. By adopting minimal requisite conditions for rationing by clinical judgment,

clinicians could practice bedside rationing more fairly. They may also be able to advocate

more effectively for their patients in situations where pressure could be exerted on them to

ration without meeting these requirements” ([11] – kursiv: C.R.). Es geht Hurst/Danis also um

einen Beitrag zur Frage, wie die bestehende Praxis des äR verbessert werden kann, und nicht

um einen Entwurf mit dem Anspruch des ethisch Optimalen. Diese Begrenzung des

Anliegens ist bei der Interpretation ihres Entwurfs konsequent im Auge zu behalten.

Außerdem wollen Hurst/Danis eine öffentliche Diskussion über Bedside Rationing in Gang

bringen ([13]; [11]; [8]); denn eine ausdrückliche gesellschaftliche Übereinkunft ist

notwendig, damit Rationierungsentscheidungen Legitimität beanspruchen können [11].

2. Die drei Grundkonstellationen ärztlichen Rationierens

Hurst/Danis unterscheiden drei Grundkonstellationen, in denen äR erfahrungsgemäß bereits

vorkommt, und ihr Konzept erhebt ausdrücklich den Anspruch, für all diese Konstellationen

Orientierung zu bieten.22 Dabei ist ihnen wohl bewusst, dass jede von ihnen noch einmal

spezifische Probleme impliziert:

(1) Die Konstellation der „Triage“ (= äR Typ I), wo die örtlich verfügbaren Ressourcen

offenkundig und unmittelbar knapp sind und zwischen ganz bestimmten Patienten verteilt

22 Ubel und Marckmann gehen auf die ersten beiden der im folgenden charakterisierten Konstellationen nicht ein, sondern focussieren ausschließlich die dritte.

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werden müssen. Das klassische Beispiel dafür ist das letzte verfügbare Bett auf einer

Intensivstation.23 Es geht hier um Konkurrenz zwischen konkreten Patienten.

(2) Die Konstellation des Vergleichs mit potentiellen Patienten (= äR Typ II), wo die

Ressourcenlage angespannt oder fixen Begrenzungen unterworfen ist, wie z.B. bei nur

begrenzt zur Verfügung stehenden Blutprodukten oder bei Knappheit an Influenza-

Impfstoffen. Hier gibt es zwar keine direkte Konkurrenz zwischen konkreten Patienten;

trotzdem werden die Kandidaten für eine Intervention verglichen mit anderen Patienten, die

potenziell dieselbe Ressource benötigen. Es geht um Konkurrenz zwischen konkreten und

potentiellen Patienten.

(3) Die Konstellation der „Anwendung eines Schwellenwerts“ (= äR Typ III), wo der Arzt im

Blick auf einen konkreten Patienten zu dem Urteil gelangt, dass der Zusatznutzen, den eine

bestimmte zusätzliche Intervention brächte, den zusätzlichen finanziellen Aufwand nicht wert

ist, also der Kosten-Effektivitäts-Quotient hier die „Schwelle des Vernünftigen“

überschreitet.24 Z.B. könnte es ein Arzt mit dieser Begründung unterlassen, dem konkreten

Patienten zusätzlich zu den bereits verordneten Medikamenten ein weiteres zu verschreiben

[11].25

Die gemeinsame Logik dieser drei Rationierungskonstellationen besteht nach Hurst/

Danis darin, dass die ärztliche Entscheidung jeweils über den Horizont der individuellen Arzt-

Patient-Beziehung hinausblickt. „Der Arzt stellt den Patienten, den er vor sich hat, in den von

Konstellation zu Konstellation weiter werdenden Kontext konkurrierender Patienten und

entscheidet im Blick auf diese über den Verbrauch beschränkter Ressourcen“ [11]. Die Frage

lautet dann, woran sich seine Entscheidung orientieren soll, um als fair gelten zu können.

Indem Hurst/Danis in ihr Konzept auch äR Typ I und II einbeziehen, unterscheiden sie

sich schon im Ansatz von Ubels und Marckmanns Entwürfen, die sich nur mit äR Typ III

befassen. Der Versuch, ein Konzept zu entwickeln, das allen drei Typen ethische Orientierung

bietet, hat natürlich im Blick auf eine systematische Theorie des äR seinen Reiz; doch er

erhöht die Komplexität des Konzepts und birgt einige Tücken, wie sich noch zeigen wird.26

23 Oder Entscheidungen darüber, welcher Patient bei der morgendlichen Runde des Intensivteams welchen Anteil am „Zeitkuchen“ erhält; oder welcher Patient - bei limitiertem Pflegepersonal – mehr bzw. weniger pflegerische Zuwendung bekommt [11]. 24 Zur Frage, wie dieser „threshold of reasonableness“ nach Hurst/Danis zu bestimmen ist, vgl. unten S.24-28. 25 Zwei weitere Beispiele: Eine Patientin leidet an hormonsensitivem metastasiertem Brustkrebs und an Herz-durchblutungsstörungen. Leitlinien für die sekundäre Prävention von koronaren Herzerkrankungen schließen die Behandlung von Hypercholesterolämie mittels Statinen ein. Ist der Nutzen von Statinen für diese Patientin ausreichend, um deren Verordnung rechtfertigen? – Ein Patient mit weit fortgeschrittenem metastasiertem Colon-Ca könnte durch ein sehr teures Mittel nach Auskunft von Studien (durchschnittlich) zwei Wochen an zusätzlicher Lebenszeit gewinnen. Ist die Verordnung dieses Mittels in diesem Fall zu rechtfertigen [11]? 26 Vgl. unten Anm.28, 31, 34, 53 und 54.

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3. Ein Orientierungsrahmen für ärztliches Rationieren [11]

Damit der Entscheidungsprozeß beim äR als vertrauenswürdig gelten und sein Ergebnis

moralische Legitimität beanspruchen kann, müssen elementare Bedingungen der Fairness

erfüllt sein. Außerdem muss es bei Rationierungsentscheidungen immer Raum geben für eine

legitime Vielfalt unterschiedlicher Werte. Ein allgemeiner Orientierungsrahmen für „faires

und legitimes BR“ hat daher ein offenes System zu sein. Hurst/Danis formulieren dafür sechs

Eckpunkte27, die sie unterschiedliche Begriffe wählen: sechs „minimale“ „Elemente“,

„Bedingungen“, “Forderungen“.

Element I: Gerechtigkeitserwägungen als Basis von Rationierungsentscheidungen. Ärzte

sollten darauf eingestellt sein, ihr Rationieren im Licht grundlegender Gerechtigkeits-

erwägungen zu reflektieren, d.h. die Bedeutung und das Konzept von „Fairness“ kennen und

die drei traditionellen Ansätze distributiver Gerechtigkeit: den utilitaristischen (Welcher

Patient würde am meisten von der Ressource profitieren bzw. am wenigsten verlieren, wenn

man ihm die Ressource vorenthielte?)28, den „prioritären“ (Priorität für den Patienten, der

am schlechtesten dran ist und am dringendsten Hilfe braucht!) und den egalitären (Die

notwendigen Leistungsbegrenzungen sind so gleichmäßig zu verteilen wie nur möglich!29).

Die Ärzte sollten die „basic elements“ dieser der Ansätze verstehen (lernen) und wie diese –

je für sich genommen – zu unterschiedlichen praktischen Folgerungen führen.30

Element II: Respekt vor individuellen Unterschieden bzw. Varianten, auch wenn das in

Spannung stehen kann zu allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen.

Element III: Wechselseitigkeit (“reciprocity”) als Basis von Entscheidungen. Dies impliziert

für Hurst/Danis offenkundig dreierlei: Erstens stellt dies eine Barriere dar gegenüber der

Gefahr einseitiger, parteilicher Entscheidungen.31 Zweitens ist „Wechselseitigkeit des

Opfers“ („reciprocal sacrifice“) eine grundlegende Bedingung, wenn es darum geht, Opfer

zugunsten anderer zu rechtfertigen. Und diese Wechselseitigkeit setzt drittens ein 27 Sie greifen hier ausdrücklich auf das Konzept der „accountability for reasonableness“ von Daniels/Sabin [4] zurück und betonen gleichzeitig, dass dieses für die Praxis des äR keine zureichende ethische Orientierung bietet [11]. 28 Indem Hurst/Danis an dieser Stelle bei der utilitaristischen Perspektive nicht die Kosteneffektivität, sondern den puren Nutzen fokussieren, bewegen sie sich im Horizont von äR Typ I und II. Das ändert sich dann natürlich bei der Diskussion um äR Typ III. 29 An anderer Stelle wird die egalitäre Perspektive durch den Hinweis erläutert: „die Höhe des Risikos, das mit dem Vorenthalten einer Ressource verbunden ist“, sollte möglichst gleich sein. 30 Dies sei zwar anfordernd, aber auch nicht anfordernder als andere heutzutage selbstverständliche Fertigkeiten, „such as the use of decision analysis in diagnostic approaches, or evidence based medicine“ [11]. Ubel bleibt in seinem kurzen Kommentar zu Hurst/Danis an deren anspruchsvollem Begriff „ethical theories“ hängen und kommt zu dem Schluss, dass diese Theorien für den Alltag der Rationierungspraxis überflüssig seien [34]. Tatsächlich ist Hurst/Danis’ Sprachgebrauch missverständlich. Ihre konkreten Beispiele (vgl. unten Anm.33) zeigen jedoch, dass es nicht „Gerechtigkeits-Theorien“ geht, sondern um (einander ergänzende) Gerechtigkeits-Perspektiven. Und diese spielen natürlich auch bei Ubel eine unverzichtbare Rolle. 31 Der Arzt hat sich selbstkritisch zu fragen: „Würde ich die Ressource, die ich im Begriff bin, Patient A vorzuenthalten zugunsten von Patient B, bei umgekehrter Ausgangssituation Patient B vorenthalten zugunsten von Patient A“ [13]? – Diese Frage „greift“ bei äR Typ I (und vielleicht bei äR Typ II), nicht aber bei äR Typ III.

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„geschlossenes System“ voraus, in dem es möglich ist, dass das Opfer des einen Patienten

dem anderen zugute kommt; also einen Pool gemeinsam geteilter Ressourcen, „ein

gemeinsames Gut, auf dessen Verteilung Regeln der kooperativen Fairness anzuwenden

sind.“32

Element IV: Konsistente Anwendung desselben Entscheidungsprozesses in jedem

einzelnen Fall, um ein Mindestmaß an prozeduraler Gerechtigkeit einzuführen.

Element V: Ausdrücklichkeit des Prozesses der Rationierungsentscheidung, so dass sie von

allen Betroffenen überprüft werden kann (Transparenz).

Element VI: Regelmäßige Überprüfung der Rationierungsentscheidungsprozesse anhand der

Auswertungsfragen: Muss das Konzept weiterentwickelt werden? Und wie sorgfältig wird das

Konzept in der Praxis angewendet? (Qualitätssicherung)

Regeln zu Anwendung dieser Elemente

Damit die Gesamtheit dieser Elemente in der Praxis anwendbar wird, braucht es nach

Hurst/Danis weitere Klärungen und eine bestimmte „Strategie des Denkens“, zumal einzelne

der Anforderungen in Spannung zueinander stehen. Zwei dieser klärenden Regeln scheinen

mir besonders wichtig:

(1) Die Perspektiven der Gerechtigkeit (= Element I) sollten vom einzelnen Arzt konsistent,

d.h. Willkür „reduzierend“, angewendet werden (= Element IV). Dieses Ziel lässt sich

prinzipiell auf sehr verschiedene Weise erreichen, z.B. dadurch, dass eine dieser Perspektiven

auf alle Fälle angewendet wird. Doch Hurst/Danis sehen das angemessenste Verfahren darin,

in jeder Situation alle drei Gerechtigkeitsperspektiven zu berücksichtigen und gegeneinander

abzuwägen – anhand der Maxime „Choosing the smallest available wrong“ [11].33

32 Vgl. dazu unten S.29f. 33 Sie erläutern dies folgendermaßen: „Der wahrscheinliche Nutzen einer eingesetzten Ressource; die mit dem Vorenthalten einer Ressource verbundene Höhe des Risikos; und wie gut oder schlecht Patienten dran sind: all dies ist von Fall zu Fall verschieden. Das bedeutet: das Ausmaß an Ungerechtigkeit, das damit verbunden ist, dass man eines dieser Momente und damit eine der Gerechtigkeitsperspektiven hintanstellt, wird - zumindest in einigen Fällen - variieren, so dass dann in einem konkreten Fall eine bestimmte Gerechtigkeitsperspektive größeres Gewicht haben wird als andere.“ – Man betrachte zum Beispiel folgende Patienten in einer Triage-Situation: Der erste könnte von der Intervention geringfügig mehr gewinnen als der andere, doch der zweite ist viel schlechter dran. Wem soll die Intervention zuteil werden? Es stehen sich gegenüber die Prioritätsperspektive zugunsten des Morbideren und die utilitaristische Perspektive zugunsten des weniger schwer Kranken. „In diesem Fall nicht den Morbideren zu favorisieren, d.h. den „prioritäten“ Ansatz hintanzustellen, liefe auf ein viel größeres Maß an Ungerechtigkeit hinaus, als wenn man einen geringfügig höheren Gesamtnutzen (und damit die utilitaristischen Ansatz) aufgäbe.“ Das bedeutet: Gemäß der Maxime „Choosing the smallest available wrong“ – bezogen auf das Ausmaß an Ungerechtigkeit – müsste der Morbidere den Vorzug erhalten. „Doch damit dies als ein konsistenter Prozess gelten kann, ist es erforderlich, dass der Arzt selbstverständlich unter entgegengesetzten Bedingungen zum entgegengesetzten Schluss kommt, nämlich wenn ein Patient nur geringfügig schlechter dran ist als der andere, der andere jedoch viel mehr von der Intervention profitieren kann“ [11]. – Dazu drei kritische Anmerkungen: (1) „Choosing the smallest available wrong“ leuchtet als Grundsatz intuitiv ein, setzt jedoch Regeln für das Abwägen voraus, um anwendbar zu sein. (2) Die Einschränkung „zumindest in einigen Fällen“ limitiert deutlich die Tragfähigkeit dieses Abwägemodells. (3) Das Beispiel stammt aus dem Bereich des äR Typ I und lässt sich m.E. nicht auf äR Typ III übertragen.

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(2) Die bei der Berücksichtigung von individuellen Variationen (= Element II) verlangte

Konsistenz (= Element IV) bedeutet, dass bei den einzelnen Patienten unter allen Umständen

dieselben Arten von individuellen Charakteristiken in Betracht gezogen werden: individuelle

Präferenzen; individuelle Prognose, d.h. Wahrscheinlichkeit von Nutzen, Risiko und

Belastung; sowie Grad der Bedürftigkeit. Altersdiskriminierung wird, wie jede andere Form

von Diskriminierung, ausdrücklich ausgeschlossen [11].

4. Weitere Charakteristika des Ansatzes von Hurst/Danis

(1) Hurst/Danis gehen spezifische Schwierigkeiten durch, die sich bei der Anwendung des

Orientierungsrahmens auf die verschiedenen Typen des äR ergeben. Am interessantesten und

für den Vergleich mit Ubel und Marckmann besonders relevant sind dabei die Überlegungen

zu äR Typ III. Hier wird erstens eine differenzierte Prozedur entwickelt, wie CEAs

angemessen auf einzelne Patienten anzuwenden sind. Und zweitens wird reflektiert, wie es zu

einer akzeptablen Bestimmung der Schwelle des Vernünftigen im konkreten Fall kommen

kann.34

(2) Hurst/Danis’ praktische Vorschläge laufen im Grunde darauf hinaus, Schritt für Schritt

eine Kultur ärztlichen Rationierens zu entwickeln: Gemeinsames Training in konsistenter

Anwendung des Orientierungsrahmens; Dokumentation von Rationierungsentscheidungen,

„verständlich und zugänglich für alle Betroffenen“; Einübung, Pflege und Weiterentwicklung

einer Kasuistikkultur, indem Ärzte in Gruppen anhand konkreter Fälle ihre Rationierungs-

praxis miteinander vergleichen – nicht mit dem Ziel, einen verbindlichen Mittelwert zu

finden, sondern um die Qualität des äR zu sichern.35 Hurst/Danis sind sich bewusst, dass dies

Zeit und Geld kostet. Eine ethische Kultur der Rationierung sei ebenso wenig zum Nulltarif

zu haben wie der Erwerb und die Pflege von Entscheidungskompetenzen in anderen

Bereichen, z.B. bei der Diagnoseerstellung [11].

(3) Beschränkt sich ethisch akzeptables äR bei Hurst/Danis auf Interventionen von nur

geringfügigem Nutzen? „Nein, nicht prinzipiell!“ antwortet Hurst und fährt fort: „Doch ich

glaube, dass die Anwendung der Bedingungen, die wir skizzieren, darauf hinausliefe,

ausschließlich Interventionen mit marginalem Zusatznutzen vorzuenthalten. Denn schließlich

lautet eine dieser Bedingungen, dass Entscheidungen transparent sein müssen, und es ist

wahrscheinlich, dass auf dieser Basis nur das Verweigern von marginalem Zusatznutzen als

ethisch akzeptabel erachtet würde“ [12]. Damit wäre de facto auf dem Weg über

34 Vgl. dazu unten S.22-28. 35 Eine gewisse Fokussierung des Orientierungsrahmens auf den Klinik-Kontext ist hier unübersehbar und nicht ohne Grund: Das dem Artikel zugrundeliegende Forschungsprojekt war auf den Bereich der Intensivmedizin ausgerichtet[13]. Hurst besteht jedoch darauf, dass ihr Konzept auch für den außerklinischen Bereich Orientierung bietet – mit den entsprechenden Modifikationen bei der Applikation [13].

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Feedbackprozesse ein selbständiges inhaltliches Kriterium in den Prozess des äR eingeführt,

und das würde das Konzept m.E. erheblich verändern.36 Fraglich scheint mir, ob sich dieses

Kriterium auch im Rahmen von äR Typ I und II konsequent durchführen lässt. Und vielleicht

ist dies der Grund, warum Hurst/Danis zögern, daraus ein apriorisches Prinzip für äR zu

machen.

Marckmanns Konzept

1. Ausgangspunkt und Anliegen

Hurst/Danis wählen einen Ansatz, den man „induktiv“ nennen könnte. Ihr Konzept zielt

darauf ab, eine bereits gängige, doch ethisch fragwürdige ärztliche Rationierungspraxis zu

verbessern. Darin unterscheiden sie sich grundsätzlich von Marckmanns Ansatz, den man

„deduktiv“ nennen könnte, weil er – unter den bereits genannten einschränkenden

Bedingungen – grundsätzlich die Tür für äR öffnen will und sich herausgefordert sieht,

Kriterien für eine ethisch akzeptable Praxis des äR aufzustellen. Sein Ausgangspunkt ist das,

was er den „ethischen Grundkonflikt“ nennt, der mit äR verbunden ist: Ärzte werden zu

„‚Doppel-Agenten’, die nicht mehr wie bisher ausschließlich die Interessen des einzelnen

Patienten, sondern „auch die Interessen anderer (aktueller und zukünftiger) Patienten zu

vertreten haben“ ([21], S.34f. u. 61). Deshalb sollte äR „in einer Weise“ durchgeführt

werden, die die Konflikte mit der traditionellen Grundausrichtung ärztlichen Handelns

„minimiert“ ([21], S.57): ÄR hat einem elementaren inhaltlichen Kriterium und bestimmten

prozeduralen Mindeststandards zu entsprechen.

2. Das elementare inhaltliche Kriterium für ethisch akzeptables äR

Marckmann formuliert es folgendermaßen: „Der Arzt sollte zunächst solche Maßnahmen

vorenthalten, die dem Patienten nur einen geringen oder sehr unwahrscheinlichen Nutzen

(schlechte Evidenzlage) bei vergleichsweise hohen Kosten37 bieten. Je kleiner der

vorenthaltene Nutzen ist, desto weniger weicht der Arzt von seiner ethischen Verpflichtung

ab, die optimale Therapie für seinen Patienten auszuwählen. Dies setzt voraus, dass der

Patient eine alternative Behandlung mit einem günstigeren Kosten-Nutzen-Verhältnis erhält.

Wenn eine entsprechende Alternative fehlt, ist das Vorenthalten auch einer sehr teueren,

medizinisch wirksamen Maßnahme ethisch nicht vertretbar, da das Wohlergehen des

Patienten erheblich beeinträchtigt würde“ ([21], S.56f.).

36 Vgl. dazu unten S.34. 37 An anderer Stelle spricht er von „sehr teuren“ Maßnahmen mit einem geringen Nutzengewinn für den Patienten ([21], S.58).

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Dieser Text, durch keinerlei Beispiele erläutert, wirft mehrere Interpretationsprobleme auf:

(1) Wie ist das „zunächst“ zu verstehen? Marckmann erklärt es im mündlichen Gespräch als

einen zeitlichen Index: Zurzeit können wir es uns im Blick auf die verfügbaren Ressourcen

leisten, das unvermeidliche Vorenthalten nützlicher Maßnahmen auf solche mit „geringem“

Nutzen zu beschränken.

(2) Wie ist die Formulierung „Maßnahmen, die dem Patienten nur einen geringen oder sehr

unwahrscheinlichen Nutzen (schlechte Evidenzlage) bieten“ zu verstehen? Zunächst scheint

klar: „Gering“ bezieht sich auf das Ausmaß an Nutzen, den eine bestimmte Intervention

einem bestimmten Patienten voraussichtlich erbringen wird. „Sehr unwahrscheinlich“

bedeutet, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit eines – größeren oder kleineren – Nutzens als

sehr gering einzuschätzen ist; und das scheint identisch mit dem, was Ubel als „infrequent

benefits“ bezeichnet.38 Doch diese Klarheit wird getrübt durch die in Klammern als

Erläuterung hinzugefügte Formel „schlechte Evidenzlage“. Denn der Terminus „schlechte

Evidenzlage“ ist mehrdeutig. Er kann erstens „sehr geringe Eintrittswahrscheinlichkeit“

bedeuten; zweitens „schlechte Evidenzstärke“ (z.B. wenn es für die in Frage stehende

Maßnahme bislang nur eine viertklassige Studie gibt); und drittens kann eine zunächst eher

günstige allgemeine Evidenzlage dadurch zu einer „schlechten“ werden, dass sie auf die

schlechte Gesamtsituation eines bestimmten Patienten heruntergebrochen wird.

(3) Auch die folgende Passage scheint mir missverständlich: „Es setzt voraus, dass der

Patient eine alternative Behandlung mit einem günstigeren Kosten-Nutzen-Verhältnis erhält.

Wenn eine entsprechende Alternative fehlt, ist das Vorenthalten auch einer sehr teueren,

medizinisch wirksamen Maßnahme ethisch nicht vertretbar, da das Wohlergehen des

Patienten erheblich beeinträchtigt würde.“? Wird hier eine zusätzliche inhaltliche

Bedingung für äR aufgestellt? Nein!, betont Marckmann im mündlichen Gespräch. Das

Grundkriterium lautet: „geringer Nutzen einer bestimmten Intervention bei vergleichsweise

hohen Kosten“, und beide Größen – Nutzen und Kosten – sind prinzipiell Vergleichswerte,

nämlich „Zusatznutzen“ und „Zusatzkosten“ im Vergleich zu alternativen Behandlungs-

möglichkeiten. Die in Frage stehende Passage lässt sich also so umschreiben: Auch eine sehr

teure Maßnahme darf nicht vorenthalten werden, wenn sie – im Vergleich zur besten

kostengünstigeren Alternative – voraussichtlich einen mehr als „nur geringen“, also einen

signifikanten Zusatznutzen bringt.

38 Freilich bezieht sich Marckmann im Unterschied zu Ubel nirgends auf das Thema Screening und Screening-Intervalle. Welche Beispiele hat er vor Augen? Und schließlich wäre ethisch noch zu reflektieren, ob ein „sicherer“ geringer Nutzen und ein „sehr unwahrscheilicher“, also „unsicherer“, aber möglicherweise signifikanter, vielleicht gar lebens-rettender Nutzen als gleichrangig zu beurteilen sind. Man denke etwa an das berühmte eine Prozent Heilungschance, für das ein Krebspatient bereit ist, eine weitere sehr belastende und vielleicht sehr teure Chemotherapie durchzustehen.

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3. Die prozeduralen Mindeststandards für äR

Marckmann formuliert kurz und bündig sieben prozedurale Kriterien und bezieht sich dabei

ausdrücklich auf die Vorarbeiten von Daniels/Sabin [4]39 und Emmanuel [6]:

• Transparenz: Die Patienten sollten über Rationierungen informiert werden.

• Konsistenz: Nach Möglichkeit sollten Ärzte bei allen Patienten die gleichen

Zuteilungskriterien und Bewertungsstandards anwenden, sodass Patienten in

vergleichbaren medizinischen Situationen auch die gleiche Behandlung erhalten,

sofern dem nicht individuelle Patientenpräferenzen entgegenstehen.

• Begründung: Jede Rationierung sollte auf einer nachvollziehbaren Begründung

beruhen, die den betroffenen Patienten zugänglich zu machen ist.

• Evidenzbasierung: Zuteilungsentscheidungen sollten die verfügbare Evidenz

hinsichtlich des gesundheitlichen Nutzens und der zu erwartenden Kosten

berücksichtigen.

• Widerspruchsmöglichkeiten: Patienten, denen der Zugang zu einer gewünschten

Leistung verwehrt wird, sollten Widerspruchsmöglichkeiten offen stehen.“ ([21],

S.56f.).

4. Weitere prozedurale Elemente

Marckmann plädiert außerdem dafür, „in schwierigen Fällen ‚Kosten-Fallbesprechungen’

durchzuführen, bei denen Ärzte gemeinsam überlegen, ob bei einem Patienten eine teure

Maßnahme mit geringem oder fraglichem Nutzen durchgeführt werden soll. Die gemeinsame

Fallberatung verringert die Gefahr einseitiger Bewertungen und willkürlicher Entscheidungen

– die Subjektivität des Einzelnen wird in eine Intersubjektivität überführt, mehrere

Perspektiven finden Berücksichtigung – und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest in

der betreffenden Klinik bei allen Patienten vergleichbare Bewertungsmaßstäbe angelegt

werden. In Konfliktfällen kann als weitere prozedurale Absicherung ein klinisches Ethik-

Komitee hinzu gezogen werden“ ([21], S.57).

b) Einzelne wesentliche Aspekte im Vergleich

Aus ethischer Sicht gibt es bei ärztlichen Rationierungsentscheidungen einige besonders

sensible Aspekte, die im folgenden noch speziell unter die Lupe genommen werden sollen:

der Stellenwert von Kosteneffektivität und die Rolle von CEAs; die Bestimmung der

Schwelle, jenseits derer eine Intervention aus Kosteneffektivitätsgründen als nicht mehr

39 Vgl. dazu oben Anm.1 sowie S.2.

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„vernünftig“ zu beurteilen ist; die Frage der Transparenz des äR gegenüber dem Patienten; die

Frage, zu wessen Gunsten beim äR gespart werden soll.

Der Stellenwert von Kosteneffektivität

Bei diesem Thema gibt es ein Höchstmaß an Übereinstimmung zwischen allen AutorInnen.

Marckmann formuliert es kurz und bündig: „Bei der Allokation knapper Ressourcen ist es

ethisch nicht vertretbar, die Kosteneffektivität medizinischer Maßnahmen zu ignorieren“ [18].

Zugleich plädieren alle dafür, diese utilitaristische Perspektive durch andere, konkurrierende

ethische Kriterien zu relativieren. Ubel vollzieht diese Relativierung, indem er erstens BR

prinzipiell auf „marginally beneficial services“ beschränkt und zweitens durch den Bezug auf

die „societal rationing preferences“ ein Gegengewicht schafft gegenüber dem puren Kosten-

Nutzen-Kalkül. Marckmanns Devise lautet „Nutzenmaximierung mit gerechtigkeits-

ethischen Constraints!“ [20]. Das Kriterium der Kosteneffektivität wird relativiert durch die

Einschränkung: Ausschließlich sehr teure Maßnahmen mit einem nur geringen Zusatznutzen

für den Patienten dürfen unterlassen werden. Hurst/Danis fordern schon im Ansatz für jede

ärztliche Rationierungsentscheidung die Balance von utilitaristischer, egalitärer und

prioritärer Perspektive.

Die Rolle von Kosteneffektivitätsanalysen (CEAs)

Marckmann misst den verfügbaren CEAs beim äR keine Schlüsselrolle zu – und zwar mit

zwei Argumenten.40 Erstens gibt es für sehr viele Interventionen keine (soliden) CEAs; doch

auch in diesem Fall soll der Arzt zu der Einschätzung gelangen können, eine bestimmte

Maßnahme impliziere im konkreten Fall einen nur „geringen Nutzen bei vergleichsweise

hohen Kosten“.41 Das zweite Argument bezieht sich auf die spezifisch deutsche Situation, wo

es – anders als etwa in Großbritannien - keinen verbindlichen Schwellenwert gibt: „Ohne

verbindliche Vorgaben ist es wahrscheinlich, dass die Bewertung der Kosteneffektivität von

Arzt zu Arzt und auch von Patient zu Patient variieren wird, was zu einer problematischen

Ungleichbehandlung der Patienten führen kann“ ([21], S.55f.). Unter diesen gegebenen

Umständen sucht Marckmann einen ebenso verantwortbaren wie praktisch gangbaren Weg.

Bei Ubel und Hurst/Danis jedoch spielen CEAs eine zentrale Rolle. Das Problem des

häufigen Mangels an (soliden) CEAs sprechen sie nicht an.

40 Sie werden im Folgenden – auf der Grundlage von Gesprächen mit Marckmann – präziser formuliert als in dessen Veröffentlichungen. 41Wenn eine entsprechende CEA verfügbar ist, soll sie selbstverständlich in den Entscheidungsprozess einbezogen werden.

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Ubels Einstellung zu CEAs wurde bereits ausführlich dargestellt.42 Er sieht in der

konsequenten Berücksichtigung von CEAs die Chance, dass das bisher oft zufällige und

ineffiziente äR endlich eine solide Basis erhält, und verbindet damit überschwängliche

Hoffnungen: „CEA offers the type of information that... can formalize clinicians’ thinking

about rationing. If clinicians relied solely on cost-effectiveness to guide their rationing

decisions, they would be unlikely to ration haphazardly or discriminatorily“ ([31], S.151). Bei

dieser Äußerung scheint die sonst so betonte Relativierungsbedürftigkeit des Kosten-

Effektivitäts-Denkens ganz aus dem Blick zu geraten. Vor allem aber bleibt unklar, wie es

methodisch funktionieren soll, allgemeine CEAs zu relativieren durch die Berücksichtigung

der “societal rationing preferences” und individueller Gegebenheiten.

Genau an diesem Punkt führen Hurst/Danis einen entscheidenden Schritt weiter. Sie

gehen aus von den Ergebnissen ihrer empirischen Studien zur Praxis des äR Typ III, die

besagen: Wenn Ärzte zu der Entscheidung kommen, einem Patienten eine sehr teure

Intervention mit nur marginalem Nutzen vorzuenthalten, dann setzen sie zwar

notwendigerweise die Existenz einer bestimmten Schwelle voraus,43 doch ihr Urteil bezieht

sich in der Regel nicht auf einen bestimmten quantifizierten Kosten-Effektivitäts-Quotienten,

sondern beruht auf dem Vergleich mit Urteilen in anderen Fällen von teuren Interventionen

mit größerem oder geringerem erwartbarem Nutzen [13].

Diese vage Praxis wollen Hurst/Danis optimieren, indem sie nicht nur ihre sechs

Eckpunkte ins Spiel bringen, sondern darüber hinaus ein differenziertes Verfahren

entwickeln, wie die verfügbaren CEAs, die ja jeweils auf den Daten einer bestimmten

Studienpopulation basieren, „angemessen“ auf individuelle Patienten44 (unter spezifisch

lokalen Kostenbedingungen) anzuwenden sind. Ihr Ziel ist es, eine individuelle Kosten-

Effektivitäts-Beurteilung durchzuführen, die methodisch denselben Ansprüchen genügt, wie

es bei der Applikation der Ergebnisse evidenzbasierter Medizin auf individuelle Situationen

Standard ist [11]. Dadurch wird es möglich, dass das schlussendliche Abwägen, ob eine

bestimmte Maßnahme im konkreten Fall jenseits eines „vernünftigen“ Kosten-Nutzen-

Schwellenwerts liegt, auf einer nachvollziehbaren Grundlage erfolgt.

Das Verfahren zielt darauf ab, zwei Werte zu bestimmen: erstens, welches Maß an zu

erwartendem Benefit erforderlich ist, um eine spezifische Intervention bei einem konkreten

42 Vgl. oben S.12f. 43 Dies scheint der Sinn jener eigenartigen Formulierung zu sein, es gehe bei äR Typ III darum, „by reference to published population based thresholds“ ([11], Abstract) zu bestimmen, ob der erwartbare Nutzen einer Intervention für ausreichend gehalten wird, um deren Kosten zu rechtfertigen (Vgl. [12], [13]). 44 In den USA herrscht bis dato die Tendenz vor, das Anwenden allgemeiner CEAs auf individuelle Patienten-situationen als inakzeptabel anzusehen, weil dabei der von Hurst/Danis so betonte “ respect for individual variation“ auf der Strecke bleibe. (Mitteilung von David Isch/Texas)

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Patienten als indiziert zu betrachten (1); und zweitens das voraussichtliche Kosten-Nutzen-

Verhältnis der betreffenden Intervention bei dem betreffenden Patienten (2).

Ad 1) Zwei Schritte sind notwendig, um diesen Schwellenwert zu ermitteln: (1) Das Ausmaß

des von einer spezifischen Intervention erwartbaren Benefits ist vom Arzt zu bestimmen durch

Vergleiche zwischen dem betreffenden Patienten und dem Patientenprofil der

Studiengruppe.45 (2) Ob dieses Ausmaß an Benefit ausreicht, um die Intervention als indiziert

anzusehen, ist eine Frage individueller Einschätzung. Dieses Werturteil fällt – solange die

Kosten außer Betracht bleiben – klar in die Zuständigkeit des betreffenden Patienten und ist

mit diesem im Rahmen des Arzt-Patient-Settings zu klären.46

Ad 2) Um das zu erwartende Kosten-Effektivitäts-Level einer spezifischen Intervention im

konkreten Fall angemessen bestimmen, sind drei individuelle Zahlenwerte herauszufinden:

(1) Der voraussichtliche Benefit des individuellen Patienten in Form von zusätzlich

gewonnenen Lebensjahren: Die dafür grundlegenden Daten beziehen sich wieder auf den

Durchschnitt einer Studienpopulation. Und deshalb ist es auch hier wichtig zu beurteilen,

inwieweit der konkrete Patient von der Charakteristik der Studiengruppe abweicht.

(2) Die zusätzlichen Kosten der Intervention bzw. der mit dieser zu vergleichenden

Alternative: Auch hier ist ein Vergleich nötig; denn die Kostenannahmen in CEAs beziehen

sich auf die ihnen zugrunde liegenden Studien, und deren Kostenbedingungen können sich

von denen einer bestimmten Klinik in einem anderen Land erheblich unterscheiden.47

(3) Die durch die Intervention für den Patienten zu erwartende Lebensqualität („V“)48: Der

diesbezüglich in der allgemeinen CEA angesetzte Wert (V) beruht auf einer Quality-of Life-

Evaluation bei der Studienpopulation. Er ist entsprechend zu modifizieren, wenn der in Frage

stehende Patient sich signifikant von dem Patientenprofil der Studienpopulation unterscheidet.

Doch hier taucht ein grundlegendes Problem auf: Von welchem Standpunkt aus soll

dieser Wert V am besten bestimmt werden? Das sei in der Literatur umstritten, betonen

Hurst/Danis. Klar scheint ihnen allerdings dreierlei: (1) dass die Beurteilung von V jedenfalls

nicht allein dem Patienten überlassen bleiben kann; (2) dass das Arzt-Patient-Setting – im

Unterschied zu anderen Rationierungsebenen – der geeignete Ort ist für einen Patienteninput,

falls man einen solchen in dieser Frage grundsätzlich für legitim hält; und (3) dass ein 45 Hurst/Danis bemerken dazu: „This is a standard necessity, and a standard difficulty, in the application of Evidence Based Medicine” [11]. 46 Dieses Kriterium ist der Sache nach identisch mit Marckmanns Plädoyer für konsequente Berücksichtigung der Patientenpräferenzen. Vgl. oben S.8. 47 „Currently, however, many cost-effectiveness analyses give clinicians insufficient elements to make this judgment” [11]. 48 Die Standardeinheit von Kosteneffektivitäts-Analysen ist „cost per Quality Adjusted Life Year“ (QALY). QALYs geben die Zahl der Jahre an, die durch eine bestimmte Intervention im Durchschnitt hinzugewonnen wird, multipliziert mit einen Wert „V“ (= Value), der die Qualität des (hinzugewonnenen) Lebens eines bestimmten Patienten taxiert. „V“ ist eine Zahl zwischen 0 und 1, wobei 0 für Tod steht, 1 für perfekte Gesundheit und jede Zahl dazwischen ist Leben in weniger als perfekter Gesundheit.

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Konsens wünschenswert wäre hinsichtlich dessen, was einen legitimen Input des Patienten

zur Bestimmung von V ausmacht, so dass Element II (= respect for individual variations)

auch in dieser Frage zum Tragen käme [11]. Damit ist im Prinzip der Weg vorgezeichnet für

einen angemessenen Umgang mit CEAs bei der Bestimmung eines präzisen individuellen

Kosten-Effektivitäts-Quotienten. Allerdings scheint dieser Weg nur zum Teil gut begehbar,

denn nicht nur der zuletzt angesprochene Patienteninput ist noch ungeklärt, sondern auch der

oft gravierende Faktor „prognostische Unsicherheit“ bleibt in Hurst/Danis’ Verfahren

ausgeblendet, obwohl die Autorinnen dieses Problem natürlich kennen [9, 10].

Die Bestimmung der Schwelle zwischen Vernünftigkeit und Unvernünftigkeit einer

Intervention im konkreten Fall

Wie soll es nun zu dem Urteil kommen, dass es angesichts des ermittelten konkreten Kosten-

Effektivitäts-Verhältnisses „vernünftig“ bzw. „unvernünftig“ ist, die betreffende Intervention

bei diesem Patienten durchzuführen? Wie ist der von Hurst/Danis sog. „threshold of

reasonableness“ zu bestimmen? Fixe formelle Schwellenwerte jedenfalls sind der

Komplexität medizinischer Praxis nicht angemessen. Darin sind sich alle AutorInnen einig.49

Wie aber kommt es dann zur Bestimmung eines fallbezogenen Schwellenwerts?

Marckmann ist an dieser Diskussion nicht beteiligt, da er bewusst einen Weg

verfolgt, der ohne solch einen Schwellenwert zum Ziel führt.50

Ubel gibt auf unsere Frage erstaunlicherweise nur ganz knapp und eher beiläufig eine

Antwort: “Schlussendlich haben die Ärzte für sich selbst zu entscheiden, was ihre Schwelle

ist, wenn es darum geht, den Patienten Leistungen mit geringem Nutzen anzubieten bzw.

vorzuenthalten. Doch im Laufe der Zeit sollte ihr persönliches Urteil geprägt werden durch

vernünftige öffentliche Diskussion und Erfahrungswerte bezüglich Bedside Rationing“ ([31],

S.181. Vgl. S.10, S.46 u. S.171). Auf einen irgendwie vorgegebenen Schwellenwert nimmt er

49 Ubel geht im Rahmen seines Buches auf dieses Thema nicht ein, vertritt aber später diese Position ganz selbstverständlich [33]. – Hurst sieht ihren Orientierungsrahmen, der eine Verpflichtung zur Transparenz einschließt, ausdrücklich als bessere Alternative gegenüber der Orientierung des äR an einem fixen Schwellenwert [13]. – Marckmann hält einen absoluten Grenzwert beim Rationieren aus zwei Gründen für ethisch problematisch: „Zum einen gibt es keine wissenschaftliche Basis für eine Grenzziehung, jede Festlegung bleibt letztlich willkürlich. Zum anderen würde ein fester Grenzwert bedeuten, dass die Kosteneffektivität absolute Priorität gegenüber anderen Verteilungskriterien hätte. Dies erscheint wenig angemessen, da es gute ethische Gründe gibt, den Grenzwert zu überschreiten – zum Beispiel, wenn für einen Patienten keine kosteneffektivere Alternative zur Verfügung steht“ [18]. 50 Natürlich gibt es auch in Marckmanns Konzpt ein Schwellenproblem: Die Formulierung „geringer Nutzen bei vergleichsweise hohen Kosten“ bzw. „sehr teure Maßnahme mit einem geringen Nutzengewinn“ impliziert ein (sehr) ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis bei der betreffenden Intervention, und dessen Wert kann von Arzt zu Arzt unterschiedlich interpretiert werden. Doch dieses Problem relativiert sich m.E. drastisch, da als entscheidender Bezugspunkt nicht der Kosten-Effektivitäts-Quotient fungiert, sondern die prinzipielle Begrenzung auf Interventionen mit nur geringem Zusatznutzen – wenn wir an dieser Stelle einmal absehen von der unklaren Kategorie der Interventionen mit „sehr unwahrscheinlichem Nutzen (schlechte Evidenzlage)“.

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in seinem Buch nirgends Bezug.51 Und erst für die Zukunft erhofft er sich, dass Konsistenz

beim äR mehr bedeuten kann und wird, als dass jeder einzelne Arzt für sich „seinen“

Schwellenwert konsequent durchführt. Für die Gegenwart scheint er genau das in Kauf zu

nehmen, was Marckmann für den Fall befürchtet, dass man äR auf einen Schwellenwert

bezieht, ohne dass dafür eine vorgegebene Marke besteht, nämlich dass dann

„wahrscheinlich... die Bewertung der Kosteneffektivität von Arzt zu Arzt... variieren wird,

was zu einer problematischen Ungleichbehandlung der Patienten führen kann“ ([21], S.55f).

Wie finden Hurst/Danis den fallbezogenen Schwellenwert zwischen Vernünftigkeit

und Unvernünftigkeit einer Intervention? Zunächst machen sie zurecht geltend, dass das

Urteil, ob es vernünftig ist, im konkreten Fall eine Intervention mit ungünstigem Kosten-

Effektivitäts-Quotienten durchzuführen, ein Werturteil impliziert, bei dem verschiedene

Individuen zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen werden. Wer ist für dieses

Werturteil zuständig? Jedenfalls, so Hurst/Danis, nicht der Patient allein, und „ob er der

Hauptzuständige bleibt, ist umstritten.“ Die Entscheidungsvollmacht muss beim Arzt liegen,

der auf die Kosten zu schauen hat, die Dritte zu tragen hätten [11]. Klar ist auch: Wenn der

Arzt im Blick z.B. auf eine sehr teure Intervention mit nur marginalem Nutzen zu einem

„Nein“ kommt, dann setzt er irgendeine Schwelle voraus, auf der sein Urteil beruht [13]. Wie

soll – mit dem Anspruch auf Legitimität – entschieden werden, wo diese Schwelle liegen

soll? Hurst/Danis antworten darauf nur mit einem einzigen dürren Satz: „Ob dem Urteil des

Arztes zurecht genügend Autorität zukommt, um diese Frage zu beantworten, ist von der

Präsenz der sechs Elemente abhängig, die wir eingangs skizziert haben“ [11].

Wie hat man sich diese „Präsenz“ konkret vorzustellen? Mit anderen Worten: Was

muss der Arzt im Blick auf diese sechs Elemente bezüglich der Qualität seines

Entscheidungsprozesses transparent machen können, damit sein „Nein“ als berechtigt gelten

kann? Ich will versuchen, dies aus [11, 12, 13] zu rekonstruieren, und dabei auch die m.E.

ungeklärten Punkte markieren:

Zunächst scheint mir eine erste Auskunft klar zu sein: Der Arzt müsste plausibel

machen können, dass er die Schritte, die zur Bestimmung des individuellen Kosten-Nutzen-

Profils einer bestimmten Intervention bei einem bestimmten Patienten notwendig sind,

sorgfältig durchgeführt hat. Und darin sind ohne Zweifel – wie sich gleich zeigen wird –

einige der sechs konstitutiven Elemente bereits präsent. Doch wie kommt es zur

Entscheidung, und wie lässt sie sich legitimieren? Der Arzt müsste seine Entscheidung

ausweisen können im Blick auf die sechs konstitutiven Elemente eines fairen äR-Prozesses.

Mit Bezug auf Element I müsste er jedenfalls explizieren können, wie er die drei 51 Drei Jahre später allerdings vertritt Ubel die Auffassung, dass ein Rationieren ohne jeden Anhalt an einem vorgegebenen Schwellen-Korridor in der Luft hänge [33].

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Gerechtigkeitsperspektiven berücksichtigt und gegeneinander abgewogen hat.52 D.h. er hätte

dreierlei aufzuzeigen: Erstens, wie er bei seiner Entscheidung das ermittelte individuelle

Kosten-Nutzen-Profil an dem für ihn plausiblen Grenzwert, den er auch sonst anwendet,

gemessen (= utilitaristische Perspektive)53, als auch den Grad der individuellen Bedürftigkeit

berücksichtigt hat (= prioritäre Perspektive)54; zweitens, wie er sich auch daran orientiert hat,

dass das Ausmaß des vorenthaltenen Nutzens bei keinem Patienten einen bestimmten

Schwellenwert überschreiten darf (= egalitäre Perspektive); und drittens wie er dazu

gekommen ist, diese drei Perspektiven gegeneinander abzuwägen und so eine auf diesen Fall

bezogene Schwelle zwischen „vernünftig“ und „unvernünftig“ zu bestimmen. – Gehen

Hurst/Danis davon aus, dass all dies bereits in ihrem Verfahren zur Bestimmung des

individuellen Kosten-Nutzen-Profils (einer bestimmten Intervention bei einem bestimmten

Patienten) „präsent“ ist? Hier bleibt vieles ungeklärt.

Element II (respect for individual variations) hat der Arzt einerseits bereits

berücksichtigt durch die individuelle Kosten-Effektivitäts-Bestimmung und die Gewichtung

der prioritären Perspektive im Rahmen von Element I. Anderseits bleibt im Blick auf Element

II problematisch, dass der Arzt bis auf Weiteres aus eigenem Gutdünken bestimmen muss,

welches Gewicht er der subjektiven Einschätzung des Patienten bezüglich der durch die

Intervention zu erwartenden Lebensqualität geben will. Denn den von Hurst/Danis

erwünschten Konsens in dieser Frage gibt es ja zugegebenermaßen noch nicht.

Was der Arzt zur Präsenz von Element III (decisions based on reciprocity, within a

closed system) vorweisen können sollte, bleibt unklar.55 Und jedenfalls fällt das Kriterium

des „geschlossenen Systems“ insofern aus dem Rahmen, als seine Präsenz oder Nicht-Präsenz

gar nicht in der Macht des Arztes steht, sondern seinen Überlegungen vorgegeben ist.

Im Blick auf Element IV (consistent application of the same process) müsste der Arzt

plausibel machen können, dass er im konkreten Fall demselben Modell von

Entscheidungsprozess gefolgt ist, das er auch sonst seinem Rationieren zugrundelegt.

Element V (explicit process) ist fürs erste bereits realisiert, indem der Arzt die bisher

genannten Anforderungen an Transparenz erfüllt. Doch Hurst/Danis wollen offensichtlich

noch mehr: Ein kontinuierlicher Prozess des Transparentmachens von Rationierungs-

entscheidungen wird zu einem Feedback-Prozess führen, der seinerseits die Entwicklung des

52 Vgl. oben S.15. 53 Dieser Versuch, im Sinne von Hurst/Danis die utilitaristische Pespektive für Typ III des äR zu formulieren, bleibt eine Mutmaßung; denn sie bieten dafür nirgends eine eigene Formulierung. Vgl. oben Anm.28. 54 Hurst/Danis’ Beispiel zu dieser Perspektive stammt aus dem Bereich äR Typ I (vgl. oben Anm.31) und ist dort plausibel. Doch wie diese Perspektive im Rahmen von äR Typ III „greifen“ kann, bleibt unklar. 55 Vgl. oben Anm.33.

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äR beeinflussen wird.56 Der Arzt wird demnach auch zu explizieren haben, wie sich sein

Urteil in diesen Feedback-Prozess einfügt.

Schließlich müsste er im Blick auf Element VI (iterative re-examination of the process

and ist application) zeigen können, dass sein Modell des Entscheidungsprozesses und die Art,

wie er es anwendet, regelmäßig mit dem Ziel einer Qualitätskontrolle überprüft werden.

Bei alledem ist ein besonders kritischer Punkt sicher der Bezug des Arztes auf einen

für ihn subjektiv plausiblen Schwellenwert [12, 13]. Dieser Wert wird zwar im Kontext des

von Hurst/Danis modellierten Entscheidungsprozesses relativiert, so dass der schlussendlich

maßgebende Schwellenwert durchaus vom persönlichen Ausgangsschwellenwert abweichen

kann. Trotzdem bleibt dieser persönliche Wert ein wichtiges Orientierungsdatum für das

schlussendliche Urteil. Dass dieser Wert von Arzt zu Arzt variieren und damit zu einer

Ungleichbehandlung führen kann, zwischen den Patienten des einen Arztes im Vergleich zu

denen des anderen, wird von Hurst/Danis nicht nur nicht problematisiert, sondern

ausdrücklich akzeptiert als ein Faktum, das auch schon für die gängige Praxis des äR zutrifft.

Die Frage nach einem verbindlichen Schwellenwert klammern sie ausdrücklich aus [12, 13].57

Das bedeutet: Die von Hurst/ Danis angezielte ethische Optimierung der gängigen äR-Praxis

bezieht sich lediglich darauf, dass beim einzelnen Arzt die Gefahr der Inkonsistenz reduziert

wird, indem er durch die Orientierung an Hurst/Danis’ Framework besser in der Lage ist, mit

Bezug auf seinen subjektiven Schwellenwert allen seinen Patienten ein Höchstmaß an fairer

Behandlung zukommen zu lassen. Auch bei dem, was die Autorinnen als „Kultur“ des äR

fordern, geht es ausdrücklich nicht um eine inhaltliche Angleichung der Rationierungspraxis

zwischen den beteiligten Ärzten, sondern um die Sicherstellung und Optimierung von

Prozessqualität.

Transparenz beim ärztlichen Rationieren?

Bei diesem Thema ist die Divergenz zwischen den drei Konzepten besonders groß. Ubel

äußert sich sehr zurückhaltend: Welche Rolle informed consent beim BR spielen kann und

soll, sei noch unklar. Weitere Forschung könnte klären helfen, wie gut Ärzte mit ihren

Patienten über BR reden können und ob solche Diskussionen für das Arzt-Patient-Verhältnis

förderlich sind oder ihm schaden. „Doch in der Zwischenzeit muss der Arzt für sich 56 Vgl. das Zitat aus [12] oben S.18. 57 Sie sind überzeugt, „dass ärztliches Rationieren auf der Basis dieses Orientierungsrahmens, der eine Verpflichtung zur Transparenz einschließt, eine bessere Lösung des Schwellenproblems darstellt als die Festlegung einer ein für alle Mal verbindlichen Schwelle von z.B. 50’000$/QALY“[13]. Dass hier auch ein Tertium gegeben ist, nämlich z.B. in Gestalt des für das britische National Health System typischen breiten Schwellen-Korridors, der sowohl verbindliche Orientierung als auch Spielraum für die Berücksichtigung besonderer individueller Umstände bietet [23], wird ausgeklammert, obwohl ein von Hurst [12] besonders empfohlener Artikel Ubels [38] im Blick auf die USA ebenfalls für das Modell eines offenen Orientierungswerts plädiert.

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entscheiden, wie und wann er Maßnahmen zur Kostenbegrenzung mit seinen Patienten

diskutiert“ ([31], S.181). Und Ubel ergänzt diese für ihn typische Argumentationsfigur durch

zwei bemerkenswerte Thesen: (1) Der Arzt würde jedenfalls seine Zeit verschwenden, wenn

er jeden kleinen vorzuenthaltenden Gesundheitsnutzen zur Diskussion stellt. Er hat

wichtigeres zu tun ([31], S.143; [34]). (2) Wenn der Arzt nicht über BR diskutiert, wird es

meistens vom Patienten wahrscheinlich gar nicht bemerkt werden und daher auch dessen

Vertrauen nicht aushöhlen können ([31], S.143).

Marckmann spricht im Zusammenhang von äR nicht ausdrücklich von informed

consent, doch die Kombination der Bedingungen „Transparenz“ und

„Widerspruchsmöglichkeiten“ impliziert, dass die Information vorab erfolgt; dass Diskussion

möglich ist und dass ohne die Zustimmung des Patienten der Vollzug der Rationierung

zumindest aufgeschoben ist. Damit legt Marckmann die Latte so hoch wie kein anderer. Das

Problem der Praktikabilität, das Ubel als „Verschwendung wertvoller ärztlicher Arbeitszeit“

markiert, wird nicht diskutiert. Allerdings stellt sich der Diskussionsbedarf vielleicht nicht so

dramatisch dar, wie von Ubel befürchtet; dann nämlich, wenn man, Marckmann folgend,

erstens größere Bereiche der Medizin mit kostensensiblen Standards überzieht, die als solche

grundsätzlich transparent sind und Diskussionen in den meisten Fällen erübrigen können; und

wenn man zweitens äR auf teure Maßnahmen (mit nur geringem Zusatznutzen) beschränkt.

Hurst/Danis sind in ihren Forderungen viel zurückhaltender als Marckmann. Dass

Rationierungsentscheidungen nach Möglichkeit dokumentiert und für alle Betroffenen

zugänglich sein sollen, wird deutlich hervorgehoben. Dagegen ist in ihrem Artikel weder von

Transparenz im Vorhinein zu Rationierungsentscheidungen noch von Widerspruchs-

möglichkeiten die Rede. Hurst bemerkt dazu: „Wahrscheinlich wäre es ideal, wenn die

Patienten von der beabsichtigten Rationierung noch vor deren Umsetzung in Kenntnis gesetzt

würden.“ Doch sie gibt zu bedenken: „Im Moment sind wir erst am Anfang der Diskussion

und denken darüber nach, wie äR schrittweise besser geschehen kann als im Moment. Die

Frage nach informed consent beim äR ist sicher ein Thema für die Zukunft“ [13].58

58 Ubel interpretiert in seinem Kommentar zu Hurst/Danis deren Forderung, Rationierung müsse „explizit“ sein, als (aus seiner Sicht impraktikable) Verpflichtung, dem betroffenen Patienten vorweg die Rationierungsabsicht bekannt zu machen und sie gegebenenfalls mit ihm zu diskutieren [34]. Auch an dieser Stelle erweist sich Hurst/Danis Sprachgebrauch als unscharf. „Explizit“ heißt bei ihnen zunächst nicht mehr, als dass ein ausdrücklicher Vermerk in den Patientenakten stattfinden soll [13].

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Zu wessen Gunsten soll beim äR gespart werden (dürfen)?

Damit berühren wir einen weiteren spannenden Punkt im Vergleich der drei Konzepte.

Für Hurst/Danis ist äR nur dann legitim, wenn das ganze Ersparte anderen Patienten zugute

kommt. Bei äR Typ I ist das leicht vorstellbar. Doch wie geht das bei äR Typ III? Hurst/Danis

betrachten dieses Problem aus der Perspektive des Verzicht leistenden Patienten: Wenn es

darum geht, Opfer des einen Patienten zugunsten anderer zu rechtfertigen, dann ist

Wechselseitigkeit eine elementare Bedingung. Und diese Wechselseitigkeit setzt als

Bedingung ihrer Möglichkeit ein „geschlossenes System“ voraus, in dem tatsächlich das

„Opfer“ des einen Patienten dem bzw. den anderen zugute kommt. Die Gesundheits-

ressourcen werden hier als gemeinsames Gut betrachtet, das nach den Regeln fairer

Kooperation zuzuteilen ist.59 Und erstaunlicherweise sehen Hurst/Danis kein Problem darin,

die Bedingung eines „geschlossenen Systems“ im Gesundheitssystem der USA verwirklicht

zu finden [11].

Ubel hingegen weiß, dass das US-System alles andere als „geschlossen“ ist. Er

betrachtet das Problem aus ärztlicher Perspektive: Er will Ärzte fürs Bedside Rationing

gewinnen und daher deren Widerstände gegenüber Bedside Rationing überwinden. Zu diesen

Widerständen gehört der Einwand, das durch Bedside Rationing Ersparte fließe oft gar nicht

anderen Patienten zu, sondern ermögliche z.B. dem Vorstand einer Versicherungsgesellschaft

eine höhere Gewinnbeteiligung ([31], S.xiv). Wie antwortet Ubel auf diesen Einwand? Er gibt

zu, dass Bedside Rationing natürlich unter den Bedingungen eines geschlossenen Systems –

etwa einer regionalen Klinik – viel leichter zu rechtfertigen ist, weil der Arzt dort sehr schnell

merkt, wie das Budget überfordert wird, wenn Leistungen auch mit geringfügigem Nutzen

uneingeschränkt zur Verfügung gestellt werden ([31], S.130). Doch Ubel verwirft

ausdrücklich Daniels’ Position [3], wonach Bedside Rationing nur unter der Bedingung eines

„geschlossenen Systems“ gerechtfertigt werden kann ([31], S.130). Es mache keinen Sinn,

Bedside Rationing an die Bedingung zu knüpfen, dass das Ersparte im Gesundheitsbereich

bleibt oder auch nur für andere soziale Güter verwendet wird. Denn darüber, wofür es sich

lohnt, das Ersparte einzusetzen, gebe es völlig unterschiedliche Ansichten. Wem immer das

Ersparte zugute kommen mag – „Regierung, Arbeitgeber und Konsumenten senden alle die

gleiche starke Botschaft, dass wir zu viel Geld für das Gesundheitssystem ausgeben“ ([31], S.

146). Das – so hofft Ubel – sollte genügen, um Ärzte zu motivieren, Leistungen

vorzuenthalten, „die ihre Kosten nicht wert sind“ (ebd.; ähnlich [34]). Spätere Umfragen

jedoch belehren ihn eines Besseren. Sie führen zu der ernüchternden Feststellung, dass Ärzte

59 Diese Denkfigur basiert auf dem liberalen vertragstheoretischen Gesellschaftsmodells, wie es Rawls entwickelt hat [24]. – Auf Deutsch ist diese Idee am besten zugänglich in ([25], S. 82-84).

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meist nicht motiviert sind zu sparen, wenn sie vermuten, dass das Ersparte nicht bei anderen

Patienten, sondern z.B. bei den Managern von Health Maintenance Organisations landet [1].

Für Marckmanns Argumentation ist es grundlegend, dass das Ersparte anderen

Patienten zugute kommt. Sein Ausgangspunkt ist das Arztethos angesichts begrenzter

Budgets, und im Grunde beschreibt er sie als „geschlossene Systeme“: „Ein Arzt, der unter

den Bedingungen insgesamt begrenzter Mittel die Kostenimplikationen seines Handelns nicht

berücksichtigt, nimmt in Kauf, dass er bei anderen Patienten nicht mehr genug Ressourcen

zur Verfügung hat, um diesen so effektiv helfen zu können, wie es sein traditionelles

Arztethos von ihm verlangt“ ([21], S. 54).60 Dieselbe Argumentationsfigur überträgt

Marckmann auch auf das „insgesamt begrenzte Gesundheitsbudget“ des deutschen

Gesundheitssystems und urgiert damit eine Mitverantwortung des Arztes für das Ganze des

Gesundheitssystems: Der Arzt hat „einen Beitrag zu einer gerechteren Mittelverteilung zu

leisten“ (ebd.). Die grundsätzlichere Frage nach der prinzipiellen Legitimität solch begrenzter

Budgets – um anderer sozialer Belange willen – hat Marckmann schon zuvor positiv

geklärt.61

4. IMPLIKATIONEN FÜR DAS ARZTETHOS UND DAS VERTRAUEN DER

PATIENTEN

Unbestreitbar steht äR im Konflikt mit dem traditionellen Arztethos und ist geeignet, das

Vertrauen der Patienten zu ihren Ärzten bzw. zur Ärzteschaft insgesamt zu gefährden. Wie

gehen die verschiedenen Entwürfe mit diesen Problemen um?

Ubel verfolgt eine semantische Doppelstrategie, um die Spannung zwischen Bedside

Rationing und traditionellem Arztethos zu überbrücken: Erstens gehe es lediglich darum, die

Garantenpflichten des Arztes gegenüber dem Patienten zu lockern ([31], S.110). Zweitens

liege das Rationieren von Leistungen mit nur geringfügigem Nutzen, genau betrachtet,

geradezu im besten Interesse der Patienten. Man müsse dieses Interesse nur weit genug

interpretieren. Ubel argumentiert hier folgendermaßen: Wenn alle Ärzte darauf aus wären,

jedem Patienten das Maximum an möglicherweise nützlichen Leistungen zukommen zu

lassen, dann wären unterm Strich alle schlechter dran: Alle müssten mehr für die Absicherung 60 Diese Legitimationsfigur steht so da, als gäbe es im (deutschen) Gesundheitssystem nicht auch gegenläufige Mechanismen, die Marckmann zwar gelegentlich erwähnt, doch ohne daraus Folgerungen zu ziehen: „Eine weitere Konfliktdimension tritt hinzu, wenn Ärzte mit finanziellen Bonus- oder Malus-Zahlungen zur Einsparung von Ressourcen angehalten werden oder im Rahmen von Regressforderungen einen erhöhten Ressourcenverbrauch durch entsprechende Einkommenseinbußen selbst finanziell decken müssen. Die Verpflichtung gegenüber dem einzelnen Patienten kollidiert hier mit dem – durchaus verständlichen – finanziellen Eigeninteresse des Arztes, eine ebenfalls dem traditionellen ärztlichen Ethos zuwiderlaufende Konfliktkonstellation“ ([21], S.35). Trotzdem scheint die deutsche Situation viel eher einem „geschlossenen System“ zu gleichen als die US-amerikanische. – Die ethischen Herausforderungen, die sich für ethisch akzeptables äR aus besagter Kollision ergeben, klammert Marckmann ebenso aus wie Hurst/Danis. 61 Vgl. oben S.6f.

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ihrer medizinischen Versorgung aufwenden und hätten weniger Geld für sich übrig; und alle

würden mehr medizinische Leistungen erhalten, als sie wirklich brauchen ([31], S.145).

Und was die mögliche Gefährdung des Patientenvertrauens angeht, so warnt er vor

Dramatisierung: Natürlich müsse man sich Gedanken machen, wie sich Bedside Rationing auf

die Arzt-Patient-Beziehung auswirke. Doch sei es viel zu früh, zu dem Schluss zu kommen,

das Vorenthalten geringfügig nützlicher Leistungen beschädige diese Beziehung.62 Man

könne nämlich davon ausgehen, dass Bedside Rationing in den meisten Fällen vom Patienten

gar nicht bemerkt wird und daher dessen Vertrauen auch nicht unterminieren könne ([31],

S.139).

Hurst/Danis äußern sich nicht explizit zum Thema „Arztethos und äR“. Doch es

lassen sich zwei Strategien entdecken, mit denen sie den Weg ebnen zu einem veränderten

Arztethos: Erstens entwickeln sie die Perspektive eines Kontinuums zwischen traditionellen

Formen des äR, nämlich äR Typ I und II, einerseits und dem durch den Kostendruck

veranlassten neuen Typ III, der durch die „Anwendung eines Schwellenwerts“ charakterisiert

ist. Die Aufgabe des Arztes bleibe in all diesen Grundkonstellationen stets dieselbe, nämlich

den Patienten, den er vor sich sieht, in den Kontext konkurrierender Patienten zu stellen und

dann über die Verteilung begrenzt verfügbarer Ressourcen zu entscheiden. Was sich von

Konstellation zu Konstellation ändert, scheint dann lediglich die Quantität der

konkurrierenden Patienten zu betreffen. Sie erhöht sich sozusagen „von Stufe zu Stufe“.

Zweitens nutzen Hurst/Danis bei ihren Darlegungen jede Gelegenheit, konkret aufzuzeigen,

dass Ärzte, entsprechend geschult, in der besten Position sind, die notwendige

Kostenkontrolle mit individueller Patienten-Anwaltschaft zu verbinden [11].

Dass es beim äR Grund zur Sorge um das Patientenvertrauen gibt, setzen Hurst/Danis

unausgesprochen voraus, indem sie betonen, ihr ganzer Entwurf solle dazu beitragen, den

Entscheidungsprozess beim äR „trustworthy“ zu machen. Eine besondere Rolle spielt dabei

Element II: „Die Versicherung, dass individuelle Umstände in das Urteil einbezogen wurden,

wäre für die meisten von uns wichtig, wenn es darum geht, eine leistungsbegrenzende

Entscheidung zu akzeptieren, die uns selbst betrifft“[11].

Marckmann thematisiert die Spannung zwischen traditionellem Arztethos und äR

besonders intensiv; gelegentlich spricht er sogar von einem „Widerspruch“ zwischen beidem

([21], S.35 u.ö.). Doch die Mittelknappheit im Gesundheitswesen mache „Veränderungen im

ärztlichen Ethos“ unumgänglich: „Eine Ausrichtung allein auf das Wohlergehen und den

Willen des einzelnen Patienten scheint in der modernen Medizin nicht mehr vertretbar. Ärzte

62 In der Tat ist natürlich die prinzipielle Beschränkung des akzeptablem Rationierens auf Leistungen mit nur geringfügigem Zusatznutzen sehr dazu geeignet, den Schaden für das Patientenvertrauen zumindest in Grenzen zu halten.

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haben darüber hinaus die Verpflichtung, verantwortungsvoll mit knappen Ressourcen

umzugehen“ ([21], S.48). Und dabei liege der Grundkonflikt „nicht zwischen Ethik und

Ökonomie, sondern zwischen zwei ethischen Verpflichtungen: Die Verpflichtungen

gegenüber dem aktuellen Patienten müssen mit den Verpflichtungen gegenüber anderen

Patienten abgewogen werden“ ([21], S.54).63 Dieser Grundkonflikt lasse sich auch durch die

geforderten materialen und prozeduralen Kriterien nicht lösen, eliminieren oder vermeiden,

sondern nur „reduzieren“ bzw. „minimieren“ ([21], S.56 u. 58).64

Bezüglich des Patientenvertrauens statuiert Marckmann zunächst kritisch: Ärzte als

Doppel-Agenten drohen das antizipatorische Systemvertrauen der Patienten in die Ärzteschaft

zu unterminieren ([21], S.35). Worin besteht das Gegenmittel? „Prozedurale Vorkehrungen

können dazu beitragen, das Vertrauen in die ärztliche Profession auch in Zeiten

unvermeidbarer impliziter Rationierung zu erhalten“ ([21], S.58). Ein mindestens ebenso

wichtiger Beitrag scheint mir allerdings zu sein, dass ethisch akzeptables äR prinzipiell

begrenzt wird auf das „Unterlassen von sehr teuren Maßnahmen mit einem geringen

Nutzengewinn für den Patienten bei Verfügbarkeit kosteneffektiverer Alternativen“ (ebd.).

63 „Vordergründig scheint es sich dabei um ein Ergebnis ökonomischer Sachzwänge zu handeln. Dies verkennt aber, dass die Berücksichtigung von Kostenaspekten im Einzelfall eine Voraussetzung dafür ist, dass die knapp verfügbaren Resourcen gerecht auf die bedürftigen Patienten verteilt werden. Wenn bei einer geringfügigen Ge-sundheitsstörung eine sehr teure Therapie mit nur geringem Nutzengewinn durchgeführt wird, so fehlen diese Ressourcen – bei einem insgesamt begrenzten Gesundheitsbudget – für die Versorgung anderer Patienten, die möglicherweise bedürftiger gewesen wären oder mehr von den verfügbaren Ressourcen profitiert hätten“ ([21], S.53f). 64 Der Psychiater und Ethiker Sabin [26]wählt eine von Hurst/Danis und Marckmann sehr verschiedene (und möglicherweise klarere und weiterführende) begriffliche Fassung der Doppelanwaltschaft des Arztes beim Rationieren. Er sieht den Arzt in einer zweifachen Rolle. Er ist nicht nur mit „Liebe und Herz“„Arzt“, sondern zugleich „mit Liebe und Herz“ „citizen“: „Um wirklich exzellente Ärzte zu sein, müssen wir unsere Patienten lieben, und das bewegt uns dazu, so viel wie möglich für die Gesundheit jedes einzelnen zu tun. Um jedoch wirklich verantwortliche Bürger zu sein, müssen wir mit den verfügbaren Resourcen so viel wie möglich tun für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung. Und dieses Engagement zugunsten fairer Verhältnisse in der Gesamtbevölkerung verlangt von uns, uns Priorisierungen und Rationierungen zu eigen zu machen.“

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5. ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION

a) Gemeinsamkeiten zwischen den Konzepten

Allen AutorInnen halten eine Kontrolle der Gesundheitskosten durch Rationierung für

unvermeidlich und suchen nach Strategien, wie dies mit möglichst viel Orientierung an den

Charakteristiken und Präferenzen der individuellen Patienten und mit dem dafür notwendigen

ärztlichen Entscheidungsspielraum geschehen kann. Ubel und Hurst/Danis halten dieses Ziel

nur im Rahmen von äR für realisierbar, Marckmann darüber hinaus auch im Rahmen

kostensensibler Standards. Zu Recht gibt er dieser Form des expliziten Rationierens aus

ethischen Gründen den Vorrang vor äR. Doch überall, wo diese Strategie nicht praktikabel ist,

plädiert auch er für äR.

Alle Entwürfe relativieren dementsprechend die Garantenpflicht des Arztes gegenüber dem

einzelnen Patienten. Hurst/Danis und Marckmann weisen dem Arzt ausdrücklich eine

Mitverantwortung bei der gerechten Verteilung begrenzter Ressourcen zu. Alle betrachten äR

als ein ethisch delikates Handeln, fordern dafür höchste Sorgfalt und wollen dazu beitragen,

dass es ethisch möglichst akzeptabel und Patientenvertrauen erhaltend geschieht. Hurst/Danis

und Marckmann stellen hohe Anforderungen an ethisch akzeptables äR. Ihre Konzepte

können jedenfalls nicht als „Schmiermittel“ für die weitere Ökonomisierung der Medizin

eingeordnet werden.

Gemeinsam gehen die Entwürfe davon aus, dass es für äR – jedenfalls bislang –

keinen formell vorgegebenen Kosten-Effektivitäts-Schwellenwert gibt. Doch ziehen sie

daraus sehr verschiedene Folgerungen. Generell scheint es schwierig zu sein, a priori den

Anwendungsbereich für äR präzise zu definieren, weil es nicht nur den evident „marginalen

Nutzen“ gibt, sondern auch einen statistisch marginalen und einen „unwahrscheinlichen“

Nutzen sowie „schlechte Evidenzlage“ hinsichtlich des Nutzens. Hinzu kommt eine nicht

selten hohe prognostische Unsicherheit bezüglich des Nutzens einer Intervention – ein

Thema, das bei Marckmann in Ansätzen, bei Ubel und Hurst/Danis jedoch überhaupt nicht

berührt wird, obwohl es die Applikation von CEAs auf individuelle Situationen elementar

betrifft.

Der Vergleich mit Ubel zeigt entscheidende Fortschritte bei den anderen Autoren: (1)

die rationierenden Ärzte beim äR erscheinen nicht mehr als isolierte Einzelkämpfer, sondern

sind vernetzt; (2) durch die – wenn auch unterschiedliche – Einführung der Kriterien

prozeduraler Gerechtigkeit, wie sie von Daniels/Sabin [4] entwickelt wurden, erhält das äR

eine viel höhere ethische Qualität ; (3) Hurst/Danis entwerfen eine anspruchsvolle Methode

der Applikation von CEAs auf individuelle Patienten; (4) Marckmann kreiert eine wichtige

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Differenzierung im Gesamtkonzept von Rationierung und will auf diese Weise drastisch die

Notwendigkeit von äR reduzieren.

b) Zum Vergleich zwischen Hurst/Danis und Marckmann

Marckmann kommt bei der vergleichenden Abschätzung von „hohen“ Zusatzkosten und

„geringem“ Zuatznutzen im Prinzip ohne CEAs aus. Es sieht so aus, als würde er dabei „über

den Daumen peilen“. Hurst/Danis entwickeln großen Eifer, dieses relativ grobe Vorgehen

durch eine aufwändige präzise Methode zu überwinden. Wenn aber, wie Hurst vermutet, die

Bedingung der Transparenz dazu führen wird, dass ausschließlich Interventionen mit

geringfügigem Nutzen vorenthalten werden dürfen, weil äR nur unter dieser Bedingung

Akzeptanz finden wird, dann ergibt sich daraus (a posteriori) derselbe inhaltliche Fixpunkt

für den Prozess der Entscheidungsfindung wie bei Marckmann. Dann liegt die Frage nahe:

Lohnt sich dann der im Vergleich zu Marckmanns Vorgehen vergleichsweise große Aufwand,

den das Verfahren von Hurst/Danis sowohl bei der konkreten Durchführung, als auch bei der

notwendigen Fortbildung der Ärzte mit sich bringt? Führt es dann wenigstens zu einem

deutlichen Plus auf der ethischen Ebene, indem es z.B. dazu herausfordert, die vielfältigen

Aspekte einer sehr komplexen Entscheidungswirklichkeit angemessener zu berücksichtigen?

Dazu kommt eine weitere Frage: Wie praktikabel ist tatsächlich Hurst/Danis’ Verfahren,

wenn man zwei Probleme berücksichtigt, die sie – anders als Marckmann – bei ihren

Überlegungen ausgeklammert haben, nämlich das Faktum, dass es häufig an (soliden) CEAs

mangelt, und das Faktum, dass mit bestimmten Interventionen bei bestimmten Patienten nicht

selten erhebliche prognostischen Unsicherheit verbunden ist? Diese Fragenkomplexe können

wohl nur durch entsprechende praktische Erprobung weiter geklärt werden.65

Dasselbe gilt auch für die Frage, inwieweit Marckmanns Idee, die Häufigkeit des äR

durch Entwicklung und Einführung möglichst zahlreicher kostensensibler Leitlinien zu

reduzieren, wirklich praktikabel ist: Stehen die Entwicklungskosten solcher Leitlinien in

einem vernünftigen Verhältnis zu der erwartbaren Ausgabenreduktion? In welchem Umfang

ist es in den einzelnen Bereichen wirklich möglich, kostensensible Leitlinien zu entwickeln,

die der Komplexität ärztlicher Entscheidungsfindung angemessen sind?

Weitere Diskussion und praktische Erfahrung ist auch nötig hinsichtlich der Frage von

Transparenz und Widerspruchsmöglichkeit beim äR. Marckmann legt hier die Latte des

65 Ubel [34] hat das Konzept von Hurst/Danis einem kleinen Praxistest unterworfen, und kommt darin – in freundliche Worte verpackt – zu einem im Grunde vernichtenden Urteil: Er entdeckt darin auf die Schnelle nichts, was ihm helfen könnte, seine alltägliche Rationierungspraxis kritisch-konstruktiv zu reflektieren. Freilich hat er sich mit Hurst/Danis’ Konzept m.E. nur oberflächlich auseinandergesetzt, und sein Testbeispiel zeigt im Grunde zunächst nur, dass es bestimmte Rationierungsvorgänge gibt, die auch ohne ein aufwändiges Verfahren befriedigend gelöst werden können. Zu seinen Kritikpunkten vgl. oben Anm. 30 u. 58 sowie S.30.

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Anspruchs sehr hoch und nimmt damit hohe Realisierungskosten in Kauf. Hurst/Danis sind

zurückhaltend, weil sie nur schrittweise die bislang meist intransparente Praxis des äR

verbessern wollen und weil Erfahrungswerte fehlen, ob und wie sich Transparenz „in

Echtzeit“ realisieren lässt, von Widerspruchsmöglichkeit ganz zu schweigen. Klar scheint

mir, dass es hier jedenfalls nicht nur um den wichtigen Gesichtspunkt der Praktikabilität geht,

sondern auch um die Frage, was die Sicherung ethischer Qualität von äR kosten darf.

Im Unterschied zu Marckmann (und Ubel) versuchen Hurst/Danis, eine gemeinsame

ethische Orientierung für die doch sehr unterschiedlichen Konstellationen von äR Typ I, II

und III zu erarbeiten. Doch was aus Gründen der Systematik zu begrüßen ist, erwies sich bei

näherem Hinsehen immer wieder eher als verunklärend. Da ist jedenfalls noch mehr

Differenzierung notwendig.

Dasselbe gilt wohl auch im Blick auf den selbstverständlichen Anspruch beider

Konzepte, ethische Orientierung für äR sowohl im klinischen wie im außerklinischen Bereich

zu bieten. Faktisch führen beide Entwürfe fast nur Beispiele aus dem Klinikbereich an, und

auch ihre konkreten Vorschläge sind darauf bezogen oder jedenfalls in diesem Bereich viel

leichter zu realisieren als außerhalb. Vor allem aber wird ein aus ethischer Sicht besonders

„heißes“ Thema, das – jedenfalls in vielen Ländern –mit dem äR speziell im außerklinischen

Bereich verbunden ist, weder von Hurst/Danis noch von Marckmann reflektiert: Die zum

Zweck der Kostenersparnis von dritter Seite entwickelten finanziellen Anreizsysteme (Bonus-

/Malus-Regelungen), die unmittelbar an das finanzielle Eigeninteresse der Ärzte appellieren

und diese vor ganz besondere ethische Herausforderungen stellen.66 Für eine

realitätsbezogene ethische Orientierung des äR scheint es demnach offensichtlich notwendig,

schon im Ansatz zwischen den je spezifischen Rahmenbedingungen im klinischen und im

außerklinischen Bereich zu unterscheiden.67

c) Politische Realisierungschancen der Konzepte

Zukünftige gesellschaftliche, politische und standespolitische Diskussionen um ärztliches

Rationieren können sich dank Hurst/Danis und Marckmann auf konkrete Konzepte beziehen.

Die Idee eines ethisch akzeptablen ärztlichen Rationierens hat mögliche Konturen bekommen.

Aber auch Aspekte der Praktikabilität und die mit einer ärztlichen Rationierungskultur

66 Vgl. dazu oben S.2 den Hinweis auf die Überlegungen von Daniels/Sabin ([4], S.121-133). – In diesen Anreiz- bzw. Bestrafungssystemen liegt enormer Sprengstoff: Möglicherweise führt deren konkrete Ausgestaltung dazu, den Sparzwang, den sie auf die Ärzte ausüben (sollen), so zu verschärfen, dass Marckmanns zentrales inhaltliches Kriterium – Vorenthalten ausschließlich von Leistungen mit nur geringfügigem Zusatznutzen – konterkariert wird, indem neue teure, aber durchaus recht hilfreiche Arzneimitteln (z.B. gegen Parkinson) nicht in dem Umfang verschrieben werden, wie es dem Wohl der betroffenen Patienten entspräche. 67 Darüber hinaus wäre auch noch über (ärztliche) Rationierungsformen ethisch zu reflektieren, die bei keinem der Referenzautoren angesprochen werden, wie etwa verzögerte bzw. selektive Aufnahme (Wartelisten).

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verbundenen Kosten sind nun ernsthaft diskutierbar. Offen bleibt natürlich, ob sich die

deutsche Ärzteschaft auf breiter Front diesen neuen Kurs zu Eigen machen wird; ob er

politisch gewollt wird und ob er gesellschaftlich durchsetzbar ist,68 was auch die Lösung von

rechtlichen Fragen beim äR voraussetzt [14]. Freilich sollte man bei allen Diskussionen davon

ausgehen, dass unter der Bedingung vorgegebener Budgets auf jeden Fall ärztliches

Rationieren zumindest im „Randbereich“ praktiziert (werden) wird. Wenn das zutrifft, dann

steht man vor der Alternative, entweder offen äR zu thematisieren und sich konstruktiv mit

Hurst/Danis’ und Marckmanns Entwürfen auseinander zu setzen oder ethisch zu resignieren

und zu akzeptieren, dass äR nach der Devise „Muddling through elegantly“ [29] praktiziert

wird, verbunden mit forschreitender Rationierung auf der Ebene des Personals (Pflege und

Ärzte).

Marckmann kommt mit seinem Ansatz sicher dem deutschen Bedürfnis nach

grundsätzlicher Klärung entgegen, und er erleichtert die Auseinandersetzung, indem er ein

inhaltlich „greifbares“ Kriterium in die Mitte stellt. Mit Hurst/Danis einfach davon

auszugehen, dass äR ohnehin bereits geschieht und schon viel damit gewonnen wäre, erste

Schritte zur Verbesserung von dessen ethischer Qualität zu unternehmen, wird vermutlich als

zu „pragmatisch“ empfunden werden – obwohl dies der praktizierten Realität möglicherweise

sehr angemessen wäre. Doch die Grundfrage wird sein, ob und wie es überhaupt zu einer

redlichen öffentlichen Diskussion über die schwierigen und bislang tabuisierten Fragen des

äR kommen wird.

Dank: Samia Hurst und Georg Marckmann haben mir ihre wichtigsten Manuskripte

zum Thema bereits vor deren Veröffentlichung zur Verfügung gestellt und wiederholt

bereitwillig meine Fragen zur Interpretation beantwortet. Marckmann hat mein Projekt

engagiert begleitet, Laszlo Kovacs mein Manuskript sorgfältig durchgesehen und mich

ermutigt.

68 Daniels/Sabin ([4a], S.132) formulieren die anstehende gesellschaftliche Herausforderung in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Changing a public culture so that the public understands and accepts reasonable limits to care and participates in establishing limits”.

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Heft 143: Hartmann, Fritz: Der Beitrag erfahrungsgesicherter Therapie (EBM) zu einer ärztlichen Indikationen-Lehre. August 2003.

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Südkorea. Januar 2004. Heft 148: May, Arnd T; Brandenburg, Birgitta: Einstellungen medizinischer Laien zu

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März 2004. Heft 152: Ilkilic, Ilhan: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in islamischen

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Future for Traditional Medicines and Spiritual Healings? A Postscript on Peter F Omonzeleje by Hans-Martin Sass]. April 2004.

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Heft 155: Friebel, Henning; Krause, Dieter; Lohmann, Georg und Meyer, Frank P.: Verantwortungsethik. Interessenkonflikte um das Medikament - Wo steht das Medikament? Juni 2004.

Heft 156: Kreß, Hartmut: Sterbehilfe - Geltung und Reichweite des Selbstbestimmungsrechts in ethischer und rechtspolitischer Sicht.1. Auflage September 2004, 3. Auflage März 2005.

Heft 157: Fröhlich, Günter und Rogler, Gerhard: Das Regensburger Modell zur Ausbildung in klinischer Ethik. Dezember 2004.

Heft 158: Ilkilic, Ilhan; Ince, Irfan und Pourgholam-Ernst, Azra: E-Health in muslimischen Kulturen. Dezember 2004.

Heft 159: Lenk, Christian; Jakovljevic, Anna-Karina: Ethik und optimierende Eingriffe am Menschen. 2.Auflage Februar 2005.

Page 42: Zentrum für Medizinische Ethik - ruhr-uni-bochum.de · “Caring and cost: The challenge for physician advocacy” [22]. Pearson entwickelt die Idee einer „proportional advocacy“,

Heft 160: Ilkilic, Ilhan: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine Handreichung für die Gesundheitsberufe. 1. Auflage Juli 2003 (Tübingen), 5. Auflage April 2005.

Heft 161: Hartmann, Fritz: Vom Diktat der Menschenverachtung 1946 zur "Medizin ohne Menschlichkeit" 1960; Zur frühen Wirkungsgeschichte des Nürnberger Ärzteprozesses. 1. Auflage Februar 2005, 2. Auflage März 2005.

Heft 162: Strätling, Meinolfus u.a.: Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung in Deutschland. Juni 2005.

Heft 163: Sass, Hans- Martin: Abwägungsprinzipien zum Cloning menschlicher Zellen. Januar 2006.

Heft 164: Vollmann, Jochen: Klinische Ethikkomitees und klinische Ethikberatung im Krankenhaus. Ein Praxisleitfaden über Strukturen, Aufgaben, Modellen und Implementierungsschritte. Januar 2006.

Heft 165: Sass, Hans- Martin: Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror. Verantwortungskulturen bei Triage, Endemien und Terror. Februar 2006.

Heft 166: Sass, Hans-Martin: Gesundheitskulturen im Internet. E-Health-Möglichkeiten, Leistungen und Risiken. 1. Auflage Februar 2006, 2. Auflage März 2006. Heft 167: May, Arnd T.; Kohnen, Tanja: Körpermodifikation durch Piercing: Normalität,

Subkultur oder Modetrend? Mai 2006 Heft 168: Anderweit, Sabine; Ilkilic, Ilhan; Meier-Allmendinger, Diana; Sass, Hans-Martin;

Cheng-tek Tai, Michael: Checklisten in der klinisch-ethischen Konsultation. Mai 2006

Heft 169: Kielstein, Rita; Kutzer, Klaus; May, Arnd; Sass, Hans-Martin: Die Patientenver-fügung in der ärztlichen Praxis. April 2006

Heft 170: Brenscheidt, Juliane; May, Arnd T.; May, Burkard; Kohnen, Tanja; Roovers, Anna; Sass, Hans-Martin: Zentrum für Medizinische Ethik Bochum 1986 – 2006.

Heft 171: Dabrock, Peter; Schröder, Peter: Public Health Gen-Ethik. 1. Auflage August 2006. Heft 172: Berg, Michael: Lebensbeendende Behandlungsbegrenzung bei Wachkomapatienten

– „passiver Suizid“ im Spannungsfeld von pflegerischem Berufsethos und Selbstbestimmungsrecht des Patienten am Beispiel des „Kiefersfeldener-Falles“ 1. Auflage Oktober 2006

Heft 173: Hofheinz, Marco: Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs. Eine theologische Analyse der aktuellen Debatte. Mai 2007

Heft 174: Sass, Hans-Martin: Lassen sich Reziprozitätsmodelle bei der Gewebe und Organtransplantation ethisch begründen und praktisch realisieren? Juli 2007. Heft 175: Hans-Martin Sass: Fritz Jahrs bioethischer Imperativ. 80 Jahre Bioethik in Deutschland von 1927 bis 2007. Juli 2007. 2. Auflage August 2007. Heft 176: Lohmann, Ulrich: Informed Consent und Ersatzmöglichkeiten bei

Einwilligungsunfähigkeit in Deutschland – Ein Überblick. August 2007. Heft 177: Neitzke, Gerald: Ethische Konflikte im Klinikalltag – Ergebnisse einer empirischen Studie. August 2007. Heft 178: Huster, Stefan: „Hier finden wir zwar nichts, aber wir sehen wenigstens etwas“.

Zum Verhältnis von Gesundheitsversorgung und Public Health. April 2008. Heft 179: Ruhnau, Clemens: Ethische Orientierung für ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten. Juli 2008.

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Bestellschein An das Zentrum für Medizinische Ethik Ruhr-Universität Bochum Gebäude GA 3/53 44780 Bochum Tel: (0234) 32 22749 FAX: (0234) 3214 598 Email: [email protected] Homepage: http://www.medizinethik-bochum.de Bankverbindung: Konto Nr. 133 189 035, BLZ 430 500 01 Sparkasse Bochum Name oder Institut: Adresse:

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ZUSAMMENFASSUNG Leistungsbegrenzungen im Gesundheitswesen scheinen unausweichlich zu sein. Doch je nachdem auf welcher Ebene und in welcher Form Rationierung verfügt wird, ergeben sich daraus recht unterschiedliche Herausforderungen für das ärztliche Handeln und die Arzt-Patient-Beziehung. Solange Ärzte beim Rationieren einfach vorgegebenen konkreten Regeln folgen, die festlegen, welcher Patient bei welcher Indikation welche Leistung erhält oder nicht erhält, mag das als nicht so problematisch erscheinen. Was aber, wenn Ärzte selber – ohne solche Regelungen – im Blick auf den einzelnen konkreten Patienten entscheiden (sollen), ob eine bestimmte medizinische Leistung vorzuenthalten sei. Unter welchen Bedingungen und gemessen an welchen Kriterien können solche Entscheidungen als ethisch akzeptabel gelten? Zu dieser Frage haben seit 2000 Peter A.Ubel und Samia Hurst/Marion Danis (bezogen auf den US-amerikanischen Kontext) sowie Georg Marckmann (bezogen auf den deutschen Kontext) unterschiedliche Konzepte ausgearbeitet. Um die weitere Diskussion zu befördern, bietet Clemens Ruhnau einen differenzierten Vergleich dieser Entwürfe sowohl hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Anliegen als auch hinsichtlich der Kriterien, Bedingungen, Einschränkungen und Vorgehensweisen, die für ein ethisch akzeptables „ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten“ geltend gemacht werden. Stärken, Schwächen und (politische) Realisierungschancen der drei Konzepte kommen dabei ebenso in den Blick wie das ganze Panorama der sehr vielschichtigen Probleme dieser Form von Rationierung. ABSTRACT Setting limits in health care systems seems to be inevitable. This results in quite diverse ethical challenges for physicians and for the physician-patient relationship, depending on the level where rationing decisions are determined and on the form of this determination. From an ethical point of view, rule-based rationing seems to be less problematic: Physicians simply play by explicitly formulated rules determining what patient, according to which indication, receives which service or not. But when physicians (have to) decide by themselves – without such rules – whether to ration care with regard to concrete patients or not, serious ethical questions emerge. Under what conditions and with respect to which criteria can those decisions be judged as ethically acceptable? To answer this question, since 2000, three quite different concepts have been elaborated by Peter A.Ubel and Samia Hurst/Marion Danis (referring to the US-American context) and Georg Marckmann (referring to the German context). To promote further debates, Clemens Ruhnau systematically compares these proposals with regard to their presuppositions and intentions as well as to the criteria, conditions, restraints and forms of procedures that the authors claim for bedside rationing to be ethically acceptable. The strong and weak points of these concepts and their (political) feasibility come to light, as well as the whole spectrum of complicated ethical questions involved in this form of rationing. ISBN: 978-3-931993-60-3