Zindel, Paul - Die Detektive - 03 - Verbrecher Haben Keine Ferien

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Paul Zindel Verbrecher haben keine Ferien die detektive #3 s&c 07/2008 Azurblaues Meer, luxuriöse Yachten, elegante Casinos – Quentin und India fühlen sich einfach fürstlich, als sie Indias Vater zu einem Kongress nach Monte Carlo begleiten dür- fen. Doch die Sommeridylle wird überschattet, als eine Kollegin von Indias Vater tot aufgefunden wird. Die beiden Detektive nehmen die Ermittlungen auf und machen eine interessante Entdeckung … ISBN: 3-7855-4417-0 Original: Hawke mysteries #3: The E-Mail Murders Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann Verlag: Loewe Erscheinungsjahr: 2002 Umschlaggestaltung: Silvia Christoph & Andreas Henze Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Paul Zindel

Verbrecher haben keine

Ferien die detektive #3

s&c 07/2008

Azurblaues Meer, luxuriöse Yachten, elegante Casinos – Quentin und India fühlen sich einfach fürstlich, als sie Indias Vater zu einem Kongress nach Monte Carlo begleiten dür-fen. Doch die Sommeridylle wird überschattet, als eine Kollegin von Indias Vater tot aufgefunden wird. Die beiden Detektive nehmen die Ermittlungen auf und machen eine interessante Entdeckung …

ISBN: 3-7855-4417-0 Original: Hawke mysteries #3: The E-Mail Murders

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann Verlag: Loewe

Erscheinungsjahr: 2002 Umschlaggestaltung: Silvia Christoph & Andreas Henze

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Paul Zindel

Verbrecher haben keine Ferien

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann

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Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme Zindel, Paul:

Verbrecher haben keine Ferien / Paul Zindel. Aus dem Amerikan. übers, von Brigitta Merschmann.

-1. Aufl.. – Bindlach: Loewe, 2002

(Die Detektive) Einheitssacht.: The e-mail murders‚dt.‘

ISBN 3-7855-4417-0

Der Umwelt zuliebe ist dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.

ISBN 3-7855-4417-0 -1. Auflage 2002 ©2001 by Paul Zindel

Die Originalausgabe ist in den USA und Kanada bei Hyperion unter dem Titel P.C. Hawke mysteries #3: The E-Mail Murders erschienen.

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung von Hyperion. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann.

© für die deutsche Ausgabe 2002 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Umschlagillustration: Silvia Christoph

Umschlaggestaltung: Andreas Henze Gesamtherstellung: GGP Media, Pößneck

Printed in Germany

www.loewe-verlag.de

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Für Quentin Marlons neue elektronische Freunde: Greg, John, Phil und Colin

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Inhalt

Tod online ................................ 10 Noch eine romantische Leiche .. 20 Verwandte Seelen ...................... 29 Nizzas Schattenseiten ................. 44 Das Cyber Croissant .................. 49 Maurice Cardin ......................... 57 Neue Erkenntnisse .................... 62 Ein heißer Draht ....................... 76 Völlig unerwartet ...................... 86 Original und Fälschung ............. 94 Mord à la Mode ....................... 102 Abendliche Begegnung ............. 116 Jagdgründe ............................... 124 Ein älterer Herr ........................ 135

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Aus den Akten des Schreckens von Quentin Marlon:

Verbrecher haben keine Ferien Fall #3

FALL #3 BEGANN UNGEFÄHR SO:

India, meine Co-Detektivin, und ich hätten uns niemals träumen lassen, dass uns der Tod einer jungen Frau am 4. November in Südfrankreich in einen äußerst verzwickten, abscheu-lichen Mordfall hineinziehen würde, der uns noch heute Schauer über den Rücken jagt, wenn wir darüber nach-denken. Schon wie der Fall begann, war schrecklich genug:

1. Geneviève Blanc, 28 Jahre, Kellnerin in Nizza, hatte gerade ihre Schicht in einem kleinen Res-taurant am Hafen beendet. Sie ging drei Straßen weiter durch den Re-gen, um vom Internetcafé des Ortes aus eine E-Mail an ihre Schwester Marie in Paris zu schicken. Gene-viève hatte ein Zahnpastalächeln, mittellanges rotes Haar und brachte ein paar Pfund zu viel auf die Waa-ge – sie aß für ihr Leben gern die pikanten Zwiebelpizzas und die dampfend heißen Croque-monsieurs (mehr dazu später), die unten an den Docks verkauft wurden.

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2. Geneviève hatte nicht bemerkt, dass jemand sie anstarrte, als sie das Internetcafé betrat. Sie ließ sich einen Computer zuweisen, tipp-te eine lange E-Mail ein und ver-schickte sie. Bevor sie in die Nacht hinausging, schlürfte sie noch einen Milchkaffee und aß ein Croissant.

3. Die hübsche junge Frau bemerk-te auch nicht, dass ihr jemand folgte, als sie im Regen über die Hafenpromenade ging und schließlich in die dunkle Gasse zu ihrer Woh-nung in der Rue Noir einbog. Ihr Schlafzimmer im Erdgeschoss hatte Glastüren, die sich auf einen Gar-ten öffneten, in dem Hibiskus, ge-lbe Lilien und duftende Rosen blüh-ten. Sie war erschöpft von dem hin-ter ihr liegenden Arbeitstag, an dem sie wie üblich Knoblauchbrot, dampfende Miesmuscheln und Unmengen von gegrilltem Fisch an anspruchs-volle Touristen verfüttert hatte.

Sie schaute sich noch die neueste Folge einer amerikanischen Serie in ihrem kleinen Fernseher an, trank ein Glas Rotwein und ging dann ins Bett.

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4. Im Polizeibericht stand spä-ter, dass Geneviève Blanc vermut-lich nicht gehört hatte, wie jemand

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zwischen 2 Uhr und 2 Uhr 30 in den Garten eindrang. Weder hörte sie, wie die Türen zu ihrem Schlafzimmer geöffnet wurden, noch vernahm sie den Platzregen und die Donnerschlä-ge des Gewitters, das sich draußen entlud. Aller Wahrscheinlichkeit nach erwachte Geneviève erst, als ihr mit brutaler Gewalt ein Kissen auf Mund und Nase gedrückt wurde, bis der letzte Atemhauch aus ihrer Lunge herausgepresst war. Wenig später lag sie im Licht der am Him-mel aufzuckenden Blitze tot da.

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Aber jetzt kommt’s – die Beson-derheit dieses Mordfalls, ohne die der Tod von Geneviève Blanc wohl sang- und klanglos in den zig Tö-tungsdelikten untergegangen wäre, die Jahr für Jahr an der Cote d’Azur verübt werden. India und ich hätten vermutlich nie von ihr ge-hört – aber ich schweife ab. Ihr müsst wissen, dass der Mörder die Leiche von Mademoiselle Blanc nicht einfach im Bett liegen ließ. Der Unbekannte hob Genevièves Körper vorsichtig herunter und legte ihn auf den weißen Fliesenboden im Bad. Er zog ihr Nachthemd glatt, schob sanft ein Spitzenkissen unter ihren Kopf, dann kämmte er ihr rotes Haar und zog ihre Lippen und Brauen

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nach. Als die Polizei sie fand, brannten zu beiden Seiten ihres Kopfes Luftkerzen, und sie hielt ein kleines Rosenbukett in ihren über der Brust gekreuzten Händen. Ich – Quentin Marlon – und meine Detektivpartnerin India Riggs konn-ten ja nicht ahnen, dass dieser Mordfall für uns in einem Kräfte-messen mit einem der gefährlichsten Serienkiller Frankreichs enden wür-de. Es ging im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod – UNSER Le-ben und UNSEREN Tod! Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit,

euer Quentin Marlon

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Tod online

Ich weiß nicht, ob ihr schon mal in einem Helikopter geflogen seid, aber eins kann ich euch sagen – es ist atemberaubend. Und laut. Ich sah zwar, wie India verzückt aus dem Fenster starrte und die Lippen be-wegte, aber hören konnte ich nur den Motorenlärm.

Wir flogen über die Südküste Frankreichs hin-weg (besser bekannt als die Riviera oder die Côte d’Azur) in Richtung Monaco. Unter uns lagen das blaugrüne Mittelmeer und die goldgelben Strände der Riviera. Hinter dem palmengesäumten Boule-vard, der sich eng an die Küste schmiegte, stieg das Land steil an. Bergstraßen schlängelten sich im Zickzack an den mit luxuriösen Villen bebauten Sandsteinklippen in die Höhe. Unser Helikopter glitt im Tiefflug daran vorbei. Wir sahen, wie die Bewohner sich auf ihren Balkonen sonnten und die Aussicht genossen.

Es war ein toller Anblick. India und ich waren hin und weg. Ihr Dad, Dr. Dolan Riggs, war als Gastredner zum Kongress des Internationalen Ver-bands der Psychiater geladen, der in diesem Jahr im

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Grand Hotel von Monte Carlo stattfand, einem der berühmtesten Spielkasinos der Welt.

Dr. Riggs hatte India angeboten, ihn zu beglei-ten, da seine Frau, Gerichtsmedizinerin in New York, zu Hause bleiben und arbeiten musste. Und India – Gott segne ihre metallic-grünen Zehennä-gel – hatte ihren Freund und Co-Detektiv, nämlich mich, eingeladen.

„Ist das nicht unglaublich?!“, rief India und zeig-te aus dem Fenster. Sie sprang fast von ihrem Sitz vor Begeisterung.

Ich nickte nur und grinste. Man sollte seine Stimmbänder nicht unnötig strapazieren, und ich wollte auf keinen Fall die nächsten fünf Tage mit einer Kehlkopfentzündung flachliegen. Der Flug mit dem Helikopter vom Flughafen von Nizza nach Monte Carlo sollte nur sieben Minuten dauern – und wir würden jede Menge Zeit haben, uns zu unterhalten, sobald wir erst auf dem Dach des Hotels gelandet waren und unsere Ohren auf-gehört hatten zu klingeln.

Wir überflogen feudale Apartmenthäuser, ult-ramoderne Einkaufszentren, Häfen mit dicht an dicht vertäuten großen Yachten, kreativ gestaltete Swimmingpools und immer wieder Palmen.

„Was ist das?“, brüllte ich zu Dr. Riggs gewandt und zeigte auf eine schmale, hügelige Halbinsel, die ins Mittelmeer hineinragte.

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Er beugte seinen untersetzten Oberkörper nach vorn zum Fenster, strich über seinen grau melierten Bart und schaute hinaus. „Antibes und Cap Ferrat“, sagte er. Ich wusste aus dem Reiseführer, dass dies zwei extrem noble Gegenden waren, sogar für die Verhältnisse dieser vom Glück begünstigten Ecke der Welt.

Wenig später beugte sich Dr. Riggs noch einmal vor und zeigte aus dem Fenster. Unter uns erhob sich eine Festung auf einem scheinbar uneinnehm-baren Felsen. Die Klippen fielen an drei Seiten steil zum Meer ab. „Monaco!“, rief er. „Das Palais von Fürst Rainier!“

Kurz darauf verringerte der Pilot die Flughöhe und landete schließlich oben auf dem Dach des eleganten Monte Carlo Grand Hotels.

„Grundgütiger“, raunte India mir ins Ohr, als wir das Gebäude betraten und in den Aufzug stie-gen, um sechs Etagen hinunterzufahren. Unten in dem opulenten Foyer mit seinen Kristalllüstern und dicken roten Teppichen, in dem es von elegant gekleideten Gästen nur so wimmelte, ging Dr. Riggs gleich zum Empfang, um uns anzumel-den.

„Ich bin gerade in den Himmel gekommen!“, erklärte India. „Oooh, sieh mal, da ist ja Calvin Klein!“

Aber es war keineswegs Calvin, nur irgendein

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herausgeputzter Schnösel, der ihm eine Spur ähn-lich sah.

„Hey, ist das da drüben nicht Madonna?“, kon-terte ich.

So ging es ein paar Minuten hin und her. Mo-naco ist ein Magnet für die Reichen und Berühm-ten dieser Welt, was zu einem Großteil daran liegt, dass es alle Vorteile eines Steuerparadieses bietet. Dann wurde es Zeit für uns, mit dem Aufzug nach oben zu fahren und unser Quartier zu beziehen.

Zu unserer Suite im zweiten Stock gehörte ein Salon mit Schiebetüren, die sich auf einen Balkon mit Blick auf den Strand und das Meer öffneten. In dem Raum stand auch ein Bettsofa – mein Zuhau-se fern der Heimat. Das kleine seitlich gelegene Schlafzimmer sollte India bekommen. Zu dem großen Schlafzimmer (für Dr. Riggs bestimmt) gehörte ein zweiter Balkon. Von dort blickte man auf die Berge mit den gefährlich nah an den Klip-penrand gebauten Villen auf ihren Betonpfeilern und auf die Schwindel erregend steilen Küstenstra-ßen.

„Ich komme mir vor wie Gracia Patricia!“, be-geisterte sich India und beugte sich über das Gelän-der. „Schau, mein Königreich liegt mir zu Füßen!“

„Fürstentum“, verbesserte ich. „Eigentlich ist es schon Frankreich, was ihr da

seht“, klärte Dr. Riggs uns beide auf. „Monaco

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hört etwa fünf Straßenzüge weiter landeinwärts auf und erstreckt sich auch nur über ungefähr fünf Ki-lometer entlang der Küste. Die Grenze zu Frank-reich ist offen, aber entfernt euch nicht zu weit von hier, während ich auf der Konferenz bin.“

„Wir passen auf“, versprach ich. „Ja, wir sind ganz vorsichtig“, bestätigte India.

„Ich weiß, was du denkst, Daddy, aber wir machen Urlaub von der Verbrecherjagd. Garantiert. Son-nenbaden und Ausflüge – mehr nicht, Ehrenwort.“

Dr. Riggs war natürlich genauestens im Bilde über unsere Vorliebe, uns zum Wohle der Gerech-tigkeit in gefährliche Situationen zu bringen. „Gut“, sagte er erleichtert. „In einer halben Stunde muss ich an einem offiziellen Mittagessen teilneh-men. Ich schlage vor, ihr zwei schaut euch schon mal um. Ihr könnt alles bequem zu Fuß erreichen oder auch den Zug nehmen. Die Verbindungen von hier nach Nizza und zu anderen Ausflugszielen sind ausgezeichnet. Cannes ist auch nicht weit weg, falls es euch interessiert.“

„Cannes? Wo jedes Jahr das große Filmfestival stattfindet?“, erkundigte ich mich.

„Genau.“ „Cool!“ India rieb sich die Hände. „Ich könnte

auf Starsuche gehen.“ „Vielleicht solltet ihr lieber mit dem Palais des

Fürsten anfangen“, schlug Dr. Riggs vor. „Er liegt

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in der Nähe der Klippe, die der Felsen genannt wird, ebenso wie das Ozeanographische Institut. Es ist eines der größten der Welt mit einem einmali-gen Aquarium.“

„Klingt nicht schlecht“, sagte ich. „Und was ist mit Auspacken?“

„Später!“ India zog mich vom Geländer des Balkons weg ins Innere der Suite. „Wir haben nur fünf Tage – da dürfen wir keine Zeit verlieren!“

Wir schlenderten durch die engen Gassen der Alt-stadt von Monaco und schossen ein Foto nach dem anderen, um sie später unseren Freunden an der Westside School vorzuzeigen. „Ich kann’s kaum erwarten, die Bilder den Leuten von der Westside unter die Nase zu halten“, sagte India, während sie eine Aufnahme von gestreiften Markisen und Ti-schen mit Sonnenschirmen machte. „Nicht, dass ich damit angeben will, wo ich war. Ist ja logo. Es macht bloß solchen Spaß zu sehen, wie die eigenen Freunde vor Neid erblassen.“

„Ah, oui, aber wir ’aben noch nicht von der ’ie-sigen Küche gekostet“, erwiderte ich mit meinem besten französischen Akzent – der gar nicht so übel ist für einen Typ, der kein Wort Französisch spricht. Eigenlob, ich weiß.

„Ich möchte wissen, ob die Monac – Mon … wie nennen sie sich eigentlich selbst?“

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„Monegassen“, sagte ich. „Monegassen? Ist ja abgefahren. Monegassen

…“, wiederholte India. „Ob sie wohl dieselbe Kü-che bevorzugen wie die Franzosen?“

„Laut Reiseführer unterscheidet sich die Kultur nicht von der Frankreichs“, zitierte ich aus dem Gedächtnis. „Ich schätze, das schließt die Küche ein. Apropos, dieses Café sieht viel versprechend aus.“

India war der gleichen Meinung, also setzten wir uns an einen der Tische an der Straße, um ein déjeuner zu bestellen – was so viel heißt wie Mittag-essen.

„Hey, sieh dir das hier mal an.“ Ich überflog die Titelseite einer englischsprachigen Zeitung, die ein anderer Gast zurückgelassen hatte. „Wusstest du schon, dass es in Frankreich auch Serienkiller gibt?“

„Wirklich?“ India schob ihren Stuhl näher he-ran, um den Artikel gemeinsam mit mir zu lesen. Wir machten Urlaub, na klar, aber das hieß noch lange nicht, dass uns dieses Thema kalt ließ.

Der Artikel bezog sich auf einen perversen Kil-ler, der den Spitznamen „Cyrano“ trug. Er hatte sich selbst so getauft, nach dem Helden des roman-tischen Theaterstücks Cyrano de Bergerac. Und wirklich, dieser Cyrano hatte eine ausgeprägte ro-mantlsche Ader. Er ging nach einer speziellen Me-thode vor. Seine Opfer waren ausschließlich rot-

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haarige Frauen, die er mit einem Kissen erstickte und dann im Bad auf dem Fußboden drapierte, frisch geschminkt, umgeben von Duftkerzen, in den Händen rote Rosen. Der Killer näherte sich ihnen, indem er einen Briefwechsel per E-Mail anknüpfte. Die letzte Mail von Cyrano an das Op-fer lautete jedes Mal: „Les roses pour vous. Toujours – (Rosen für Sie. Für immer –) Cyrano.“

Romantisch, schön und gut – aber in Paris hatte er bereits ganze 17 Frauen umgebracht. Und dann, vor knapp einer Woche, hatte er plötzlich in Nizza zugeschlagen.

„So nah“, sagte ich. „Hey, India, meinst du …?“

„Nein!“, schnitt India mir das Wort ab. „Quen-tin, fang ja nicht davon an. Wir machen hier Fe-rien.“

„Ich weiß. Trotzdem – wir haben noch nie ei-nen Serienkiller gejagt.“

„Ja, sicher.“ Sie seufzte. „Aber wir sind hier nicht in Amerika, Quentin. Wir kennen uns hier überhaupt nicht aus.“

„In Los Angeles waren wir auch fremd“, gab ich zu bedenken – eine Anspielung auf unseren letzten Fall, der mit dem Tod eines Möchtegern-Mörders geendet hatte. Und um Haaresbreite hätte uns das-selbe Schicksal ereilt.

Wir bestellten zwei Schinken-Käse-Sandwiches

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nach französischer Art, Croque-monsieurs genannt. Während wir auf unser Essen warteten, nahmen wir uns noch einmal den Artikel vor.

„Ganz schön unheimlich“, meinte India, nach-dem wir sämtliche Details gelesen hatten. „Schon bei der Vorstellung sträuben sich mir die Haare.“

„Ich würde mir an deiner Stelle lieber nicht die Haare rot färben“, sagte ich zu ihr. India hat lange blonde Haare, was ihr wirklich gut steht. Aber ich traue ihr durchaus zu, sich nur so zum Spaß einen neuen Look zuzulegen.

„Haha“, sagte sie alles andere als belustigt. „Aber denk nur mal darüber nach, jeder hier könnte Cy-rano sein – der Typ da drüben zum Beispiel.“ Sie wies mit dem Kopf auf einen feisten, kahlköpfigen Mann an einem der anderen Tische.

„Und wie sollen wir das jemals wissen, wenn wir keine Nachforschungen anstellen? Wir könnten uns doch zumindest den Tatort ansehen. Dein Dad hat gesagt, dass man sich hier problemlos fortbewe-gen kann.“

„Hör schon auf, Quentin“, sagte sie warnend. Aber ich spürte, dass sie angebissen hatte.

„Wir könnten uns Motorroller mieten und eben hinfahren.“

„Vergiss es!“, zischte sie. In Los Angeles hatten wir uns während einer wilden Hetzjagd auf Motor-rollern in den Bergen fast den Hals gebrochen.

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„Na ja …“ Ich biss von meinem Sandwich ab. „Ich schätze, dann wird Cyrano wohl ungeschoren davonkommen.“

India warf mir einen bitterbösen Blick zu. „Tat-sache ist, ich habe Dad mein Ehrenwort gegeben.“ Sie holte ein paar Euro aus ihrer Tasche und be-zahlte. „Und du ebenfalls, Quentin. Ein Verspre-chen ist ein Versprechen.“

„Du hast ja Recht“, erwiderte ich. Sie runzelte die Stirn, als ich den Artikel über Cyrano herausriss und in meine Brieftasche steckte.

Den Rest des Tages verbrachten wir wie typi-sche Touristen: Wir nahmen an der Führung im Palais teil und bewunderten ausgiebig die vergolde-ten Säle und Schlafgemächer; wir lagen auf einem steinigen Strand in der Sonne und schwammen in dem intensiv blauen Wasser, das der Côte d’Azur ihren Namen gegeben hat. Nach einem reichlichen Abendessen bestehend aus Knoblauchshrimps und Schokoladencreme fielen wir in unserem Hotel ins Bett und schliefen sofort ein.

Alles in allem war es ein herrlich fauler Tag ge-wesen. Und ich schätze, es war gut, dass wir uns ordentlich ausgeruht hatten, denn am nächsten Morgen platzte die Nachricht wie eine Bombe in unsere Ferienstimmung: Cyrano hatte seinen näch-sten abscheulichen Mord direkt vor unserer Nase im Grand Hotel begangen!

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Noch eine romantische Leiche

Wir wurden von den Polizeisirenen geweckt. Ein ganzes Geschwader von Streifenwagen schien vor dem Hotel vorzufahren. Wegen all der reichen und berühmten Leute, die sich in Monaco tum-meln, ist in dem Fürstentum permanent höchste Sicherheitsstufe angesagt. Deshalb ist es normaler-weise auch einer der ungefährlichsten Orte auf der Welt.

India, Dr. Riggs und ich waren schon fertig an-gezogen, als die Polizei an unsere Tür klopfte. Vier Beamte standen im Korridor. Einer, ein kleiner Mann mittleren Alters mit angenehmen Ge-sichtszügen und freundlichen Augen, trat vor. „Dr. Riggs?“, fragte er.

„Das bin ich“, erwiderte Indias Vater. „Sie sind der Vorsitzende der New Yorker Ge-

sellschaft für Psychoanalyse?“ „Ja …“ „Ich bin Inspektor LeSeur.“ Der Beamte nickte

Dr. Riggs zu. „Es hat einen ernsten Zwischenfall

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gegeben, der eine Ihrer Kolleginnen betrifft. Wenn Sie uns bitte folgen wollen, Monsieur.“

Er ging durch den Korridor voran zu den Auf-zügen. LeSeur hatte zwar einen französischen Ak-zent, sprach aber ziemlich flüssig Englisch. Auf dem Weg klärte er uns auf, dass eine Psychoanaly-tikerin, die an der Konferenz teilnehmen sollte, auf bestialische Weise ermordet worden war. „Der Name des Opfers ist Dr. Harriet Epstein-Hopper“, schloss er.

„Mein Gott!“, rief Dr. Riggs. „Harriet? Die kenne ich ziemlich gut, Inspektor. Und auch ihren Mann, Dr. Richard Hopper.“

„Ja, wie ich höre, sind die beiden recht beachtli-che Kapazitäten auf ihrem Gebiet. Aber kommen Sie – sehen Sie selbst, was wir vorgefunden haben.“

Der Aufzug hielt im dritten Stock. LeSeur führ-te uns durch den Korridor zum Schauplatz des Verbrechens. Überall war Polizei – die Beamten durchkämmten die Suite 307, wo der Mord statt-gefunden hatte, inspizierten die beiden benachbar-ten Suiten, die Aufzüge und die Balkone. Teams aus uniformierten Beamten sicherten Spuren, such-ten nach Fingerabdrücken und vernahmen die üb-rigen Gäste der Etage.

Offenbar war LeSeur der Einsatzleiter. Er gab Befehle in Französisch, die ich hier nicht überset-zen werde – aus dem einfachen Grund, weil ich es

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nicht kann. Bedauerlicherweise habe ich in der Schule Spanisch und Deutsch belegt.

Aber selbst wenn ich es könnte, hätte es mir nicht viel genützt. Alle redeten gleichzeitig aufei-nander ein, sodass man unmöglich verstehen konn-te, was sie sagten. Es hörte sich an wie Maschinen-gewehre.

Dr. Riggs war in ein Gespräch mit einem der Polizeibeamten vertieft, und niemand achtete auf India und mich. Wir nickten uns zu und machten uns an die Arbeit. India schlängelte sich so unauf-fällig wie möglich in die Suite, um nicht bemerkt und hinausgescheucht zu werden.

Ich für meinen Teil beschloss, mich an LeSeurs Fersen zu heften, während er die Runde bei seinen Kollegen machte und überprüfte, welche Fort-schritte sie erzielt hatten. Er hielt ein Walkie-Talkie in einer Hand und sprach wie ein Besessener in das Ding. Nach kurzer Zeit war ich ziemlich frustriert; ich war zwar mittendrin im Geschehen, konnte aber kein Wort von dem verstehen, was die Polizeibeamten sagten. Bald wurde ich jedoch von einem Mädchen abgelenkt – na schön, einem bild-hübschen Mädchen –, das LeSeur ebenso zu folgen schien wie ich.

Das gewellte rote Haar fiel ihr bis über die Schultern. In ihren schmalen Händen hielt sie ei-nen zierlichen rot-weißen Stock. Ihre faszinierend

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großen blauen Augen starrten ins Leere, aber nicht etwa so, als wären sie blicklos, sondern vielmehr, als sähen sie Dinge, die niemand sonst wahrnahm.

Sie blieb dicht hinter LeSeur und horchte mit geneigtem Kopf auf jedes Wort, das er sagte. Schließlich zog sie an seinem Mantel und sagte: „Papa?“ Er beugte sich vor, und sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. LeSeur hörte zu und nickte lang-sam. Dann sagte er etwas zu seinen Leuten – so, als hätte sie ihm einen Tipp gegeben.

Das hübsche blinde Mädchen war also LeSeurs Tochter. Ich überlegte, ob sie wohl Englisch sprach. Vielleicht wäre sie ja bereit, für mich die Dolmetscherin zu spielen. Ich ging zu ihr. „Bon-jour“, sagte ich – eines der etwa fünf französischen Wörter, die ich schon mal gehört hatte.

„Bonjour“, erwiderte sie, nickte und lächelte be-zaubernd. „Ich bin Juliette“, fügte sie nach einer kleinen Pause in Englisch hinzu.

Juliette! Jammerschade, dass mein Name nicht Romeo lautete. „Ich heiße Quentin“, sagte ich.

„Wohnst du hier im Hotel, Quentin?“ „Ja. Ich bin zusammen mit meiner Freundin In-

dia und ihrem Vater hier. Er ist Redner auf der Konferenz. Und du bist die Tochter des Inspek-tors?“, fragte ich.

„Ja, Papa ist Chefinspektor hier in Monte Car-lo.“ Sie betonte die zweite Silbe: Pa-pa.

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„Mir ist aufgefallen, dass du deinem Vater einen Tipp gegeben hast?“

„Oui“, gab sie zu. „Manchmal nehme ich Dinge wahr, die sehende Menschen nicht bemerken. Au-ßerdem will ich später selbst bei der Polizei arbei-ten.“

„Meine Freundin India und ich haben auch schon ein paar Fälle gelöst“, erwiderte ich und ver-suchte, möglichst cool rüberzukommen.

„Hey, Quentin, ich wurde gerade von einer Furcht einflößenden Polizistin mit Damenbart an die Luft gesetzt …“ India brach ab, als sie bemerk-te, dass ich nicht allein war. „Äh, bonjour“, sagte sie.

„Dies ist Juliette“, sagte ich. „Sie spricht Eng-lisch. Juliette LeSeur, India Riggs.“

„Hallo India“, sagte Juliette. „LeSeur? Ist dein Vater …?“ „Er ist der Inpektor, ja.“ India nutzte die Gunst der Stunde. „Hör mal,

hast du vielleicht eine Ahnung, was genau hier los ist? Wir wissen bis jetzt nur, dass Dr. Epstein-Hopper ermordet wurde.“

„Ich weiß ein paar Dinge“, erwiderte Juliette. „Sie ist noch nicht lange tot – der Leichenbeschauer meint, seit sieben Uhr oder halb acht. Es war Tod durch Ersticken. Man hat sie auf dem Fußboden im Bad gefunden, so wie die früheren Opfer des Cyra-no-Killers. Habt ihr schon von ihm gehört?“

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„Wir haben in der Zeitung über ihn gelesen“, warf ich ein.

„Die Tote hatte rotes Haar.“ Juliette strich sich durch ihr eigenes Haar. „Comme ça, nur kürzer. Ihr Kopf war auf ein Kissen gebettet, zu beiden Seiten stand je eine brennende Kerze, und sie hielt rote Rosen in den Händen.“

Ich wollte schon den Artikel aus meiner Ho-sentasche fischen, als ein paar Polizeibeamte mit dem Mann des Opfers aus dem Aufzug kamen. Dr. Richard Hopper sah mitgenommen aus. Man hatte ihn wohl gerade erst darüber informiert, was seiner Frau zugestoßen war. Er war etwa 50 Jahre alt, trug Shorts, ein T-Shirt mit der Aufschrift New York Athletic Club und weiße Nike-Joggingschuhe. Offenbar kam er direkt vom Trai-ning. Ich schaute auf meine Uhr. Es war zehn vor acht.

„Das ist der Ehemann, nicht wahr?“, wollte Ju-liette von uns wissen.

„Ja“, zischte India. Die Polizei führte Dr. Hopper in seine Suite,

wo er sich auf dem Sofa niederließ, stöhnte und ungläubig den Kopf schüttelte. Er wollte seine Frau sehen, doch der Zugang zum Bad blieb ihm vorerst verwehrt. Die Polizeifotografen waren noch mit der Leiche beschäftigt.

„Monsieur, würden Sie uns bitte genauestens

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schildern, was Sie gemacht haben, seit Sie heute früh aufgestanden sind“, forderte LeSeur ihn auf.

„Gegen Viertel nach fünf bin ich aufgestanden, um zu joggen“, brachte Hopper mühsam hervor. „Ich zog meine Sportsachen an und … ich schätze, ich habe gegen halb sechs das Hotel verlassen … Oh, Gott … arme Harriet!“

„Sind Sie bis jetzt gelaufen?“, fragte der Inspek-tor sanft.

„Ja. Das heißt, nein. Ich … danach war ich noch kurz in einem Café. Ich habe eine Tasse Kaf-fee getrunken und ein Croissant gegessen.“

„Und der Name des Cafés?“ Dr. Hopper überlegte kurz. „Das Corniche“, sag-

te er. „Zumindest glaube ich, dass es so hieß.“ „Und war da jemand, der sich an Sie erinnern

würde?“ „Ich denke schon.“ „Aber Sie haben trotzdem beim Zimmerservice

ein Frühstück bestellt, Monsieur?“, fragte LeSeur mit einem Blick auf das unberührte Tablett mit zugedeckten Schüsseln und einer kleinen Vase mit einem Lavendelzweig. Der Inspektor hob die De-ckel und inspizierte das Essen.

„Das habe ich schon gestern Nacht für Harriet bestellt. Sie hat noch Blackjack gespielt. Es war nach Mitternacht, ich war müde und dachte daran, dass ich heute ganz früh aufstehen würde. Deshalb

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habe ich das Formular des Zimmerservice ausgefüllt und an den Türknauf gehängt, bevor ich ins Bett ging. Wann Harriet nachgekommen ist, weiß ich nicht, aber als ich heute Morgen aufwachte, lag sie neben mir und schlief.“

„Ich verstehe. Es war der Kellner, der die Lei-che Ihrer Frau fand, als er um Viertel nach sieben mit dem Tablett kam. Da auf sein Klopfen nie-mand antwortete, öffnete er die Tür mit seinem Nachschlüssel, um das Frühstückstablett im Salon abzustellen. Er entdeckte die Leiche Ihrer Frau auf dem Fußboden im Bad.“

„Harriet!“, schrie Dr. Hopper. „Es tut mir aufrichtig Leid, Monsieur“, sagte

LeSeur. „Das muss ein furchtbarer Verlust für Sie sein. Wenn Sie sie jetzt sehen möchten …“

Juliette, India und ich zogen uns in einen stillen Winkel des Korridors zurück. „Na schön“, sagte ich. „Juliette, dieser Cyrano …“

„Mein Vater hat schon letztes Jahr in Paris an dem Cyrano-Fall gearbeitet“, begann sie. „Vor sechs Monaten ist er dann hierher versetzt worden. Die französische und die monegassische Polizei haben ein Kooperationsabkommen.“

„Hat man ihn deshalb zum Leiter der Ermitt-lungen ernannt?“, erkundigte ich mich.

„Oui. Weil er so viel über Cyrano weiß“, sagte Juliette.

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„Das heißt ja wohl, dass du auch so einiges weißt, oder?“, hakte India nach.

Juliettes Gesicht leuchtete auf. „Oh ja, ich weiß viel über diesen Cyrano. Außerdem sind da die Computerdateien im Büro meines Vaters. Aber die kann ich natürlich nicht lesen.“ Sie klopfte mit ihrem Stock auf den Fußboden.

„Wir könnten sie dir vorlesen“, schlug ich vor. „Wie wär’s, wenn wir alle zusammen hingehen und die Dateien durchforsten?“

„Ja, klar!“, erwiderte Juliette. „Manchmal lässt Papa mich an einem Fall mitarbeiten. Wenn ich ihm sage, dass ihr meine Freunde seid, geht das bestimmt in Ordnung.“

„Cool!“, sagte India aufgeregt. Plötzlich entstand Unruhe – ein junger musku-

löser Mann mit langen schwarzen Haaren wurde durch den Korridor geführt. Er beschimpfte die beiden Polizisten, die ihn an den Armen hielten, und versuchte, sich loszureißen.

„Was ist los? Was schreit er da?“, fragte ich Ju-liette.

„Die Polizei hat einen Verdächtigen!“, sagte sie und packte meinen Arm. „Los, gehen wir zu ih-nen!“

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Verwandte Seelen

Inspektor LeSeur sprach selbst mit dem Verdächti-gen. „Sind Sie Tomas Milano?“

„Ja“, sagte Milano schroff. Er war etwa Ende 20. Die Pupillen in seinen tief liegenden Augen wan-derten unruhig von links nach rechts, als suche er nach einem Fluchtweg. „Ich protestiere gegen die-se brutale Behandlung!“, brüllte er plötzlich mit starkem italienischem Akzent in Englisch. „Ich bin unschuldig! Ich will meinen Anwalt anrufen!“

LeSeur ignorierte seinen Wutausbruch. „Man hat beobachtet, wie Sie gegen zwei Uhr nachts zusammen mit der Verstorbenen das Kasino verlie-ßen, Monsieur.“

„Sì“, bestätigte Milano. „Ich habe die Dame im Kasino kennen gelernt. Wir haben Blackjack ge-spielt. Dann habe ich sie zu ihrem Zimmer beglei-tet, und wir haben uns verabschiedet. Basta, finito! Und jetzt behaupten Sie, ich hätte sie umgebracht? Eine Unverschämtheit ist das!“

Meiner Erfahrung nach beteuert keiner so heftig seine Unschuld wie der Schuldige selbst.

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Wie dem auch sei, LeSeur war noch nicht fertig mit ihm. „Sie sind ein alter Bekannter hier im Hotel, Monsieur“, sagte er zu Milano. „Soweit ich weiß, besteht Ihre Masche darin, wohlhabende reifere Da-men zu umgarnen und sie anschließend um ihr Geld oder ihren Schmuck zu erleichtern, n’est-ce pas?“

„Sie haben mich des Mordes beschuldigt, Commissario“, konterte Milano. „In dieser Hin-sicht habe ich ein reines Gewissen. Wenn Sie aller-dings mit mir über meinen Lebenswandel zu spre-chen wünschen, ist das etwas völlig anderes.“

Ich muss schon sagen, Tomas Milano hatte Mut. Ich konnte nachvollziehen, dass manche Frauen auf ihn und seine Nummer „feuriger Italiener“ herein-fielen. Hatte Milano auch mit der Frau von Dr. Hopper geflirtet? Und war er später in ihre Suite eingedrungen und hatte sie ermordet, wäh-rend ihr Mann joggte?

LeSeur warf Milano einen skeptischen Blick zu. „Wir sind über Ihre Vorgehensweise im Bilde, Monsieur. Sie geben sich als ein Beschützer der Damen aus, die am Spieltisch gewinnen. Sie be-haupten, dass das Personal des Kasinos Sie eigens dazu engagiert hat.“

„Commissario, wenn Sie schon alles über mich wissen, was soll dann dieses Verhör?“ Milano strich sich das Haar aus der Stirn und lehnte sich in ge-wollt lässiger Pose auf dem Sofa zurück.

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Ohne auf Milanos herausfordernden Ton einzu-gehen, setzte LeSeur die Befragung fort. „Die Überwachungskameras des Kasinos zeigen, dass Sie Madame Epstein-Hopper um exakt zwei Uhr fünf zu ihrem Zimmer gebracht haben.“

„Ja, in diesem Punkt bekenne ich mich schuldig, Signore.“ Milano grinste.

„Dr. Epstein-Hopper hatte viel Geld am Black-jack-Tisch gewonnen“, fuhr LeSeur fort. „Sie war eine wohlhabende Frau und trug wertvollen Schmuck. Und wie es aussieht, ist ihre Cartier-Uhr verschwunden.“ Sein Blick wurde hart. „Ihr Motiv für den Mord war Raub, Monsieur. Sie haben um zwei Uhr nachts dafür gesorgt, dass die Tür unver-schlossen war. Dann kamen Sie zwischen sechs und sieben zurück, als ihr Mann die Suite verlassen hat-te. Sie töteten sie à la Cyrano, um die Polizei zu verwirren. Anschließend nahmen Sie die Uhr und suchten das Weite.“

Milano lachte leise. „Zum Zeitpunkt des Mor-des war ich mit meiner Freundin Nicole zusammen in ihrer Wohnung in der Rue Grimaldi. Aber das wissen Sie ja bereits, da Ihre Leute mich dort auf-gegriffen haben.“

LeSeur wirkte verärgert. „Nun gut, Monsieur, Sie können vorerst gehen. Aber ich warne Sie, versuchen Sie nicht, die Stadt zu verlassen. Meine Leute werden Sie im Auge behalten.“

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„Das würde mir nicht im Traum einfallen, Commissario“, beteuerte Milano und verneigte sich leicht. „Es gefällt mir hier. Es gibt so viele net-te Frauen, wissen Sie.“ Selbstzufrieden schlenderte er hinaus.

„Du meine Güte“, flüsterte India, als er an uns vorbeikam. „Der ist vielleicht aalglatt!“

„Und ob“, bestätigte ich. „Glaubst du, er war es?“

„Keine Ahnung“, erwiderte India. „Seine Freundin würde garantiert für ihn lügen, wenn er sie um ein Alibi gebeten hat.“

„Aber was ist mit den Überwachungskameras?“, sagte ich.

Diesmal antwortete Juliette. „Die Korridore sind nicht die einzige Möglichkeit, um in die Zimmer der Gäste zu gelangen. Man kommt auch über die benachbarten Suiten hinein.“

„Sicher, aber nur wenn die Tür von beiden Sei-ten unverschlossen ist“, erwiderte ich. „Das würde bedeuten, dass das Opfer dem Mörder selbst auf-gemacht hat.“

„Das könnte sie für Tomas durchaus getan ha-ben“, meinte India.

„Oder auch für einen anderen Bekannten“, er-gänzte ich. „Hey! Wie wär’s, wenn wir zum Emp-fangsschalter gehen und herauszufinden versuchen, wer die beiden Zimmer neben der Suite bewohnt?“

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„Zuerst muss ich noch was überprüfen“, sagte India, machte kehrt und schlich sich wieder in die Suite. Zehn Sekunden später wurde sie von dersel-ben aufgebrachten Polizistin hinausbefördert, die sie schon beim ersten Mal entfernt hatte. Aber In-dia lächelte. „Les roses pour vous. Toujours – Cyra-no“, sagte sie. „Es stand weithin sichtbar auf dem Bildschirm, so wie ich gedacht hatte.“

„Es war Cyrano, so viel ist klar“, stellte Juliette fest.

„Wir haben bis jetzt noch nie einen Serienkiller zur Strecke gebracht“, sagte India zu ihr.

Ich spürte, dass India das Jagdfleber gepackt hat-te. Die Ermahnungen ihres Vaters, wir sollten uns aus dem Fall raushalten, hatte sie komplett verges-sen. Mir kam das entgegen. Der Strand würde war-ten müssen.

„Erzähl uns alles, was du über Cyrano weißt“, sagte ich zu Juliette, während die Polizei die Suite und die angrenzenden Zimmer mit gelbem Poli-zeiband absperrte – das überall bekannte Zeichen für Zutritt verboten.

„Papa hat sämtliche E-Mails überprüft. In Paris kamen die Mails von Cyrano von verschiedenen Orten, zu denen viele Benutzer Zugang hatten. Die dortigen Ermittlungen kommen nur schlep-pend voran.“

„Und bei den beiden jüngsten Opfern?“, fragte ich.

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„Wir könnten in den Computerdateien meines Vaters nachsehen. Übrigens kommt mir Milano nicht wie der Cyrano-Typ vor.“

„Wieso nicht?“, wollte India wissen. „Mein Papa sagt, Cyrano ist ein Einzelgänger.

So wie die meisten Serienkiller.“ „Klingt tatsächlich nicht nach Milano“, warf ich

ein. „Und was kannst du uns sonst noch erzählen?“ „Ich weiß, dass er die Opfer mit Parfüm besp-

rüht“, erwiderte Juliette. „Das stand nicht in den Zeitungen, aber ich habe es selbst an einem der Pariser Tatorte entdeckt. Da war der Duft von Tu-berosen. Sehr schwach, aber ich hab’s genau gero-chen.“

Ich hatte noch nie von Tuberosen gehört und India ebenso wenig. Dieses Mädchen jedoch hatte den Duft nicht nur wahrgenommen, sondern auch gleich identifiziert.

„Tuberosen werden zur Verfeinerung von Par-füms benutzt“, erklärte Juliette. „Heutzutage nicht mehr so oft wie vor 20, 30 Jahren. Es ist ein sehr ungewöhnlicher Duft. Papa versucht, die Herkunft des Parfüms zu ermitteln. Vielleicht kann er ja he-rausfinden, wer es gekauft hat. Das wäre eine wert-volle Spur. Es gibt wohl nicht viele Männer, die ein Parfüm mit Tuberose kaufen.“

„Super!“, sagte India. „Das wird eine extrem kurze Liste.“

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„Ja. Aber wie gesagt, die französische Polizei ar-beitet so langsam! Und in Monaco ist es noch schlimmer. Gründlich sind sie – aber schnell? Das kann man wirklich nicht behaupten.“

„Dann werden wir umso mehr als Verstärkung gebraucht!“, warf ich ein. „Wenn uns ein entschei-dendes Detail auffällt, das die Polizei übersehen oder gar nicht zu Gesicht bekommen hat, dann können wir Cyrano vielleicht stellen, bevor er sei-nen nächsten Mord begeht.“

Ich muss gestehen, während ich dies sagte, hing mein Blick an Juliettes roter Mähne. Sie gehörte definitiv zur Risikogruppe.

„Wisst ihr, was?“, sagte India. „Mir ist gerade was eingefallen. Eine Psychiaterin, die an der Kon-ferenz teilnimmt, ist Expertin für Serienkiller.“

„Echt? Wer denn?“, fragte ich. „Mein Vater hat neulich von ihr gesprochen. Fran-

cine Sowieso. Sie soll einen der Vorträge halten.“ „Wir könnten sie in der Konferenzbroschüre

nachschlagen“, sagte ich. Wir nahmen Juliette mit in unsere Suite, wo wir

Dr. Riggs’ Kopie des Veranstaltungsplans unter die Lupe nahmen. Juliette rief beim Empfang des Ho-tels an, doch dort wollte man die Zimmernummer der Dame nicht herausgeben. Wir mussten wohl oder übel ins Foyer hinunterfahren und brauchten eine gute halbe Stunde, um einen der Portiers

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weich zu klopfen. Als Juliette dann auch noch den Namen ihres Vaters fallen ließ, rückte der Portier mit einer hochinteressanten Information heraus. Dr. Francine White, besagte Expertin für Serienkil-ler, hatte Suite 306 bewohnt – die Suite gleich ne-ben der der Hoppers! Aber seit die Polizei im Zuge der Ermittlungen auch die Nachbarsuiten abgerie-gelt hatte, war Dr. White in Suite 542 in einem anderen Flügel des Hotels untergebracht.

Wir fuhren mit dem Aufzug in den fünften Stock. Als wir uns dem Zimmer Dr. Whites näher-ten, bemerkten wir, dass die Tür einen Spalt offen stand. Leise bewegten wir uns darauf zu, bis unser Blick auf Dr. White fiel, die damit beschäftigt war, ihre Klamotten in den Schrank zu hängen. Und es war noch jemand in der Suite: niemand Geringerer als der jetzt alles andere als weinerliche Dr. Richard Hopper! Die beiden waren in eine leise – und scheinbar sehr vertrauliche – Unterhaltung vertieft.

„Richard, bitte!“, sagte Dr. White. Francine White war etwa zehn Jahre jünger als

Richard Hopper. Sie war keine große Schönheit, aber auch nicht hässlich. Ihre Stimme war tief und rauchig und klang entschlossen. Im Vergleich zu ihr wirkte Hopper gehemmt.

„Ich werde darum bitten, dass der Kongress wie geplant fortgesetzt wird“, sagte er mit gesenktem Blick. „Harriet hätte es so gewollt.“

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„Ja, ich schätze, insoweit hast du Recht“, bestä-tigte Dr. White.

„Außerdem werde ich vorschlagen, dass du Har-riets Platz als Hauptrednerin einnimmst.“ Dr. White wollte protestieren, doch er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Mir ist egal, was die anderen davon halten. Es steht dir zu.“

„Wach endlich auf, Richard!“, fauchte sie. „Wir sind Mordverdächtige – wir alle beide! Mein Gott, ich habe die Suite neben eurer bewohnt! Und ganz zufällig steht mir kein so praktisches Alibi zur Ver-fügung wie dir.“

Ich warf einen kurzen Blick auf Juliette. Sie hörte gespannt zu.

„Ja, da hast du wohl Recht“, sagte Hopper. „Na ja, vielleicht könnte ich Dr. Piatkowski bitten, für Harriet einzuspringen.“

„Tu das“, entgegnete sie. „Und halte dich eine Zeit lang von mir fern.“

Zu unserer Überraschung gab Dr. Hopper ihr einen Kuss auf den Mund, bevor er durch die Ver-bindungstür in der angrenzenden Suite ver-schwand.

India schaute mich völlig entgeistert an. „Er hat sie geküsst“, flüsterte sie Juliette zu. „So was von abgedreht.“ Ich räusperte mich

und klopfte an die offen stehende Tür. Dr. White

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kam uns entgegen. Ihr Gesicht war kreidebleich. Anscheinend befürchtete sie, dass wir ihr Gespräch mit Hopper mitgehört hatten. „Ja?“, sagte sie.

Wir stellten uns vor. Juliette und ich überließen India die Initiative. Nachdem Dr. White begriffen hatte, dass sie es mit Dr. Riggs’ Tochter zu tun hatte, beruhigte sie sich ein wenig. Wir beschlos-sen, vorläufig nicht zu erwähnen, dass Juliette die Tochter von Inspektor LeSeur war. Doch Indias nächste Frage schien Dr. White erneut aus dem Konzept zu bringen.

„Wir haben gehofft, Sie könnten uns etwas über Serienkiller im Allgemeinen und über Cyrano im Besonderen erzählen. Wären Sie dazu bereit?“, sagte India.

„Und wozu soll das gut sein?“ Dr. Whites Stimme war um eine Oktave gesunken, als wollte sie uns warnen, ja nicht zu neugierig zu sein.

„India und ich gehen zur Westside School in Manhattan“, mischte ich mich ein, „und wir haben uns vorgenommen, ein Referat über Mörder wie Cyrano zu schreiben. Wir könnten auch auf ein paar der berühmten amerikanischen Serienmörder eingehen – auf Ted Bundy und so weiter.“

Juliette meldete sich ebenfalls zu Wort. „Und ich möchte eventuell ein Referat für meine Schule hier in Monaco schreiben“, sagte sie und übertrieb dabei ihren französischen Akzent.

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India ließ nicht locker. „Wir brauchen nur ein paar Tipps“, sagte sie. „Wieso tut jemand wie Cy-rano so etwas? Es scheint, als befolge er eine Art Ritual.“

Dr. Whites Blick wurde nachgiebiger. Anschei-nend hatte sie uns die Masche „Arme-kleine-Schüler-brauchen-Hilfe“ abgenommen. India und ich benutzen diese Methode oft bei Erwachsenen, denen wir entweder Informationen entlocken oder auf den Zahn fühlen wollen.

„Cyrano zu verstehen ist nicht schwer“, sagte Dr. White. Sie schaute zu ihrem Schreibtisch. „Wenn ihr Lust habt, kann ich euch zeigen, was ich im Computer gespeichert habe.“

„Wir wissen, dass Sie auf dem Kongress eine Rede halten werden“, sagte ich.

„Ja.“ Sie lächelte zwar, sah aber trotzdem so aus wie eine Gefängniswärterin, die sich auf eine be-vorstehende Hinrichtung freut. „Ihr könnt schon mal vorab einen Blick auf meinen Vortrag werfen. Nach den jüngsten Ereignissen habe ich beschlossen, den Schwerpunkt auf diesen Cyrano zu legen.“

Die Datei war im Textformat abgespeichert und vermutlich von Dr. Whites Website heruntergela-den. Ich ließ das Dokument langsam über den Bildschirm laufen, während India laut vorlas, damit Juliette es mitbekam:

„Serienmörder sind keine üblichen Verdächti-

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gen. Sie sind hochkompliziert, was ihren Hinter-grund und ihre Motive betrifft. Höchstwahrschein-lich wurde Cyrano als Kind misshandelt – von der Mutter und vielleicht auch vom Vater. Es ist mög-lich, dass er in seiner Kindheit seiner inneren Qual Luft gemacht hat, indem er Haustiere der Familie oder wilde Tiere tötete. So wie der Cyrano des Theaterstücks ist er vermutlich ein hoch gewachse-ner, kräftiger Mann, der sich gern hinter anderen versteckt. Unter Umständen hat er auch eine kör-perliche Missbildung (die berühmte Cyrano-Nase!). Aber auf jeden Fall gehört er zu den Männern, über die Frauen sich gern lustig machen oder die sie von sich wegstoßen, so wie seine Mutter es tat. Gut vorstellbar ist auch, dass seine Mutter, so wie seine Opfer, groß war und lange rote Haare hatte.“

„Nehmen Sie mir die Bemerkung nicht übel“, wagte ich mich vor, „aber das ist ein grob vereinfa-chendes Profil.“

„Selbstverständlich ist es vereinfachend!“, ent-gegnete Dr. White. „Niemand weiß, wer Cyrano ist. Aber sagen wir mal so – wenn Interpol das Pro-fil eines Serienmörders braucht, wendet man sich an mich, weil man meine Verständlichkeit schätzt.“ Ihr Blick verriet, dass sie mich wohl am liebsten geohrfeigt hätte.

„Tut mir Leid“, sagte ich. „Ich wollte Sie nicht beleidigen.“

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„Schon gut.“ Sie winkte ab. „Aber ich fürchte, ich werde unser Gespräch abkürzen müssen. Ich habe eine Verabredung.“

„Natürlich“, sagte India und nahm mir die Mou-se aus der Hand. Sie las weiter vor: „Seit Jahren tötet er große Frauen mit langen roten Haaren. Er tötet, um die Liebe und Zärtlichkeit zu inszenieren, nach der er sich im Unterbewusstsein verzehrt. Dazu er-schafft er sich die ideale Partnerin: die ideale Mutter. Der von ihm erwählten Frau zwingt er seinen Wil-len auf – in letzter Konsequenz durch den Ersti-ckungstod, herbeigeführt mittels eines Kissens. An-schließend bahrt er sie sorgfältig auf, in der Hand eine Rose, beschienen von romantischem Kerzen-licht. Ihr Kopf ruht auf dem Kissen. Dieses Ritual ist der einzige Weg für ihn, seine Fantasie von einer ihn liebenden Frau zu verwirklichen. Dieser Mann will, dass Frauen sanft und fügsam sind. Er will die völlige Kontrolle über sie …“

Dr. White beugte sich kurz entschlossen vor und schaltete den Computer ab. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, kehrten wir in unsere Suite zurück, um weiter auszupacken und um zu analy-sieren, was wir bisher in Erfahrung gebracht hatten. Juliette begleitete uns. „Na schön, wir haben ers-tens den Mord an einer bekannten Psychiaterin“, begann India, während wir uns daranmachten, un-sere Klamotten in Schubladen zu verstauen und auf

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Bügel zu hängen. „Zweitens passt dieser Mord auf das Profil eines Serienmörders namens Cyrano.“

„Ganz zu schweigen von dem anderen Mord in Nizza“, warf Juliette ein.

India nickte. „Und wir haben eine wenn auch schwache Vorstellung davon, was für ein Typ Cy-rano sein könnte.“

„Außerdem gibt es zwei Leute, die die Tote gut kannten und ein Motiv hatten, sie zu töten“, be-merkte ich. „Und dann ist da noch Tomas Milano. Ob er nun Cyrano ist oder nicht – er kannte die Ver-storbene und hat sie unter Umständen beraubt. Viel-leicht ist sie aufgewacht, als er in ihre Suite einbrach, und deshalb musste er sie töten. Den Tatort hat er dann so hergerichtet, als habe Cyrano zugeschlagen.“

„Vergesst die Tuberosen nicht“, sagte Juliette. „Heute Morgen in der Suite habe ich übrigens keine gerochen.“

„Was für ein verzwickter Fall“, sagte India und seufzte. „Es gibt noch so viele offene Fragen und Möglichkeiten. Wie soll es jetzt weitergehen?“

„Wir könnten mit Juliette ins Polizeirevier ge-hen und einen Blick in die Akten werfen. Das wäre doch immerhin etwas.“

„Ja, finde ich auch“, sagte Juliette. „Und was ist mit den Videoaufnahmen der

Überwachungskameras des Kasinos?“, fuhr ich fort. „Wir sollten herausfinden, was darauf zu sehen ist.“

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„Oder was nicht zu sehen ist“, ergänzte India. „Und die E-Mail an Dr. Epstein-Hopper? Hat die Polizei eigentlich überprüft, woher sie kam?“

Dr. Riggs erschien in der Tür. Er wirkte ge-stresst und angespannt. „Wie schrecklich das alles ist! Arme Harriet, armer Richard“, sagte er. Plötz-lich wurde er auf Juliette aufmerksam. „Oh, hallo.“

„Bonjour“, sagte sie und schüttelte ihm die Hand. „Ich bin Juliette. Mein Vater ist Polizeiin-spektor LeSeur.“

Dr. Riggs schaute India und mich argwöhnisch an. „Ich hoffe nur, das bedeutet nicht, dass ihr zwei euch in diese Sache einzumischen gedenkt.“

„Bestimmt nicht, Daddy“, schwindelte India. „Vergesst nicht, ihr habt mir euer Ehrenwort

gegeben“, sagte er an uns beide gewandt. „Wir vergessen es nicht“, erwiderte ich. Das

war zumindest keine Lüge. „Ihr haltet euch da raus, habt ihr mich verstan-

den?“ „Wir haben verstanden“, sagten India und ich

im Chor. Und das hatten wir tatsächlich. Uns war nur eben klar, dass wir diesen Fall unmöglich auf sich beruhen lassen konnten. Das kam gar nicht in Frage.

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Nizzas Schattenseiten

Die Polizeizentrale von Monaco ist ein imposantes Gebäude mit weißen Säulen am Kopf der steiner-nen Freitreppe. Drinnen war es völlig still, ganz anders als in einem amerikanischen Polizeirevier. Der Hauptteil der Arbeit wurde hinter verschlosse-nen Türen verrichtet: in den Labors, im Archiv, im Leichenschauhaus. Die Arrestzellen, so erfuhren wir von Juliette, befanden sich zwei Etagen unter der Erde. Falls die Insassen Krach schlugen, konn-ten wir sie nicht hören.

Juliette führte uns an dem uniformierten Beam-ten am Empfang vorbei durch einen Flur zum Bü-ro ihres Vaters. LeSeur befand sich noch am Tatort, deshalb war es die perfekte Gelegenheit, sich in die Cyrano-Computerdateien einzuloggen. Juliette kannte sämtliche Passwörter, und bald verglichen wir die Cyrano-Morde miteinander. Ganz beson-ders ein Detail weckte meine Aufmerksamkeit. „Alle Opfer hatten langes rotes Haar, bis auf die letzten beiden. Geneviève Blanc und Dr. Epstein-Hopper trugen das Haar relativ kurz geschnitten.“

„Meint ihr, das hat etwas zu bedeuten?“, fragte

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India. „Vielleicht konnte er bloß nicht die Richtige finden.“

„Keine Ahnung. Vielleicht ändert sich auch Cy-ranos Geschmack“, gab ich zu bedenken. „Oder wir haben es mit einem Nachahmer zu tun.“

Mein Blick fiel auf das Foto einer attraktiven Frau mit langen Haaren auf LeSeurs Schreibtisch. „Hat dein Vater ein Bild deiner Mutter auf dem Schreibtisch stehen?“, fragte ich Juliette.

„Oui“, erwiderte sie stolz. „Sie ist Model. Sie ist sehr schön, nicht?“

„Ja, sehr“, sagte India und setzte sich an den Computer.

„Komisch, sowohl du als auch deine Mutter entsprechen dem Opferprofil“, sinnierte ich.

„Ich glaube, das ist der Grund, warum Papa sich derart auf Cyrano eingeschossen hat. Aber ich habe keine Angst“, sagte Juliette mit fester Stimme. „Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.“

„Hey, seht euch das mal an“, ließ sich India vernehmen. „Die meisten E-Mails wurden von einer der Bibliotheken an der Pariser Universität Sorbonne verschickt.“

„Oui“, bestätigte Juliette. „Aber es ist nicht schwer, einen Studentenausweis zu fälschen, um die Computer benutzen zu dürfen. Die Universität ist wie eine Fabrik – man kann den ganzen Tag dort arbeiten.“

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„Aber was ist mit der E-Mail an Geneviève Blanc? Kam die auch von der Sorbonne?“, fragte India. Sie drückte auf ein paar Tasten, starrte auf den Bildschirm und wartete darauf, dass der Com-puter die gewünschte Information finden würde.

„Und die Überwachungsvideos?“, fragte ich. „Können wir die sehen?“

Juliette und India gingen hinaus, um sich im La-bor im zweiten Stock nach dem Verbleib der Vi-deoaufnahmen zu erkundigen. Derweil vertiefte ich mich in die Akte über Geneviève Blanc, die auf LeSeurs Schreibtisch lag. Anhand einer Karte Niz-zas an der Wand rekonstruierte ich die letzten Sta-tionen ihres Lebens.

Da war zum einen das Restaurant Madeleine auf dem Boulevard, wo sie an jenem Abend die Spät-schicht übernommen hatte; dann das Cyber Crois-sant, ein Internetcafé, in das sie nach der Arbeit gegangen war, um eine E-Mail an ihre Schwester in Paris zu schicken; und ihre Wohnung in der Rue Noir, ganz in der Nähe des Boulevards, wo sie vor dem Schlafengehen noch ein Glas Wein getrunken hatte und dann auf so grausame Art und Weise ums Leben gekommen war.

Ich wollte all diese Orte mit eigenen Augen se-hen. Mir war klar, dass der Mord an Dr. Harriet Epstein-Hopper mit Genevièves Tod zusammen-hing, da dies die beiden einzigen Morde waren, die

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sich weit entfernt von Paris und in einem näheren Umkreis ereignet hatten. Den Tatort im Hotel zu überprüfen war unmöglich: Dort wimmelte es nur so von Polizei. Die Arbeit an Genevièves Fall war hingegen längst abgeschlossen und mit dem Ver-merk „Cyrano“ zu den Akten gelegt worden.

Die Mädchen kamen zurück, ganz aufgeregt von den Neuigkeiten, die sie mitbrachten. „Der Techniker im Fotolabor sagt, die Videoaufnahmen bestätigen das Alibi von Dr. Hopper“, berichtete India. „Er ging um halb sechs weg und kam erst zurück, als er um zehn vor acht von der Polizei gebracht wurde.“

„Und Tomas hat sie wirklich um fünf nach zwei zu ihrem Zimmer begleitet, so wie er gesagt hat – und er kam nicht zurück“, fügte Juliette hinzu.

„Außerdem war keine Spur von Cyrano zu se-hen“, sagte India. „Aus den Aufnahmen ergaben sich nicht die kleinsten Verdachtsmomente.“

„Gibt es mehrere Videokassetten?“, fragte ich. „Oui“, sagte Juliette. „Eine von ein Uhr bis vier

Uhr, eine von vier Uhr bis sieben Uhr, die dritte von sieben bis zehn Uhr, obwohl diese Aufnahme natürlich um Viertel vor acht abbricht, weil die Polizei die Kassette mitnahm. Nach Tomas kam keiner mehr in die Nähe der Suite, bis Dr. Hopper um halb sechs wegging.“

„Und die Kerzen, die Rosen und all die anderen

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Requisiten des Rituals?“, fragte ich. „Überprüft die Polizei die Herkunft dieser Gegenstände?“

„Oui, aber sehr langsam, viel zu langsam“, sagte Juliette.

In diesem Augenblick fiel mein Blick auf den Bildschirm des Computers. Dort stand groß und deutlich das Ergebnis von Indias Suchauftrag: der Herkunftsort der E-Mail an Geneviève Blanc.

„Hey, seht euch das an!“, sagte ich. „Cyranos E-Mail kam aus dem Cyber Croissant. Dasselbe Café, in dem Geneviève an jenem Abend ihre Post ver-schickte!“

„Was sagst du da?“, fragte India. Ich zeigte ihr den Standort des Cyber Croissant

auf der Karte. „Wie man sieht, hat Nizza auch sei-ne Schattenseiten.“

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Das Cyber Croissant

Wir spielten kurz mit dem Gedanken, uns doch Motorroller zu besorgen, so wie damals in Los An-geles. Aber wir mussten ja auch an Juliette denken. Deshalb entschieden wir uns letztlich für den Zug. Die Strecke verlief am Fuß des Berges entlang, der Monaco von Frankreich trennt.

Bis Nizza war es nur eine Viertelstunde Fahrt. Unsere erste Station war das Restaurant Madeleine, wo Geneviève Blanc gearbeitet hatte – aber es wurde nur eine Stippvisite, da dort keine interes-santen Informationen zu bekommen waren. An-schließend gingen wir die Route ab, die Geneviève in jener verhängnisvollen Gewitternacht zurückge-legt hatte.

Die Umstände hätten nicht gegensätzlicher sein können: Im hellen Glanz der nachmittäglichen Sonne funkelte der halbmondförmige Hafen wie ein Diadem aus Diamanten. Das Cyber Croissant lag drei Blocks von der Strandpromenade entfernt in Vieux Nice, der Altstadt von Nizza. Um diese Zeit herrschte dort sehr dichtes Gedränge, überwiegend

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gestylte junge Leute. Aber alle fünf Minuten raste mit schrillen Sirenen eine Ambulanz vorbei – ein Hinweis darauf, dass viele ältere, gut situierte Leute nach Nizza kommen, um sich dort in Senioren-heimen zu verkriechen und zu sterben. Vermutlich ging es in den Notaufnahmen der hiesigen Kran-kenhäuser genauso hektisch zu wie in den Burger-King-Filialen New Yorks an einem Tag, an dem es die Fritten umsonst gab.

Das Cyber Croissant sah aus wie ein Treffpunkt im San Francisco der Sechzigerjahre, komplett aus-gestattet mit verrückten Postern von Jim Morrison und einer Espressobar mit einer Auswahl an Ge-bäck. Man konnte sich gut vorstellen, welchen Spaß ein Schwarm Riviera-Kakerlaken daran ha-ben würde. Es schien kein Computer frei zu sein, deshalb bezogen wir Posten vor einem Regal mit Kaffeetassen.

Der Typ hinter der Bar war ein in die Jahre ge-kommener französischer Hippie. Er war zwar gut angezogen, hatte aber ungekämmte lange grau me-lierte Haare und trug ein anzügliches Grinsen zur Schau. „Das bin ich“, sagte er, als wir nach dem Besitzer des Cafés fragten. „Ihr könnt mich Pierre nennen.“

„Ich bin Quentin.“ Ich schüttelte ihm die Hand. „Und dies sind India und Juliette.“

„Quentin, möchtest du einen Milchkaffee? Und

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wünschen les belles demoiselles etwas?“, fragte er und schaute abwechselnd India und Juliette an.

Ich gab mich betont cool und lässig. „Was im-mer die Damen wollen, es geht auf mich“, sagte ich, holte ein paar Euro aus meiner Tasche und legte sie auf den Tresen.

„Eh bien, Monsieur!“ Pierre bedachte mich mit einem abstoßend künstlichen Lächeln. „Du bist hier, wie sagt man noch gleich, der große Zampa-no! Ich besorge euch so schnell wie möglich einen Computer, ja?“

„Eigentlich sind wir wegen des Cyrano-Mordes hier“, sagte India.

Pierres Miene verdüsterte sich schlagartig. „Ach, das“, sagte er bitter. „Ist zwar gut fürs Geschäft – die Touristen kommen, um sich den Ort anzu-schauen, wo Geneviève Blanc das letzte Mal lebend gesehen wurde. Aber die Polizei habe ich nicht so gern hier.“

„Ja, es muss schlimm sein“, erwiderte India mit-fühlend. „Die Polizei schnüffelt überall herum und stellt einem Mann wie Ihnen womöglich beleidi-gende Fragen.“

„Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen“, klagte Pierre.

„Also gut. Ich nehme erst mal einen Milchkaf-fee“, warf ich ein. Ich dachte mir, es könnte unse-ren Nachforschungen nur dienlich sein, ein paar

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Euro in seinem Café springen zu lassen. India und Juliette bestellten Espresso.

Wir plauderten, während Pierre unseren Kaffee zubereitete. Als er zurückkam, ging India gleich aufs Ganze. „Hey, cooles Shirt“, sagte sie und fuhr mit dem Finger über seinen Ärmel. „Ist es von Armani?“

„Oui, Armani.“ Pierre grinste. „Gefällt’s dir?“ „Très chic“, säuselte India. „Nur wenige Männer

beherrschen die Kunst, sich gut anzuziehen. Die Hose gefällt mir auch.“

Pierre zupfte eine unsichtbare Fluse von seinem Hosenbein.

Ich verdrehte die Augen – für das Thema Mode hatte ich nicht viel übrig. Aber India wusste genau, was sie tat.

„Haben Sie eigentlich mit der Frau geredet, die ermordet wurde?“, fragte sie.

Pierre zuckte die Achseln. „Ich rede mit so vielen Leuten, erinnere mich aber später nur an wenige.“ Er schaute wieder von Juliette zu India, als wollte er sagen, dass er sie beide nicht so schnell vergessen würde. „An dieses arme Mädchen konnte ich mich nicht mehr erinnern – bis die Polizei mir ein Foto von ihr zeigte. Da fiel mir wieder ein, dass sie allein da drüben am Fenster saß.“ Er zeigte auf einen Platz in der Nähe der Tür, wo sich jetzt zwei Jungen lär-mend in virtuellen Welten tummelten.

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„Und wie lange war sie hier?“, fragte Juliette. Pierre zuckte die Achseln. „Eine halbe Stunde

vielleicht.“ „Ist sie allein weggegangen?“, wollte India wis-

sen. „Oui, allein“, bestätigte Pierre. „Glaube ich je-

denfalls. Ich kann mich kaum erinnern.“ „Der Polizei haben Sie gesagt, dass sie allein

wegging“, half ich ihm auf die Sprünge. „Oui“, bestätigte er. „Die Polizei hat mich ner-

vös gemacht, aber jetzt fällt mir gerade noch was ein …“

„Was denn?“, bohrte India. „Massimo“, sagte er. „Massimo?“, wiederholten wir im Chor. „Oui. Du hast über meine Klamotten geredet,

und jetzt weiß ich es wieder. Nachdem die junge Dame das Café verlassen hatte, schaute ich zufällig auf, und da sah ich jemanden mit einer schwarzen Hose von dieser Edelmarke Massimo in den Regen hinausgehen.“

„Wie lange war sie da schon fort?“, hakte ich nach.

„Eine Minute oder zwei.“ „Könnte er ihr gefolgt sein? Sie verfolgt ha-

ben?“, fragte India. Aber Pierre zuckte nur die Achseln.

Juliette bombardierte ihn mit einem Haufen

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französischer Worte. Dann wiederholte sie in Eng-lisch: „Erinnern Sie sich sonst noch an etwas?“

„Lasst mich nachdenken“, sagte Pierre. „Ja, mir fällt noch was ein. Er saß da drüben.“ Er zeigte auf einen Winkel des Cafés, von dem aus man die Tür im Blick hatte, selbst aber von der Bar nicht gese-hen wurde. „Er war vor der jungen Frau gekom-men. Aber an dem Abend war so viel Betrieb im Café. Viele Leute haben sich vor dem Gewitter hierher geflüchtet.“

„Sie müssen ihn sich doch angeschaut haben“, sagte India.

„Er hat eine E-Mail verschickt, und bestellt hat er … ah ja! Einen doppelten Espresso und ein Schokocroissant! Und er hat bar bezahlt. In großen Scheinen. Außerdem hatte er lange dunkle Haare.“

„Milano!“, flüsterte India. „Könnte auch eine Perücke gewesen sein“, gab ich

zu bedenken. „Wissen Sie sonst noch was über ihn?“ „Er trug eine Jacke mit hochgeschlagenem Kra-

gen und eine Baseballmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Ich hab nicht so genau hingesehen, deshalb weiß ich nicht, wie alt er war. Aber als er rausging, fiel mir die Hose auf, weil sie très chic aus-sah. Taschen mit Reißverschluss an den Seiten.“ Verwundert schüttelte Pierre den Kopf. „Komisch, dass ein Mann von Geschmack in einem so billigen Hotel absteigt.“

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Ich blinzelte überrascht. „Hotel? In welchem Hotel?“

„Ah, das hatte ich auch vergessen, so nervös hat mich die Polizei gemacht. Dieser Mann hatte einen kleinen Notizblock bei sich. Ich habe ihn genau gesehen – ich weiß sogar noch, was draufstand: Le Bec Zinc.“

„Le Bec Zinc?“, wiederholte ich perplex. „Die Sorte, die ihr Amerikaner als Absteige be-

zeichnet. Vielleicht ist er jetzt dort, ich weiß es nicht. Eine billige Pension drüben hinter dem Bahnhof.“

„Also dann, Leute“, sagte ich. „Nichts wie weg! Vielen Dank, Pierre. Glauben Sie mir, wenn Cyra-no geschnappt wird, dann ist Ihr Café das angesag-teste Lokal der Stadt.“

India steuerte bereits auf die Tür zu. „Au revoir“, sagte Juliette noch, dann verließen

wir das Cyber Croissant so schnell wie die Ratten ein sinkendes Schiff.

Wir standen schon auf der Straße, als sich die Tür des Cafés noch einmal öffnete und Pierre zu uns herausschaute. „Da drüben kann es manchmal ungemütlich werden, müsst ihr wissen. In dem Stadtviertel rings um Le Bec Zinc gibt es viel Krimi-nalität.“

„Danke, Pierre“, sagte India und winkte. „Ihr dürft nicht glauben, dass alle französischen

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Männer so eitel sind wie Pierre“, sagte Juliette, als wir die Straße hinuntergingen. „Ich fand’s erschüt-ternd, wie selbstverständlich er dir all die Kompli-mente abgenommen hat.“

„Ach, keine Sorge“, sagte India. „In New York gibt’s Typen wie ihn wie Sand am Meer – ganz besonders an der Westside School. Sie haben, na ja, die Tommy-Hilfiger-Krankheit. Es dauert ein Weilchen, aber schließlich kapieren die meisten von ihnen doch, dass zwischen einem Schulter-klopfen und einem Tritt in den Hintern nur 45 Zentimeter Stoff liegen.“

Juliette lachte und klopfte laut mit ihrem Stock auf den Boden. Ich lachte ebenfalls. Dann nahm India Juliettes Arm, und wir tauchten in das Laby-rinth aus dunklen, engen Gassen ein.

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Maurice Cardin

Le Bec Zinc war tatsächlich ein in jeder Hinsicht bil-liges Etablissement. Es passte perfekt in das verrufene Viertel mit seinen schäbigen Ramschläden und he-runtergekommenen Märkten. Dies alles war mei-lenweit entfernt von der schicken Riviera, die man kannte, auch wenn in Wirklichkeit nur ein Kilome-ter Luftlinie dazwischen lag. An der Front der Pen-sion prangte ein Neonschild, dessen Lampen jedoch nur zur Hälfte funktionierten. Wir stiegen die rissi-gen Steinstufen hoch und klopften an die Tür.

Statt der Tür öffnete sich ein Fenster zu unserer Linken, in dessen oberer Hälfte eine stämmige Frau mittleren Alters mit breiten Zahnlücken und miss-trauischem Blick zum Vorschein kam. Sie bellte eine Frage in Französisch, und Juliette antwortete ihr höflich. Die Frau sagte noch etwas, zog sich wieder zurück und knallte das Fenster zu.

„Worum ging es?“, fragte India. „Sie ist die Concierge, die Portiersfrau“, erklärte

Juliette. „Sie kümmert sich um das Hotel. Sie sagte, wir sollten bitte warten.“

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Knarrend öffnete sich die alte Eichentür, die et-wa eine halbe Tonne Gewicht haben musste. Er-neut kam die Amazone zum Vorschein. Diesmal sprach sie ein kaum verständliches Englisch. „Also ihr seid Amerikaner?“ Sie musterte India und mich von oben bis unten wie Zirkustiere.

„Ja, Madame“, sagte ich. „Wir sind auf der Su-che nach einem Mann, der in Ihrem Hotel abge-stiegen sein könnte.“

„Hmmm.“ Sie runzelte die Stirn. „Und warum sollte ich euch helfen, ihn zu finden?“

Ich warf India einen Blick zu und berührte Ju-liette am Arm, um ihr zu bedeuten, dass sie nichts sagen sollte. „Er hat Juliette, unserer Freundin, Geld gestohlen, und wir wollen es zurückholen. Natürlich würden Sie eine Belohnung bekommen, wenn wir ihn aufspüren.“

Die Concierge schaute Juliette an, und ihr Gesicht wurde eine Spur weicher. „Eine Belohnung, eh? Na gut. Entrez, kommt rein.“

Wir folgten ihr zu zwei durchgesessenen Sofas im Empfangszimmer und setzten uns. India be-schrieb den Mann, den Pierre gesehen hatte – lan-ges dunkles Haar, Baseballmütze, teure Designer-klamotten, ein dickes Bündel großer Scheine.

„Ah, oui“, sagte die Concierge und verzog das Gesicht. „Maurice Cardin.“

„Maurice Cardin?“, wiederholte ich.

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„Ist er noch hier?“, erkundigte sich Juliette. „Nein, nach ein, zwei Tagen ist er ausgezogen.

Er kam und ging immer ganz klammheimlich. Sein Gesicht habe ich nie richtig gesehen. Aber an seine Stimme erinnere ich mich. Er spricht wie ein An-geber. Igitt!“ Sie tat, als wolle sie ausspucken, und winkte verächtlich ab.

„Wie meinen Sie das?“, fragte India. „Er hat unsere Sprache verstümmelt. Er sprach

rasend schnell und quetschte die Worte zusammen wie jemand, der aus Paris kommt. Außerdem hatte er einen komischen ausländischen Akzent“, fügte sie hinzu. „Südafrikaner oder Australier, würde ich sagen – oder vielleicht auch Amerikaner, so wie ihr. Hat immer mit 100-Euro-Scheinen bezahlt. So was erlebe ich nur selten.“

„Und wissen Sie sonst noch was?“, fragte ich. „Irgendwas, das uns helfen könnte, ihn zu finden?“

Madame schnaubte. „Er hat hier ein Hemd ver-gessen. Eine Woche lang habe ich es aus reiner Freundlichkeit aufbewahrt. Aber er kam nie wie-der, deshalb habe ich es weggeworfen.“

Wir folgten ihr nach draußen, wo sie das Hemd aus der Mülltonne fischte.

„Madame“, sagte Juliette. „Könnte ich das Hemd bitte haben? Vielleicht kommen wir ihm so auf die Spur.“

„Nehmt es nur. Was sollte ich dagegen haben?

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Ich gehe doch davon aus, dass ihr mich für diesen kleinen Freundschaftsdienst auch belohnen werdet, oder nicht?“

Die Concierge starrte mich erwartungsvoll an. Plötzlich brach Juliette in Tränen aus. „Oh,

Quentin, wir werden mein Geld nie finden!“ Schluchzend warf sie sich in meine Arme. Ich drückte sie und rang mir ein paar mitfühlende Lau-te ab. India stand mit offenem Mund daneben.

„Großmutter wird das niemals verwinden. Sie hat mir das Geld anvertraut, und jetzt ist es weg!“ Sie ließ mich los und sank zu Boden. Mannomann, das Mädchen hatte wirklich Talent.

„Ach, vergesst das Ganze“, sagte die Frau und musterte Juliette, als wollte sie unsere Freundin am liebsten auch in die Mülltonne werfen. „Ich kann dieses Gejammer nicht ertragen. Verschwindet.“ Damit drehte sie sich um und schlurfte ins Haus zurück.

Wir befolgten ihren freundlichen Rat, so schnell wir konnten.

India lachte, als wir um die nächste Ecke bogen. „Das war bühnenreif, Juliette!“

„Bravo!“, fügte ich hinzu und klatschte Beifall. Juliette knickste. „Merci beaucoup. Ich brauche

das Hemd wegen des Geruchs“, erklärte sie dann. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung. „Der bleibt ziemlich lange haften. Morgen bringen wir es aufs

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Polizeirevier und lassen es im Labor untersuchen. Der Chemiker dort ist auf Gerüche dressiert wie ein Bluthund. Er wird das Aftershave oder Deodo-rant an dem Hemd identifizieren, da bin ich ganz sicher. Und er wird meinen Verdacht bestätigen. Ich habe nämlich eine ausgezeichnete Nase, Quen-tin und India. Es ist ein amerikanischer Duft, defi-nitiv.“

„Konnte es sein, dass der Killer aus Amerika kam?“, dachte ich, als wir den Bahnhof betraten, um nach Monaco und zu unserem Hotel zurück-zukehren.

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Neue Erkenntnisse

Es war schon spät, als wir den Bahnhof von Mona-co verließen. Wir hatten alle Hunger, beschlossen jedoch, erst noch beim Polizeirevier vorbeizuge-hen, um Maurice Cardins Hemd abzugeben. Es war die neueste Spur im Fall Cyrano, und wir hoff-ten, der Lösung damit ein bisschen näher gekom-men zu sein.

Inspektor LeSeur empfing uns lächelnd. „Ah, wie geht’s meiner kleinen Hilfsinspektorin und ihren Freunden?“, fragte er.

Juliette berichtete ihm in französischer Sprache von unseren Abenteuern in Nizza. LeSeur war be-eindruckt. „Eh bien, ihr habt mehr erreicht als die Polizei! Vielen Dank.“

„Juliette sagt, das Hemd verströmt einen ameri-kanischen Duft“, sagte ich zu LeSeur.

„Ja. Wir werden es natürlich testen lassen, aber ich bin überzeugt, sie hat Recht. Die Nase meiner Tochter ist unübertroffen. Aber jetzt müsst ihr drei euch erst mal ein wenig ausruhen. Wir haben be-reits einen Verdächtigen verhaftet.“

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„Einen Verdächtigen? Wen denn?“, fragte India. „Monsieur Tomas Milano“, sagte LeSeur. „Wir

haben ihn auf frischer Tat ertappt, als er versuchte, die Cartier-Uhr von Dr. Epstein-Hopper in einem Juweliergeschäft in der Avenue de la Costa zu ver-scherbeln.“

„Mannomann!“, sagte ich, wie immer, wenn mich etwas überraschte. „Dann ist er also Cyrano?“

LeSeur verzog das Gesicht. „Das wissen wir nicht. Für den Morgen, an dem Dr. Epstein-Hopper getötet wurde, hat er ein Alibi, und da seine Freundin außerdem die Kaution für ihn be-zahlt hat, werden wir ihn bald wieder freilassen müssen. Und selbst wenn er tatsächlich etwas mit dem Mord zu tun gehabt haben sollte, steht noch nicht fest, dass er Cyrano ist“, fügte er hinzu.

„Sie lassen ihn gehen?“, fragte India wie vor den Kopf gestoßen.

„Im Augenblick bleibt mir keine andere Wahl.“ LeSeur zuckte die Achseln.

Juliette musste bei ihrem Vater bleiben, deshalb verabredeten India und ich uns mit ihr für den nächsten Morgen zum Frühstück in unserem Ho-tel. Wir beide gingen hinaus, um uns auf den Rückweg zum Hotel zu machen. Als wir am Fuß der Steintreppe anlangten, hörten wir Lärm hinter uns. Tomas Milano trat aus der Tür des Polizeire-viers, umringt von LeSeur und drei weiteren Poli-

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zeibeamten. Ihm wurden die Handschellen abge-nommen. Er musterte LeSeur spöttisch von Kopf bis Fuß, dann sagte er: „Ciao, Commissario. Es wird Ihnen noch Leid tun, dass Sie mir solche Ungele-genheiten bereitet haben. Mein Anwalt wird sich umgehend bei Ihnen melden.“

Er kam die Stufen hinunter und stürmte an uns vorbei, ohne uns wahrzunehmen. India und ich nickten uns zu und hefteten uns in sicherem Ab-stand an Milanos Fersen. Er ging ziemlich rasch, und die Straßen waren von Menschen bevölkert, deshalb war es nicht einfach, ihn im Auge zu be-halten. Schließlich aber sahen wir ihn in einem Club verschwinden, auf dessen Neonschild der Name Le Boom-Boom prangte.

„Und was jetzt?“, fragte India. „Wollen wir da wirklich reingehen?“

„Na toll“, stöhnte ich. „Aber was sollen wir sonst tun? Hier warten, bis er wieder rauskommt?“

„Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich sterbe vor Hunger und denke schon die ganze Zeit an das ausgezeichnete Essen gestern Abend im Hotel. Ich schlage vor, wir machen für heute Schluss und schlagen uns den Bauch voll.“

„Keine schlechte Idee“, sagte ich. „Wenn ich hungrig bin, kann ich sowieso nicht besonders gut denken.“

Wir kamen gerade noch rechtzeitig zum

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Abendessen im Hotel an. Am opulenten Büffet füllten wir unsere Teller – dort gab es alles von Lammbraten über Bœuf Bourguignon bis hin zu Kar-toffeln à la Lyonnaise – und setzten uns dann an einen Tisch in der Nähe einer riesigen Eisskulptur in Form eines Pfaus, um zu essen und in Ruhe nachzudenken.

„Also, mal sehen“, begann ich. „Wie viele Ver-dächtige haben wir bis jetzt?“

„Na, da wäre zunächst mal Dr. Hopper“, sagte India. „Er ist der Verdächtige Nummer eins. Im-merhin war er der Mann des Opfers, und wir wis-sen, dass er hinter dem Rücken seiner Frau mit Dr. White verbandelt war.“

„Damit wäre sie die Verdächtige Nummer zwei“, fügte ich hinzu. „Und dann ist da natürlich dieser Schleimer Tomas Milano, der sich für unwidersteh-lich hält – für Gottes Geschenk an einsame Frauen.“

„Der Verdächtige Nummer drei. Und vergessen wir nicht diesen Maurice Cardin, wer immer er auch sein mag. Zumindest stand er irgendwie mit Geneviève Blanc in Verbindung“, sagte India zwi-schen zwei Bissen ihres blutigen Filet Mignon mit Sauce Béarnaise und überbackenem Kartoffelbrei.

„Richtig. Allerdings bezweifle ich, dass Dr. Hopper oder Dr. White Cyrano sein könnten. Schließlich tötet Cyrano seit zwei Jahren hier in Frankreich. Aber Milano käme durchaus in Frage.“

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„Ich schlage vor, wir knöpfen uns noch einmal unsere drei Hauptverdächtigen vor“, sagte India, „und versuchen, mehr über diesen geheimnisvollen Cardin herauszufinden, der wie ein Amerikaner riecht!“

„Verschieben wir’s auf morgen“, sagte ich. „Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich leg mich jetzt erst mal aufs Ohr.“

Ich schlief überhaupt nicht gut. Immer wieder träumte ich, wie Juliette von einem Wahnsinnigen mit einem Fleischermesser verfolgt wurde. Deshalb war ich unglaublich erleichtert, als Dr. Riggs uns am nächsten Morgen weckte, um uns zu sagen, dass Juliette im Foyer auf uns wartete.

Als wir gestiefelt und gespornt zu ihr stießen, trat sie von einem Fuß auf den anderen vor Unge-duld. „Ich habe jede Menge Neuigkeiten für euch!“

„Kommt, lasst uns erst mal was essen“, sagte In-dia. „Keiner von uns kann mit nüchternem Magen klar denken.“

„Also gut, was ist los?“, fragte ich, sobald unser Frühstück vor uns stand: Eier Benedikt für mich, Eier Florentinisch für India; Juliette entschied sich für Belgische Waffeln und gebratenen Speck.

„Mein Papa war sehr fleißig“, sagte Juliette. „Er sagt, Dr. Hoppers Alibi wurde von den Leuten im

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Café Corniche, wo er gefrühstückt hat, bestätigt. Sie sagten, er sei gestern Morgen gegen sieben ge-kommen und hätte ihnen so viele Fragen über Monaco gestellt, dass er ihnen in Erinnerung ge-blieben wäre. Mein Papa sagt, diese Aussagen und die Videoaufnahmen aus dem Hotel beweisen, dass er seine Frau nicht getötet haben kann.“

„Hmm.“ Ich klopfte gedankenverloren mit der Gabel auf meinen Teller. „Klingt ziemlich wasser-dicht. Aber was Milanos Alibi betrifft, bin ich skep-tisch. Seine Freundin könnte lügen. Ich schlage vor, wir gehen heute noch zu ihr und quetschen sie aus.“

„Sie ist – wie nennt ihr es gleich? – eine Bartän-zerin. Mein Papa sagt, sie arbeitet in einem Club hier in Monte Carlo.“

„Le Boom-Boom!“, sagte India. Juliette nickte verwundert. „Woher wisst ihr

das? Aber zu Cyrano gibt es auch Neuigkeiten. Papa sagt, der Hinweis mit den Tuberosen hätte die Polizei zu mehreren Verdächtigen geführt, zu vier Männern und einer Frau.“

„Hier in Monaco?“, fragte ich überrascht. „Aber nein, in Paris“, erwiderte Juliette. „In

Monaco hat man bisher nichts gefunden. Nur das Hemd, das wir Papa gegeben haben.“

„Wenn eine der Personen aus Paris Cyrano ist, hieße das, dass Cyrano nicht der Mörder von

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Dr. Epstein-Hopper und Geneviève Blanc war. Dann hätten wir es mit einem Trittbrettfahrer zu tun.“

„Ein Trittbrettfahrer?“, wiederholte Juliette verwirrt.

„Jemand, der Cyrano imitieren wollte“, erklärte ich.

„Es sieht demnach so aus, als sollten wir uns vorerst auf mögliche Trittbrettfahrer konzentrie-ren“, sagte India.

„Richtig“, erwiderte ich. „Wie wir wissen, hat Maurice Cardin sich nie in hellem Licht präsentiert – in der Pension kam und ging er, wenn die Con-cierge nicht in der Nähe war, und er hatte sich die Baseballmütze immer tief ins Gesicht gezogen.“

„Maurice Cardin wollte nicht erkannt werden“, sagte Juliette. „Vermutlich hat er sich sogar ver-kleidet.“

„Ja, das glaube ich auch“, sagte ich. „Das würde auch erklären, warum ein Typ, der gut angezogen ist und offenbar einen Haufen Geld hat, in einer so billigen Pension absteigt. Er wollte anonym blei-ben.“ Mir fiel noch etwas ein. „Und wir haben auch allen Grund anzunehmen, dass er sich mit einem falschen Namen vorgestellt hat.“

„Wäre doch möglich, dass einer der drei ande-ren Verdächtigen die Identität eines fiktiven Mau-rice Cardin angenommen hat“, fügte India hinzu.

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„Dr. White könnte jederzeit als Mann durchgehen. Schon von der äußeren Erscheinung wirkt sie mas-kulin, und ihre Stimme klingt, als wäre sie Trainer einer Eishockey-Mannschaft.“

„Das hieße, dass Dr. White oder Dr. Hopper schon in der Woche vor der Konferenz an der Côte d’Azur waren“, bemerkte Juliette. „Das könnten wir überprüfen.“

„Aber vergessen wir nicht, dass sich noch ein anderer hinter Maurice Cardin verbergen könnte“, sagte India. „Er könnte tatsächlich Cyrano sein. Obgleich es schon merkwürdig ist, dass Geneviève Blanc und Dr. Epstein-Hopper die einzigen Opfer Cyranos außerhalb von Paris waren. Deutet schwer auf einen Trittbrettfahrer hin.“

„Ich glaube nicht, dass das Le Boom-Boom so früh schon geöffnet ist“, sagte Juliette.

„Da hast du vermutlich Recht“, erwiderte ich. „Stattdessen könnten wir mit Dr. White anfangen. Sie hält heute Morgen ihren Vortrag.“

Wenig später saßen wir im Konferenzraum des Hotels. Dr. Whites Vortrag war lang und komplett Serienmördern, ihrer Psychologie und ihrem Profil gewidmet. Einen Großteil hatten wir bereits an ihrem Computer gelesen. Als sie geendet hatte, wurde sie gleich von einer Gruppe Kollegen um-ringt, sodass wir keine Chance hatten, mit ihr zu sprechen.

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Erst nach dem Mittagessen erwischten wir sie, als sie den Aufzug betrat, um zu ihrer Suite hoch-zufahren. „Dr. White?“, begann ich. „Ihr Vortrag heute Morgen hat mir sehr gefallen.“

„Ach, wirklich?“, fragte sie selbstzufrieden. „Mir auch!“, schloss India sich an. „Et moi aussi! Mir auch!“, fügte Juliette hinzu. Dr. White lächelte. „Ja, es lief ziemlich gut.“ Die Tür öffnete sich auf ihrer Etage. Wir stiegen

mit ihr aus und gingen mit ihr zusammen durch den Korridor zu ihrer Suite. Mir fiel sofort auf, dass sie ein wenig schwankte – ein Hinweis darauf, dass sie beim Mittagessen ein paar Gläser Chardonnay zu viel getrunken hatte.

„Perfekt“, dachte ich. Jetzt oder nie, hieß die Devise. „Ich hatte vorher noch nie von dem Myra-Hindley-Fall und den Morden im englischen Hat-tersley-Moor gehört“, sagte ich. „Es hat mich echt umgehauen, dass sie dabei geholfen hat, zwölf Menschen mit der Axt zu erschlagen, und anschlie-ßend vor den noch frischen Gräbern für ein Foto posierte … Es waren viele Leute da, um Ihren Vortrag zu hören.“

„Dass Dr. Epstein-Hopper sozusagen aus dem Weg geräumt wurde, hat das Interesse an diesem Thema sicher verstärkt“, sagte Dr. White und fischte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, um die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen.

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„Ich habe gehört, dass Sie und Harriet Epstein-Hopper zusammen auf der Universität waren“, bemerkte India.

„Ja, und das war so richtig lustig“, erwiderte Dr. White. Da wir uns immer noch nicht von der Stelle rührten, fügte sie hinzu: „Tja, dann auf Wie-dersehen. Und danke für euer Kompliment.“

„Mensch“, sagte India und trat dreist an Dr. White vorbei in das Zimmer. „Ihre Suite ist ja vom Allerfeinsten. Viel schöner als die erste.“ Sie ging zum Fenster, um die Aussicht zu bewundern.

Dr. White folgte ihr mit raschem Schritt, als wolle sie sie am Kragen packen und eigenhändig hinauswerfen. Während sie uns den Rücken zu-wandte, nahm ich blitzschnell Juliettes Arm und zog sie mit mir ins Zimmer. „Wissen Sie, was, Dr. White“, sagte ich. „Seit wir neulich mit Ihnen gesprochen haben, macht mir der Gedanke an Cy-rano arg zu schaffen. Das Profil seiner Opfer passt auf Juliette. Wir möchten nicht, dass ihr etwas zu-stößt.“

Dr. White blieb an der Bar stehen und goss sich ein Glas Wein ein. „Nein, das möchten wir wohl alle nicht. Äh, ich bin gleich wieder da“, murmelte sie und verschwand im Schlafzimmer.

Wenig später kam sie zurück. Sie trug zwar noch das weiße Shirt von vorhin, doch das Hemd hing jetzt locker herab – sie hatte eine andere, be-

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quemere Hose angezogen. India und ich tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Offenbar trugen nicht nur Männer die angesagten neuen Hosen von Massimo.

„Könnten Sie uns Näheres über Dr. Epstein-Hopper erzählen?“, fragte India. „Wir versuchen herauszukriegen, auf welchen Opfertyp genau Cy-rano es abgesehen hat.“

„Harriet? Wir kannten uns schon lange.“ Dr. White ließ sich mit dem Glas in der Hand aufs Sofa fallen. Sie hatte die Augen halb geschlossen und schien die Vergangenheit Revue passieren zu lassen. „Auf dein Wohl, altes Mädchen. Kann nicht behaupten, dass ich dich vermisse. Aber es tut mir Leid, dass du auf diese Weise gehen musstest.“

„Klingt so, als hätten Sie sie nicht gemocht“, formulierte ich das Naheliegende.

„Sie hasste mich ebenso sehr wie ich sie“, sagte Dr. White. Sie lächelte zwar, doch ihre Stimme klang bitter. „Wir waren Gegenspielerinnen seit unserer gemeinsamen Zeit an der Columbia-Universität. Schon damals war sie eine Nervensäge. Derart ehrgeizig! Niemand wollte sie in der eige-nen Laborgruppe haben, weil sie immer das ganze Lob einheimste – auch für die Arbeit der anderen.“

Sie kippte den Rest des Weins hinunter, dann stand sie auf und goss sich ein neues Glas ein. „Achtet gar nicht auf mich“, sagte sie. „Ich feiere

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ein bisschen. Mein heutiger Vortrag hat mir fünf neue Einladungen zu Kongressen und ein Angebot für ein Buch eingebracht! Es ist erstaunlich, was man alles erreichen kann, wenn das Haupthindernis beseitigt wird.“

„Das Haupthindernis?“, wiederholte Juliette. „Harriet“, sagte sie und hob erneut ihr Glas zu

Ehren der Toten. „Sie hat mir immer alle Preise und alle Männer vor der Nase weggeschnappt! Es nützte nichts, dass ich doppelt so intelligent und jünger und attraktiver war. Sie war doppelt so am-bitioniert, und nur das zählt in dieser Welt.“

„Sie hat Ihnen auch Männer weggenommen?“, hakte India nach.

„Einmal warf sie sogar ein rohes Ei in einen Ventilator, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.“ Dr. White lächelte spöttisch. „Sie hatte sich erst kürzlich bei Bergdorfs das Haar rot färben lassen. Davor war sie dunkelblond und davor grau. Ha! Als ob sie so Richards Liebe hätte neu entfa-chen können.“

„Wollen Sie damit sagen, dass es Probleme in der Ehe der beiden gab?“, fragte ich, da Dr. White längst über den Punkt hinaus war, an dem man Diskretion walten ließ.

„Probleme? Ha! Wie ich konnte er es nicht er-tragen, dass sie mehr Erfolg hatte! Aber wer hat es schon mit ihr ausgehalten? Richard muss einem

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Leid tun, so erbärmlich er auch ist. Ich bin froh, dass er sie nicht getötet hat, aber bildet euch bloß nicht ein, dass er vor Kummer stirbt. Für ihn ist ihr Tod ebenso eine Befreiung wie für mich.“

Sie erstarrte, dann schaute sie auf, als sähe sie uns zum ersten Mal. „Oh, Gott. Mir ist auf einmal gar nicht gut. Bitte lasst mich allein.“ Sie stand auf und stolperte ins Bad.

Wir schauten einander an. „Das war ja hoch-interessant“, sagte India. „Und sie trägt eine sehr hübsche Hose, nicht wahr?“

„Und ob“, erwiderte ich. „Gehen wir.“ Wir verließen die Suite von Dr. White und fuh-

ren mit dem Aufzug nach unten. „Junge, die nimmt ja kein Blatt vor den Mund!“, sagte India.

„Ja, aber glaubst du, sie hat Dr. Epstein-Hopper getötet?“, fragte ich.

„Sie hat sie gehasst“, gab Juliette zu bedenken. „Und sie hatte die Möglichkeit, es zu tun. Sie be-wohnte die angrenzende Suite. Und in den Suiten gibt’s keine Kameras, die sie überführen könnten.“

„Das Opfer hätte die Verbindungstür aufschlie-ßen müssen, um sie einzulassen“, rief ich ihr ins Gedächtnis.

„Vielleicht hat sie’s ja getan“, warf India ein. „Schließlich kannten sie einander. Aber wie wär’s damit: Nehmen wir an, Dr. White und Dr. Hopper steckten unter einer Decke. Er könnte

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die Verbindungstür an seiner Seite aufgeschlossen haben, bevor er hinausging. Auf diese Weise hatte er ein hieb- und stichfestes Alibi und wäre dennoch schuldig.“

„Ich weiß nicht“, sagte ich. „Wenn die beiden gemeinsame Sache machen, dann hat sie sich gera-de ganz schön verplaudert. Und hätten sie sich in diesem Fall nicht auch ein Alibi für sie ausgedacht?“

„Und warum sollten sie und Dr. Hopper diese Geneviève Blanc getötet haben?“, fügte India hin-zu.

Das war eine gute Frage – eine von vielen, auf die wir keine Antwort wussten. Zumindest jetzt noch nicht.

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Ein heißer Draht

Dr. Richard Hopper trafen wir vor dem Speisesaal, wo das Mittagessen für die Konferenzteilnehmer gerade zu Ende gegangen war. Er war in ein Ge-spräch mit Indias Dad vertieft. „Ich werde eine Seebestattung für Harriet arrangieren“, sagte er, „sobald die Polizei ihren Leichnam freigibt. Die Idee hätte ihr gefallen, das weiß ich. Sie hat sogar mal davon gesprochen, wie gern sie sich später mit mir an der Französischen Riviera zur Ruhe setzen würde. Sie liebte das Mittelmeer so sehr.“

Dr. Riggs nickte. „Wir werden dann in Gedan-ken alle bei Ihnen sein, Richard“, sagte er. „Sollten Sie Gesellschaft brauchen – ich begleite Sie gern. Harriet war eine kompetente und großzügige Kol-legin und Freundin.“

„Oh nein! Ich meine – äh – nein, das wird nicht nötig sein, Dolan. Aber trotzdem danke. Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen.“

„Sind Sie sicher?“ „Definitiv. Harriet hätte nicht gewollt, dass man

so viel Aufhebens um sie macht. Außerdem soll es

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ein Moment sein, in dem ich … ungestört bin. Sie verstehen schon.“

„Natürlich.“ Dr. Riggs griff nach seinem Arm. „Sie halten sich großartig, Richard. Ich bin sehr stolz auf Sie.“

„Vielen Dank“, sagte Dr. Hopper heiser. Dann hob er den Kopf und bemerkte uns. „Oh, hallo“, sagte er.

„Richard, dies sind meine Tochter India und ihre Freunde Quentin und Juliette.“ Dr. Riggs lächelte. „Sie sind die klassischen Nachwuchsdetek-tive.“

Dr. Hopper blickte uns an, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

„Ja, sie haben schon so manchen Fall gelöst“, fuhr Dr. Riggs fort. „Und jetzt scheinen sie es so-gar mit Cyrano aufnehmen zu wollen. Ich habe sie gewarnt, sie sollen ja die Finger davon lassen, und ich kann nur hoffen, dass sie es sich zu Herzen ge-nommen haben.“ Bei den letzten Worten warf er uns einen bedeutsamen Blick zu.

„Wir waren gerade auf dem Weg zum Strand. Wir wollen den Nachmittag dort verbringen“, be-teuerte India und schaute uns an. „Oder, Leute?“

„Oh ja!“, sagte Juliette. „So ist es“, bestätigte ich. „Gut“, sagte Dr. Riggs. „Tja, ich muss jetzt los.

Lassen Sie nicht den Kopf hängen, Richard. Viel

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Spaß am Strand, Kids!“ Bevor er ging, lächelte er und winkte unbeholfen.

Dr. Hopper musterte uns immer noch. „Ihr interessiert euch also für Cyrano?“, fragte er mit unsicherer Stimme.

„Kann man so sagen“, wich India aus. Ich wusste, was sie dachte. Wir hatten keine

Gelegenheit gehabt, eine Strategie zu entwerfen, und jetzt hatte er uns kalt erwischt. In Gedanken blies ich jedoch schon den Versuchsballon auf, den ich steigen lassen wollte. Ich würde ihn an Hopper testen. „Wissen Sie, eigentlich fragen wir uns, ob der Mörder Ihrer Frau nicht ein Trittbrettfahrer war“, sagte ich.

Überrascht zog Hopper die Brauen hoch. „Ach, wirklich? Die Polizei scheint davon auszugehen, dass es Cyrano war. Wie kommt ihr darauf, dass er es vielleicht nicht gewesen ist?“

Von den Tuberosen oder dem Hemd mit dem „amerikanischen Duft“ wollte ich ihm lieber nichts verraten, aber es konnte nicht schaden, ihm einen Köder hinzuwerfen. Wenn er unser Mann war, würde ihn das, was ich ihm jetzt erzählen wollte, in Panik versetzen.

„Cyrano hat seine bisherigen Morde ausnahm-slos in Paris begangen, und seine Opfer hatten alle lange rote Haare“, erklärte ich. „Nur die beiden letzten Verbrechen waren anders. Sie wurden an

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der Riviera begangen; die Opfer hatten mittellan-ges rotes Haar. Wir haben uns überlegt, dass Cyra-no sehr sorgfältig, systematisch und methodisch zu Werke geht. Genau deshalb konnte er bis jetzt nicht gefasst werden. Ein solcher Mensch ändert seine Strategie, mit der er so viel Erfolg hatte, nicht einfach über Nacht.“

Ich hatte es so noch nie formuliert, fand aber, dass meine Analyse voll ins Schwarze traf. India und Juliette nickten zustimmend.

Dr. Hopper schnaubte verächtlich. „Da irrst du dich aber gewaltig“, widersprach er. „Ein mit allen Wassern gewaschener Serienmörder wandelt seine Vorgehensweise immer wieder leicht ab, eben um zu vermeiden, dass sein Tun und Treiben vorher-sagbar wird. Ihr braucht mir ja nicht zu glauben. Aber fragt Dr. White. Sie ist die Expertin für Se-rienmörder.“

India warf ihm einen zutiefst dankbaren Blick zu. „Das werden wir bestimmt tun.“

„Ich gebe euch dreien noch einen Tipp“, fügte Dr. Hopper noch hinzu und schaute mir dabei di-rekt in die Augen. „Hört auf, eure Nase in Dinge zu stecken, die euch nichts angehen, zum Beispiel den Tod meiner Frau. Die Ärmste hat weiß Gott genug gelitten. Lasst sie in Frieden ruhen.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.

„Mannomann“, sagte India leise. „Da will je-

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mand unbedingt verhindern, dass wir Nachfor-schungen anstellen.“

„Daran ist hier doch niemand interessiert“, sagte ich. „Hast du das noch nicht bemerkt?“

Vom Hotelportier erfuhren wir, dass das Le Boom-Boom erst um acht Uhr öffnete, deshalb beschlossen wir, das Versprechen zu halten, das wir Indias Dad gegeben hatten, und zum Strand zu gehen. Juliette ging zu ihrem Vater ins Polizeirevier. Obgleich uns zur Lösung des Falles nur noch zwei Tage blieben, mussten India und ich unbedingt mal Dampf ablas-sen, in Ruhe nachdenken und ein wenig ver-schnaufen.

Aber bevor wir loszogen, um Sonne zu tanken, rief ich von unserer Suite aus Jesus an. Jesus – das ist Jesus Lopez aus Manhattan, einer unserer besten Kumpel. Vor allem aber ist Jesus unser Computer-guru. Wann immer elektronisch recherchiert wer-den muss, ist er unser Mann.

„Hi, wir sind’s! Wir sind in Monaco, Kumpel“, sagte ich, als er sich meldete. „Fürwahr, fürwahr – ich wünschte, du wärst auch hier!“ (Das ist ein kleiner Tick von mir: Wenn ich gut gelaunt bin, spreche ich etwas merkwürdig!)

Jesus erzählte uns das Neueste von zu Hause. Anschließend setzte India ihn vom Zweitapparat aus über den Cyrano-Fall ins Bild.

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„Wir brauchen deine Hilfe“, sagte ich zu ihm. „Stets zu Diensten, Kumpel.“ „Könntest du Dr. Hoppers Trainingsplan im

New York Athletic Club überprüfen? Wie oft er dort ist und so weiter?“

„Geht klar“, sagte Jesus. „Außerdem erkundige dich bitte nach dem

Termin, an dem Harriet Epstein-Hopper sich im Salon von Bergdorfs die Haare hat färben lassen“, fügte India hinzu. „Und frag nach Möglichkeit ihren Hausmeister aus, ob er etwas über Dr. Hopper und Dr. White weiß. Du weißt schon – vielleicht hat jemand was gesehen oder gehört.“

„Mach ich“, versprach Jesus. „Ach, noch etwas“, sagte ich. „Erkundige dich

nach Vorstrafen eines gewissen Tomas Milano, der an der Französischen Riviera, in Paris und in Mo-naco aktiv ist – sogar in Italien. Und sieh zu, ob du irgendwas über diesen Maurice Cardin ausgraben kannst.“

„Gebt mir … sagen wir … vier Stunden Zeit“, erwiderte Jesus.

„Wahnsinn!“, begeisterte sich India. „Ich werde mein Handy eingeschaltet lassen.“

Wir aßen früh zu Abend, und danach gingen wir direkt zum Le Boom-Boom. Wir dachten uns, dass Milanos Freundin dort etwa gegen sieben eintreffen

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würde. Wir wollten sie vor der Tür abfangen. Dort hatten wir uns auch mit Juliette verabredet.

„Papa hat mir den Namen der Freundin verra-ten“, berichtete Juliette. „Nicole DuBois. Sie ist so groß wie ich und hat lange platinblonde Haare mit einer einzelnen grünen Strähne.“

Wir hatten Glück. Genau in diesem Moment sahen wir eine Frau, auf die Juliettes Beschreibung passte, auf uns zukommen. Sie sah aus wie die blonde Rächerin in den alten Clint-Eastwood-Streifen.

„Mademoiselle DuBois?“, fragte ich und trat vor, als sie die Eingangstür des Clubs erreichte.

„Oui“, sagte sie und musterte uns misstrauisch. „Was wollt ihr?“

„Wir möchten mit Ihnen reden“, sagte India. „Über Tomas“, fügte Juliette hinzu. „Und über

Cyrano.“ Nicole DuBois funkelte uns an. „Ihr dummen

Gören!“, zischte sie. „Lasst mich bloß damit in Ruhe! Mein Tomas ist weiß Gott kein Engel, aber ein Mörder ist er auch nicht! Baut lieber am Strand Sandburgen oder sammelt Muscheln, ihr neugieri-gen kleinen Schnüffler. Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten! Lasst Tomas und mich in Frieden!“ Sie fuhr herum und stieß die Tür des Clubs auf. Im nächsten Augenblick war sie ver-schwunden.

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„Na ja, besonders cool war das nicht“, bemerkte India.

„Ganz und gar nicht“, pflichtete ich ihr bei. „Mann, ich wette, jetzt hängt sie schon an der Strippe, um Tomas vor uns zu warnen.“

India schaute mich besorgt an. „Meinst du?“ „Ist ja toll“, fuhr ich fort. „Jeder einzelne unse-

rer Hauptverdächtigen, ausgenommen vielleicht Maurice Cardin, weiß jetzt, dass wir ihm auf den Fersen sind. Der Mörder wird eventuell schon über wirksame Gegenmaßnahmen nachdenken – und er würde schließlich nicht zum ersten Mal töten.“

„Da ist was dran“, sagte sie. „Trotzdem müssen wir weitermachen“, sagte

Juliette entschlossen. „Wir müssen den Killer ir-gendwie aufhalten, bevor er sein nächstes Opfer findet.“

India und ich wussten, dass sie Recht hatte. Wir durften nicht aufgeben, ehe der Fall nicht gelöst war. Oder wenigstens bis wir in die Staaten zu-rückflogen.

Wir kehrten zum Monte Carlo Grand Hotel zu-rück und betraten das Gebäude durch den nächst-gelegenen Eingang, der in das Spielkasino führte. Wir mussten den weitläufigen Spielsalon durchque-ren, um in den Teil des Gebäudes zu gelangen, in dem das Hotel untergebracht war. Da wir noch minderjährig waren, mussten wir auf dem roten

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Teppich in der Mitte bleiben, der den Spielsalon in zwei Hälften teilte – für Jugendliche der einzige legale Weg durch das Kasino.

Im Saal herrschte ein wildes Durcheinander von Geräuschen: Glocken läuteten, Sirenen heulten, Münzen klirrten und immer wieder ertönte das dumpfe Geräusch, wenn die Hebel der einarmigen Banditen heruntergedrückt wurden. Vor den Gerä-ten standen Menschen mit starren Blicken, die unaufhörlich Münzen in die Schlitze warfen. Mir fiel auf, dass keiner von ihnen lächelte. Sobald je-mand ein paar Münzen gewonnen hatte, warf er sie wieder ein und riss den Hebel herunter. Die Sze-nerie wirkte irreal und verwirrend – wie ein son-derbarer, fantastischer Albtraum.

Als wir ein Podest passierten, auf dem eine Lo-kalband eine lärmende Coverversion des Songs „Funky Town“ zum Besten gab, läutete Indias Handy.

„Hallo?“, schrie sie in die Sprechmuschel. „Ich kann dich nicht hören. Jesus?“

Ich zog India von den Verstärkern weg zu ei-nem kleinen Durchgang in der Nähe der 20-Euro-Automaten. Dort war es ein wenig ruhiger. Wenn ich den Kopf an ihren legte, würde ich vielleicht hören können, was Jesus zu berichten hatte.

„Was hast du rausgekriegt?“, fragte India. „Nicht viel“, sagte Jesus. Danach konnte ich

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wegen des Lärms im Kasino nur noch hin und wieder ein, zwei Worte aufschnappen. Ich musste mich gedulden, bis India das Gespräch beendete.

„Er meint, die einzig interessante Info, die er bisher auftreiben konnte, ist die, dass Dr. Hopper selbst seine Frau dazu gebracht hat, sich die Haare rot färben zu lassen. Er hat höchstpersönlich den Termin bei Bergdorfs vereinbart.“

„Das nenne ich Vorausplanung“, sagte ich. „Könnte gut sein, dass er von Anfang an vorhatte, seine Frau à la Cyrano um die Ecke zu bringen.“

„Und ob.“ Sie nickte. „Jesus wird die anderen Sachen noch überprüfen, er wollte uns das mit Bergdorfs aber gleich wissen lassen.“

„Kluges Köpfchen.“ Und dann traf es mich plötzlich wie ein Schlag. „Hey, wo ist Juliette?“

„Oh mein Gott!“, stieß India hervor und fuhr herum. „Juliette! Wo bist du?“, rief sie. Wir riefen beide nach ihr, aber unsere Stimmen verloren sich in der Geräuschkulisse des Kasinos.

„Wo mag sie nur sein?“, fragte ich. „Wieso ist sie verschwunden, ohne ein Wort zu sagen?“

„Das würde sie nie tun“, erwiderte India. „Es sei denn …“

„Es sei denn – was?“, gab ich zurück, aber ich wusste die Antwort darauf nur zu gut.

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Völlig unerwartet

Wir kehrten um und suchten die Gänge des Kasi-nos ab, obgleich das Personal uns immer wieder aufforderte, auf dem roten Teppich zu bleiben. Schließlich entdeckten wir zwischen Spielsalon und Hotelfoyer einen Bereich für das Personal. Es war ein schlecht beleuchteter Durchgang mit Fitnessge-räten, Toiletten und Münztelefonen. Wir gingen in die Waschräume und riefen nach Juliette, aber oh-ne Erfolg.

India hatte eine böse Vorahnung. An ihrem Kopf spürte sie einen kalten Hauch – wie immer, wenn etwas Schlimmes bevorsteht.

Plötzlich hörten wir ein Wimmern – es kam aus einem Besenschrank. Ich hämmerte gegen die Tür und rief: „Juliette! Mach die Tür auf!“

Innen ertönte ein Schrei, gefolgt von einem ers-tickten Laut, so, als ob ihr jemand den Mund zu-hielt. „Der Sicherheitsdienst!“, brüllte ich, und India lief los, um Verstärkung zu holen.

Hinter der Tür war Gerangel zu hören, eine flu-chende Männerstimme. Gerade als India mit zwei

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stämmigen Sicherheitsbeamten zurückkam, sprang die Tür des Wandschranks auf, und Tomas Milano kam zum Vorschein. Er fuchtelte mit einem Messer herum, das groß genug war, um einem Stier den Kopf abzuschneiden.

Er richtete es erst gegen mich, dann gegen India und die Wachleute, bevor er durch den Gang zum Kasino davonstürzte. Die beiden Wachleute liefen ihm nach und überließen es India und mir, uns um Juliette zu kümmern.

Sie war unverletzt, aber zutiefst verängstigt. „Er hat mich in den Schrank gezerrt!“, stieß sie hervor und kämpfte mit den Tränen. „Er hat mir das Mes-ser an die Kehle gehalten und mir befohlen, still zu sein. Dann sagte er, wir sollten uns gefälligst da raushalten …“

„Aus was?“ „Dem Mord. Er sagte, wir sollten ihn und Ni-

cole in Ruhe lassen, oder er würde uns alle tö-ten!“

Die Sicherheitsbeamten kamen zurück. „Er ist entkommen“, berichtete der kleine Dicke. „Von der Bar ist er in die Küche gerannt. Wir waren ihm dicht auf den Fersen, aber da hat er ein Regal mit Töpfen und Pfannen umgeschmissen. Wir haben seine Spur verloren.“

„Keine Sorge“, sagte der andere. „Wir haben die Polizei bereits verständigt. Sie wird bald hier

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sein und dafür sorgen, dass der Mann aus dem Ver-kehr gezogen wird.“

Tatsächlich traf Juliettes Vater wenig später im Kasino ein, begleitet von einer Einsatztruppe der örtlichen Polizei. „Von nun an“, sagte er zu uns, „werdet ihr drei keinen Schritt mehr ohne Begleit-schutz tun. Und du, Juliette, bleibst immer in mei-ner Nähe.“ Sein Blick duldete keinen Wider-spruch. „Compris? Verstanden?“

„Oui, papa“, sagte Juliette, die vor Angst zitter-te.

„Es wird nicht lange dauern, bis wir Milano aufgreifen“, fuhr Inspektor LeSeur fort. „Vielleicht versucht er, nach Frankreich oder Italien zu ent-kommen, aber das wird ihm nichts nützen.“ Er wandte sich an seine Beamten. „Kann sein, dass er Cyrano ist. Auf jeden Fall hat er diese drei jungen Leute bedroht, und das reicht völlig aus, um ihm ein für alle Mal das Handwerk zu legen.“

Eine Zeit lang mussten wir unsere Nachforschun-gen auf Eis legen. Wir wurden ständig von zwei Streifenbeamten begleitet, die uns überallhin folg-ten (ausgenommen in unsere Suite; dann blieben sie diskret im Korridor zurück und bewachten stattdessen die Tür).

Da es schon spät war und Juliette immer noch unter den Folgen ihrer unheimlichen Begegnung

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mit Tomas Milano und seinem Schlachtermesser litt, beschlossen wir, ins Bett zu gehen, und verab-redeten uns für den nächsten Morgen in unserer Suite.

Juliette kam gegen sieben zu uns, gerade als Dr. Riggs nach unten fuhr, um an einem offiziellen Frühstück mit den Kollegen teilzunehmen. Wir setzten uns auf den Balkon der Suite, bestellten etwas beim Zimmerservice und schauten zu den Yachten, die vor der Küste und im nahen Hafen vor Anker lagen. Es war der Beginn eines weiteren strahlend schönen Tages, unseres vierten hier in Monaco – Indias und mein letzter voller Tag vor unserer Rückkehr in die Staaten. Der Kongress der Psychiater würde am nächsten Morgen beendet sein. Unseren Flug hatten wir für den Spätnachmit-tag gebucht.

Während wir an unseren Croissants knabberten und Cappuccino schlürften, rekapitulierten wir, was sich bisher zugetragen hatte, und sortierten die Fakten, um daraus ein Gesamtbild zu entwerfen.

„Also – ist Tomas nun Cyrano oder nicht?“, be-gann India.

„Zumindest sieht es allmählich so aus, als ob er Geneviève Blanc und Dr. Epstein-Hopper getötet hätte“, sagte Juliette. „Warum sollte er mich sonst mit dem Messer bedrohen?“

„Keine Ahnung“, erwiderte ich. „Aber wenn er

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wirklich der Killer ist, warum hat er dich dann nicht einfach aus dem Weg geräumt, als sich ihm die Chance dazu bot? Vielleicht wollte er uns le-diglich einschüchtern. Bevor wir unsere Nase in seine Geschäfte gesteckt haben, hatte er hier freie Bahn. Jetzt ist ihm die Polizei auf den Fersen, und er kann seinen Lebensunterhalt nicht mehr unge-hindert damit bestreiten, reiche ältere Damen aus-zunehmen. Das allein könnte ihn so in Wut ver-setzt haben, dass er dich bedroht hat, Juliette.“

„Aber er hat doch gesagt, wir sollen uns aus dem Mord raushalten!“, wandte Juliette ein.

Ich dachte kurz darüber nach. „Stimmt, aber ich halte ihn trotzdem nicht für Cyrano, auch wenn ich keineswegs davon überzeugt bin, dass die letz-ten beiden Morde auf das Konto des Serienmörders aus Paris gehen. Der echte Cyrano war immer viel zu perfektionistisch und zu sehr auf sein Ritual fixiert, um seine Vorgehensweise zu ändern.“

„Non, es war bestimmt keiner der Verdächtigen aus Paris“, sinnierte Juliette. „Falls einer von ihnen Cyrano ist, hätte er eigens hierher kommen und unmittelbar nach der Tat nach Paris zurückkehren müssen.“

„Sehr unwahrscheinlich“, warf India ein. „Was ist mit unseren vier Verdächtigen von der

Riviera?“, fuhr ich fort. „Dr. Hopper, Dr. White, Milano und Maurice Cardin?“

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„Wenn es Milano war“, sagte Juliette, „dann ist er jetzt auf der Flucht. Aber die Polizei wird ihn bald fassen.“

„Dr. Hopper? Dr. White?“, fragte ich. „Wenn es einer von ihnen war oder wenn sie den Mord gemeinschaftlich begangen haben, müsste dann nicht aus ihren Pässen hervorgehen, dass sie sich schon letzte Woche, zum Zeitpunkt des Mordes an Geneviève Blanc, in Frankreich aufhielten?“

India fand schnell die Schwachstelle in meinem faszinierenden neuen Gedankengang. „Nicht un-bedingt, Quentin. Man kann leicht gefälschte Pässe kaufen und verkaufen. Für einen betuchten Ameri-kaner ist das kein großes Problem. Und wieso sollte einer der Amerikaner Geneviève Blanc ermordet haben? Wo ist da der Zusammenhang?“

Die Idee ließ mich einfach nicht los. „Wir ha-ben irgendwas übersehen“, sagte ich. „Es ist direkt vor unserer Nase, aber wir nehmen es nicht wahr.“

„Wie wollen wir jetzt weiter vorgehen?“, er-kundigte sich India. „Uns sind weitgehend die Hände gebunden, solange uns die beiden Wach-hunde von der Polizei auf Schritt und Tritt fol-gen.“

„Es gibt einen Ort, an dem wir ungestört Nach-forschungen anstellen könnten“, sagte ich.

„Und wo soll das sein?“, wollte India wissen. „Im Polizeirevier. Vergiss nicht, dass wir uns die

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Videoaufnahmen aus dem Hotel noch nicht ange-sehen haben. Inzwischen wird man uns wohl er-lauben, einen Blick darauf zu werfen.“

Eine halbe Stunde später saßen wir auf Klappstüh-len aus Metall vor einem Monitor und ließen sechs Stunden Videofilm über uns ergehen, aufgenom-men vor der Tür zur Suite der Hoppers. Während India und ich auf den Bildschirm starrten, infor-mierten wir Juliette über das, was zu sehen war. Es war die denkbar unangenehmste Art, unseren letz-ten Tag an der Riviera auszufüllen, doch eine an-dere Möglichkeit, Nachforschungen anzustellen, war nicht in Sicht. Still dazusitzen und sich Film-aufnahmen von einem zumeist verlassenen Korri-dor reinzuziehen war nervtötend, zumal wir nicht auf Schnellsuchlauf schalten und das Risiko einge-hen wollten, ein womöglich wichtiges Detail zu übersehen. Nach einer Weile waren wir alle drei ziemlich gereizt. India dichtete Limericks über Cy-rano und trieb uns mit ihren Reimen eine gute Stunde lang beinahe in den Wahnsinn. Mittags bestellten wir Schinken-Brie-Sandwiches, die wir vor dem Gerät vertilgten. Leider hatte Juliette sich mit dem Limerick-Virus infiziert, sodass mich bald beide Mädchen mit ihren albernen poetischen Er-güssen quälten. Aber nachdem wir die sechs Stun-den Film endlich gesichtet hatten, waren wir so

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schlau wie zuvor. Die Aufnahmen gaben nichts her. Überhaupt nichts. Und doch …

Ich wusste nicht warum, aber ich war mir si-cher, dass die Videoaufnahmen eine Information beinhalteten, der wir nur noch nicht auf die Spur gekommen waren. Juliette konnte natürlich nur wissen, was wir ihr erzählt hatten, aber India ging es ähnlich wie mir. Wir fragten uns, ob wir uns die Bänder nicht noch einmal ansehen sollten.

Genau in diesem Moment hörten wir Lärm im Korridor, Geschrei und triumphierendes Lachen. Juliette sprang auf. Ihre großen blauen Augen fun-kelten vor Aufregung.

„Was ist?“, fragte ich. „Was ist passiert?“ „Sie haben ihn gefasst!“, jubelte sie. „Sie haben

Cyrano verhaftet!“

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Original und Fälschung

Sehr bald erfuhren wir sämtliche Details über den Mann, den man festgenommen hatte. Cyrano war keiner von den Verdächtigen aus Paris. Man hatte ihn in Dijon aufgespürt, einer Stadt auf halber Stre-cke zwischen Paris und Nizza – Monaco. Auf diese Weise hatte er beide Städte gleichermaßen bequem erreichen können. Und mit unseren hiesigen Ver-dächtigen hatte er ebenfalls nichts zu tun. Natürlich konnte er sich als Maurice Cardin ausgegeben ha-ben, aber es waren weder Tomas Milano noch Dr. Richard Hopper oder Dr. Francine White.

Ich kann euch die absurde Mischung aus Er-leichterung und Enttäuschung, die India und ich angesichts dieser Neuigkeit empfanden, nicht be-schreiben. Einerseits war es großartig, dass Cyrano gefasst war. Man hatte Fotos seiner Opfer bei ihm gefunden, und er hatte bereits mehrere Morde ge-standen. Das bedeutete, dass die rothaarigen Frauen in ganz Frankreich aufatmen konnten, einschließ-lich Juliette und ihrer Mutter.

Auf der anderen Seite hatten India und ich nicht

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das Geringste zu dieser Verhaftung beigetragen. All unsere Bemühungen, so schien es, waren umsonst gewesen, mal abgesehen von Tomas Milano und seiner Masche, wohlhabendere reifere Damen um Geld und Wertgegenstände zu erleichtern. Die Polizei würde dafür sorgen, dass er vor Gericht gestellt wurde. In Monaco war seine Laufbahn als Betrüger beendet.

Juliette hingegen war in Hochstimmung. Es war letztlich ihr Tipp mit den Tuberosen, der unmittel-bar zur Festnahme von Louis Verdun alias Cyrano geführt hatte, einem 32-jährigen Einzelgänger, der tagsüber als Buchhalter arbeitete und nachts Frauen nachstellte. Wie sich zeigte, entsprach er aufs Haar Dr. Whites Profil eines Serienmörders.

Der Polizei zufolge war Verduns Wohnung mit Plakaten verschiedener Produktionen von Edmond Rostands klassischem Theaterstück Cyrano de Berge-rac gespickt und verschwenderisch mit frischen wie verblühten roten Rosen dekoriert. An den Wänden hingen gerahmte Nachrufe und Zeitungsartikel über seine Opfer. Polaroidfotos von den Ermorde-ten in der von ihm inszenierten Pose klebten am Kopfteil seines Betts. Außerdem enthielt sein Me-dizinschränkchen Flakons mit Kölnischwasser, ver-setzt mit Tuberosen.

„Juliette, du fährst jetzt gleich mit mir nach Di-jon“, sagte Inspektor LeSeur zu seiner Tochter.

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„Oui, papa“, erwiderte sie äußerlich gelassen, ich spürte jedoch, wie aufgeregt sie war. India und ich wussten, dass Juliette schon viel länger an dem Cyrano-Fall dran war als wir. Da schien es nur gerecht, dass sie diejenige war, die zusammen mit ihrem Vater den Fall unter Dach und Fach brach-te.

Wir sagten Juliette au revoir – was nicht etwa ‚Lebewohl‘, sondern ‚Auf Wiedersehen‘ bedeutet. Wir hofften, dass wir damit Recht hatten. Sie ver-sprach anzurufen und zu mailen, um uns auf dem Laufenden zu halten. Dann küsste sie uns auf beide Wangen und ging fort, um zu packen.

Der Inspektor blieb noch ein wenig länger. „Ich habe noch eine Neuigkeit für euch“, sagte er. „Of-fenbar wurde Tomas Milano heute Morgen an einem Grenzposten gesehen; er will nach Italien. Es ist also nicht mehr nötig, euch unter Polizeischutz zu stellen. Ihr könnt sicher sein, dass Monsieur Mi-lano sich vorläufig nicht in Monaco blicken lassen wird. Nach dem Diebstahl der Cartier-Uhr von Dr. Epstein-Hopper und den Drohungen, die er Juliette gegenüber geäußert hat, gilt er nicht mehr nur als Kleinkrimineller, sondern als Schwerverbre-cher. Sollte er nach Monaco oder nach Frankreich zurückkehren, wird er auf der Stelle verhaftet. In Italien, wo er Freunde und Familie hat, kann er eventuell untertauchen. Aber nur für eine gewisse

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Zeit. Letztlich wird seine Habgier dafür sorgen, dass er uns in die Hände fällt.“

Benommen verließen India und ich das Revier, unschlüssig, was wir jetzt mit uns anfangen sollten. Wir hatten vieles zu verarbeiten: Cyranos Fest-nahme, die Flucht Milanos, Juliettes plötzliche Ab-reise. Und bis vor einer halben Stunde hatten wir bis zum Hals in den Ermittlungen zum Mord an Dr. Epstein-Hopper gesteckt.

Jetzt fühlten wir uns wie nach einer Achter-bahnfahrt – ein wenig erschöpft und ausgelaugt. Aber komischerweise lechzten wir förmlich da-nach, sozusagen gleich wieder in einen der Wagen zu steigen und an der nächsten Fahrt teilzunehmen. Die Ermittlungen ließen uns nicht los. Der Fall ließ uns nicht los …

Wir kehrten ins Monte Carlo Grand Hotel zu-rück und fuhren hinauf zu unserer Suite, wo wir Dr. Riggs trafen. Er saß draußen auf dem Balkon und las in der International Herald Tribune, um nicht den Anschluss an die Ereignisse in der Heimat zu verpassen. „Hallo, ihr zwei“, empfing er uns. „Na, wie sieht’s aus? Werdet ihr immer noch von eurer Polizeieskorte beschattet?“

„Nein“, sagte India deprimiert. Wir weihten ihren Dad in die jüngsten Ent-

wicklungen ein. Sein Lächeln zeigte, wie erleich-tert er war. „Na“, sagte er, „dann solltet ihr zwei

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die restliche Zeit dazu nutzen, euch die Stadt anzu-sehen und richtig auszuspannen. Wart ihr denn schon im Ozeanographischen Institut?“

„Noch nicht, Daddy“, gestand India. „Es würde mich schon interessieren, aber es ist zu spät, um heute noch hinzugehen. Wir schauen es uns mor-gen früh an; bis der Helikopter losfliegt, sind wir wieder zurück.“

„In Ordnung“, sagte er und nickte zufrieden. „Übrigens findet heute Abend für uns Seelen-klempner und unsere Gäste ein Galaempfang auf einem Mittelmeer-Kreuzer statt. Das heißt, ihr beide seid auch eingeladen. Habt ihr Lust?“

Ich fragte mich, ob Dr. Hopper und Dr. White wohl auch an Bord sein würden. Vermutlich ja. Es wäre keine schlechte Idee, die Einladung anzu-nehmen, um die beiden im Auge zu behalten. „Wann geht’s denn los?“, erkundigte ich mich.

„Um sieben Uhr treffen wir uns am Anlegesteg, und um halb acht legen wir ab. Also um sieben oder hier geblieben“, witzelte Dr. Riggs.

„Geht klar, Daddy“, sagte India und gab ihm einen Kuss.

Er drückte sie kurz, dann scheuchte er uns hi-naus. „Na, dann mal los mit euch, und viel Spaß. Gönnt euch mal ’ne Pause.“

Wir beherzigten seinen Rat. Oder nein, eigent-lich doch nicht. Wir saßen zwar eine Stunde am

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Strand, schafften es aber nicht, den Fall aus unseren Gedanken zu verbannen. War es tatsächlich vorbei? Hatte die Polizei in Dijon den Mann verhaftet, der nicht nur als Cyrano sein Unwesen trieb, sondern auch Geneviève Blanc und Dr. Harriet Epstein-Hopper ermordet hatte? Hatte ein Ritualmörder, ein Mann, der sich zuvor pedantisch an seine Ge-wohnheiten geklammert hatte, plötzlich seine Vor-gehensweise geändert, nur um die Polizei zu täu-schen?

Oder waren wir gerade dabei, einen Nachahmer entschlüpfen zu lassen? Wenn wir Monaco morgen verließen, ohne uns Klarheit verschafft zu haben, würde vielleicht ein brutaler, perverser Killer unge-schoren davonkommen. Es schien, als wäre die Polizei nur allzu bereit, Cyrano auch die letzten beiden Morde anzuhängen.

Um kurz nach sieben, als wir uns in Schale war-fen, um zum Anlegesteg zu gehen, läutete das Te-lefon.

India klappte das Handy auf. „Hallo?“, sagte sie. „Hey, Juliette! … Holla! Wirklich? … Nein, schwarz … mhm … definitiv … gut, tu das, ja … tschüss.“

„Hey!“, protestierte ich. „Was soll das? Seit wann schließt du mich aus?“

„Das war Juliette“, sagte India, die aussah, als drehten sich sämtliche Rädchen in ihrem Kopf.

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„Du hast aufgelegt, ohne mich mit ihr sprechen zu lassen!“, meuterte ich.

„Sie hatte es eilig. Sie und ihr Vater fliegen noch heute Abend nach Monaco zurück! Der Fall hat eine hochinteressante Wendung genommen.“

„Und welche?“, fragte ich. „Cyrano hat alle siebzehn Morde in Paris ge-

standen. Er war sogar stolz auf seine Taten. Aber er hat heftig abgestritten, etwas mit den hiesigen Morden zu tun zu haben. Er tat sogar gekränkt, als die Polizei andeutete, dass er die Hände im Spiel gehabt haben könnte.“

„So weit, so gut“, sagte ich. „Aber er könnte auch lügen. Kommt noch mehr?“

„Und ob“, erwiderte India. „Juliette sagt, alle E-Mails Cyranos waren in Rot geschrieben, nicht in Schwarz, so wie die auf Harriets Computer.“

„Er könnte sich vertippt haben.“ „Unmöglich. Juliette meinte, der Typ sei

krankhafter Perfektionist“, erklärte India. Ich be-merkte, wie ihre Hände zitterten. „Cyrano hat zugegeben, dass er mit dem Gedanken spielte, seine Vorgehensweise zu ändern. Er hatte vor, irgend-wann in nächster Zeit damit zu beginnen, ein Sou-venir vom Tatort mitzunehmen. Er sagte, er habe sich bereits ein Rezept ausgedacht – er wollte ei-nen Eintopf aus Zwiebeln, Karotten und menschli-chen Fingern zubereiten.“ Ich spürte, wie sie mit

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sich kämpfte, um die aufsteigende Angst in den Griff zu kriegen. „Den Killer von Monaco nannte er Tartuffe, einen Schwindler. So wie die Figur des Tartuffe in dem berühmten Stück von Molière. Juliette meint, für ihn sei all das nur ein Spiel. Und er hat noch ein anderes Wort für den zweiten Mörder benutzt.“

„Lass mich raten – Trittbrettfahrer?“ „Volltreffer“, sagte India. „Die Polizei ist der

Ansicht, dass er die Wahrheit sagt. Deshalb kom-men Juliette und ihr Vater auch so schnell nach Monaco zurück. Sie hat vom Flughafen aus ange-rufen. Man hat ihnen einen Polizeihubschrauber zur Verfügung gestellt.“

Ich kann auch nicht erklären, warum mir plötz-lich ein Schauer über den Rücken lief. Mir war schlagartig klar, dass wir wieder am Zug waren. Es gab wieder einen Fall, den wir lösen mussten, und uns blieb nicht mehr viel Zeit.

„Was wird die Polizei jetzt tun, was meinst du?“, fragte India.

„Falsche Frage, India“, sagte ich. „Die richtige Frage muss lauten: Was werden wir jetzt tun?“

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Mord à la Mode

Wir hetzten zum Anlegesteg, sahen jedoch nur noch, wie der Kreuzer sich vom Hafen entfernte. „Mist!“, schimpfte ich und trat gegen das Geländer. „Damit wäre die Chance vertan, unsere Verdächti-gen nochmal so richtig in die Mangel zu nehmen.“ Wir standen eine Zeit lang wie gelähmt – unfähig, einen Entschluss zu fassen. Ich dachte so angest-rengt nach, dass mir die Haarwurzeln wehtaten.

„Egal“, sagte India schließlich. „Vielleicht können wir die verbleibende Zeit ja anderweitig nutzen.“

„Wie wär’s, wenn wir erst mal was essen?“, schlug ich vor. Meine grauen Zellen brauchen re-gelmäßig Proteine, um mit voller Kraft zu arbeiten. Auf Rinderwahnsinn konnte ich allerdings gut ver-zichten, stattdessen stand mir der Sinn nach lecke-rem Fisch.

Wir gingen zu einem kleinen Café, das wir in der Avenue de la Madonne entdeckt hatten: Le Bon Appétit. Dort setzten wir uns an einen der Tische draußen an der Straße und bestellten Miesmuscheln und Hähnchensalat.

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„Und wenn Geneviève Blanc von einem dritten Mörder umgebracht wurde?“, fragte India. „Ich meine, von einem zweiten Nachahmer – sagen wir, von Maurice Cardin.“

„Von mir aus.“ „Nehmen wir an, Dr. White tötete Harriet Eps-

tein-Hopper – das scheint mir die logischste Erklä-rung zu sein. Sie könnte an die Verbindungstür geklopft haben, und Harriet öffnete ihr, da sie ei-nander ja kannten. Dann könnte sie ihre ehemalige Studienkollegin umgebracht und das Ganze wie einen Mord Cyranos inszeniert haben.“

„Bis hierher kann ich dir folgen“, sagte ich. „Aber aus welchem Grund sollte Maurice Cardin dem Mord an Geneviève Blanc die Handschrift Cyranos gegeben haben?“

„Keine Ahnung“, erwiderte sie. „Reiner Zufall vielleicht. Womöglich kannte er sie und wollte die Polizei von sich ablenken.“

„Das passt nicht zusammen“, widersprach ich. „Wenn er Geneviève kannte, warum hätte Mauri-ce Cardin dann im Le Bec Zinc absteigen und sich die Mühe machen sollen, seine Identität zu ver-schleiern?“

„Hast du denn eine bessere Idee?“ „Schon möglich“, sagte ich. In meinem Kopf

nahm allmählich ein noch unscharfes Bild Gestalt an. „Sagen wir, Geneviève und Harriet wurden

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doch von ein und derselben Person umgebracht und diese Person war nicht Cyrano …“

„Ja …?“ „Nehmen wir an – ich weiß, es klingt abartig –,

aber nehmen wir nur mal an, Geneviève wurde sozusagen zu Übungszwecken getötet …“

„Zu Übungszwecken? Du lieber Himmel! Per-verser geht’s nicht! Das hieße, dass dieser Mörder mindestens ebenso krank und sadistisch veranlagt ist wie Cyrano, und noch viel berechnender obend-rein.“

„Es ist nur so eine Idee. Aber nehmen wir an, es trifft zu. In diesem Fall war das Ziel von Anfang an Harriet Epstein-Hopper, und der Killer hatte den Plan, Cyranos Handschrift nachzuahmen. Wäre es da nicht viel überzeugender, wenn er oder sie noch eine andere Person tötete? Eine Frau mit mittellan-gen roten Haaren, so wie Harriet?“

„Ich verstehe, worauf du hinauswillst … glaube ich jedenfalls“, sagte India ein wenig skeptisch. „Tomas Milano würde damit ausscheiden, oder?“

„Ja, richtig“, bestätigte ich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so methodisch vorgehen würde. Zunächst mal ist er noch nie handgreiflich gewor-den, um an Geld oder Schmuck zu kommen, und es kann doch stimmen, dass er Dr. Epstein-Hopper nie zuvor gesehen hat. Na schön, schauen wir uns die Alternativen an: Hopper und White. Hopper

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scheint eher in Frage zu kommen, weil er ein Mann ist – aber ich muss immer wieder an ihre Massimo-Hose und ihr maskulines Auftreten den-ken. Wie man’s auch dreht und wendet: Sollte einer von ihnen Maurice Cardin sein, dann hätte er sich einen gefälschten Pass besorgen und mehr als eine Woche vor dem Kongress in Frankreich ein-treffen müssen.“

„Wieso mehr als eine Woche vorher? Gene-viève wurde doch nur eine Woche vor Harriet umgebracht.“

„Ganz einfach“, erwiderte ich. „Der Mörder musste sich erst umsehen und das passende erste Opfer finden – eine Frau, die ungefähr Harriets Haarlänge und Haarfarbe hatte.“

„Du meinst nicht, dass er da schon im Le Bec Zinc abgestiegen ist, oder?“

„Nein“, sagte ich. „Viel zu riskant. Je länger der Mörder dort blieb, umso leichter würde man ihn im Nachhinein identifizieren können. Viel wahr-scheinlicher ist, dass er ein Hotel der gehobenen Kategorie auswählte, wo er blieb, bis er seine Beute aufgestöbert hatte. Dann mietete er sich für ein, zwei Nächte im Le Bec Zinc ein, unmittelbar vor und nach der Tat. Anschließend kehrte er in sein altes Quartier zurück.“

„Und wo könnte das sein?“, fragte India. Ich schaute ihr in die Augen. „Ich rate einfach

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mal ins Blaue hinein.“ Ich drehte mich zu unserem Hotel um, das sich auf der anderen Straßenseite erhob. „Wenn er oder sie zwei Morde plante, wel-cher Ort wäre besser dazu geeignet als der, an dem Harriet getötet werden sollte?“

„Wenn Maurice Cardin im Monte Carlo Grand Hotel abgestiegen ist … dann könnten wir die Un-terlagen überprüfen und es beweisen!“, sagte India. Ihre Augen blitzten.

„Genau! Gehen wir!“ Ich wandte mich an den Kellner. „Wir sind in ein paar Minuten wieder da“, versprach ich, holte ein Bündel Geldscheine heraus und steckte sie ihm zu. „Stellen Sie unser Essen warm, bis wir zurückkommen, einverstanden?“

Der Kellner schimpfte zwar, aber da ich viel mehr bezahlt hatte, als ich musste, achtete ich nicht darauf. Wir rannten über den Platz in das ver-schwenderisch ausgestattete Foyer des Hotels. Am Empfang baten wir darum, einen Blick in das An-meldebuch der vergangenen Woche werfen zu dürfen. Der Mann an der Rezeption musterte uns, als wären wir soeben der Irrenanstalt entsprungen. „Und aus welchem Grund wollt ihr die Unterlagen sehen?“, fragte er herablassend. „Ein äußerst unge-wöhnlicher Wunsch.“

„Wir könnten dort eventuell Aufschluss über den Mord gewinnen, der neulich hier begangen wurde“, erklärte ich.

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„Wenn das so ist, schlage ich vor, ihr verständigt die Polizei“, sagte er und reckte das Kinn in die Höhe.

Wo war Juliette, wenn wir sie brauchten? Seuf-zend überreichte ich dem Typ drei 10-Euro-Scheine. „Das wird doch jetzt nicht mehr nötig sein, oder?“, fragte ich.

Er musterte die Scheine, schaute sich nach mög-lichen Zeugen um und steckte das Geld ein. Dann holte er ein großes in Leder gebundenes Buch und warf es auf einen unbenutzten Schreibtisch. „Voilà.“

Wir setzten uns und begannen, darin zu blät-tern, während unser neuer französischer Freund uns über die Schulter spähte.

„Schau mal, Quentin!“, stieß India hervor. „Da steht er – Maurice Cardin!“

Sie hatte Recht. Neben einer Unterschrift, ei-nem nahezu unleserlichen Gekritzel, stand der Name in Druckbuchstaben. Maurice Cardin hatte sich noch in der Nacht, in der Geneviève Blanc ermordet worden war, ins Gästebuch des Monte Carlo Grand Hotel eingetragen.

Ich blätterte weiter bis zu dem Tag, an dem wir eingecheckt hatten, und fand den Namenszug von Dr. White. Keine Übereinstimmung. Dann such-ten wir die Unterschrift Dr. Hoppers. Wie erwartet war es dieselbe Schrift wie bei Maurice Cardin. Ich

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blätterte wieder zurück und fuhr mit dem Finger über die Linie rechts von Cardins Namen, und da stand es – Suite 307. Die Suite der Hoppers.

„Grundgütiger“, sagte India. „Ich glaube, das wird als Beweis reichen, dass

Hopper unser Mann ist“, stellte ich fest. „Aber eines muss ich noch überprüfen.“ Ich wandte mich an den Portier. „Wir müssten uns noch die Video-aufnahmen der zweiten Etage aus der Nacht anse-hen, in der Maurice Cardin hier abgestiegen ist.“

„Kommt nicht in Frage, ohne polizeiliche Anordnung“, sagte er so empört, als habe man ihm angetragen, seinen Lieblingspudel mitten im Januar kahl zu scheren.

Ich hatte das Gefühl, auf einer heißen Spur zu sein, und war nicht bereit, so schnell aufzugeben. „Dann schauen Sie wenigstens nach, ob Sie die Aufnahmen noch haben. Wir werden die Polizei in Kürze verständigen, und die wird die Videos kon-fiszieren.“

Der Portier machte ein Gesicht, als ob er mich am liebsten mit seinem Füllfederhalter erstochen hätte. Er beherrschte sich jedoch, nickte kurz, ging zu seinem Tisch und rief den Sicherheitsdienst an. Es dauerte eine Weile, bis er wieder zu uns kam. Er war völlig außer sich.

„Ich begreife es einfach nicht. Alle Aufnahmen werden mindestens ein Jahr lang hier archiviert,

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bevor wir sie ausmustern. Aber die Aufnahme, nach der ihr gefragt habt, ist verschwunden.“

„Kein Problem“, erwiderte ich. „Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, wer sie an sich genommen hat, und ich weiß auch, aus welchem Grund.“

Ich nahm Indias Arm und zog sie mit mir hi-naus. „Was machen wir denn jetzt?“, wollte sie wissen.

„Wir gehen nochmal ins Polizeirevier und überprüfen die Aufnahmen von dem Morgen, an dem Madame Epstein-Hopper das Zeitliche segne-te.“

„Aber das haben wir doch schon getan. Was soll das bringen?“, beschwerte sie sich.

„Mit den Aufnahmen stimmt was nicht. Wenn ich mich recht entsinne, hattest du auch diesen Eindruck.“

„Ja, aber …“ „Wir können nicht nur dasitzen und Däumchen

drehen, bis das Schiff zurückkommt.“ Im Polizeirevier hatten wir Glück. Henri Beau-

champ, der Dienst habende Sergeant, erinnerte sich noch an uns. Dank LeSeur und Juliette waren wir hier schon bekannt, deshalb kamen wir auch ohne große Probleme an die Bänder heran und durften sie abspielen.

Wir wussten zwar immer noch nicht, wonach genau wir suchten, aber zumindest waren wir si-

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cher, dass sich irgendwo in dem Filmmaterial ein Hinweis verbergen musste. Diese Aufnahmen war-en nicht irgendwelche Videos – sie waren Dr. Hoppers angeblich hieb- und stichfestes Alibi. Wenn er seine Frau getötet hatte, und davon waren wir überzeugt, dann musste er die Videos irgend-wie manipuliert haben.

Auf der ersten Videokassette fanden wir nichts, aber als wir die zweite einlegten, sah ich endlich, was mir so zugesetzt hatte wie ein quälender Juck-reiz – der springende Punkt war die unterschiedli-che Qualität der beiden Aufnahmen. Zwei ver-schiedene Hersteller? Unterschiedliche Technik oder Geschwindigkeit? Ich nahm das Video wieder heraus und verglich es mit dem anderen. Nichts. Dieselbe Marke, identisch in jeder Beziehung.

„Legen wir das erste Video nochmal ein“, sagte India.

Wir ließen es eine Minute laufen, dann nahmen wir es heraus und legten das zweite ein.

„Es liegt am Licht“, sagte ich. „Ja“, bestätigte India. „An der Hintergrundbe-

leuchtung.“ Wir riefen Sergeant Beauchamp herein und

fragten ihn, ob es möglich war, die Kontraste her-vorzuheben. „Mais oui“, sagte er. „Naturellement. Un moment, s’il vous plaît.“ Er eilte hinaus.

„Ich glaube, er hat gesagt, wir sollen uns einen

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Moment gedulden“, dolmetschte ich nach bestem Wissen und Gewissen.

Wenig später kam er mit einem Rolltisch zu-rück, auf dem ein hoch empfindlicher Videoplayer stand – ein Gerät mit einer Reglerkonsole, über die man das Bild zoomen oder Beleuchtung und Farbe aussteuern konnte.

„Gut“, sagte ich, als der Sergeant uns wieder al-lein gelassen hatte, „lass uns nochmal die erste Auf-nahme anschauen. Mal sehen, was wir damit ma-chen können.“ India legte das Video ein, und wir betätigten den Zoom-Regler.

Ganz hinten im Korridor war ein großes Fenster zu sehen, das zum Teil von der Standkamera erfasst wurde. Wir holten es näher heran und entdeckten etwas, was bis jetzt alle übersehen hatten. Etwas so Wichtiges, dass es ein völlig neues Licht auf den Hopper-Fall warf.

„Siehst du das?“, jubelte India. Draußen vor dem Fenster – regnete es! Schnell nahm ich die Kassette heraus und schob

die zweite wieder in den Schlitz. Durch die Glas-scheibe fiel helles Sonnenlicht auf den Teppichbo-den. India lächelte mich triumphierend an. „Quen-tin, die beiden Bänder stammen von verschiedenen Tagen!“

Es bestand kein Zweifel – India hatte Recht. „Erinnerst du dich an den Zeitungsartikel über

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Geneviève?“, fragte ich. „In der Nacht, als sie er-mordet wurde, gab es ein heftiges Gewitter.“

„Und in derselben Nacht mietete Maurice Car-din sich im Monte Carlo Grand Hotel ein!“

„So hat er es also gemacht. Nach dem Mord an Geneviève checkt er als Maurice Cardin ein. Am folgenden Morgen gegen halb sechs verlässt er das Zimmer, um sein Training zu absolvieren.“

„Ja …?“ „Das erscheint auf der Aufnahme, für die er spä-

ter noch einmal Verwendung haben wird. Dann kommt der Morgen, an dem er seine Frau tötet. Wir wissen, dass sie zwischen halb sieben und sie-ben Uhr starb.“

„Genau.“ „Er tötet seine Frau um – sagen wir – halb sie-

ben. Er joggt direkt zum Café und quasselt dem Personal bis sieben Uhr die Ohren voll – der Zeit-punkt, an dem die Bänder ausgewechselt werden. Anschließend kehrt er ins Hotel zurück, womög-lich in Verkleidung, und geht zum Büro des Si-cherheitsdienstes. Irgendwie gelingt es ihm, die Videokassette zu finden, die gerade aus dem Gerät entnommen wurde, und sie gegen die Videoauf-nahme der vergangenen Woche auszutauschen, die ihn um halb sechs auf dem Weg nach draußen zeigt. Natürlich ändert er die Beschriftung der ers-ten Kassette, indem er ein neues Datum einsetzt.

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Dann verlässt er das Hotel, deponiert seine Ver-kleidung irgendwo und kehrt um Viertel nach sie-ben in seine Suite zurück.“

„Wie hat er sich Einlass in den Raum mit den Überwachungskameras verschafft?“

„Vermutlich hat er irgendwann einmal den Schlüssel entwendet und eine Kopie anfertigen lassen. Hier ist ohnehin alles ein bisschen comme ci, comme ça: Es ergibt sich leicht eine Gelegenheit.“

Wir saßen eine Zeit lang schweigend da. Unse-ren Beweis hatten wir. Für uns stand jetzt fest, dass Dr. Hopper Maurice Cardin war. Wir wussten, was und vor allem wie er es getan hatte.

Als der Sergeant wieder hereinkam, gaben wir uns alle Mühe, ihm diese Info zu übermitteln, aber entweder waren wir viel zu aufgeregt, um uns ver-ständlich zu machen, oder sein Englisch war nicht gut genug. Schließlich rief er einen anderen Beam-ten herein. Wir erklärten den beiden noch einmal, was wir entdeckt hatten, und zeigten ihnen die Unstimmigkeit zwischen den zwei Videoaufnah-men. Nach einigem Hin und Her kapierten sie endlich, aber keiner der beiden hatte die Befugnis, einen Haftbefehl gegen Dr. Hopper zu erwirken.

Sergeant Beauchamp rief in Dijon an. Er hing ziemlich lange an der Strippe und wurde immer ungeduldiger. Nach vielen vergeblichen Versu-chen, den Chefinspektor von Dijon zu erreichen,

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der wegen des Medienzirkus um die Festnahme Cyranos nicht abkömmlich war, wurde er sogar laut. Schließlich legte Beauchamp auf. „Es tut mir sehr Leid“, sagte er in schlechtem Englisch zu uns. „Inspektor LeSeur ist zwar im Hubschrauber auf dem Weg nach Monaco, aber es gibt im Moment keine Verbindung über Funk. Wir müssen noch etwa eine Stunde warten.“

„Aber bis dahin könnte Hopper das Land verlas-sen haben!“, wandte India ein.

„Können Sie ihn nicht wenigstens zur Verneh-mung herbringen?“, drang ich in ihn.

„Tut mir Leid“, sagte der Sergeant. „Die Vor-schriften, versteht ihr?“

„Nein, versteh ich im Grunde nicht“, sagte ich und ächzte.

India winkte ab. „Komm mit, Quentin. Es hat keinen Sinn, noch länger hier zu bleiben. Wir su-chen Hopper auf eigene Faust und behalten ihn im Auge, bis Inspektor LeSeur diesen gendarmes befeh-len kann, ihre Arbeit zu tun. Aber weißt du was“, fügte sie hinzu, als wir nach draußen gingen und der abendliche Dunst vom Mittelmeer uns einhüll-te, „wir können noch nicht endgültig ausschließen, dass Francine White nicht die Komplizin von Hopper war. Was sagen wir denn, wenn wir den beiden über den Weg laufen?“

Ich dachte kurz nach. „Ich schätze, wir sagen

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einfach: ‚Oh, hallo. Wir würden euch gerne baby-sitten, bis das Einsatzkommando kommt, aber er-zählt doch mal – wie fühlt man sich denn so als psychopathisches, gemeingefährliches Liebespaar, das in die Ecke getrieben wird?‘“

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Abendliche Begegnung

Noch ziemlich aufgebracht gingen wir zur Anle-gestelle. Der Kreuzer war noch immer unterwegs. Am Hafen erfuhren wir, dass er frühestens in einer Stunde zurückkommen würde. Inzwischen war es fast halb zehn. „Ich weiß nicht, was du davon hältst“, sagte ich zu India, „aber ich habe Lust auf ein Dessert.“

„Oh ja“, sagte sie. „Ganz meine Meinung. Was wir jetzt brauchen, sind Unmengen von Kalorien.“

Wir gingen ins Le Bon Appétit zurück. Es war schon dunkel, und das Lokal war überfüllt. Drau-ßen auf dem Gehsteig herrschte Hochbetrieb, und es war reiner Zufall, dass wir unseren alten Tisch bekamen. Wir bestellten Crème Brulée und Him-beerpfannkuchen mit Eis. Zu unseren Kalorien-bomben nahmen wir je einen Milchkaffee. India versuchte, Juliette zu erreichen, aber das Telefon gab nur undefinierbare Geräusche von sich.

„Wie wär’s, wenn wir Jesus anrufen?“, schlug ich vor.

„Okay.“ India reichte mir das Handy.

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Ich tippte die Nummer ein und wartete, wäh-rend es läutete und läutete. „Hallo?“

„Jesus, ich bin’s – Quentin“, sagte ich. „Hey, Kumpel. Was liegt an?“ „Ich hab Neuigkeiten.“ Ich legte um der Span-

nung willen eine Pause ein. „Wir haben herausge-funden, wer Dr. Epstein-Hopper umgebracht hat!“

„Sag bloß! Wer war’s denn?“ „Es war ihr Mann. Wir haben Beweise dafür!

Der Typ hat sein Alibi manipuliert. Er hat ein frü-heres Überwachungsvideo gegen das ausgetauscht, das an jenem Morgen aufgezeichnet wurde. Seine Freundin, diese Seelenklempnerin, die wie ein Mann aussieht, könnte eventuell seine Komplizin sein, aber eigentlich bezweifle ich das.“

„Gut gemacht, Quentin. Hat die Polizei ihn schon festgenommen?“

„Nein. Die Beamten warten noch auf Befehl von oben. Aber Dr. Hopper ist so gut wie über-führt. India und ich wollen ihn beschatten, bis die Polizei so weit ist.“

„Hey, seid bloß vorsichtig, Mann.“ „Machen wir. Danke. Dann erst mal ciao, mein

Lieber. Wir lassen dich wissen, wie es gelaufen ist.“ Ich klappte das Handy zu und gab es India zu-

rück. Während ich dies tat, fiel mir ein Typ in schwarzem Regenmantel auf, der von einem Tisch in der Nähe aufstand. Der Mann wandte uns den

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Rücken zu. Er hatte halb verborgen hinter einer Skulptur gesessen. Was meine Aufmerksamkeit erregte, war seine schlecht verhohlene Eile. „Hey, India“, flüsterte ich.

„Grundgütiger“, zischte sie, als der Mann flink wie ein Wiesel über den Boulevard zu unserem Hotel hastete. „Es ist Hopper!“

„Er muss mich gehört haben“, sagte ich. „Mist – ich war so fest davon überzeugt, dass er auf dem Kreuzer ist!“

„Komm mit!“, sagte sie und lief auch schon los. Ich folgte ihr auf den Fersen und ignorierte die

Schimpfkanonaden des Kellners, auf dessen Tablett die dampfenden Kaffeetassen und die Teller mit den köstlichen Desserts standen. Zum zweiten Mal hatten wir ihn auf der Bestellung sitzen lassen und diesmal sogar, ohne zu bezahlen. Aber im Moment hatten wir eben Wichtigeres zu tun.

Wir stürzten ins Foyer des Hotels, wo jedoch von Hopper weit und breit nichts zu sehen war. „Was machen wir denn jetzt?“, fragte India.

„Er könnte nach oben in seine Suite gegangen sein“, überlegte ich laut.

„Meinst du wirklich, er hat dein Gespräch mit Jesus belauscht?“

„Garantiert“, sagte ich. „Versuch nochmal, Ju-liette zu erreichen.“

India holte schnell ihr Handy heraus, während

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ich angestrengt über unseren nächsten Zug nach-dachte. Ich überlegte, dass es am besten wäre, hier unten im Foyer zu bleiben. Auf diese Weise wür-den wir ihn aufhalten können, falls er zu fliehen versuchte, und ihn nicht verpassen, während wir womöglich gerade mit dem Aufzug hochfuhren. Und falls er vorhatte, gewalttätig zu werden und seinen beliebten Kissentrick bei uns anzuwenden, nun, so gab es zumindest Zeugen.

„Immer noch nichts!“, rief India frustriert, klappte ihr Handy zu und stopfte es wieder in ihren Rucksack.

Plötzlich entdeckte ich durch die Fenster auf der linken Seite einen schwarzen BMW-Sportwagen, der in die Auffahrt einbog. Ein Hotelangestellter stieg aus und bekam ein Trinkgeld zugesteckt – von Hopper! Vor unseren Augen warf er einen Koffer in den Wagen, stieg ein und brauste los wie ein Rennfahrer beim Grandprix.

„Er türmt!“, rief ich. „Komm schnell!“ Wir stürzten zur Drehtür. Draußen sahen wir,

wie der BMW sich in den Verkehr einfädelte und ostwärts den Boulevard hinunterfuhr.

„Ihm nach!“, sagte ich. „Wir müssen ihn einho-len!“

Wir warfen einen Blick auf die Menschen-schlange, die vor dem Hotel auf Taxen wartete. „Leider nicht drin“, stellte India fest.

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Ich schaute mich um und entdeckte in der Nähe eine Vespa mit Beifahrersitz. Der Fahrer war nir-gends zu sehen, hatte jedoch den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen. „Mir nach“, brüllte ich und rannte los. Ich schwang mich auf den Motor-roller und bedeutete India, auf den Beifahrersitz zu klettern. „Wir erklären es später.“

„Ja, wenn wir im Kittchen sitzen“, sagte sie, während ich den Zündschlüssel drehte und den Motor auf Touren brachte. „Ich glaube, wir bege-hen gerade einen Diebstahl. Und ich habe gelesen, dass sich in französischen Gefängnissen Ratten tummeln, die so groß sind wie Straßenkatzen!“

Wir sahen den BMW vor uns an einer Ampel stehen. Aber Hopper musste uns gleichfalls im Rückspiegel erspäht haben, denn urplötzlich wen-dete er auf dem Mittelstreifen und fuhr an uns vor-bei gen Westen.

Die Ampel würde gleich auf Grün umspringen, aber wenn der Verkehr auf dem Boulevard erst einmal ins Rollen kam, dann würde es ewig dauern, hierzu wenden. Mir war klar, dass wir nicht warten konnten. Kurz entschlossen gab ich Gas, raste über den grasbewachsenen Mittelstreifen und wechselte auf die Spur nach Westen, bevor der Gegenverkehr uns eingeholt hatte.

Der Cityroller geriet ins Schleudern, India kreischte. Dann hatte ich das Fahrzeug wieder un-

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ter Kontrolle, und die Jagd konnte weitergehen. Wir waren etwa 100 Meter hinter Hopper.

„Du hast den Verstand verloren!“, schrie India, um den Motorenlärm zu übertönen. „Ich hätte dich nie ans Steuer lassen dürfen!“

„Hey, du lebst doch noch, oder?“, konterte ich und fuhr im Zickzack zwischen den Autos hin-durch, um den BMW nicht aus den Augen zu ver-lieren.

„Fahr mal näher ran! Ich könnte das Kennzei-chen über Handy durchgeben. Ein bisschen Ver-stärkung durch die Polizei wäre nicht schlecht, oder.“

„Gute Idee!“ Ich gab mir weiß Gott Mühe. Aber BMWs sind auf Schnelligkeit konzipiert, und so verlässlich unser kleiner Roller auch war, wir fielen zurück, statt dass wir aufholten. Nur der Verkehr vor Hopper verhinderte, dass wir ihn komplett aus den Augen verloren. Außerdem konnten wir uns zwischen den Autos hindurch-schlängeln, er nicht.

Der BMW bog nach rechts ab und raste auf der serpentinenreichen Bergstraße Richtung Nizza. Und Richtung Flughafen! Hier war weniger Ver-kehr, und nach jeder Kurve vergrößerte sich der Abstand zwischen Hopper und uns.

Schließlich hängte er uns ganz ab. Wir waren al-lein auf der Straße – nur auf der Gegenspur kam

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uns hin und wieder ein Wagen entgegen. Vor uns war niemand zu sehen, so weit das Auge reichte. Ich fuhr rechts ran. „Er ist weg“, sagte ich. „Was jetzt?“

„Dann erwischen wir ihn eben am Flughafen“, rief India aufgebracht.

„Selbst wenn wir es schaffen, wie sollen wir ihn davon abhalten, in einen Flieger zu steigen? Und vielleicht fährt er ja auch gar nicht zum Flughafen. Vielleicht hat er hier irgendwo ein Versteck.“

India schlug seitlich gegen ihren Sitz, so, als wä-re er ein störrisches, bockiges Maultier.

Ich wendete, und wir fuhren nach Monaco zu-rück. „Wir sollten lieber so schnell wie möglich die Vespa zurückgeben“, rief ich. „Ehe wir selbst noch hinter Gittern landen. Dann können wir gar nichts mehr tun.“

Wir befanden uns jetzt auf der Straßenseite di-rekt an der Klippe. Der Blick auf die Küste war atemberaubend, wenn auch nicht ganz ungefähr-lich. „Wir sollten uns möglichst von der Klippe fern halten“, rief India, als vor uns auf der linken Seite ein Schotterweg auftauchte. Plötzlich war das Aufheulen eines Motors zu hören. Aus dem Weg heraus schoss der BMW auf uns zu. Das grelle Scheinwerferlicht blendete mich einen Moment lang. Ich musste ausweichen, um eine Kollision zu vermeiden – und fuhr geradewegs bis an den Rand

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der Klippe. India brüllte aus Leibeskräften – und ich wohl auch. Ich war viel zu beschäftigt damit, die Kontrolle über die Vespa nicht zu verlieren, um darauf zu achten.

Ich lenkte wieder zurück auf die Straße und gab Gas, aber der BMW wendete und nahm die Ver-folgung auf – und er holte auf.

Ich täuschte eine Linksdrehung an, um Hopper zu verwirren. Damit schlug ich ein paar Sekunden heraus, hörte jedoch kurz darauf das Quietschen von Bremsen und sah, wie er den Rückwärtsgang einlegte und uns erneut aufs Korn nahm.

„Ruf die Polizei, schnell!“, krächzte ich mit ver-sagender Stimme. Als India ihr Handy aufklappte, läutete es.

„SOS!“, brüllte sie. „Ein Notfall! Hilfe! Hilfe!“

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Jagdgründe

„Juliette? Oh, Gott sei Dank!“ India schrie wie eine Verrückte ins Telefon,

während wir die Rue Royale entlangbrausten. Ich konnte den BMW zwar hinter uns sehen, aber bei all den Haarnadelkurven konnte Hopper den Abstand zu uns kaum verringern. India konnte das Kennzeichen entziffern und gab die Nummer Juliette durch, bevor die Verbindung abbrach.

„Sie und ihr Dad landen gerade in Nizza“, klär-te sie mich auf.

„Gut“, sagte ich. Ich dachte mir, dass die Rue Royale geradewegs

zum Palais des Fürsten führen würde, wo stets be-waffnete Wachen auf Posten standen. Deshalb war ich wild entschlossen, strikt geradeaus zu fahren und nirgends abzubiegen, doch dann kamen wir zu einer Gabelung.

Ich bog rein gefühlsmäßig rechts ab. Statt zum Palais zu führen, mündete diese Straße aber in einer Sackgasse vor einem großen, verlassenen Steinge-

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bäude mit einem Schild, auf dem stand: Institut Océanographique.

„Na toll“, sagte ich, bremste mit quietschenden Reifen und stieg ab. „Na ja, wir wollten es uns ja sowieso mal ansehen. Jetzt sind wir eben hier.“

„Du bist ja schon voll abgedreht“, grummelte India nervös und kletterte vom Beifahrersitz, als auch schon der BMW heranbrauste. „Und jetzt?“

„Sieht ganz so aus, als hätten wir nur einen ein-zigen Ausweg“, sagte ich und zeigte auf eine Ram-pe an der der Klippe zugewandten Seite des Ge-bäudes. Jeder andere Weg setzte voraus, dass wir an dem BMW vorbeimussten. Ob Hopper bewaffnet war, wusste ich nicht, aber ich wusste sehr wohl, dass er zu allem fähig war.

Wir entschieden uns für die Rampe. Sie verlief einmal rings um das Gebäude. Während wir rann-ten, riefen wir vergeblich nach einem Sicherheits-beamten. „Ich schätze, heutzutage können die sich keinen Nachtwächter mehr leisten“, keuchte India.

Hopper folgte uns. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, hörte jedoch seine Schritte. Wenigstens war er älter als wir und damit langsamer – zumal es ber-gan ging. Letztlich hatte das jedoch keine Bedeu-tung, denn wir entdeckten bald, dass die Rampe an einer Glastür endete. Zu unserer Linken gähnte ein steiler Abgrund, an dessen unterem Ende die scharfkantigen, von der Gischt des Mittelmeers

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umschäumten Felsen zu sehen waren. Zu unserer Rechten erhob sich das geisterhafte Steingebäude des Instituts.

Hopper erschien in unserem Blickfeld, keu-chend und fluchend erklomm er die Rampe. Trotz des Halbdunkels konnte ich in seinen Augen Mordlust lesen.

Ich sah India an – wir tauschten den Blick von Todgeweihten. Aber plötzlich riss sie ihren Stiefel vom Fuß, schob ihre Hand hinein und schlug da-mit so fest gegen die Glastür, dass diese zersplitter-te. Den Rest erledigte ich mit meinem Schuh. „Dem Himmel sei Dank für dein Modebewuss-tsein, India“, sagte ich, als wir durch das Loch in der Tür in das gespenstische Dunkel des Instituts kletterten.

Vor uns erspähten wir einen Treppenaufgang. Wir liefen zum zweiten Stock hinauf und sprinte-ten einen langen Korridor entlang, vorbei an faszi-nierenden Modellen von Korallenriffs und Gezei-tenbecken. Es gab eine phänomenale Ausstellung über Seebeben, und ich sah die Skelette und die konservierten Körper riesiger Tintenfische und Raubfische. Ein ganzer Raum war der Geschichte der Meeresforschung, den Schiffswracks und der Piraterie gewidmet. Am Ende des Korridors ange-langt, erklommen wir die Treppe zum nächsten Stockwerk.

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Wir konnten Hopper unter uns hören. India und ich mussten stehen bleiben, um Luft zu holen. Wir brachten kein Wort heraus – meine Lunge fühlte sich an, als würde sie jeden Moment platzen.

Wir standen auf einem Laufgang aus Metall, der wie ein Gerüst gestaltet war und an der Wand eines Anbaus entlangführte, der das Aquarium des Insti-tuts beherbergte. Hinter uns befand sich die Glas-scheibe eines riesigen Beckens mit Hammerhaien, Teufelsrochen und 1 Meter 80 breiten japanischen Krebsen. Monströse Meerestiere schwammen na-cheinander dicht an die Scheibe heran. Ihre starren Blicke hinter dem dicken Glas schienen uns zu durchbohren.

Das Becken verströmte ein geisterhaft blaues Licht, das die längliche Halle mit der hohen Decke durchflutete und uns das Aussehen von Leichna-men verlieh. Durch das Gitterwerk der Rampe konnten wir Hopper auf der Ebene unter uns se-hen. Er stützte seine Hände auf die Knie und atme-te mindestens genauso schwer wie wir.

Wenig später richtete er sich auf und starrte aus zusammengekniffenen Augen zu uns hoch. Sein Blick glich dem der Haie hinter uns.

„Es ist vorbei, Dr. Hopper. Finito“, sagte ich, als ich endlich wieder sprechen konnte. „Sie werden damit nicht durchkommen. Wir haben die Beweise bereits an die Polizei weitergegeben. Man sucht an

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den Grenzübergängen und Flughäfen nach Ihnen. Inzwischen könnten Sie nicht mal mehr ein primi-tives Segelflugzeug chartern.“ All das war natürlich gelogen, aber irgendetwas musste ich ja sagen.

Ich hörte ein Zischen und leises Rascheln, als be-reite unter uns eine Riesenschlange ihren Angriff vor. „Und welche Beweise sollen das sein?“ Seine Stimme klang brüchig, wie das Flüstern eines Kindes.

Ich warf einen Blick zu India und sah, dass sie sich an der Wand entlangtastete. Klar, sie versuch-te, einen Alarmknopf oder einen Lichtschalter zu finden. Um Zeit zu gewinnen, ging ich auf seine Frage ein. „Ich verstehe ja, dass Sie den Eindruck erwecken wollten, Cyrano hätte Ihre Frau umgeb-racht“, sagte ich. „Aber Sie haben mehrere gravie-rende Fehler gemacht.“

„Ach, wirklich?“, erwiderte Hopper unerwartet belustigt. „Und die wären?“

„Zunächst mal war da der Schnitzer mit den E-Mails.“

„Wie bitte?“ „Cyranos E-Mails waren alle in Rot geschrie-

ben. Aber das konnten Sie natürlich nicht wissen, weil Sie ihre Informationen über Cyrano aus Fran-cine Whites Fallnotizen bezogen – oder etwa nicht? Und da die Notizen im Textformat gespei-chert waren, sah man nicht, in welcher Farbe die E-Mails ursprünglich verfasst waren.“

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Ich blieb dicht neben India. Vor etlichen kleine-ren Aquarien, eines davon die Heimstatt eines Pi-ranha-Schwarms, war sie auf einen Kasten aus Ei-chenholz gestoßen. Darauf stand eine Büste von Jacques Cousteau, durch den das Institut weltbe-rühmt geworden war. Wir versuchten, die Büste herunterzuheben, sie war jedoch verschraubt, um selbst dem skrupellosesten Touristen einen Strich durch die Rechnung zu machen.

Von dem Gerüst unter uns kam wieder das leise unheimliche Flüstern. „Faszinierend“, sagte Dr. Hopper.

Ich hatte dagegen angekämpft, aber jetzt schnürte mir die Angst doch allmählich die Kehle zu. India spürte es und ergriff die Initiative. „Wir müssen Ih-nen eine Eins für Ihre Entschlossenheit geben, Doc“, erklärte sie. „Eine Woche früher nach Monaco zu kommen, um die Videobänder auszutauschen – das war ein cleverer Schachzug. Zu schade, dass es bei jenem ersten Besuch wie aus Kübeln goss. Auf so was muss man achten, wenn man derartige Pläne hat.“

Hopper gab ein Knurren von sich. Durch das Gitterwerk konnten wir sehen, wie er sich einem Schaukasten mit Eskimo-Harpunen und der ent-sprechenden Ausrüstung zum Enthäuten von Tie-ren näherte.

„Und dann ist da noch der Typ bei Bergdorfs“, sagte India. „Er wird bezeugen, dass Sie den Ter-

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min für Ihre Frau vereinbart haben und viel größe-res Interesse daran hatten, dass sie ihre Haare rot färbte, als Ihre Frau selbst. Der Friseur kann das bestätigen …“

Von unten ertönte Gelächter. Es klang nicht rau oder böse, eher ein bisschen belustigt. Doch gleich-zeitig griff Hopper nach einer der Harpunen.

„Ich kann eure Detektivarbeit nur bewundern“, sagte Hopper. „Dennoch ist die Vorstellung, dass ausgerechnet ein Friseur zum Zeugen der Anklage gemacht wird, recht amüsant.“

„Warum haben Sie es getan?“, fragte ich. India und ich waren jetzt über den Punkt hinaus, an dem die Angst noch eine Rolle spielt. „War es Dr. White, die Sie überredete, Ihre Frau aus dem Weg zu räumen?“

Damit kriegte ich ihn. „Francine hatte damit nichts zu tun!“, rief er,

und ich glaubte ihm sogar. „Lasst sie da raus. Es war ganz allein meine Idee, nachdem ich viele Jah-re mit dieser selbstsüchtigen, kaltherzigen Frau zu-sammenleben musste. Sie wollte nicht in die Schei-dung einwilligen, ohne mir alles zu nehmen, was ich besitze. Sie war ein egoistisches, rasend eifer-süchtiges Miststück und hat sich nie für meine Kar-riere interessiert. Eine pathologische Egoistin und mein ärgster Feind. Alles, was ich erreicht habe, musste ich gegen sie erreichen.“

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Er starrte von einer Biegung der Rampe zu uns hoch. In der Hand hielt er immer noch die Harpu-ne. An ihrem Ende war ein etwa 30 Zentimeter langer Pfeil aus Metall befestigt, der aussah wie ein selbst gebasteltes Schlachtermesser.

„Und Geneviève Blanc?“, stieß India hervor. „Weswegen hatte sie den Tod verdient?“

Ein seltsam starres Lächeln lag auf Hoppers Lip-pen, als habe er Schmerzen oder als wolle er schrei-en. „Jammerschade um sie“, sagte er. „Sie starb für die Sache. Ich brauchte ein Opfer, um meine Spu-ren zu verwischen – um das Ganze wie eine Tat Cyranos aussehen zu lassen. Sie hatte zufällig das gleiche rote Haar wie Harriet. Eine leichte, un-scheinbare Beute.“

„Sie haben eine völlig Fremde getötet“, sagte ich. „Kaltblütig, ohne jedes Gefühl. Hey, India, werden Mörder in Frankreich eigentlich noch mit der Guillotine hingerichtet?“

„Macht euch darüber keine Gedanken“, sagte Hopper. „Ich werde nicht ins Gefängnis gehen. Mich wird niemand verhaften. Nicht einmal wenn ihr – wie ihr behauptet – mit euren so genannten Beweisen bereits zur Polizei gegangen seid. Aus dem einfachen Grund, dass ich mich nicht erwi-schen lasse.“

Er stürzte zur Treppe, und wir rannten in die entgegengesetzte Richtung, um so viel Abstand zu

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ihm zu gewinnen wie möglich. „Wir müssen un-bedingt aus diesem Mausoleum raus!“, rief India mir zu.

Nach kurzer Zeit erreichten wir eine Treppe, die jedoch in der zweiten Etage in eine Sackgasse führte. Wir gelangten in eine weitere große Halle, wo riesige ausgestopfte Killer- und Buckelwale an Drähten von der Decke herabhingen.

Wir schlichen an der Wand entlang und kamen an mehreren kleinen Podesten von etwa drei Me-tern Höhe vorbei, zu denen Metallstufen hinauf-führten. Auf den Podesten waren verschiedene Tauchgeräte ausgestellt: Einige Tauchbretter und Tauchkugeln von Cousteaus frühen Expeditionen. Die Tauchkugeln waren Stahlbehälter mit Bullau-gen aus verstärktem Glas und massiven Einstiegslu-ken. Es handelte sich um die ersten Tauchgeräte, die den Menschen einen Eindruck vom Leben am Grund des Ozeans vermittelt hatten.

Am anderen Ende der Halle fanden sich ein paar Türen, die aber von außen verriegelt waren. „Komm schnell, Quentin!“, flüsterte India heiser. „Wir müssen zurück!“

Wir befanden uns in der Mitte der Halle, als laute Schritte zu hören waren. Hoppers Umriss zeichnete sich vor dem blauen Licht des Aquariums ab. Er hielt in der Dunkelheit nach uns Ausschau.

Ich zeigte auf eine der Tauchkugeln. India ver-

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stand, und leise erklommen wir die Metallstufen. Durch die offene Luke kletterten wir ins Innere der Tauchkugel, dann zogen wir die Tür bis auf einen kleinen Spalt hinter uns zu. Wir hofften, dass Hop-per uns nicht gesehen hatte. Vielleicht würde er denken, dass der Saal verlassen war, und woanders nach uns suchen.

In der engen Tauchkugel war es so dunkel, dass ich von India nur das Weiße ihrer Augen sehen konnte. Ich spürte, wie sie zitterte, und hörte ihren Atem.

Und plötzlich – rums! Die kleine Tür knallte zu. Von außen wurde das

rostige Metall so fest verschraubt, dass es quietschte. Durch die verriegelte Tür hörten wir Dr. Hoppers Furcht einflößendes Gelächter. Ich spähte durch das einzige Bullauge der Kugel und schrak zurück. Von der anderen Seite schauten die Augen eines Wahnsinnigen zu uns herein.

Er griff nach einem der Schläuche, die außen an der Kugel befestigt waren, und setzte ihn an den Mund. Wir hörten das unheimliche Echo seiner Stimme, als er hineinsprach. „War schön, euch zwei kennen zu lernen“, sagte er. „Tut mir Leid, dass ich nicht länger bleiben kann, aber das ist eure eigene Schuld. Für den Fall, dass ihr tatsächlich die Polizei verständigt habt, mache ich mich jetzt aus dem Staub.“

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Es fiel mir immer schwerer zu atmen, da das bis-schen Sauerstoff in der Tauchkugel unaufhaltsam weniger wurde. India keuchte bereits. Hopper starrte uns an, fasziniert von dem Anblick, der sich ihm bot.

„Quentin …“, flüsterte India. „Was ist?“, erwiderte ich, kaum noch im Stan-

de, klar zu denken. „Wenn ich bis drei zähle, wirf dich mit aller

Kraft gegen die Tür.“ „Verstanden.“ „Eins, zwei, drei!“ Wir warfen uns gegen die

Luke der Tauchkugel. Durch das Fenster sah ich Hopper zusammenzucken. Seine Augen weiteten sich, als er begriff, was geschah, aber es war zu spät. Die große Metallkugel schaukelte, und nach einem zweiten Stoß setzte sie sich in Bewegung. Wir roll-ten über das Podest, dann fielen wir herunter. Ich stieß hart mit dem Kopf gegen die Metallwand der Tauchglocke, und India landete auf meiner Brust, sodass ich das Gefühl hatte, ersticken zu müssen.

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Ein älterer Herr

Ich hatte gespürt, wie die Kugel von den Stufen abprallte, und durch das Bullauge sah ich, wie sie das Geländer des Podestes durchbrach – es war, als bli-cke man mitten im Schleudergang aus einer Waschmaschine. Ich war schon ein paarmal in mei-nem Leben kurz davor gewesen, das Bewusstsein zu verlieren, und mir kam es jedes Mal vor, als sitze ein Elefant auf mir und ich müsse sterben. Ich versuchte zu atmen, bekam aber sekundenlang keine Luft.

Als ich mich schließlich wieder fangen konnte, rief ich: „India!“

Sie rollte sich von mir herunter. Ich war froh, dass sie gesund und munter war. Der Sauerstoff war fast völlig verbraucht; panisch krochen wir in der entsetzlichen Todesfalle umher. Ich hämmerte mit India gemeinsam auf das kleine runde Fenster ein. Plötzlich tauchte ein Gesicht vor uns auf. Zuerst dachte ich, es wäre Hopper, der mit der Harpune auf uns wartete, um uns den Rest zu geben. Aber dann war wieder das Kratzen von Metall auf Metall zu hören.

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Die Tür öffnete sich, und wir sahen in das Ge-sicht eines rothaarigen Engels. Juliette! Sie und ihr Vater halfen uns, aus der Luke zu kriechen. „Was … was macht ihr denn hier?“, fragte ich. „Wie haben Sie uns gefunden?“

„Ihr habt uns die ganze Zeit Hinweise gegeben, ohne es zu merken“, sagte LeSeur.

Juliette streckte die Hände aus und berührte un-sere Gesichter, wie um sich zu überzeugen, dass wir unversehrt waren. „Als ich euch anrief, seid ihr auf der Rue Royale gefahren. Ich brauchte kein Genie zu sein, um zwei und zwei zusammenzuzäh-len.“

Die ganze Halle war in das blinkende Licht der draußen wartenden Streifenwagen getaucht. Überall waren die Stimmen aus dem Polizeifunk zu hören. Sie waren wie Musik für unsere Ohren. Mehrere Polizisten rollten die Tauchkugel zur Sei-te, während zwei andere Beamte den ächzenden Dr. Hopper aus dem Spalt zwischen der Kugel und dem Sockel eines Schaukastens mit präparierten Fischen zogen.

„Mein Bein … mein Bein …“, stöhnte Hopper. „Dr. Hopper – er ist …“ „Ja, wir wissen Bescheid. Dank euch“, sagte Ju-

liette. „Er ist der Mörder seiner Frau und Gene-viève Blancs.“

„Und dank euch beiden hat er sich das Bein ge-

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brochen“, sagte LeSeur zu uns, während er Hopper Handschellen anlegte. Der wimmernde Hopper wurde auf eine Bahre gehoben und unter den wachsamen Blicken einer ganzen Halle voll toter, ausgestopfter Fische nach draußen getragen.

Ich versuchte aufzustehen, doch sofort begann sich alles zu drehen. „Vorsichtig, Quentin“, sagte Juliette warnend. „Du hast eine schlimme Beule. Du wirst eine Weile ausspannen und die Füße in die Luft legen müssen.“

Ich musste über diesen sprachlichen Schnitzer lä-cheln, obwohl mein Kopf dröhnte. Mit ein wenig Unterstützung von Inspektor LeSeur stand India auf.

„Ihr seid Helden, ihr alle drei!“, rief er. Dann klatschten er und mehrere der anderen Beamten India, mir und Juliette zu Ehren in die Hände und stampften mit den Füßen. Wir mussten lachen.

„Ich hab wirklich gedacht, dass wir in dem Ding unser Leben beschließen“, sagte India und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

„Ihr seid jetzt in Sicherheit“, erklärte LeSeur. „Und es ist euer Verdienst, dass jetzt auch Monaco und ganz Frankreich sicher sind vor Cyrano und seinen Nachahmern.“

Wir kamen erst um drei Uhr ins Bett, und obwohl wir normalerweise Frühaufsteher sind, wachten wir am kommenden Morgen nicht vor halb elf auf.

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Wir hätten sogar noch länger geschlafen, hätte In-dias Vater uns nicht geweckt, um uns zu sagen, dass Juliette da war.

„Hopper ist im Krankenhaus – unter polizeili-cher Aufsicht“, teilte sie uns mit. „Sobald es ihm besser geht, wird er ins Gefängnis überstellt. Ich glaube nicht, dass er je wieder rauskommt.“

„Das will ich auch nicht hoffen!“, sagte India. „Das Leben ist hart genug, auch ohne dass so ein Killer wie er frei herumläuft.“

Juliette hatte noch weitere Neuigkeiten. „Man hat Tomas Milano in Portofino geschnappt! Die italienischen Carabinieri überführen ihn hierher. Ich glaube, er wird ebenfalls für lange Zeit aus dem Verkehr gezogen. In den französischen Gefängnis-sen geht es nicht so locker zu wie in den amerika-nischen. Keine Gourmetköche. Kein Fernsehen. Keine Stereoanlagen.“

Dr. Riggs betrat den Salon. Er zog einen riesi-gen Koffer hinter sich her. „Tja, ich bin jedenfalls für die Heimreise gerüstet. Und was ist mit euch beiden?“

„Aber Dad!“, sagte India. „Ich dachte, wir müs-sen erst heute Nachmittag los!“

„Ich will ja bloß vermeiden, dass wir das Flug-zeug verpassen.“

„Uns bleibt also noch ein bisschen Zeit, um mit Juliette zusammen zu sein?“

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„Klar“, erwiderte er. „Solange ihr nicht Wasser-ski fahren oder eine Segeltour machen wollt. Da hast du aber ’ne tolle Beule am Kopf, Quentin.“

„Ein Andenken an Monaco“, witzelte ich. „Ich möchte mir das Ozeanographische Institut

nochmal richtig angucken“, sagte India. „Die Aquarien mit den Piranhas und den Haien waren super!“

„In Ordnung“, sagte ich. „Solange wir den Tauchkugeln aus dem Weg gehen und uns strikt an die Aquarien halten.“

Nachmittags um halb sechs, nachdem wir den Tag mit Juliette verbracht hatten, waren wir reise-fertig. Wir fuhren nach unten ins Foyer, damit In-dias Dad uns auschecken konnte. Als wir aus dem Aufzug traten, warteten dort etwa 200 Menschen auf uns. Blitzlichter flammten auf. Alle jubelten India, Juliette und mir zu. Da waren Fotografen, Inspektor LeSeur und ein Dutzend Polizisten, eine Abordnung der Konferenzteilnehmer und jede Menge Personal und andere Gäste. Und ganz nor-male Monegassen waren auch vertreten.

Ich wusste aus dem Führer, dass im Foyer des Hotels oft Konzerte und öffentliche Ehrungen stattfinden. Zu Lebzeiten von Fürstin Gracia ver-anstaltete diese sogar Gedichtlesungen für die Gäste drüben vor den Türen zum Kasino, in der Nähe der Ständer mit den Postkarten der Fürstenfamilie.

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Man sollte der Fürstin oder dem Konzert lauschen und danach haufenweise Postkarten erstehen. Ein bisschen merkwürdig, aber auch eine nette Idee und zudem ein Stück monegassische Kultur.

Der Geschäftsführer des Hotels kam uns dreien entgegen und führte uns zu einem Mikrofon, wo ein tadellos gekleideter älterer Herr, der mir von den Postkarten irgendwie bekannt vorkam, auf uns wartete. Er schüttelte uns die Hand und küsste uns auf beide Wangen. Es war ein bisschen so, als gin-gen wir in der Weihnachtszeit in das beste Kauf-haus von New York, um einem hochklassigen Weihnachtsmann unsere Wünsche vorzutragen.

„Ich möchte euch gratulieren“, sagte der elegan-te ältere Herr. „Ihr seid uns hier in Monaco stets willkommen. Die Monegassen werden euch ewig dankbar dafür sein, dass ihr mit dem Mut und der Klugheit eurer Jugend der Schreckensherrschaft Cyranos in Paris und den entsetzlichen Morden hier an der Riviera ein Ende bereitet habt. Ihr drei seid für uns alle ein Vorbild. Mit tief empfundener Bewunderung überreiche ich euch daher im Na-men meines Landes die Schlüssel zu unserem Fürs-tentum.“

Ein Assistent trat mit einem Kissen aus schwar-zem Satin vor, auf dem drei silberne Medaillen, so groß wie Unterteller, lagen. Er hängte jedem von uns eine um den Hals, so, als hätten wir gerade

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einen enorm wichtigen Staffellauf bei den Olympi-schen Spielen gewonnen.

Der ältere Herr gab uns erneut Wangenküs-schen, und wieder hörten wir die Explosionen der Blitzlichter und die Auslöser der Fotoapparate. Es klang wie ein Haufen außer Kontrolle geratener Geigerzähler. Alles klatschte.

Bevor Fürst Rainier mit seinen Assistenten und Leibwächtern das Hotel verließ, verabschiedete er sich von uns mit den Worten: „Ich sage nicht Le-bewohl, sondern nur au revoir. Wir sehen euch hof-fentlich wieder, und dann werdet ihr mit mir und meiner Familie im Palais dinieren.“ Während er uns noch einmal zuwinkte, verschwand er durch die Tür zu einer Limousine, die aussah wie der gepanzerte Mercedes des Papstes.

Eiswürfel hätten nicht cooler sein können als wir. Würdevoll traten wir mit Dr. Riggs, LeSeur und zwei Pagen in den Aufzug. Der Applaus der Menge war zu hören, bis die goldenen Türen sich hinter uns schlossen. India, Juliette und ich umarm-ten einander und lachten albern, während wir nach oben zum Landeplatz des Helikopters fuhren. Dr. Riggs und Juliettes Vater wirkten so stolz, dass man glaubte, sie würden platzen.

Draußen auf dem Dach sahen wir, dass die Son-ne im Westen allmählich sank. Die Strahlen spie-gelten sich im Mittelmeer und gaben ihm eine so

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intensiv blaue Farbe, wie wir es noch nie gesehen hatten. Lange Schatten fielen auf die glänzenden maisgelben Hochhäuser aus Glas und Beton und die Berge mit den üppig grünen Terrassen.

„Wir werden dich nie vergessen“, sagte ich zu Juliette.

„Komm uns in New York besuchen“, sagte In-dia. „Du kannst so lange bei uns wohnen, wie du willst.“

„Ja, genau“, schloss ich mich an. „Ah, oui. Mach ich sehr gern“, erwiderte Juliet-

te. Sie drückte India einen Umschlag in die Hand,

als wir uns ein letztes Mal umarmten. „Bitte lest das im Flugzeug“, sagte Juliette. „Hoffentlich findet ihr es lustig.“

Die Rotorblätter des Helikopters begannen, sich zu drehen, und man konnte nichts mehr verstehen. Wir verabschiedeten uns von Inspektor LeSeur. Offen gestanden hatten wir nicht die geringste Lust, nach Hause zu fliegen und wieder die Schul-bank zu drücken.

„Kommt“, sagte Dr. Riggs und führte India und mich über die Rampe in den großen Passagierhub-schrauber. Bald waren wir angeschnallt und wink-ten wie verrückt Juliette und ihrem Dad, als der Helikopter auch schon abhob. Wir winkten, bis der Pilot abdrehte und der Helikopter wie eine

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überdimensionale rot-schwarze Wespe in Richtung Nizza brummte.

„Tja, wieder mal einen Fall gelöst“, rief ich ge-gen den Lärm der Motoren. „Herzlichen Glück-wunsch, Partnerin.“

India schüttelte mir die Hand. Wir hatten be-schlossen, Juliettes Brief erst an Bord unseres 757-Jets am Flughafen von Nizza zu lesen. India riss den Umschlag mit einem ihrer langen, grün lackierten Nägel auf. Wir lasen gemeinsam und lachten, bis wir Nizza schon weit hinter uns gelassen hatten. In dem Brief stand:

Es gab einen Typ, der hieß Quentin. Viel zu schlau für Hopper, ihr kennt ihn. Quentin sah rot, India half ihm in der Not – Und Hopper, na ja, der ist jetzt hin.

Bereits in der Highschool begann Paul Zindel, kleine Geschichten und Theaterstücke zu schreiben. Trotzdem arbeitete er nach dem Studium zuerst einige Jahre als Chemielehrer, bevor er sein Hobby zum Beruf machte. In der Zwischenzeit ist er einer der erfolgreichsten Kin-der- und Jugendbuchautoren Amerikas und wurde un-ter anderem mit dem renommierten Pulitzer-Preis aus-gezeichnet. Paul Zindel lebt mit seiner Familie in New Jersey.