Zindel, Paul - die detektive - 04 - Rache ist nicht wirklich süß

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Paul Zindel Rache ist nicht wirklich süß die detektive #4 s&c 07/2008 Im New Yorker Zoo ereignet sich ein Unfall. Der bekannte Zoologe Dr. Ivan wird von einem Jaguar lebensgefährlich verletzt. Doch was zunächst wie eine unglückliche Verket- tung von Zufällen erscheint, entpuppt sich als perfekt einge- fädelter Mord. Quentin und India recherchieren vor Ort und wissen bald mehr, als gut für sie ist … ISBN: 3-7855-4418-9 Original: Hawke mysteries #4: The Lethal Gorilla Aus dem Amerikanischen übersetzt von Simone Wiemken Verlag: Loewe Erscheinungsjahr: 2002 Umschlaggestaltung: Silvia Christoph & Andreas Henze Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Paul Zindel

Rache ist nicht wirklich

süß die detektive #4

s&c 07/2008

Im New Yorker Zoo ereignet sich ein Unfall. Der bekannte Zoologe Dr. Ivan wird von einem Jaguar lebensgefährlich verletzt. Doch was zunächst wie eine unglückliche Verket-tung von Zufällen erscheint, entpuppt sich als perfekt einge-fädelter Mord. Quentin und India recherchieren vor Ort und wissen bald mehr, als gut für sie ist …

ISBN: 3-7855-4418-9 Original: Hawke mysteries #4: The Lethal Gorilla

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Simone Wiemken Verlag: Loewe

Erscheinungsjahr: 2002 Umschlaggestaltung: Silvia Christoph & Andreas Henze

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Paul Zindel

Rache ist nicht wirklich süß

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Simone Wiemken

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Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme Zindel, Paul:

Rache ist nicht wirklich süß / Paul Zindel. Aus dem Amerikan. übers, von Simone Wiemken.

-1. Aufl.. – Bindlach: Loewe, 2002

(Die Detektive) Einheitssacht.: The lethal gorilla ‚dt.‘

ISBN 3-7855-4418-9

Der Umwelt zuliebe ist dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.

ISBN 3-7855-4418-9 – 1. Auflage 2002 ©2001 by Paul Zindel

Die Originalausgabe ist in den USA und Kanada bei Hyperion unter dem Titel P.C. Hawke mysteries #4: The Lethal Gorilla erschienen.

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung von Hyperion. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Simone Wiemken.

© für die deutsche Ausgabe 2002 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Umschlagillustration: Silvia Christoph

Umschlaggestaltung: Andreas Henze Gesamtherstellung: GGP Media, Pößneck

Printed in Germany

www.loewe-verlag.de

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Inhalt

In bester Absicht .......................... 7 Ein halber Liter Tod .................. 16 Erste Verdächtige ....................... 29 Von Affen umgeben ................... 41 Gargantua, der Affenmann ......... 53 Zu viele Hinweise ...................... 67 Begegnung mit einem Monster .. 78 Spurensuche im Internet ............ 94 Die Bestie im Tunnel ............... 103 Affentheater bei Kerzenlicht ..... 114 Der Feuerteufel ........................ 126 Gejagt ...................................... 137 Beweisführung ......................... 147 Das Team fliegt auf .................. 156

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Aus den Akten des Schreckens von Quentin Marlon:

Rache ist nicht wirklich süß Fall #4

FALL #4 BEGANN UNGEFÄHR SO:

Am Samstag, dem 17. Oktober, um genau 9 Uhr 08 wurde Indias Mutter, Mrs Kim Riggs, Gerichtsmedizinerin von New York, darüber informiert, dass im Bronx Zoo jemand an den Folgen eines Jaguar-Angriffs ge-storben war. India, meine beste Freundin und Detektiv-Partnerin, rief an und fragte, ob ich mitkom-men und mir den Ort des Geschehens ansehen wollte. Ich sagte natürlich zu. Schließlich war ich schon immer der Meinung, dass New York ein Dschungel ist – den echten Dschun-gel konnte ich mir da nicht entge-hen lassen. Erst als wir im Lei-chenwagen der Gerichtsmedizin saßen und den West Side Highway hinauf-fuhren, rückte Mrs Riggs damit he-raus, dass es sich bei dem Opfer des Anschlags um Allen handelte. Er war ständiger Gast in den bekannten Abend-Talkshows gewesen und hatte sich bei den Talkmastern angebie-dert. Ihr wisst schon, er war einer von diesen Leuten, die ein niedli-

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ches Gorillababy oder einen Schim-pansen mitbringen, damit irgendwel-che Stars ihnen Bananen oder ein Fläschchen geben können. Im Gegen-satz zu anderen Zoologen schien er aber mit den Tieren nicht besonders gut zurechtzukommen – er war immer zu sehr damit beschäftigt, sich bei den Gastgebern der Shows einzu-schleimen.

Als wir zum Zoo fuhren, ahnten weder India noch ich, dass wir schon bald bis zum Hals im gefähr-lichsten Fall unserer detektivi-schen Laufbahn stecken würden. Oder dass India und ich binnen kurzem um unser Leben rennen würden, verfolgt vom wildesten aller Tiere – dem Menschen. New York ist tatsächlich ein Dschungel, das kann ich euch sagen.

Wie immer ist dies die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, euer Quentin Marlon

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In bester Absicht

Viertel nach neun wartete ich schon vor unserem Apartmenthaus, als der Wagen der Gerichtsmedizin vorfuhr – was unseren dominikanischen Pförtner Miguel immer unglaublich aufregt, weil er behaup-tet, dass sich in dem Wagen die Geister der frisch Verstorbenen herumtreiben. Davon abgesehen kann man mit Miguel aber gut über Dinge wie Voodoo, Hellseherei und anderen Hokuspokus lästern. Er hielt mir die Beifahrertür auf, und ich setzte mich neben India und ihre Mutter. Der Wa-gen roch sehr angenehm, weil Mrs Riggs ihn im-mer mit Duftöl aussprüht, wenn sie zuvor eine schon etwas mitgenommene Leiche transportieren musste. Die letzte war eine Wasserleiche gewesen, die man am Vorabend aus dem Hudson River ge-fischt hatte.

„Hi“, sagte ich. „Hi“, sagte India. Ihre Mutter rückte den un-

förmigen grauen Herrenhut zurecht, den sie immer trug, fuhr mit quietschenden Reifen an und don-nerte die 63. Straße hinunter. India hatte ihre blonde Mähne mit einem schwarzen Plastikband 7

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zusammengebunden und trug eine futuristische Sonnenbrille. Schon die Art, wie sie aus dem Fens-ter starrte, verriet mir, dass sie immer noch sauer war wegen des Experiments, das wir gestern in Mrs Kennys Chemiestunde vorgeführt hatten.

„He, India“, sagte ich. „Es war nicht meine Schuld, dass das Experiment schief gelaufen ist.“

„Doch, das war es“, fauchte sie. „Fangt nicht schon wieder an“, sagte Mrs Riggs

und stellte das Autoradio an, als wir auf Höhe der 79. Straße in den West Side Highway einbogen. Zu unserer Rechten war man auf einer riesigen Baustelle damit beschäftigt, die Grundpfeiler für irgendein Hochhaus in den Boden zu rammen. Bei dem ohrenbetäubenden Bam Bam Bam und den Verkehrsberichten im Radio, die ein Reporter von einem Hubschrauber aus in rasendem Tempo he-runterratterte, wurde mir bewusst, dass ich leichte Kopfschmerzen hatte.

India ist meine beste Freundin, aber das bedeu-tet nicht, dass zwischen uns nicht manchmal die Fetzen fliegen. Meistens geht es darum, wer die Hosen anhat. Natürlich nur im übertragenen Sinn, denn India trägt fast immer Röcke – und zwar kur-ze. (Heute war es ein silbernes Teil, das sie in ei-nem Secondhand-Laden aufgetrieben hatte.) Es geht darum, wer in unserer Freundschaft die Hosen anhat.

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Unser Streit am Tag zuvor in der Westside School hatte sich daran entzündet, wie wir die Vorbereitungen für unser Experiment aufteilen sollten. Wir wollten die Spektroskopie anschaulich machen, indem wir Strom durch eine Gewürzgur-ke jagten. Von anderen, die schon an Mrs Kennys Chemiekurs teilgenommen hatten, wussten wir, dass sie auf dieses Experiment voll abfährt und je-dem eine Eins gibt, der auf die Idee kommt, es durchzuführen. Dabei soll bewiesen werden, dass die Natrium-Atome in der Gurke ein gelbes Licht aussenden, wenn elektrischer Strom durch sie hin-durchfließt.

India hatte darauf bestanden, die technische Vor-bereitung des Experiments zu übernehmen, zwei Nägel in ein Brett zu schlagen, Kabel und Stecker von einer alten Lampe abzuschneiden und die En-den des Kabels um die Drähte zu wickeln. „Und du kaufst die Gurke“, hatte sie gesagt. „Ich habe es satt, immer das Hausmütterchen zu spielen.“

„Okay“, hatte ich erwidert. „Kein Problem. Ich wasche meine eigene Wäsche. Ich kann kochen. Und ich bin keiner von diesen Männern, die sich bedienen lassen.“

Ich ging in ein Feinkostgeschäft und kaufte eine dicke, fette Gurke. Für unser Experiment nahm ich allerdings eine kleine Veränderung vor: Mithilfe eines dünnen Messers und eines Metallröhrchens

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durchbohrte ich sie der Länge nach. Ich dachte, dann könnte der Strom besser fließen und die De-monstration würde noch eindrucksvoller. Ich konnte ja nicht ahnen, dass genau diese technische Änderung Ursache für die Katastrophe war, zu der es schließlich kommen sollte.

„He, seht mal“, hatte Nicole Filipowitz, ein Mädchen mit einem Gesicht wie ein Pekinesen-hündchen, gekreischt, als wir im Chemieraum mit unserer Demonstration begannen, „jetzt grillen sie eine Gurke!“

Nicole ist nur eines von den Westside-Kids, die neidisch auf meinen und Indias Ruf als quasi pro-fessionelle Detektive sind. „Ich wette, jetzt schnappt ihr euch jeden Killer und röstet ihn so lange, bis er ein Geständnis ausspuckt“, fügte Nico-le hinzu. „Da habt ihr mit eurem Experiment ja gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen!“

Als India den Stecker in die Dose steckte, mach-te sie ein Gesicht, als hätte sie Nicole am liebsten ein paar geknallt. Ein paar Sekunden lang war dann auch ein tadelloses gelbes Glühen zu sehen. Natür-lich fing die Gurke auch ein wenig an zu brennen und stank wie eine Mischung aus einem im Kühl-schrank vergessenen Gorgonzola und einer Räu-cherkerze.

Die Hälfte unserer Mitschüler begann zu wür-gen.

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Nicole kreischte vor Freude und sprang mit zu-gehaltener Nase auf und ab. Der Gestank ließ alle bis an die hintere Wand zurückweichen, und so waren es nur India, Mrs Kenny und ich, die von heißem Gurkenfleisch getroffen wurden, als das verdammte Ding schließlich explodierte.

„Was glaubst du, wie peinlich mir das war!“, fauchte India, während ihre Mutter nach rechts auf die Cross-Bronx-Schnellstraße abbog. „Von Mrs Kennys Gesicht triefte der Gurkenmatsch! Wir hatten das eklige Zeug im Haar! Und in der Nase! Kein Wunder, dass wir dafür eine Sechs gekriegt haben! Ich kann immer noch Nicoles blödes La-chen hören. Am liebsten würde ich sie unter Strom setzen!“

Das Autotelefon klingelte, als wir uns dem Zoo näherten. Mrs Riggs stellte das Radio ab und schal-tete den Anruf auf die Freisprechanlage. Es war Dr. Perry Sagan, Zoodirektor und gleichzeitig ein guter Freund von Mrs Riggs, der schon seit einigen Jahren an ihren allwöchentlichen Poker-Abenden teilnahm.

„Gibt es etwas Neues darüber, wie Ivan angeg-riffen wurde?“, fragte Mrs Riggs Perry.

Wegen der vielen Unterführungen auf der Cross-Bronx-Schnellstraße war der Empfang aus-nehmend schlecht.

„Wie Sie wahrscheinlich wissen“, sagte Perry,

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„war Ivan auf Primaten spezialisiert und damit der Boss aller Mitarbeiter in unserem neuen Kongo-Gorilla-Wald.“

„Ich glaube, ich habe in der Times darüber gele-sen“, sagte Mrs Riggs. „Die Anlage ist so groß, dass Sie darüber ganz aus dem Häuschen waren, nicht wahr, Perry?“

„Allerdings. Immerhin sind es fast sechs Hektar mit echter afrikanischer Landschaft. Die meisten Besucher kommen, um die Gorillas zu sehen, aber wir haben dort auch Okapis, kleinere Affen und Wildschweine. Der Kongo-Gorilla-Wald war Ivans großer Traum. Er hat das Geld dafür aufgetrieben und die Werbekampagne ins Rollen gebracht. Noch begeisterter war er allerdings von dem neuen Panda-Projekt, das sich noch im Stadium der Pla-nung befindet.“

„Was genau ist passiert?“ „Wir nutzen ein großes Stück des Gorilla-Walds

für die Jaguare, solange sich deren neues Gehege noch im Bau befindet. Ivan war Diabetiker. Wahr-scheinlich hat er das Falsche gegessen oder getrun-ken und war danach einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“

Mrs Riggs drehte den Ton der Freisprechanlage lauter. Der Empfang wurde immer schlechter. „Sie glauben, dass Ivan im Raubkatzengehege einen Diabetesanfall hatte?“

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„So muss es gewesen sein“, bestätigte Perry. „Er war Narkoleptiker. Wenn er Zucker zu sich nahm – ein Stück Geburtstagstorte oder so etwas in der Art –, ist er sofort in tiefen Schlaf gefallen. Er war dann immer für eine halbe Stunde vollkommen weg und ist irgendwann wieder aufgewacht. Ich nehme an, dass er das Gehege der Jaguare inspizie-ren wollte. Die Türen der Innenkäfige sind com-putergesteuert und öffnen sich jeden Tag bei Mor-gengrauen. Vermutlich hat einer der ersten Jaguare, der nach draußen kam, Ivan angefallen und ihn lebensgefährlich verletzt. Unser Gärtner John Hen-ning hat ihn schließlich gefunden. Ivan war be-wusstlos und hatte viel Blut verloren. Wir haben ihn in unsere Krankenstation gebracht und ihm sofort eine Bluttransfusion gegeben, aber er hat es trotzdem nicht geschafft.“

Mrs Riggs entdeckte den Haupteingang des Zoos. „Wir sind da“, teilte sie Perry mit. „Ich sehe Sie dann in ein paar Minuten.“

India schob ihre Sonnenbrille hoch, bis sie oben auf dem Kopf saß. Dann versetzte sie mir einen Knuff gegen die Schulter, und ich wusste, dass sie mir die Gurkengeschichte verziehen hatte. So ist das zwischen uns. Natürlich sind wir manchmal sauer aufeinander, aber am Ende bleiben wir doch immer Freunde.

Mrs Riggs stellte den Leichenwagen ab. India

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und ich waren schon unzählige Male in diesem Zoo gewesen, meistens auf Klassenausflügen. Unse-re Lehrer lieben solche Ausflüge, weil sie uns dann an Orten wie dem New-York-Aquarium oder dem Museum für zeitgenössische Kunst abladen können, wo wir wie blöd herumlaufen, während sie den ganzen Tag Kuchen essen und Cappuccino trin-ken.

„Eins verstehe ich nicht“, murmelte ich beim Aussteigen.

„Was?“, fragte Mrs Riggs. „Dass Ivan Allen noch lebte, als man ihn fand.

Jaguare beißen ihren Opfern die Kehle durch. Sie schlagen ihre Zähne so tief in den Hals, dass das Opfer erstickt. Und sie lassen es nicht los, solange es noch lebt.“

„Aber das tun sie in freier Wildbahn“, gab India zu bedenken.

„Sie hat Recht“, sagte Mrs Riggs. „Man kann nicht vorhersehen, was Zootiere tun. In der Gefan-genschaft stumpfen ihre Instinkte ab. Ich vermute, die Jaguare werden so gut gefüttert, dass sie auf ein ausgedehntes Menschenfrühstück verzichten kön-nen.“

Auf einer Weide rechts von uns graste eine Herde Bisons mit gigantischen haarigen Köpfen. Wir gingen an einem Brunnen vorbei. Die Skulp-tur in der Mitte bestand aus einem Ring lebens-

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großer Kinder auf Seepferden. Darüber befand sich ein Gewirr aus Muscheln, aus dem sich riesige Sta-tuen von Venus und Neptun erhoben, und gekrönt wurde das Ganze von einem vergoldeten Schwan, aus dessen Schnabel das Wasser sechs Meter hoch schoss.

Eine breite Treppe führte zu einem großen Vorplatz, der von den Verwaltungsgebäuden des Zoos umgeben war. Die Gebäude waren alle sehr alt. Die ältesten und schönsten Fassaden schienen direkt aus Beeten mit Rhododendren und Farnen herauszuwachsen. Überragt wurden die Kupfer- und Ziegeldächer von riesigen Tannen und ande-ren Nadelbäumen.

Genau in der Mitte des Platzes war das Gehege der Seelöwen. Etwa ein Dutzend von ihnen tollte im Wasser, auf den künstlichen Felsen und den Rutschbahnen herum. Einer der größten bellte. Mein Blick fiel auf ein Schild am Beckenrand, auf dem stand: Alle Seelöwen spielen, weil nur ständiges Training ihr Überleben sichert.

Ungewollt drängte sich mir der Gedanke auf, dass Ivan Allen als Kind möglicherweise nicht ge-nug gespielt hatte. Hätte er es getan, wäre er jetzt vielleicht noch am Leben.

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Ein halber Liter Tod

Perry Sagan kam aus dem Verwaltungsgebäude gestürzt, um uns zu begrüßen. Er und Mrs Riggs gaben sich die Hand und plauderten über das Ver-kehrschaos am Morgen und darüber, wie schön das Wetter war. Doch dann erlosch ihr Lächeln, und sie wendeten sich einem ernsteren Thema zu.

„Ivans Tod ist ein großer Verlust für uns“, sagte Perry. „Ich bezweifle, dass wir jemanden finden, der ihn ersetzen kann.“

„Ich habe India und Quentin mitgebracht“, sag-te Mrs Riggs und deutete auf uns, als wären wir ihm noch gar nicht aufgefallen.

„Oh, ja“, sagte Perry. „Hallo, ihr beiden.“ „Hallo“, sagten India und ich gleichzeitig. Wir

hatten so viel Übung darin, irgendwelchen hohen Tieren vorgestellt zu werden, dass wir stets darauf reagierten wie ein Chor in einem Theaterstück, der genau auf sein Stichwort einsetzt.

Unsere Anwesenheit schien Perry zu überra-schen, obwohl er uns von den Poker-Abenden bei den Riggs’ recht gut kannte. Er war eigentlich ein netter Kerl. Das Einzige, was India an ihm nicht 16

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mochte, war seine Angewohnheit, sich aus der Schüssel mit den Nüssen, die Mrs Riggs immer auf den Tisch stellte, alle Pistazien herauszupicken. Darüber hinaus vergriff er sich auch ständig an meiner Leibspeise, den Peperoni-Chips. Davon abgesehen war er ein elegant aussehender Mann in den Fünfzigern, groß, mit tiefer Stimme und ma-kellos frisierten grauen Haaren, bei denen ich im-mer an bestimmte Typen aus dem Werbefernsehen denken muss – Leute, die einem Vitaminpräparate oder neuartige Zahnbürsten andrehen wollen. Au-ßerdem waren Perrys Fingernägel manikürt und farblos lackiert, was ich bei einem Mann immer ein bisschen komisch finde.

Wir folgten Perry in die Eingangshalle des Ge-bäudes und durch einen grün gefliesten Flur in die Krankenstation des Zoos. „Ivans neues Panda-Projekt wäre bestimmt eine Sensation für den Zoo geworden, nicht wahr?“, sagte Mrs Riggs. „Wenn ich richtig informiert bin, nimmt man es in China mit der Ausfuhr der Riesenpandas ziemlich genau.“

„Das stimmt“, erwiderte Perry. „Ivan hat in letzter Zeit an nichts anderes mehr gedacht. Viel-leicht war das auch der Grund für seinen Unfall – wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, kreis-ten seine Gedanken nur noch um diese eine Sache. Er hat seine diplomatischen Beziehungen spielen lassen, jahrelang mit der chinesischen Regierung

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verhandelt und ihr schließlich die Zusage abgerun-gen, uns ein Zuchtpaar zu überlassen. Das wäre das Erste der Welt gewesen! Ivan hat viel Zeit damit verbracht, Spenden für dieses Projekt zu sammeln und sich nach einem geeigneten Standort für das Gehege umzusehen. Er wollte die Pandas in der Nähe des Kongo-Komplexes unterbringen, und ich vermute, dass er sich deswegen heute Morgen im Freigehege der Jaguare aufgehalten hat.“

Perry blieb vor einem der Behandlungsräume stehen. „Die Leiche ist hier drin“, erklärte er Mrs Riggs.

„Vielleicht sollten India und Quentin draußen warten?“

„Ach, das ist nicht nötig“, sagte Mrs Riggs. „Die beiden besuchen mich oft im Leichenschau-haus. Sie haben schon mehr Tote gesehen, als Sie sich vorstellen können.“

Mrs Riggs betrat den Raum, schaltete das Licht ein und ging auf den zugedeckten Körper auf der Trage zu. Sie schlug das Leichentuch zurück und beugte sich vor.

Perry stellte sich neben sie. India und ich blie-ben respektvoll am Fußende der Trage stehen. Ivans Oberkörper war nackt und so weiß und plump wie ein Klumpen Brotteig. Es sah aus, als hielte Ivan ein Nickerchen an irgendeinem Swim-mingpool. Mrs Riggs ließ ihre Finger über die

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Bisswunden wandern, die seinen Hals umgaben wie eine dunkelrote Halskette.

Ich hörte Perry geräuschvoll einatmen. „Nach-dem ein Arzt und die Rettungssanitäter Ivan für tot erklärt hatten, habe ich dafür gesorgt, dass ihn bis zu Ihrem Eintreffen niemand anfasst“, erklärte er Mrs Riggs. „Ich habe den Arzt und die Schwester – und unseren Praktikanten – gebeten, im Labor zu warten.“

„Der für diesen Distrikt zuständige Gerichtsme-diziner und die Jungs vom Labor müssten bald hier sein“, sagte Mrs Riggs. „Ich habe sie angerufen, bevor ich losfuhr. Schließlich möchte ich nieman-dem auf die Zehen treten. Außerdem arbeiten wir gewöhnlich gut zusammen. Sobald sich die Kolle-gen aus der Bronx einen Überblick verschafft ha-ben, nehme ich die Leiche mit in unser Institut in Manhattan und beginne mit der Autopsie.“ Plötz-lich ließ sie Ivans Arm los, den sie aus der Nähe betrachtet hatte, und knetete auf der erstarrenden Haut unter dem Unterkiefer herum. Ich vermutete, dass sie seine Drüsen nach Schwellungen abtastete. „Woher kam das Blut für die Transfusion? Welche Blutgruppe hatte er?“

India und ich wussten, worauf sie mit dieser Frage hinauswollte: Eine Transfusion mit der fal-schen Blutgruppe brachte jeden um.

„Blutgruppe A“, sagte Perry. „Wir haben ihm

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sein eigenes Blut gegeben, um ganz sicher zu sein. Alle Angestellten, die in gefährlichen Bereichen arbeiten, müssen regelmäßig Blut spenden, damit wir immer wenigstens eine kleine Menge ihres eigenen Blutes vorrätig haben, falls es zu einem Unfall kommt. Jedes Jahr werden etliche Mitarbei-ter von irgendwelchen Tieren gebissen, meistens von größeren Schlangen oder Affen. Vor einigen Jahren hat einer unserer Alligatoren einem Pfleger die Hand abgebissen, aber darüber hinaus ist bisher nichts Ernsthaftes passiert.“

„Ich möchte in Ihrem Labor eine vorläufige Blutuntersuchung vornehmen“, sagte Mrs Riggs. Sie zog Ivan das Laken wieder übers Gesicht und sah uns an. „Was wollt ihr so lange tun?“

Mir war klar, dass wir im Labor nur das fünfte Rad am Wagen sein würden, also antwortete ich für uns beide. „Wir sehen uns den Kongo-Gorilla-Wald an.“

„Gut“, sagte Mrs Riggs. Als sie Perry nach draußen folgte, hatten ihre Augen diesen Ausdruck, den sie immer haben, wenn sie weiß, dass India und ich auf eigene Faust ein wenig herumschnüf-feln wollen.

Wir blieben eine Weile mit der Leiche allein. Wenn ich eine abgedeckte Leiche sehe, stelle ich mir immer vor, dass sie sich plötzlich aufsetzt und etwas ruft wie „Reingefallen!“ oder „Hi, Leute, ich

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bin ein Zombie“. Dazu kam noch, dass ich mich nur schwer an

den Gedanken gewöhnen konnte, dass Ivan tat-sächlich tot war. Genauso geht es mir mit Leuten wie Elvis oder Lady Di. Irgendwie glaubt man im-mer, dass Promis, die so viel Kohle haben, es doch schaffen müssten, dem Tod von der Schippe zu hüpfen.

Ein paar Mal hatte ich Ivan mit einem seiner Go-rilla- oder Pavianbabys im Fernsehen gesehen, und jedes Mal waren mir dabei eisige Schauder über den Rücken gelaufen. Mich haben Affen schon immer fasziniert – obwohl zu Tode geängstigt der Wahrheit wohl näher kommt. Seit ich Edgar Allan Poes Dop-pelmord in der Rue Morgue gelesen habe, bin ich fest davon überzeugt, dass mich eines Tages ein Gorilla oder ein Orang-Utan umbringen und meine Leiche in einen Schornstein stopfen wird, wie es der Frau in dieser Erzählung passiert ist.

India untersuchte einen Safarianzug, den jemand auf einen Metallstuhl in einer Ecke geworfen hatte. „Das müssen Ivans Klamotten sein“, sagte sie.

„Wahrscheinlich“, bestätigte ich. „Im Fernsehen hat er immer so etwas getragen – maßgeschneiderte Safarianzüge, komplett mit Tropenhelm.“

„Was ist denn das hier?“, fragte India und be-trachtete die bernsteinfarbenen, schmierigen Fle-cken, die Ivans Anzug bedeckten. „Es sieht aus wie

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das Zeug, das auf Autos klebt, wenn man unter dem falschen Baum geparkt hat.“

Ich sah mir die Flecken an. „Du hast Recht“, sagte ich. „Das sieht aus wie Pflanzensaft. Aber den sondern die Pflanzen im Frühling ab, nicht im Ok-tober.“

Da nicht damit zu rechnen war, dass Ivan Allen plötzlich aufsprang und uns erzählte, wie alles pas-siert war, verließen wir den Behandlungsraum und gelangten durch den Haupteingang wieder ins Freie. Ein Stück hinter dem Seelöwengehege stand ein Pfosten mit Wegweisern zu allen anderen Ge-hegen und Freiflächen. Unter dem Pfeil für den Kongo-Gorilla-Wald hing eine Scherz-Anzeige eines Gorillas, zweifellos von Ivan verfasst: Kräftiger Silberrücken sucht Partnerin für intensive Beziehung; Kinder erwünscht. Ich: 1,50 Meter groß; 350 Kilo schwer; dominanter Mann; Vegetarier; Du: feminin, fruchtbar und großfamilientauglich.

Den vegetarischen Teil glaubte ich nicht so recht, denn ich hatte schon von mehreren Gorillas gehört, die auch Hackfleisch fraßen. Von einem hatte ich gelesen, den eine alte Frau in einem Bungalow in Houston in einem lächerlichen Käfig aus Hühner-draht hielt und der mit Vorliebe Steaks und Kalbs-schnitzel mit Parmesan zu sich nahm. Ausnahmen bestätigen also die Regel, kann ich nur sagen.

India und ich folgten dem Weg quer durch den

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Zoo und nahmen die Abkürzung durch das Elefan-ten- und Nashornhaus. Da drinnen stank es zum Himmel, aber in den Stallungen gab es eine Menge neuer Hinweisschilder und Erläuterungen. Sachen, die mich interessieren, lese ich nicht nur einmal, sondern wiederhole sie in meinem Kopf so oft, bis ich sie nicht mehr vergesse. Zum Beispiel: „Elefan-ten leben in Herden. Sie halten durch Laute und Berührungen ständig Kontakt miteinander. Ange-führt von der ältesten und größten Kuh bildet jede Herde eine komplexe Gemeinschaft.“ Das sind dann Dinge, die mir wochenlang nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Seit unserem letzten Klassenausflug waren viele der Gehege modernisiert worden. Im Elefanten-haus hingen jetzt Unmengen von Bildern, die Wil-derer mit abgeschlachteten Elefanten zeigten. Au-ßerdem konnte man sich grausige Videos und Fo-tos von toten Elefanten ansehen, denen man die Stoßzähne herausgemeißelt hatte.

„Das ist so barbarisch“, sagte India. „Ich könnte mich übergeben, wenn ich das sehe.“

„Ich auch“, sagte ich. „Und dabei wurden frü-her auch bei uns Klaviertasten aus Elfenbein ge-macht.“

Wir gingen am Wolfsgehege vorbei, an einer Erste-Hilfe-Station und am Café Zum Tanzenden Kranich.

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Die meisten Verkaufsstände, die den Weg säum-ten, waren geschlossen, aber der große Souvenirla-den hatte geöffnet. Er war voll gestopft mit zebra-farbenen Regalen, Stühlen in Löwenform, afrikani-schen Rattanhockern und ziemlich scheußlichen Plüschtieren. Das Nachthaus, in dem Vampirfle-dermäuse und anderes nachtaktives Viehzeug un-tergebracht waren, stand etwas weiter auf einem kleinen Hügel und sah aus wie das Haus in dem Hitchcock-Film Psycho. An dieser Stelle bog der Hauptweg scharf nach rechts ab.

Kaum 100 Meter weiter standen India und ich vor dem Eingang zum Kongo-Gorilla-Wald und starrten gebannt auf dieses Produkt von Ivan Allens Fantasie. Wir wussten, dass dies sein Projekt gewe-sen war und dass er es sich ausgedacht hatte, dieses Stück Dschungel, das da vor uns lag. Ein Dickicht aus Bambus und Schlingpflanzen verdeckte den hohen Metallzaun, der das ganze Areal umgab. Über die teils echten, teils künstlichen Felsen erhob sich ein Wald aus Mangroven, Balsabäumen und Akazien, tausende von Stämmen, die über 30 Me-ter hoch waren. Durch das Blätterdach dieses Ur-walds drang kaum ein Sonnenstrahl.

Der Haupteingang bestand aus zwei riesigen, ge-schlossenen Holztoren, die wie das weit aufgerisse-ne Maul einer Viper geformt waren und massiv genug aussahen, um sogar King Kong oder den

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Minotaurus aufzuhalten. Alles wirkte irgendwie düster und unheimlich. Gerade, als ich tief Luft holte, ertönte Motorengeräusch.

India und ich sahen nach oben und entdeckten einen Mann, der wie ein Astronaut aus dem Blät-terdach auf uns zugeschwebt kam.

„Hä?“, sagte ich. „Was ist denn das?“, sagte India. Es dauerte einen Moment, bis wir begriffen, dass

der vermeintliche Astronaut in einer Art Drahtkorb am Ende eines langen hydraulischen Arms stand, der sich zusammenschieben ließ wie eine Angelru-te. Der Arm endete auf der Ladefläche eines Last-wagens.

Wir sahen zu, wie der Mann diverse Hebel be-diente, um den Korb aus dem Dschungel zu steuern. Er schien etwa 60 Jahre alt zu sein und trug eine Zoo-Uniform. Sein Gesicht sah aus wie ein zerknitterter rosafarbener Leinenanzug. Als er noch rund fünf Meter von uns entfernt war, fiel mir auf, dass der Korb, in dem er stand, mit densel-ben bernsteinfarbenen Flecken übersät war, die wir auch auf Ivan Allens Kleidung gesehen hatten – und sonst nirgendwo im ganzen Zoo.

„Der Kongo öffnet erst in einer Stunde“, sagte der Mann. Auf seinem Namensschild stand: Hen-ning. Er sah aus, als hätte er schwer gearbeitet, denn sein Hemd war durchgeschwitzt, und ein Knopf

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fehlte. Er lächelte; wahrscheinlich hielt er uns für normale Zoobesucher.

„Können wir dann die Gorillas sehen?“, fragte India. Sie hatte das Haarband abgestreift und schüt-telte ihre Haare nach hinten. Das tut sie immer, wenn sie jemanden freundlich stimmen will. „Ich liebe Gorillas.“

„Klar“, sagte der Gärtner. „Und was ist mit den Jaguaren?“, fragte ich. „Die nicht“, sagte er. Das Lächeln verschwand,

aber er wirkte immer noch freundlich. „Wir arbei-ten an ihrem Graben. Vielleicht könnt ihr sie heute Abend noch sehen, spätestens aber morgen.“

Er griff wieder nach den Hebeln und steuerte den Korb von uns weg in Richtung Lastwagen. India und ich rannten ihm nach. „Was sind das für Flecken auf Ihrem Korb?“, rief ich, um das Brum-men des Motors zu übertönen. „Es sieht aus wie Pflanzensaft.“

„Ist es auch.“ „Aber unser Biolehrer hat gesagt, dass Bäume

nur im Frühjahr Saft absondern“, sagte ich, darum bemüht, wie ein total verblödeter Musterschüler zu klingen. India machte einen kleinen Hopser und kicherte albern, um diesen Eindruck zu verstärken. „Hier auf dem Boden sind keine Flecken“, fügte ich noch hinzu.

Der Mann stoppte seinen Korb direkt über uns.

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„Wenn wir so einen Altweibersommer haben wie dieses Jahr, glauben die Mangroven und Akazien, es wäre Frühjahr. Hier oben sondern sie viel Saft ab.“

„Nur da oben?“, fragte India. „Nur da, wo die Blätter sind?“

„Ja“, sagte der Mann. Er griff wieder nach sei-nen Hebeln, sah dann aber wieder auf uns herun-ter. „Warum wollt ihr das wissen?“

Ich entschied mich für die Schocktherapie. „Ihre Mutter ist Gerichtsmedizinerin“, sagte ich und deu-tete auf India. „Wir haben uns nur gefragt, wie die Pflanzensaftflecken auf Ivan Allens Kleidung ge-kommen sind. Waren Sie dabei, als man ihn fand?“

Das Gesicht des Mannes verzerrte sich. Einen Moment lang glaubte ich, dass er aus Wut oder Hass auf uns spucken würde, doch stattdessen starr-te er in den Dschungel, als wären wir nicht vor-handen. Er betätigte irgendwelche Hebel, und der hydraulische Kran hob ihn zurück über den Zaun und in die Baumwipfel. Ich wollte gerade etwas hinter ihm herrufen, das ihn richtig sauer machen würde, als plötzlich Polizeisirenen zu hören waren. Drei Polizeiwagen kamen mit Blaulicht den Hauptweg entlang und bogen auf eine Nebenstre-cke ein, die von hinten um den Kongo-Komplex herumführte.

„Da ist was passiert“, sagte ich. „Los, wir müs-sen zurück.“

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Während wir auf dem Hauptweg zurückrann-ten, holte ich mein Handy heraus und rief Mrs Riggs an. „Kim, was ist los?“, fragte ich. Sie besteht darauf, dass Indias Freunde sie Kim nennen, also tue ich es. India brachte mich vor dem Café Zum Tanzenden Kranich zum Stehen, damit sie ihr Ohr neben meinem ans Telefon pressen und mithören konnte.

„Wir haben es mit einem Verbrechen zu tun“, sagte Mrs Riggs. „Ihr solltet herkommen, und zwar pronto.“

„Was war mit dem Blut?“, fragte ich. Mir war klar, dass es etwas damit zu tun haben musste. „Es war doch das Blut, oder?“

„Allerdings“, sagte Mrs Riggs. Das konnte nur eines bedeuten. „Heißt das, dass

Ivan ermordet wurde? Dass ihm jemand absichtlich das falsche Blut gegeben hat?“

„Bingo.“ „Könnte es nicht ein Unfall gewesen sein?“,

fragte ich. „Vielleicht wurden nur die Etiketten vertauscht. Er hatte Blutgruppe A. Welche Blut-gruppe haben sie ihm gegeben?“

„Gorilla“, sagte Mrs Riggs. Sie klang total ge-nervt.

„Gorilla?“, wiederholte India fassungslos. „Ja, schönes, frisches Gorillablut“, sagte Mrs

Riggs.

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Erste Verdächtige

Als wir zum Verwaltungsgebäude zurückkamen, arbeitete mein Gehirn bereits auf Autopilot, und ich hatte schon die dritte Lakritzschnecke aus mei-ner Hosentasche geholt. Wenn etwas faul ist, spürt India einen kalten Hauch am Kopf, und mich überfällt das unkontrollierbare Verlangen, einen Schokoriegel zu verschlingen. Aber seit ich in ei-nem amtlichen Bericht gelesen habe, dass jeder Schokoriegel bis zu acht Insektenbeine und drei Rattenhaare enthalten darf, bin ich sofort auf Lak-ritze umgestiegen.

Als wir das Seelöwengehege umrundeten, ent-deckten wir Mrs Riggs, die auf den Eingangsstufen des Verwaltungsgebäudes stand, Befehle bellte und auf ihren Wagen deutete. Ein paar Männer in An-zügen brachten Ivans Leiche auf einer Rolltrage heraus. Vor Mrs Riggs hielten sie kurz an, damit sie einen letzten Kontrollblick auf den Verstorbenen werfen konnte. Ivan war in ein weißes Tuch ge-hüllt wie eine Mumie, was Gerichtsmediziner ge-wöhnlich nur bei wichtigen Leuten machen. Nor-male Leichen werden einfach in einen schwarzen 29

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Gummisack gestopft wie eine Möhre in einen Ge-frierbeutel.

Mrs Riggs gab ihr Okay und schickte die Män-ner hinaus auf den ovalen Vorplatz, auf dem mitt-lerweile ein Dutzend Wagen von Polizei und Spu-rensicherung wild durcheinander parkte. Der Mann am vorderen Ende der Trage griff nach einem Le-derriemen und zog das Rollding hinter sich her wie ein Kind seinen Schlitten.

„He, Kim, was war nun mit dem Blut?“, fragte ich. Mrs Riggs nahm ihren schäbigen Hut ab und

zupfte die Angelfliegen zurecht, die im ausgefrans-ten Hutband steckten. Der Hut hatte ihrem Vater gehört, der der beste und genialste Gerichtsmedizi-ner gewesen war, den es in New York jemals ge-geben hatte. Sie trug diesen Hut nun schon seit seinem Tod vor einigen Jahren. Anfangs fand ich das komisch, doch inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Die Leute haben das Recht, so zu trauern, wie sie es für richtig halten – aber das ist eine andere Geschichte.

„Wenn ein Patient schon daran sterben kann, dass man ihm die falsche menschliche Blutgruppe verabreicht“, sagte Mrs Riggs, „könnt ihr euch vorstellen, was passiert ist, als man einen halben Liter Gorillablut in Ivan Allen gepumpt hat.“ Sie stülpte sich den Hut wieder auf den Kopf, machte kehrt und ging in Richtung Krankenstation. „Sein

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Blut ist natürlich sofort geronnen – die roten Blut-körperchen in seinen Adern haben Klumpen von der Größe eines Golfballs gebildet!“

Wir folgten ihr durch eine Horde von Polizisten und Spurensicherungsleuten, die über das Verwal-tungsgebäude herfielen wie ein Schwarm koffein-getriebener Heuschrecken.

„Werden hier im Zoo eigentlich auch Blutkon-serven für Tiere vorrätig gehalten?“, fragte India.

„Ja“, sagte Mrs Riggs. „Hier gibt es eine hy-permoderne Tierklinik mit genug Tierärzten, um einen Reisebus zu füllen. Perry hat mir erzählt, dass zum Kongo-Komplex eine eigene Klinik für Men-schenaffen gehört. Da machen sie einfach alles: Endoskopie, Röntgen, Operationen, Zahnbehand-lungen, Bestrahlungen und so weiter.“

„Das klingt wie eine Uniklinik für Affen“, stell-te ich fest.

„So wie er es beschrieben hat, ist es das auch.“ Mrs Riggs durchquerte das Hauptlabor, einen

riesigen, weiß gekachelten Raum, und verschwand in einem Nebenzimmer. Ich schaute mich um. Ein paar veraltete Geräte standen herum wie Ausstel-lungsstücke in einem Museum, und man sah auf den ersten Blick, dass es hier keinen Hausmeister gab, der die Labors sauber hielt. Die wichtigen Ausrüstungsgegenstände und die Arbeitsplatten sahen zwar recht ordentlich aus, aber auf den Fens-

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terbänken lag Staub, und die Topfpflanzen wirkten vernachlässigt.

India liebt Pflanzen, deshalb fing sie sofort an, die verwelkten Blüten von einer Geranie abzuzup-fen, in deren Übertopf das Wasser zwei Zentimeter hoch stand. Anscheinend interessierte es hier nie-manden, dass man Pflanzen auch ertränken konnte. Die Begonien und Usambaraveilchen im anderen Fenster waren zwar verstaubt, aber wenigstens war ihre Erde nicht so durchweicht.

„Die armen Blumen“, murmelte India und ver-suchte, etwas Wasser aus dem Übertopf der Gera-nie zu schöpfen. Ich interessierte mich mehr für die Ausstattung des Labors, die aus mehreren Stahlti-schen mit Mikroskopen, Destillierapparaten und Waagen in Glaskästen bestand. An der weiß gestri-chenen Wand reihten sich Waschbecken und Ar-beitsplatten mit Anschlüssen für Bunsenbrenner und Inkubatoren aneinander. Von der Decke hin-gen Neonröhren, die den ganzen Raum in ein grelles weißes Licht tauchten.

Mrs Riggs kam wieder aus dem Raum, in dem offensichtlich die Blutkonserven aufbewahrt wur-den. „Wer immer Ivan Allen getötet hat, musste wissen, mit welchen Mitteln man einen Gorilla beruhigt, wie man ihm Blut abnimmt und es dann in einem der Gefrierbehälter verstaut.“ Sie zeigte uns eine Reihe von Stahlzylindern, deren Deckel

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auf komplizierte Weise verschlossen waren. Außen angebrachte Skalen zeigten die Minusgrade an, die im Behälter herrschten.

Der einzige weitere Gegenstand in dem Neben-raum war ein Schreibtisch aus Metall, auf dem ein Becherglas voll billiger Kugelschreiber stand. Zwi-schen den Kugelschreibern steckte ein einzelner Bleistift. Ein Polizeibeamter und ein Experte für Fingerabdrücke waren damit beschäftigt, jede Oberfläche in diesem Raum mit einem weißen Pulver einzustäuben.

India und ich versuchten, den gesamten Zirkus zu erfassen, der sich vor unseren Augen abspielte. Bisher ging es an fast allen Verbrechensschauplät-zen, die wir gesehen haben, sofort nach dem Ein-treffen der Polizei zu wie in einem Tollhaus.

India holte Block und Stift aus ihrer Tasche. Sie ist sehr gut darin, an Tatorten ungewöhnliche Din-ge zu entdecken. Erst sah sie sich den Raum mit den Kühlaggregaten an, dann beobachtete sie die Mitarbeiter der Krankenstation, die von einem hochnäsig aussehenden Arzt angeführt wurden. Die Polizei befragte gerade einen dürren Jungen mit einem Pferdegesicht, der vollkommen verstört wirkte – wahrscheinlich der Praktikant, den Perry erwähnt hatte. Dann gab es noch eine wasserstoff-blonde Krankenschwester, auf deren Namensschild Maxine Blessman zu lesen war. Sie war gebaut wie

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eine Gewichtheberin und erweckte den Eindruck, als könnte sie sogar Schwarzenegger überwältigen.

Inspektor Jamieson, der Polizeibeamte aus der Bronx, der die Ermittlungen leitete, kam auf Mrs Riggs zu. Sie sprach in dem Ton mit ihm, den sie immer anschlägt, wenn sie sich bemüht, niemandes Gefühle zu verletzen. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als würde sie den Beamten aus der Bronx vorschreiben, wie sie ihre Arbeit zu ma-chen hätten. Jamieson starrte mich und India an.

„Das ist meine Tochter India“, erklärte Mrs Riggs, „und ihr Freund Quentin. Die beiden inter-essieren sich sehr für Polizeiarbeit.“

Inspektor Jamieson, der einen mausgrauen An-zug und eine überbreite braune Krawatte trug, lä-chelte belustigt, bevor er uns ansprach. „Das freut mich“, sagte er. „Es ist nie verkehrt, sich schon früh für einen Beruf zu entscheiden.“

„Die beiden haben schon bei der Aufklärung mehrerer Mordfälle geholfen“, fuhr Mrs Riggs fort. „Sie sind sehr clever, aber manchmal auch ein bis-schen leichtsinnig. Ich fürchte, das liegt bei uns in der Familie.“

Einen Moment lang verschlug es Jamieson die Sprache. „Hier in New York gibt es eine Menge Reviere, die ein bisschen frisches Blut gebrauchen könnten.“

Er hatte kaum ausgesprochen, als ihm auch

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schon bewusst wurde, dass unter den gegebenen Umständen eine andere Formulierung angebrachter gewesen wäre. Der Inspektor war um die 40, kräf-tig gebaut, und er hatte dieselbe tiefe, monotone Stimme wie Robocop.

Sein Kollege, Sergeant Zoode, der eine Polizei-uniform trug, kam aus dem Nebenzimmer und ers-tattete Bericht. Der Sergeant war im mittleren Alter, hatte einen Bauch und blonde Haare, die an den Seiten unter seiner Mütze hervorlugten. Er hörte sich sehr kompetent an und hatte ein Klemmbrett in der Hand, auf dem er seine Beobachtungen sogar noch schneller notierte als India. „Im Blutraum hat sich zu viel Kondenswasser gebildet. Wir konnten keinen einzigen Fingerabdruck abnehmen“, sagte er. „Nicht einmal von den Stiften.“

Jamieson wandte sich wieder Mrs Riggs zu. Er hatte die Blutkonserve in der Hand, in der das Go-rillablut gewesen war. Ich konnte erkennen, dass Ivan Allens Name auf dem Beutel stand. „Der Transfusionsbeutel stammt aus dem mittleren Kühl-aggregat. Bisher haben wir keine Ahnung, wie das Gorillablut in den Beutel gekommen ist.“

„Den Austausch könnte jeder vorgenommen haben, der heute Morgen hier gearbeitet hat“, sagte Sergeant Zoode. „Fremde oder Mitarbeiter aus anderen Abteilungen des Zoos wären dem Personal aufgefallen.“

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„Gibt es noch andere Blutkonserven, auf denen Ivans Name steht?“

„Nein“, sagte Zoode. „Nur diese, und die hing leer am Infusionsständer.“

„Nun, ich hoffe, Sie finden etwas, das Ihnen weiterhilft“, sagte Mrs Riggs. „Ich bringe jetzt die Leiche in die Stadt. Bis heute Abend müsste der vorläufige Obduktionsbericht fertig sein.“ Mrs Riggs breitete die Arme aus wie ein Kondor seine Schwingen und ließ eine Hand auf Indias Schultern fallen und die andere auf meine. „Lasst uns fahren.“

Sie versuchte, uns umzudrehen, aber ich rührte mich nicht.

„Was ist?“, fragte Mrs Riggs. „Können wir nicht hier bleiben?“, fragte ich

und sah zu, wie die letzten Beamten den Blutraum verließen. Sie schlossen die Tür und machten sich daran, sie zu versiegeln. „Ich meine India und ich?“

„Ja, können wir?“, sagte auch India aufgeregt. Natürlich bemerkte Mrs Riggs das Funkeln in

unseren Augen. „Nein, ich glaube nicht“, sagte sie. Perry löste sich aus der kleinen Gruppe von An-

gestellten. „Kim, fahren Sie schon?“, fragte er. „Ja.“ Dann deutete sie auf uns und fügte hinzu:

„Aber die Kinder fragen, ob sie noch eine Weile hier bleiben dürfen.“

Inspektor Jamieson meldete sich zu Wort. „Da-von kann ich nur abraten. Meine Männer und ich

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haben hier viel zu tun und sie –“ Höflich richtete er seine Aufmerksamkeit auf uns – „und ihr wärt uns nur im Weg.“

„Entschuldigen Sie, Inspektor“, sagte ich laut, „sind Ihre Ermittlungen im Blutraum abgeschlos-sen?“

Meine Lautstärke ließ Jamieson zusammenzu-cken. Einen Moment lang verzogen sich seine Lip-pen zu einem verächtlichen Grinsen, doch dann merkte er, dass jeder im Labor mich gehört hatte und nun auf seine Reaktion wartete. Allmählich wanderten seine Mundwinkel wieder nach oben und produzierten ein schiefes Lächeln – seine Ver-wirrung war ihm deutlich anzusehen. Es kam mir vor, als versuchte er ein Problem zu lösen, über das im Polizeihandbuch nichts stand.

„Ja, das sind sie“, sagte er schließlich. „Wir ha-ben dort nichts gefunden.“ Jetzt klang er sehr streng. „Warum fragst du?“

„Weil ich mich gefragt habe, wie der Bleistift in den Becher zwischen all die Kugelschreiber ge-kommen ist.“

„Ja“, fügte India hinzu und warf einen Blick auf ihre Notizen. „Der blaue Bleistift, auf den in Goldbuchstaben Yonkers Rennbahn aufgedruckt ist.“

Jeder im Raum drehte sich um und starrte durch die Glastür des Blutraums auf das Becherglas, das dort einsam auf dem Tisch stand. „Äh, entschuldi-

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gen Sie“, sagte Maxine Blessman verlegen. „Ich habe den Bleistift heute Morgen auf dem Fußbo-den gefunden.“

„Nach Ivans Tod?“, fragte Jamieson. „Nach seiner Transfusion?“, fragte ich genauer

nach. „Äh, ja“, sagte die Schwester. „Ich habe ihn

ganz automatisch aufgehoben und zu den Kugel-schreibern in den Becher gesteckt. Ich habe mich ein wenig darüber gewundert, weil wir alle Auf-zeichnungen mit Kugelschreiber machen. Zum Beispiel notieren wir die Temperaturen der Kühl-aggregate alle paar Stunden … Nennen Sie mich eine Ordnungsfanatikerin, ich meine, als ich den Stift da auf dem Boden liegen sah …“ Sie plapper-te hektisch vor sich hin. „…da habe ich ihn ein-fach aufgehoben und zu den Kugelschreibern ge-steckt.“

Der Inspektor sah aus, als würde er sie am liebs-ten erwürgen. „Das hätte ich wohl erwähnen sol-len“, stieß sie unglücklich hervor. „Aber ich hätte nie gedacht, dass es wichtig sein könnte.“

„Können wir im Wohnheim bleiben?“, fragte ich Perry, ohne auf ein weiteres Wort vom Inspek-tor oder von Sergeant Zoode zu warten, denn mir war schon jetzt klar, dass wir bei diesem Fall ge-braucht wurden. Das Lehrgebäude des Zoos liegt direkt neben dem Verwaltungsgebäude, und ich

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wusste, dass es dort viel Platz für Studenten gibt, die sich länger im Zoo aufhalten wollen.

„Von mir aus gern“, sagte Perry und warf Kim einen fragenden Blick zu. „Ich weiß aber nicht, ob noch saubere Bettwäsche da ist. Wir hatten gerade Studentengruppen aus England und Papua-Neuguinea zu Gast, und …“

„Das ist kein Problem“, sagte ich schnell. „India kann mit Kim zurückfahren und unsere Schlafsä-cke, Zahnbürsten und alles andere holen und dann mit der U-Bahn hierher zurückkommen. Ich blei-be derweil hier und beginne mit den Nachfor-schungen.“

India sah mich an, als hätte sie mich am liebsten enthauptet, doch als ich kaum hörbar ich habe die Gurke besorgt hauchte, begnügte sie sich damit, scharf einzuatmen und einmal kräftig zu schlucken. „Wir werden unsere Schlafsachen brauchen“, fuhr ich hastig fort. „Ich rufe meine Tante an, damit sie alles zusammenpackt.“ Meine Tante Doris und ihr Mann John wohnen fünf Stockwerke über mir und meinem Dad im selben Apartmenthaus gegenüber dem Lincoln Center.

India sagte kein einziges Wort, als Perry und ich sie und Kim zum Wagen begleiteten, in dem sich bereits die Leiche befand. Kim nervte mich immer wieder mit der Frage, ob ich es wirklich für eine gute Idee hielte, im Zoo zu bleiben. „Müsst ihr

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unbedingt hier übernachten? Ist das nicht ein bis-schen übertrieben?“

„Ich werde auf sie aufpassen“, versicherte Perry ihr.

Ich hielt India die Beifahrertür des Leichenwa-gens auf, doch statt einzusteigen, drehte sie sich zu mir um. Ich hatte keine Ahnung, ob sie mir eine knallen wollte oder was sie sonst vorhatte.

Plötzlich griff sie nach meinem Arm und drück-te ihn fest. „Sei bloß vorsichtig, bis ich wieder da bin“, sagte sie, und es war ihr ernst. „Hier in die-sem Zoo läuft ein ziemlich irrer Killer frei herum. Der Hauch an meinem Kopf ist so stark wie nie zuvor.“

„Dann sieh zu, dass du bald wieder hier bist“, sagte ich lachend.

Ich wartete, bis der Wagen außer Sichtweite war, und holte erst dann eine Lakritzschnecke aus meiner Hosentasche.

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Von Affen umgeben

„Es hat mich sehr beeindruckt, dass euch der Bleis-tift in unserer Blutbank aufgefallen ist“, sagte Perry, als ich mit ihm zum Verwaltungsgebäude zurück-ging.

„Das ist eben die Art, wie India und ich arbei-ten“, sagte ich. „Wir entdecken Kleinigkeiten, die die Polizei übersieht. Und wir machen Sachen, die sich kein Polizist erlauben könnte. Deshalb sind wir der Polizei gegenüber im Vorteil.“

„Wieso das?“ „Nun, India und ich brauchen niemandem seine

Rechte vorzulesen, wir brauchen keine Durchsu-chungsbefehle, und das Gesetz, das es verbietet, Verdächtigen eine Falle zu stellen, kümmert uns auch nicht.“

„So habe ich das noch nie betrachtet“, stellte Perry fest. „Aber wer denkt auch über so etwas nach?“

„Die Mörder wissen genau, dass der Polizei die Hände gebunden sind. India und ich können da kreativer sein. Wir können uns Fehler erlauben, ohne dass uns jemand verklagt. Wir tun einfach 41

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alles, um Verbrecher zu fassen. Sie wissen bestimmt auch, dass Mordfälle, in denen die Polizei nach 24 – spätestens 48 – Stunden keine heiße Spur hat, nie gelöst werden. Die meisten Mörder kommen un-gestraft davon, das weiß jeder. Aber es hat natürlich auch Nachteile, ein Amateur zu sein.“

„Das glaube ich gern …“ „Allerdings“, sagte ich. „Manchmal stehen wir

plötzlich vor einem bewaffneten Verrückten und müssen davon ausgehen, dass wir seine nächsten Opfer sind.“

Perry blieb abrupt stehen und starrte mich ent-geistert an, bis ich laut auflachte.

„Nur ein Scherz“, beruhigte ich ihn. Doch das war kein Scherz gewesen.

Ich nutzte die Gelegenheit, Perry ein paar Fra-gen zu stellen. „Hatte Ivan außerhalb des Zoos viele Feinde?“, fragte ich. „Ich kenne ihn zwar nur aus dem Fernsehen, aber da hat er auf mich einen ziemlich unsympathischen Eindruck gemacht.“

Perry strich sich über seinen schicken grauen Bürstenhaarschnitt, und in seinen Augen erschien dieser unechte, aufgesetzte Ausdruck, den auch viele Politiker haben, wenn sie bei irgendwelchen Demonstrationen mitmarschieren. „Er war in der Öffentlichkeit sehr beliebt – deswegen waren auch seine Spendensammelaktionen so erfolgreich“, sagte er und wählte seine Worte so bedächtig wie

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ein Mann, der am Obststand Birnen aussucht. „Über seine Familie hat er kaum gesprochen. Ich glaube, er hat nur einen oder zwei Cousins in Deutschland. Er ist schon vor Jahren hierher aus-gewandert …“

„Wer hat ihn hier im Zoo am meisten gehasst?“, fragte ich.

„Ich würde nicht sagen, dass ihn jemand gehasst hat“, sagte Perry halblaut. „Natürlich haben ihm etliche seiner Kollegen seinen Ruhm geneidet, aber …“ Schon die Art, wie er das sagte, verriet mir, dass es wahrscheinlich dutzende von Zooangestell-ten gab, die Ivan gehasst hatten wie die Pest – was ich bereits vermutet hatte. Perry hing seinen Ge-danken nach, und plötzlich fiel ihm etwas ein. „Da gibt es doch etwas. Er hat anonyme Briefe be-kommen. Schon seit Jahren, soweit ich weiß. Er hat mir erzählt, dass es ungefähr elf oder zwölf war-en. Es stand immer dasselbe darin. Ich habe ein paar davon gesehen – sie waren alle mit Zeichen-kohle geschrieben – dicker Kohle, in Blockbuch-staben und auf unterschiedlichem Papier. Manch-mal normales Schreibpapier, aber manchmal auch ein Stück von einer Papiertüte. Oft waren es ein-fach irgendwelche Papierfetzen. Auf allen stand dasselbe: ‚Denk an Paterfamilias‘.“

„Wer oder was ist Paterfamilias?“ „Ich weiß es nicht, und Ivan wollte nie darüber

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sprechen. Aber diese Zettel haben ihn immer sehr aufgeregt.“ Perry machte ein nachdenkliches Ge-sicht. „Seine Reaktion beim Öffnen dieser Briefe war immer dieselbe – das haben auch andere Mi-tarbeiter beobachtet. Er ist erst blass, dann wütend geworden und hat mit der Faust auf den Tisch oder gegen die Wand geschlagen. Er hat zwar gesagt, er wüsste nicht, was die Briefe zu bedeuten hätten, aber ich bin mir sicher, dass er es wusste.“

„Ach ja, und dann hatten wir noch die Feuer in letzter Zeit“, fügte Perry nach einer kleinen Pause hinzu. „Ich wollte es eigentlich vor der Polizei erwähnen. Aber die zuständige Wache ist ohnehin darüber informiert.“

„Feuer?“ „Ja, kleine Brände in unmittelbarer Nähe des

Zoogeländes. Einmal hatte jemand einen Stapel alter Reifen angezündet. Das qualmte wie verrückt. Der erste Brand liegt schon ein paar Monate zu-rück. Das war auf der anderen Seite des Flusses. Wir haben dort jetzt nur noch ein paar Sambarhir-sche, Elche und Reiher, aber ich weiß noch, dass Ivan gleich nach dem Brand einen dieser Briefe bekommen hat.“

„Weiß man, wer die Brände gelegt hat?“ „Man vermutet, dass es Jugendliche waren“,

sagte Perry. „Hier in der Gegend gibt es ein paar ziemlich verrufene Schulen und viele Familien mit

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geringem Einkommen. Viele Eltern können ihre Kinder oft nicht mehr kontrollieren. Der zweite Brand war im Bronx Park an der südlichen Grenze des Zoos, direkt am Zaun, und in der letzten Wo-che hat es zweimal in der Nähe der Grote Street gebrannt. Wenn ich mich recht erinnere, hat Ivan nach jedem dieser Feuer einen anonymen Brief bekommen …“

Er sah mich an, für den Fall, dass ich noch wei-tere Fragen hatte, doch ich brauchte erst einmal Zeit, um das zu verarbeiten, was ich bis jetzt erfah-ren hatte.

„Weißt du“, sagte Perry, und jetzt klang er zum ersten Mal wirklich aufrichtig. „Ich habe die Zusa-ge von allen Beteiligten, dass die Presse bis Montag nichts von dem Mord erfährt. Dass Ivan tot ist, weiß sie bereits. Es wird in der Nachmittagsausgabe der Post stehen und sicher auch Thema der Abend-nachrichten sein. Aber am Dienstag findet ein ex-trem wichtiges Treffen der Wildlife Association und unserer größten Sponsoren statt. Von diesem Tref-fen hängt unser gesamtes Budget ab. Wir müssen uns also von unserer besten Seite zeigen. Die komplette Anlage – die Tiere –, alles, was wir hier aufgebaut haben, ist darauf angewiesen, dass uns unsere Geldgeber gewogen bleiben. Sie werden schon schockiert genug sein, wenn sie hören, dass Ivan tödlich verunglückt ist, aber wenn sie erfah-

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ren, dass wir es mit einem ungelösten Mordfall zu tun haben, ist der Ofen aus.“

„Das würde auch das Aus für das Panda-Projekt bedeuten, stimmt’s?“, fragte ich.

„Ja. Vielleicht kann ich sie dazu bringen, das Projekt zu Ehren von Ivans Andenken auf die Bei-ne zu stellen, aber das klappt sicher nicht, wenn sie davon ausgehen müssen, dass hier ein Mörder sein Unwesen treibt. Niemand wird einen Scheck aus-stellen, solange der Fall nicht gelöst ist.“

„Was wollen Sie damit sagen?“ „Nur, dass ich dir und India für alles dankbar

bin, was ihr tut, um der Polizei bei der Suche nach dem Mörder zu helfen. Vielleicht hältst du mich für gefühllos, aber mir geht es in erster Linie dar-um, was aus den Tieren wird.“

„Ja, Sie machen sich Sorgen um die Tiere, aber vor allem um Ihren Job“, hätte ich beinahe gesagt. Doch stattdessen sagte ich nur: „Wir werden unser Bestes geben.“ Ich stellte Perry noch ein paar Fra-gen über die Angestellten der Krankenstation und bat ihn, überall zu verbreiten, dass India und ich in seinem Auftrag Nachforschungen anstellen.

„Natürlich“, versprach er. „Ich werde in allen Abteilungen anrufen und anordnen, dass man euch überall Zutritt gewährt.“

„Vor allem in den Kongo-Wald und in Ivans Büro“, sagte ich. „Ich möchte seine Akten durch-

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gehen und nachsehen, was er in seinem Computer hinterlassen hat.“

Perry nickte, aber ich merkte deutlich, dass er kein übermäßiges Vertrauen in unsere Arbeit hatte. Ich ließ ihn allein zu den Polizisten zurückgehen und schlenderte um das Seelöwengehege herum und an den Elefanten und Nashörnern vorbei. Ich wollte Inspektor Jamieson eine Weile aus dem Weg gehen, und außerdem hatte ich mir schon einen Eindruck von allen Mitarbeitern der Kran-kenstation gemacht, die in der Lage gewesen wä-ren, die Blutkonserve auszutauschen:

1. Perry hatte mir erzählt, dass der Praktikant Peter Sandusky hieß. Ich hatte zwar nur einen kurzen Blick auf ihn werfen können, aber er war mir verängstigt und verhuscht vorgekom-men – ein klassischer Außenseiter, wie ich ver-mutete. Perry hatte auch gesagt, dass er die Bronx Highschool für Naturwissenschaften be-suchte, die, soviel ich wusste, das absolute Stre-berparadies war. Wenn er wirklich auf diese Schule ging, musste er also einiges auf dem Kas-ten haben. 2. Maxine Blessman schloss ich aus, denn wenn sie den Mord begangen hätte, hätte sie bestimmt nicht zugegeben, dass sie den Renn-bahn-Bleistift aufgehoben und ins Becherglas gesteckt hatte – es sei denn, sie war viel cleverer,

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als sie aussah, und das bezweifelte ich. Es gab vermutlich nur ein einziges Gesetz, das sie je-mals gebrochen hatte – das Gesetz, das die Ein-nahme von Anabolika verbietet; aber wer wusste das schon so genau? 3. Damit blieb nur noch der Arzt übrig. Was raffiniert ausgeklügelte Pläne betraf, war er viel-leicht in der Lage, ein paar Pfefferkörner in eine gewöhnliche Bratensoße zu schmuggeln, aber damit hatte es sich auch. Von Perry wusste ich, dass er aus Pakistan kam und Mohammed Ja-hangir hieß. Er wirkte neurotisch und unerfah-ren, aber er war offenbar der beste Arzt, den der Zoo sich leisten konnte. Doch bevor ich anfing, wilde Spekulationen anzustellen, musste ich noch viel mehr herausfinden. Vor allem interessierte mich, wer von den Zoo-Angestellten die Möglichkeit gehabt hatte und die Kenntnisse besaß, einem Gorilla eine Ladung Blut abzuzapfen, ohne dabei gebissen oder um-gebracht zu werden – und Affen können gewal-tig zubeißen!

Im Gehen holte ich mein Handy heraus und ver-suchte, meinen Freund Jesus Lopez anzurufen. Je-sus ist zwar erst dreizehn, aber schon seit vielen Jahren ein Computergenie. Ich wusste, dass er so-fort Feuer und Flamme sein würde, wenn ich ihn

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bat, die Datenbank des Zoos zu durchstöbern. Jesus konnte jeden Code knacken – wenn er gewollt hätte, wäre nicht einmal das chinesische Verteidi-gungsministerium vor ihm sicher gewesen. Das Telefon klingelte rund ein Dutzend Mal, bevor sein Anrufbeantworter ansprang, aber ich hinterließ ihm keine Nachricht.

Da ich das Telefon gerade in der Hand hatte, rief ich auch gleich bei meiner Tante Doris an. Ich bat sie, nach unten in unsere Wohnung zu gehen, ein paar Sachen für mich einzupacken und India meinen Rucksack mitzugeben, wenn sie kam.

Ich brauchte rund zehn Minuten bis zum Nachttierhaus. Als der Hauptweg nach rechts schwenkte, hielt ich in den Baumwipfeln Ausschau nach dem missgelaunten Gärtner in dem saftbe-fleckten Hublift, konnte ihn aber nirgendwo ent-decken. Der Kranwagen war im Fahrzeugpark des Zoos abgestellt, und dahinter standen die gewalti-gen Holztore vom Kongo-Gorilla-Wald einladend offen.

Ich schlenderte zwischen gewaltigen Bambus-stämmen und armdicken Schlingpflanzen hindurch. Der Weg wurde zu einem schmalen Pfad, der sich zwischen den echten und künstlichen Felsen und den Mangrovenwurzeln hindurchschlängelte. An manchen Stellen wurde der Pfad zu einem Tunnel, der zwischen zwei der riesigen Bäume hindurch-

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führte. Ein Abschnitt des Weges verlief so dicht am Zaun entlang, dass man in den dahinter liegenden Graben sehen konnte.

Mehrere Polizisten und Techniker bewegten sich langsam über das angrenzende offene Gelände. Wahrscheinlich war das der Auslauf der Jaguare. Eine Gruppe von Beamten kroch auf Händen und Knien herum und markierte offenbar die Stelle, an der Ivan gefunden worden war. Von rechts hörte ich das Fauchen der Jaguare, und als ich genauer hinsah, konnte ich die aufgeregten Biester in ihren Käfigen erkennen. Ein paar Zoo-Mitarbeiter in weißen Kitteln sprachen mit den Polizisten.

Ich setzte meinen Weg fort und stieß auf einige interaktive Spielsachen für die Zoobesucher, zum Beispiel eine Messlatte, mit der man die Größe eines Elefanten-Fußabdrucks ermitteln konnte. Auf dem Schild daneben stand, dass man die Länge des Abdrucks mit sechs multiplizieren musste, um he-rauszufinden, wie groß der dazugehörige Elefant war. Dann gab es noch ein Ortungsgerät für die Jaguare. Man konnte das Gerät herumschwenken, bis einem ein lauter Piepton verriet, dass man einen der Jaguare aufgespürt hatte. Der Informationstafel entnahm ich, dass jeder der sechs Jaguare ein Hals-band mit einem Minisender trug, und die Kinder wurden aufgefordert, alle sechs aufzuspüren. An der Stelle, an der der Pfad in einen gläsernen Tunnel

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überging, waren noch mehr solcher Apparate auf-gestellt.

Hinter dem Glas schlichen Tiere herum – es kam mir vor, als wäre ich mitten unter ihnen. Ich entdeckte Mandrills, Meerkatzen, mehrere Okapis – die aussehen wie eine verrückte Kreuzung zwi-schen einem Zebra und einer kleinen Giraffe –, Unmengen von Nashornvögeln, Gibbons und un-zählige Goliathkäfer, die die größten Käfer der Welt sein sollen. Zwischen mir und ihnen befand sich nichts außer dieser dicken Panzerglasscheibe.

Der Glastunnel führte um eine Kurve und zu einer Drehtür, hinter der mich ein Schwall war-mer, feuchter Luft erwartete. Der Glastunnel be-schrieb noch unzählige Kurven, bis er schließlich in ein Gebilde aus Stahl und Glas mündete, das aussah wie das Mutterschiff aus dem Film Kampfstern Ga-lactica.

Lautsprecher übertrugen die Geräusche des Dschungels, während ich auf einer Brücke einen schmalen Fluss überquerte. Ich landete schließlich in einem gigantischen achteckigen Raum, dessen Wände vollständig aus Glas bestanden. Hinter dem Glas befand sich rund ein halbes Dutzend Gorillas und starrte mich an.

Eine auffallende Frau mit einer steifen braunen Perücke und einem eng anliegenden weißen Kos-tüm wendete sich von der Glaswand ab, setzte ein

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breites Lächeln auf, das ihre Zähne entblößte, und kam auf mich zu. „Du musst Quentin sein“, sagte sie, und ihr Lächeln erinnerte mich an einen Vam-pir. „Was für ein gut aussehender junger Detektiv. Ich habe schon auf dich gewartet.“

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Gargantua, der Affenmann

„Ich bin Dr. Betty Waters“, sagte die Frau. „Perry hat mich gebeten, nach dir Ausschau zu halten.“

Dr. Waters strich ihr glänzendes Kostüm glatt und setzte ein noch strahlenderes Lächeln auf. Ich schätzte sie auf Anfang 40. Das kalkweiße Make-up auf ihrem Gesicht war so dick aufgetragen wie bei einem Zirkusclown. Ihre leuchtend roten Lippen wirkten irgendwie gebläht, als hätte sie sie mit Kol-lagen unterspritzen lassen, und ihre schwarzen Brauen wölbten sich so hoch, dass man bequem mit einem Kleinwagen unter ihnen hätte hindurch-fahren können. Ich konnte es kaum noch erwarten, dass India sie kennen lernte.

„Perry glaubt offenbar, dass ich dir am besten weiterhelfen kann“, sagte sie. „Er hat mir gesagt, dass du ein sehr begabter junger Detektiv wärst und mir sicher eine Menge Fragen stellen würdest.“ Ihr Ton war neckisch, als spräche sie zu einem unge-zogenen und etwas zurückgebliebenen Kind. Ich beschloss, ihr diese Illusion vorerst nicht zu rauben.

„Haben Sie mit Ivan Allen zusammengearbei-tet?“, fragte ich. 53

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„Nein, das habe ich nicht. Das heißt, in gewisser Weise schon, aber ich war keine von seinen Mitar-beiterinnen“, sagte sie. „Ich bin für das Schimpan-sen-Zuchtprogramm verantwortlich.“

„Das ist sicher kompliziert“, bemerkte ich. „Ja, allerdings“, bestätigte sie. „Die erwachsenen

Schimpansen sind oft so aggressiv, dass wir die Jun-gen viel länger in unserer Aufzuchtstation behalten müssen als die Gorillababys. Manchmal versuchen die erwachsenen Schimpansenmänner sogar, ihren eigenen Nachwuchs aufzufressen, aber das passiert zum Glück nur selten.“

„Das ist ja schrecklich.“ „Ja, das ist es.“ Dr. Waters hob ihre schlanken,

langen Arme, um ihr Haar glatt zu streichen – oder vielmehr, ihre schmutzfarbene Perücke. Das Ding sah wirklich billig aus – als würden die Haare abbrechen, wenn sie sich irgendwo den Kopf stieß. Ich hatte den Eindruck, dass sie das scheußliche Ding trug, weil sie es tatsächlich schön fand.

„Kennst du unsere Gorillafamilie schon?“, fragte sie und marschierte auf ihren hochhackigen Schu-hen auf eine der Glasfronten zu. „Perry sagte, dass du schon ein paar Mal auf Klassenausflügen hier warst – und er hat auch erwähnt, dass dein Vater im Naturkundemuseum arbeitet.“

„Das stimmt“, sagte ich. „Aber seit der Einrich-

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tung des Kongos war ich nicht mehr im Zoo.“ Ich glotzte sie mit großen Augen an, damit sie mich für noch dümmer hielt, als sie es ohnehin schon tat. „Er ist wirklich toll. Hier arbeiten bestimmt meh-rere Zoologen. Damit meine ich die engsten Mi-tarbeiter von Mr Allen.“

„Ja, natürlich“, sagte Dr. Waters. „Die meisten von ihnen hatten letzte Nacht frei, aber im Mo-ment befragt die Polizei sie gerade im Gehege der Jaguare – du weißt sicher, dass Dr. Allen dort ge-funden wurde. Die Polizei sucht das Gehege sehr sorgfältig ab.“

„Und? Ist etwas Ungewöhnliches gefunden worden?“

„Soviel ich gehört habe, lautet die Antwort ja und nein. Im Gehege lagen ein paar ausländische Münzen, zumindest hat mir das einer der Tierpfle-ger erzählt. Sie haben sie beim Harken des Bodens gefunden. Du musst wissen, dass unsere Tierpfleger alle für ihr Leben gern schwatzen. Ich persönlich kann an den Münzen nichts Aufregendes finden. Dr. Lumet, einer unserer Tierärzte, stammt aus Frankreich, genauer gesagt aus Dijon, wo auch der Senf herkommt, und ich vermute, dass es europä-ische Münzen waren. Dr. Lumet fliegt oft nach Frankreich, um seine Mutter zu besuchen, und ich möchte nicht ausschließen, dass er dort auch eine Freundin hat. Auf jeden Fall beschwert er sich

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ständig darüber, dass die Banken nur Scheine um-tauschen, aber keine Münzen.“

„Ja, das habe ich auf meinen Europareisen auch erlebt“, bemerkte ich.

Dr. Waters verstummte, als müsste sie erst ein-mal verarbeiten, dass sogar jemand wie ich schon im Ausland gewesen war. „Ja“, würgte sie schließ-lich hervor. „Dr. Lumet hat immer eine Menge dieser ausländischen Münzen bei sich, und er ver-sucht ständig, unseren Cola-Automaten damit zu füttern. Das führt dann natürlich dazu, dass der Münzschacht verstopft und kein Mensch mehr etwas aus dem Automaten holen kann.“

„War er letzte Nacht im Dienst?“ „Nein“, sagte Dr. Waters. „Zumindest stand

sein Name nicht auf dem Dienstplan. Soweit ich weiß, waren nur Ivan und einige seiner Assistenten hier. Nun, ich habe zwar gehört, dass auch Lumet eine Weile hier gewesen sein soll, aber ich denke, es ist kein Geheimnis, dass er gern mal ein Glas Wein zu viel trinkt … Natürlich wird die Polizei jeden von uns nach einem Alibi befragen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Dr. Lumet jeman-den umbringen würde, wenn er auch …“

„Waren Sie letzte Nacht im Dienst?“, fragte ich. „Ich war die letzten drei Wochen jede Nacht

hier, in der Säuglingsstation“, sagte sie. „Eine unse-rer Schimpansenmütter hatte eine Frühgeburt, und

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deshalb musste ich bleiben, um alle paar Stunden den Brutkasten zu überprüfen. Das Kleine entwi-ckelt sich gut – aber, was ich sagen wollte, war, dass einige der Angestellten manchmal einen über den Durst trinken, und ich glaube, dass Pierre – das ist Dr. Lumet – zu denen gehört, bei denen das öfter passiert. Aber ob er Ivan ermordet hat? Sicher nicht. Dazu ist Pierre nicht fähig. Das ist zumindest meine Meinung. Ich habe dazu meine eigene Theorie.“

Ich hatte längst erkannt, dass sie eine begeisterte Klatschtante war. „Und die wäre?“

„Also, ich glaube, diese ganze Blut-Geschichte war ein unglückliches Versehen.“

„Wie bitte?“ Während Dr. Waters und ich vor der Glasschei-

be standen, starrte die gesamte Gorillafamilie uns an. Einer der Affen hockte vor einem Baumstamm direkt an der Scheibe, ein paar andere saßen in ei-ner Gruppe hinter ihm. Der Rest hatte sich erhöh-te Aussichtspunkte gesucht, und ein oder zwei schienen zu schlafen.

„Doch, wirklich“, sagte sie. „Ivan hat immer nur das getan, was er für richtig hielt. Es ist durch-aus denkbar, dass er genau zu der Zeit, als er selbst Blut gespendet hat, einem der Gorillas Blut abge-nommen und es in die Krankenstation gebracht hat. Ivan war ein genialer Wissenschaftler, aber er

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war auch ziemlich zerstreut. Wahrscheinlich hat er die Blutkonserven selbst vertauscht, und die Beutel wurden falsch beschriftet und am falschen Ort gela-gert – das ist zumindest meine Hypothese.“

Dr. Waters fiel auf, dass ich voller Panik den größten Gorilla anstarrte, der auf einem erhöhten Platz neben einer Rankpflanze saß. Er glotzte mich an, als wäre ich eine Bedrohung für seine ganze Sippe, und er sah aus, als würde er jeden Moment vorspringen, das Glas durchbrechen und mir an die Kehle gehen.

„Das ist unser Silberrücken. Er heißt Gargantua. Ivan hat ihn so genannt, nach einem berühmten Zirkusaffen aus den fünfziger Jahren. Gargantua ist der Chef unserer Gorillafamilie, und er ist seinen Kindern ein guter Vater. Das war er schon immer. Er ist jetzt neun Jahre alt und wiegt ungefähr 250 Kilogramm. Er liebt es, mit seinen Kindern zu spielen.“

„Aber er scheint es nicht zu mögen, dass wir uns unterhalten“, stellte ich fest.

„Oh, das darfst du nicht persönlich nehmen. Er ist eifersüchtig auf jedes männliche Wesen, mit dem er mich sieht“, erklärte sie. „Er weiß, dass ich hier die Einzige bin, die sich wirklich um ihn kümmert, und genießt es, wenn ich mit ihm rede und etwas Zeit mit ihm verbringe – natürlich nur durch die Glasscheibe. Er mag aber auch einige

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Frauen aus der Nachbarschaft. Sie kommen mehr-mals pro Woche in den Zoo, nur um ihn zu besu-chen.“ Sie lachte. „Alle Gorillas freuen sich über Besuch.“

Sie schlenderte an der Glaswand entlang bis zu einem anderen Gorilla, der ein Affenbaby im Arm hielt. Das Kleine sah aus, als wäre es sturzbetrun-ken.

„Das ist unsere größte Gorillafrau. Sie heißt Mama, ist Gargantuas Frau und die Mutter seines vier Monate alten Sohns, den wir Mr Spock ge-nannt haben, weil er so spitze Ohren hat.“ Dr. Waters zeigte in den linken Teil des Geheges. „Das Weibchen, das da auf dem Felsen sitzt, ist Tantchen. Manchmal nennen wir sie auch Nichts-Böses-hören, weil sie die Angewohnheit hat, sich die Ohren zuzuhalten. Sie ist mit einem Weibchen verwandt, das wir vor vielen Jahren hier im Zoo hatten und das dasselbe gemacht hat. Die beiden sind sich nie begegnet, sodass wir uns gefragt ha-ben, ob dieses Verhalten genetisch bedingt ist.“

Überall standen Schilder, auf denen zu lesen war, wie die Gorillas hießen und in welcher Beziehung sie zueinander standen – ich hätte ihre Namen also auch allein herausfinden können. Der im Hinter-grund hieß Jimbo und war ein Onkel von Mr Spock. Dann gab es noch ein paar Tanten und eini-ge zweijährige Tiere. „Die Tanten helfen Mama

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beim Babysitten, aber auch Gargantua spielt oft mit seinem Sohn und hilft bei seiner Erziehung. Unsere Gorillas sind eine große, glückliche Familie.“

Betty vollführte eine Drehung, die fast aussah wie ein Tanzschritt, und bedachte mich erneut mit einem strahlenden Lächeln. Daran merkte ich, dass sie mich immer noch für einen halbwüchsigen Idioten hielt, und ich beschloss, dass damit ab sofort Schluss sein sollte.

„Von welchem Gorilla stammt das Blut, mit dem Mr Allen ermordet wurde?“

Die Brauen von Dr. Waters hoben sich, und ich hatte das Gefühl, dass sie mich jetzt zum ersten Mal richtig ansah. „Mir ist in der Ellbogenbeuge von Gargantua ein kleiner Blutfleck aufgefallen, also vermute ich, dass das Blut, das Ivan getötet hat, von ihm stammt.“

„Wird den Gorillas oft Blut abgezapft?“ „Ja, gelegentlich“, sagte Dr. Waters. „Einige

Universitäten gehen uns mehrmals im Jahr mit der Nachfrage nach Primatenblut auf die Nerven. Und da sie dem Zoo Geld spenden, wird von uns er-wartet, dass wir jedes Mal springen, wenn eine der Tierärztlichen Fakultäten Affenblut zu Studienzwe-cken braucht.“

„Gibt es irgendwelche Aufzeichnungen darüber, ob in der letzten Nacht jemand Blut abgenommen hat?“

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„Nein. Aber Ivan hat grundsätzlich niemanden darüber informiert, was er getan oder bestellt hat. Für Geld hätte er den Gorillas so viele Nadeln in den Arm gestochen, dass sie ausgesehen hätten wie Nadelkissen.“

„Aber wie wird es gemacht? Wie bekommt man das Blut?“

Dr. Waters führte mich durch eine zweiflügelige Schwingtür aus schwarzem Metall, auf der Zutritt verboten stand. Hinter der Tür befanden sich weite-re Glasscheiben mit Blick auf die Gorillas und au-ßerdem eine dicke Glastür, die in eine Kabine führte.

„Das ist der Narkoseraum“, sagte Dr. Waters. „Wenn ein Gorilla behandelt werden muss, sperren wir ihn hier ein. Damit eines klar ist: Wer einem Gorilla Blut abnehmen will, muss wissen, was er tut. Alle Zoologen und auch die meisten Tierpfle-ger wären in der Lage, Gargantua in den Narkose-raum zu locken. Die Tiere kennen ihre Pfleger ganz genau – sie kannten natürlich auch Ivan –, aber auch einige andere hätten es fertig gebracht, ihn von der Gruppe zu isolieren.“

„Und was passiert dann?“ „Ich habe öfter zugesehen, wie Gargantua für

eine Zahnbehandlung oder den regelmäßigen Ge-sundheitscheck narkotisiert wurde. Immer, wenn das Personal nah an ihn heran muss, wird zuerst ein

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Betäubungspfeil in seinen Hals geschossen. Es dauert nur wenige Minuten, bis er das Bewusstsein verliert. Erst dann kann ein Zoologe zu ihm gehen und ihm ein Medikament geben oder Blut abneh-men. Danach wacht Gargantua entweder von selbst auf, oder ihm wird ein Mittel gespritzt, das die Wirkung der Narkose aufhebt.

Bei schwierigen Behandlungen – zum Beispiel Operationen – bleibt das Tier natürlich in Narkose und wird in unser Tierspital gebracht. Das war einmal der Fall, als Gargantua ein Zahn gezogen werden musste. Die Gorillamedizin ist der Hu-manmedizin verständlicherweise sehr ähnlich.“

Ich spähte durch eines der Sichtfenster in den Narkoseraum. Auf dem Fußboden funkelte etwas.

„Was ist das?“, fragte ich. „Wo denn?“ Ich zeigte darauf. „Da.“ Dr. Waters gab eine Zahlenkombination ein, die

das Türschloss entriegelte. Sie ging hinein, hob den Gegenstand auf und kam wieder heraus. Die Tür schloss automatisch hinter ihr. „Es ist noch eine ausländische Münze“, sagte sie und sah auf einmal sehr beunruhigt aus. „Ich habe keine Ahnung, wie sie in den Narkoseraum kommt. Dr. Lumet war für keine Arbeit eingeteilt, die das Betäuben eines Go-rillas erforderlich gemacht hätte.“

Ich drehte die Münze in meiner Hand um. Ein-

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geprägt waren ein stilisierter Baum und die Worte Liberté, Egalité, Fraternité. Das war unverkennbar. „Das sind zwei Euro aus Frankreich“, sagte ich.

„Zeig mal her“, verlangte Dr. Waters. Sie schaute selbst nach und nickte dann. „Stimmt.“

„Nicht ganz zwei Dollar wert“, bemerkte ich. „Tatsächlich?“, fragte Dr. Waters. Ich gab ihr die Münze zurück. „Sie sollten sie

der Polizei übergeben“, schlug ich vor. „Ja, die Beamten werden sich freuen, wenn sie

noch ein Stück für ihre Münzsammlung bekom-men.“

„Garantiert.“ Sie führte mich wieder durch die Schwingtüren

und zurück in den öffentlich zugänglichen Bereich. Dann sah sie auf ihre Uhr. „Oh, Quentin, es tut mir Leid, aber ich habe jetzt keine Zeit mehr für dich“, sagte sie. „Ich muss zurück zu meinem Schimpansenbaby. Ich hoffe, ich konnte dir wei-terhelfen. Ich nehme an, dass du die Erkenntnisse, die du hier gewonnen hast, für ein Schulprojekt oder etwas in der Art verwenden kannst, und dafür wünsche ich dir viel Glück.“ Sie streckte mir die Hand entgegen und bedachte mich mit einem wei-teren strahlenden Lächeln. Das bedeutete so viel wie: Und nun verzieh dich, Dummkopf.

Diesmal war ihr Lächeln eher ein Grinsen, und ich beschloss, nicht länger den netten Oberschüler

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zu spielen. „Ich habe noch ein paar Fragen“, sagte ich.

„Ja?“ „Wer ist dieser merkwürdige Kerl, der mit ei-

nem Hublift in den Bäumen herumschwebt? Sie wissen schon, der Gärtner, der für den Kongo zu-ständig ist.“

„Ich glaube, ich weiß, wen du meinst, aber ich kenne ihn kaum“, sagte Dr. Waters. „Tut mir Leid.“

„Hatte er etwas gegen Mr Allen?“, fragte ich schonungslos. „Meine Partnerin und ich haben ihn bereits befragt, aber er war ziemlich kurz angebun-den und hat sich dann in seinem fliegenden Korb davongemacht. Haben Sie dafür eine Erklärung? Die Kleidung von Mr Allen war mit bernsteinfar-benen Flecken übersät, die aussahen wie Pflanzen-saft. Wissen Sie zufällig, wie die dorthin gekom-men sind?“

Sie sah mich an, als wäre ich ein Schoßhündchen, das sie plötzlich gebissen hatte. „Äh, nein. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass man Ivan hier im Kongo gefunden hat. Auf dem Boden.“

„Auf dem Boden ist aber nichts“, sagte ich. „Kein einziger Fleck. Der Typ mit dem Hublift sagte, dass man das Zeug zurzeit nur oben in den Wipfeln findet. Was hatte Mr Allen in 30 Metern Höhe zu suchen?“

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„Die Bäume sind nur 15 Meter hoch“, sagte sie. „Meinetwegen.“ Sie sah auf ihre Uhr und ging dann auf die

Schwingtüren zu. „Tut mir Leid“, sagte sie. „Ich muss jetzt los.“

„Darf ich Ihnen eine letzte Frage stellen?“, sagte ich blitzschnell. „Eine persönliche Frage?“

„Welche?“ „Waren Sie dieses Jahr im Urlaub?“ Sie machte ein Gesicht, als hätte sie mich am

liebsten getreten, und deshalb schoss ich schnell noch eine weitere Frage nach. „Und wo waren Sie?“

Ihre Blicke durchbohrten mich. Einen Moment lang sah sie aus wie eine Schachspielerin, die gerade ihre Königin verloren hat. Sie sagte nichts – an-scheinend war sie vollauf mit Nachdenken beschäf-tigt.

„Sicher erinnern Sie sich nicht mehr“, sagte ich mitfühlend. „Das macht nichts. Dr. Sagan weiß es sicher noch. Solche Sachen merkt er sich. Viele Leute vergessen, wo sie ihren Urlaub verbracht haben.“

Dr. Waters schwieg noch einen Augenblick, doch dann lächelte sie mich an, als wäre ich einer der Hauptdarsteller von Dick und Doof und sie die Favoritin bei einer Misswahl.

„In der Dordogne“, sagte sie.

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„In der Dordogne?“, wiederholte ich und über-legte krampfhaft, wo das war – bis es mir einfiel. „Ach ja, südwestlich von Paris“, sagte ich, „wo ein paar Kinder die Höhlen mit den Malereien aus der Steinzeit entdeckt haben.“

„Ja“, sagte sie. „Ich war auch in Mailand und San Sebastian, aber den Großteil meines Urlaubs habe ich in Frankreich verbracht.“ Ihre Oberlippe zuckte, als sie mit dem Rücken die Schwingtüren aufdrückte und dann verschwand.

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Zu viele Hinweise

Gegen Viertel nach eins hatte ich meine vorläufige Untersuchung abgeschlossen und auch Perry und Inspektor Jamieson noch einiges gefragt. Ich kam gerade an den Tapiren und einem durchsichtigen Präriehundbau vorbei, als sich in meiner Tasche etwas bewegte. Ich erstarrte vor Schreck – hatte mir jemand heimlich eine Tarantel in die Tasche gesteckt? Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich mein Handy auf Vibrieren gestellt hatte. Ich holte es heraus und drückte auf den Knopf.

„Ich komme gerade aus der U-Bahn“, ertönte Indias aufgeregte Stimme. „Du darfst gern kommen und mir helfen!“

„Alles klar“, sagte ich. „Bin schon unterwegs.“ Von meinen früheren Besuchen im Zoo wusste ich genau, wo die U-Bahn-Station war. Ich marschier-te also an den Lehrgebäuden und den Gehegen der Wildpferde vorbei zum Südtor. Dort erklärte ich der Kassiererin, einer alten Dame, die aussah wie Quasimodo in einem Kleid aus Futtersäcken, dass ich ein Freund von Dr. Sagan war, und zwängte mich dann durch das Drehkreuz am Ausgang. Die 67

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Kassiererin sollte sich ruhig schon einmal an den Gedanken gewöhnen, dass India und ich in näch-ster Zeit dauernd an ihr vorbeigehen würden.

Ich erreichte die U-Bahn-Treppe genau in dem Augenblick, als India die Stufen heraufgewankt kam. Es sah aus, als schleppte sie ihren gesamten Hausrat mit sich herum. Schnell nahm ich ihr mei-nen Rucksack, den Schlafsack und eine Plastiktüte mit Einkäufen ab. Trotzdem war sie unter ihrem eigenen Zeug noch halb begraben; das Einzige, was ich von ihr sehen konnte, waren eine futuristische Sonnenbrille, die auf ihrem Hinterkopf klemmte, und ihre langen Haare, die ihr über den Rücken hingen wie glänzende Spagetti.

„Hab ich was verpasst?“, fragte sie sofort. Das mag ich so an ihr: Wenn ich in einem Fall nicht mehr weiterweiß oder vollkommen erledigt bin, kann ich mich immer darauf verlassen, dass sie neu-en Schwung in die Sache bringt.

„Das kann man wohl sagen“, sagte ich. Im Vorbeigehen winkte ich Quasimodo zu, und auf dem Weg zum Wohnheim erzählte ich India die Kurzfassung von allem, was ich getan und heraus-gefunden hatte, während sie unser Zeug geholt hatte.

„Das ist ein guter Anfang“, sagte sie. „Ich habe Jesus angerufen …“

„Ich habe es auch schon übers Handy versucht.“

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„… und ihm gesagt, dass wir ihn wahrscheinlich brauchen werden.“

„Mit Sicherheit.“ Das Wohnheim lag neben dem Verwaltungsge-

bäude. Perry hatte mir mehrere Schlüssel gegeben. Einer passte für die Eingangstür, und die anderen waren für die drei oder vier Räume im zweiten Stock, von denen wir uns einen aussuchen durften.

„Sind wir die einzigen Menschen in diesem Riesenkasten?“, fragte India, und ihre Plateauschu-he im Siebzigerjahre-Look klapperten über den gefliesten Boden.

„Perry sagt, dass es hier einen Nachtwächter gibt“, beruhigte ich sie. „Und er hofft auch, dass vor heute Abend der Strom wieder eingeschaltet wird. Um Kosten zu senken, stellen sie den Strom immer ab, wenn die Studentengruppen abreisen. Aber er meinte, vom Innenhof fiele so viel Licht ein, dass wir uns trotzdem zurechtfinden müssten.“

„Na, toll!“ Von allen drei Zimmern hatte man einen Aus-

blick auf das Gehege und den Teich der Wasservö-gel. Rechts davon waren die Kasuare und eine Unmenge Pinguine untergebracht. Zusammen machten die Biester einen unglaublichen Lärm. Wir wählten das größte Zimmer, das direkt neben dem Waschraum lag. Es war der einzige auf diesem Stockwerk, und er war riesig, mit etwa einem Dut-

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zend altmodischer Waschbecken, primitiven Duschkabinen und welligen Metallspiegeln an allen Wänden.

India ließ ihren Schlafsack auf einer Seite unse-res Schlafraums fallen und rollte ihn aus. Ich breite-te meinen Schlafsack auf der anderen Seite des Zimmers aus, in der Nähe der Wand. Während Indias Schlafsack mit tanzenden Mickeymäusen bedruckt ist, ist meiner khakifarben und hat etwas Militärisches an sich.

Ich lege meinen Schlafsack nie direkt an eine Wand und setze mich auch in Restaurants nie auf einen Stuhl an der Wand, weil das meiste Ungezie-fer von der Decke kommt und dann an den Wän-den herunterläuft. Ich habe in New Yorker Res-taurants schon so viele Kakerlaken die Wände he-runterrennen sehen, dass einem davon übel werden kann.

Es stört India und mich nicht, wenn wir uns ein Zimmer teilen müssen. Das machen wir auch im-mer, wenn wir meinen Vater zu Ausgrabungen für das Museum begleiten. Außerdem nehmen Kim und ihr Mann uns oft mit, wenn sie verreisen. Und da Dr. Riggs ein bekannter Psychiater ist, dürfen wir ihn manchmal zu seinen steuerlich absetzbaren Fortbildungsveranstaltungen an so aufregende Orte wie Hongkong oder Kleinkleckersdorf begleiten.

„Lass uns reden, während wir essen“, sagte India

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und warf sich ihre Lieblingstasche über die Schul-ter, ein unförmiges Teil aus imitiertem Leoparden-fell, dass sie für drei Dollar in einem ihrer geliebten Secondhand-Läden erstanden hatte. „Ich fand das Ding ganz passend für den Zoo.“

Ich schnappte mir die Plastiktüte mit den Ein-käufen, und wir gingen hinaus zu dem kleinen Kiosk bei den Kranichen. Dort kauften wir uns Cola und setzten uns dann vor das Greifvogelgehe-ge. Die Adler, Habichte und Eulen starrten uns an, während wir die Salami- und Käsesandwiches ver-tilgten, die India mitgebracht hatte. Überall standen Schilder, die uns darüber informierten, wie diese Vögel ihre Beute mit dem Schnabel zerreißen, dass sie mit ihren Krallen jeder Hauskatze den Garaus machen können und unglaublich hoch entwickelte Augen haben. Sie entdecken eine Maus aus 300 Metern Höhe, stoßen dann herab, verschlingen die Maus und würgen sie im Nest wieder hervor, um ihre Jungen damit zu füttern.

„Also gut“, sagte India zwischen zwei Bissen. „Fassen wir zusammen, was wir bisher wissen.“

Wenn wir einen Fall haben, machen wir das meistens so; wir erzählen uns gegenseitig, was wir zu wissen glauben. In unserem Haus wohnen zwei Schriftsteller, die ständig zusammenhocken und einander immer wieder ihre Geschichten erzählen, bis diese perfekt ausgefeilt sind. India und ich ha-

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ben festgestellt, dass diese Technik auch bei Mord-fällen funktioniert.

„Also gut“, sagte India. „An Hinweisen haben wir einen Bleistift mit Rennbahnaufdruck, ein paar französische Euros und die Saftflecken auf Ivans Kleidung.“

„Stimmt“, bestätigte ich. „Was die Verdächtigen angeht, haben wir das

medizinische Personal: Mohammed Jahangir, den pakistanischen Arzt, Maxine Blessman, die Kranken-schwester mit den Muckis, und – was sagte Perry noch, wie dieser Angsthase von Praktikant heißt?“

„Peter Sandusky.“ „Ach ja.“ India holte den Block heraus und er-

gänzte beim Reden ihre Notizen. „Draußen im Kongo haben wir den unfreundlichen Gärtner, der mit seinem saftgetränkten Korb in den Baumwip-feln herumdüst –“

„John Henning.“ „Gut. Und dann ist da noch Dr. Betty Waters,

die Zoologin – deiner Beschreibung nach mit dem Aussehen eines Zombies –, die ihren Urlaub in Frankreich verbracht hat und deshalb ebenfalls noch französische Euros haben könnte. Dann Dr. Pierre Lumet, der Tierarzt mit der Freundin in der Stadt, aus der der Senf kommt, der mit seinen Euro ständig den Cola-Automaten verstopft … Und du sagtest doch, dass es noch ein halbes Dut-

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zend weitere Mitarbeiter im Labor gibt, ganz zu schweigen von den Hausmeistern und Tierpfle-gern. Und wie uns unsere Erfahrung lehrt, gehören auch die großen Bosse zum Kreis der Verdächti-gen, auch Perry.“

„Wie wollen wir vorgehen?“ „Wir müssen zwei Dinge tun“, sagte India,

sprang auf und warf den Abfall in einen Mülleimer, der geformt war wie ein Flusspferd. „Zum einen müssen wir den zeitlichen Ablauf überprüfen, und zum anderen sollten wir das auf dem Weg zur Krankenstation tun, damit wir Dr. Jahangir und die anderen noch erwischen, bevor die Polizei sie ge-hen lässt.“

Um wieder zum Verwaltungsgebäude zu kom-men, mussten wir an den Tapiren und dem Affen-haus vorbei. India machte sich im Gehen weitere Notizen.

„Perry hat gesagt, dass Ivan heute Morgen um 7 Uhr 48 gestorben ist“, sagte ich. „Und da Perry dabei war, hat selbst deine Mutter keine Zweifel am Zeitpunkt seines Todes. Nach allem, was ich von Inspektor Jamieson gehört und mir im Kongo zusammengereimt habe, musste jemand dafür sor-gen – vielleicht war dieser Teil aber auch nur ein Zufall –, dass Ivan Zucker zu sich nahm und ohn-mächtig wurde. Er muss gegen 6 Uhr einen seiner narkoleptischen Anfälle gehabt haben.“

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„So ein Anfall hätte ihn umbringen können“, sagte India. „Aber er hat ihn überlebt.“

„Stimmt. Sein Diabetes war anscheinend nicht so schlimm. Die Bewusstlosigkeit kann nicht länger als eine halbe Stunde gedauert haben. Er ist also umgekippt, eingeschlafen – wie immer man es nennen will …“

„Und wie sind die Pflanzensaftflecken auf seinen Anzug gekommen?“

„Jedenfalls nicht, indem er sich in den Baumwip-feln herumgetrieben hat“, sagte ich. „In den Gesprä-chen habe ich bis jetzt keinen Anhaltspunkt, dass Ivan in den letzten Jahren irgendeinen Baum von oben gesehen hätte. Ich glaube vielmehr, dass jemand den bewusstlosen Ivan zwischen 6 Uhr und 6 Uhr 30 in den Korb vom Hublift gelegt hat – der bekanntlich mit Pflanzensaft verschmiert ist. Jeder hätte das Ding bedienen und Ivan damit in das Außengehege der Jaguare befördern können. Die Türen vom Jaguar-haus sind computergesteuert. Sie öffnen sich jeden Morgen um Punkt 6 Uhr 30, und das ist genau der Zeitpunkt, an dem der Mörder den hungrigen Tier-chen den bewusstlosen Ivan vor die Nase gelegt hat.“

India blieb an der niedrigen Mauer stehen, die das Gehege der Seelöwen umgab, und benutzte sie als Schreibunterlage für ein paar weitere Notizen. „Und dann kommen die Jaguare raus und fangen an, an Ivans Kehle herumzuknabbern …“

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„Aber sie bringen ihn nicht um, und er wird gegen 6 Uhr 45 von einem Tierpfleger gefunden. Gegen 7 Uhr haben sie ihn dann aus dem Gehege geholt, ihn auf die Ladefläche eines Zoolasters ge-legt und zur Krankenstation gebracht. Sie haben Dr. Jahangir geweckt, und als Perry eintraf, bekam Ivan gerade seine Transfusion – kurz nach 7 Uhr 30 –, und 15 Minuten später war er tot, weil das Gorillablut in seinen Adern geronnen ist.“

India sprang auf und rannte los. Ich war ihr dicht auf den Fersen. Etwa die Hälfte der Einsatz-fahrzeuge war vom Vorplatz verschwunden, und als wir uns bis zur Krankenstation durchgekämpft hatten, war Peter Sandusky schon fort. Inspektor Jamieson beendete gerade seine Befragung von Maxine Blessman, während Dr. Jahangir von einem anderen Beamten verhört wurde.

„Entschuldigen Sie, Mrs Blessman“, sagte India, als die Krankenschwester an uns vorbeiging. „Wir wollten gern noch etwas zu dem Bleistift wissen, den Sie heute Morgen in der Blutbank aufgehoben haben.“

„Was denn noch?“, fauchte Maxine Blessman. Ihr Ton verriet uns, dass sie uns am liebsten ein paar kräftige Karatetritte versetzt hätte. „Ich bin müde und will nach Hause! Ich habe schon den Polizisten gesagt, dass dieser Bleistift nichts zu be-deuten hat. Die Dinger liegen hier überall herum.“

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„Wie kommt das?“, fragte India. „Das ist ganz einfach zu erklären“, sagte Mrs

Blessman. „Dr. Jahangir lebt in der Nähe der Rennbahn. Er bekommt dort jedes Mal einen Bleistift, wenn er ein Programmheft kauft – und er ist fast jeden Tag beim Rennen. Aber es geht schließlich niemanden etwas an, wie er sein Geld verschwendet. Nur habe ich bisher nie einen dieser Bleistifte im Blutraum gesehen.“

„Warum dann diesen Morgen?“, fragte ich. „Ich habe angenommen, dass der Doc in dem

Raum gewesen war, sonst nichts. Obwohl er ihn normalerweise praktisch nie betritt. Er macht nur das, wofür man ihn bezahlt, und da hier nie etwas los ist, ist das nicht viel mehr als Schlafen und das Errechnen von Quoten für Trabrennen. Niedere Arbeiten würde er nie verrichten, deshalb sind es meistens Peter oder ich, die in der Blutbank oder den anderen Teilen der Station arbeiten.“

„Peter Sandusky?“, fragte India. „Nein, Peter Pan“, stieß Mrs Blessman gereizt

hervor. Mir fiel erst jetzt auf, wie tief ihre Brauen lagen und wie voll das Haar war, das direkt darüber spross. Ihr Haaransatz lag kaum drei Zentimeter über den Brauen, was ihr das Aussehen eines blon-den Neandertalers verlieh. Mittlerweile war die Dame stinkwütend auf uns. „Ich gehe jetzt“, ver-kündete sie und marschierte zur Tür hinaus. India

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und ich behielten sie im Auge, bis wir sie eine Harley Davidson starten und damit losfahren sahen.

„Wollen wir warten, bis die Polizei mit dem Doktor fertig ist?“, flüsterte India.

Ich drehte mich um und sah zu, wie der Beamte ihn durch die Mangel drehte. Jahangir gestikulierte wie wild und schwenkte ein paar Rennbahnprog-ramme. „Ich fürchte, das kann dauern“, sagte ich. „Wir können ihn uns auch später vornehmen.“

„Wer ist dann der Nächste? Der Streber?“ „Genau“, sagte ich. „Ich habe herausgefunden,

dass er ganz in der Nähe wohnt, und ich werde den Verdacht nicht los, dass unser strebsamer Peter uns etwas erzählen kann, das uns weiterhilft.“

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Begegnung mit einem Monster

India und ich gingen an einem Lilienbeet vorbei, das die große Außenvoliere des Zoos umgab, die aussah wie eine von diesen aufblasbaren Tennishal-len. Wir verließen den Zoo durch einen Seitenaus-gang und marschierten auf der Bronx Park South zum Haus von Peter Sandusky, dessen Adresse Per-ry mir gegeben hatte.

Der erste Teil von Bronx Park South war eine gepflegte Wohngegend, wie man sie überall in Amerika findet. Zu unserer Rechten befand sich die drei Meter hohe Mauer des Zoos, die an man-chen Stellen Gucklöcher hatte, durch die man Zebras und Pfaue sehen konnte. Einige der gefähr-licheren Tiere waren nicht nur durch die Mauer von der Außenwelt getrennt, sondern zusätzlich noch durch Wassergräben und hohe Elektrozäune. Ein paar Löwen schliefen in der Nachmittagssonne. Andere liefen ruhelos auf und ab, als warteten sie nur auf die Gelegenheit, ihr Gehege zu verlassen und die Straßen unsicher zu machen.

Allmählich wichen die hübschen Einfamilien-häuser auf der linken Seite einer wilden Ansamm- 78

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lung von schäbigen, kleinen Gebäuden. Als wir in die Grote Street einbogen, war es endgültig vorbei mit dem einheitlichen Stadtbild. Hier befand sich ein Pizzaservice neben einem baufälligen, ehemals sehr schönen Haus, dann kam eine Reinigung, gefolgt von fünf weiteren heruntergekommenen Hütten. Etliche der Häuser mit Löchern in den Dächern und vernagelten Fenstern waren eindeutig unbewohnt. Eines, in dem noch Leute wohnten, war von meterhohem Gras und Gebüsch umgeben.

„Was meinst du, ob die hier ihren eigenen Safa-ripark anlegen wollen?“, fragte ich India.

„Das ist doch super!“, erwiderte sie. „Wenn ich hier leben würde, würde ich meinen Rasen auch nicht mähen. Stell dir vor, im Zoo versagen alle Elektrozäune – wo würden dann all die niedlichen Hirsche und Rehe hingehen? In meinen Garten natürlich.“

„Ach ja?“, fragte ich. „Und was glaubst du, wie lange es dauert, bis die ersten Raubtiere deinen Rasen betreten? Dein Grundstück würde sich in null Komma nichts in ein Schlachtfeld verwan-deln.“

„Super“, sagte India. „Das wäre dann wie in ei-nem Safarihotel in Afrika.“

„Ich sehe dich schon vor deiner Haustür an der Kasse sitzen, bis der erste Tiger kommt und dich wegschleppt. Tiger fressen in Indien immer noch

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60 Menschen pro Jahr. Die gute Nachricht ist nur, dass es nicht mehr 1000 Menschen sind wie noch vor 20 Jahren.“

India blieb stehen, um bei einem der Häuser nach der Nummer zu suchen. „501 – wir kommen näher“, sagte sie. „Ich wette, das Haus liegt am Ende dieses Blocks.“

Die Gebäude sahen jetzt immer schäbiger aus. Plötzlich kam ein gelber Minivan von vorne ange-schossen und bog knapp vor uns in eine Einfahrt ein. Ich riss India gerade noch rechtzeitig zurück.

Der Wagen kam am Ende der Auffahrt zum Stehen. Eine unglaublich fette Frau und ein Haufen genauso fetter Kinder, beladen mit mindestens zehn Tüten vom Spielzeugparadies, wälzten sich aus dem Auto.

„Sie fahren wie eine gesengte Sau!“, schrie In-dia. Die Frau warf ihr einen wütenden Blick zu und verschwand mit ihrer Brut in ihrem schäbigen Haus.

Ich griff noch einmal nach Indias Ellbogen. „Da ist es.“

India folgte meinem Blick zum Gartentor des Nachbarhauses: 573 und Sandusky waren auf den krummen weißen Zaun gemalt.

„Bingo“, sagte India. Als ich das Gartentor öffnete, spürte ich etwas

Feuchtes an meiner Hand. Ich schaute hinunter

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und musste feststellen, dass meine Handfläche und meine Finger voller weißer Farbe waren. Und zwar nicht dieses wasserlösliche Zeug. Das war schöne, dicke Lackfarbe.

India lachte und holte ein Taschentuch aus ihrer Leopardenimitat-Tasche, aber die Farbe war so klebrig, dass schließlich auch das Taschentuch an meinen Fingern hing.

Hinter dem Haus war lautes Hämmern zu hö-ren, und so gingen wir quer über den Rasen am Haus vorbei. Es war eines von diesen Fertighäu-sern, bei denen man immer das Gefühl hat, dass sie über Nacht vom Himmel fallen und dann am nächsten Morgen schon bewohnt sind. Dieses al-lerdings machte einen unbewohnten Eindruck, denn hinter allen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen.

Vor dem Garagentor entdeckten wir schließlich den nervösen, dünnen Sandusky-Jungen, der mit einem großen schwarzen Gummihammer wie wild auf ein Stück Metall einschlug. Er drehte uns den Rücken zu.

„Hallo“, rief India. Er hämmerte weiter. „Sandusky!“, brüllte ich. Weil er immer noch nicht reagierte, ging ich zu

ihm und tippte ihm auf die Schulter. Ein grober Fehler. Sandusky wirbelte herum und holte mit

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dem Hammer aus. Seine Augen waren so weit auf-gerissen, dass ich jeden Moment damit rechnete, dass sie ihm aus dem Kopf fielen.

Ich schrie, duckte mich und riss die Arme hoch, um meinen Kopf zu schützen, doch er schlug nicht zu, sondern erstarrte mitten in der Bewegung. Dann entspannte er sich, zog ein Paar winzige Ohrstöpsel aus seinen Ohren und legte den Ham-mer auf die Werkbank hinter sich. „Habt ihr mich erschreckt!“

„Dich erschreckt?“, würgte ich hervor und rich-tete mich wieder auf.

„Tut mir Leid“, sagte Sandusky und wischte sich mit dem Ärmel seines dreckigen, farbver-schmierten T-Shirts den Schweiß von der Stirn. „Wir kriegen hier nur selten Besuch.“

„Kein Wunder, bei der Begrüßung“, sagte In-dia. Sie sah ihm in die Augen, und Sandusky lä-chelte sie an, was sein Pferdegesicht etwas attrakti-ver machte.

„Ich habe euch doch heute in der Krankenstati-on gesehen, oder? Ihr habt bei der Leiche rumge-hangen.“

„Wir haben nicht bei der Leiche rumgehan-gen“, widersprach India lächelnd. Ich beobachtete, wie sie ihre Haarspange abstreifte und sich mit den Fingern durchs Haar fuhr. Bei dem Parkangestell-ten im Hublift war diese Taktik wenig erfolgreich

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gewesen. Aber vielleicht war dieses Jüngelchen empfänglicher für Indias Charme.

„Was immer ihr da gemacht habt – findet ihr nicht, dass ihr euch ein anderes Hobby suchen soll-tet?“, fragte Sandusky. „Was wollt ihr denn hier? Bildet ihr euch ein, so etwas wie Detektive zu sein?“ Er bedachte India mit einem weiteren Lä-cheln. „Deine Mutter ist Gerichtsmedizinerin, habe ich gehört.“

„Wir haben der Polizei schon mehrmals bei der Lösung eines Falls geholfen“, sagte ich, damit India nicht zu antworten brauchte. Mit einem Kopfni-cken deutete ich auf die Werkbank. „Ist das dein Hobby? Mit dem Hammer auf irgendwas einschla-gen?“

„Genau genommen ist das meine Miete“, sagte er, drehte sich um und begann, sein Werkzeug ordentlich aufzureihen. „Der Hausbesitzer lässt meinen Großvater und mich hier fast umsonst wohnen, weil wir für ihn das Haus in Schuss hal-ten. Im Moment versuche ich, die Aluminiumver-kleidung wieder gerade zu biegen.“ Erzeigte auf die Seitenwand des Hauses, an der die Verkleidung so wellig war wie die Spiegel in einem Spiegelka-binett.

„Und du hast den Zaun gestrichen“, sagte ich und hob meine farbverschmierte Hand.

„Das musst du mit Terpentin abwaschen. Da

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vorn beim Waschbecken ist welches.“ Sandusky zeigte in eine Ecke der Garage.

Auf dem Weg zum Waschbecken hörte ich, wie er India anbaggerte. Das gefiel mir kein bisschen. Am Tatort war er ein zitterndes Häufchen Elend gewesen, doch davon war jetzt nichts mehr zu merken. Er fragte India nach allen Regeln der Kunst aus – in welche Klasse sie ging, was sie später studieren wollte und so weiter.

Ich reinigte meine Hand, so schnell es ging, und hastete dann wieder zurück, um India beizustehen. Dort wischte ich den Rest Farbe mit einem alten Lappen ab.

„Wohnst du schon lange hier?“, fragte ich ihn. „Ein paar Jahre“, antwortete Sandusky. „Du gehst auf die Bronx Highschool für Na-

turwissenschaften?“, fragte India und hielt den Kopf schief, sodass ihr das Haar vors Gesicht fiel. „Das hat uns Dr. Sagan erzählt.“ Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und wandte damit eine weitere Technik an, die ich von ihr schon kann-te: Dinge, die in Bewegung sind, fesseln das Au-ge.

„He, hört mal, ich habe wirklich nichts gegen eure Fragen“, sagte er und bedachte India mit ei-nem weiteren Pferdegrinsen. „Aber ich muss arbei-ten.“ Er griff nach dem Hammer und begann, wie-der auf das Stück Aluminium einzuschlagen. „Und

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ja, ich bin im Abschlussjahr an der Bronx High-school.“

India unternahm einen neuen Vorstoß. „Du hast gesagt, dass du hier mit deinem Großvater lebst. Wo sind denn deine Eltern?“

„Sie sind letztes Jahr nach Atlanta gezogen. Ich konnte unmöglich im letzten Jahr noch die Schule wechseln. Ich werde Arzt, genau wie mein Groß-vater früher, und meine Eltern waren der Ansicht, dass diese Schule der beste Ort ist, um sich einen Platz an der medizinischen Fakultät zu sichern.“

„Du willst Medizin studieren?“, fragte India. Für meinen Geschmack klang sie ein wenig zu beeind-ruckt.

„Darauf kannst du Gift nehmen“, sagte er und versetzte der Aluschindel einen weiteren Schlag. „Ich werde Anästhesist.“

„Du willst Leuten Narkosen verpassen?“, fragte ich.

„Wohl kaum“, antwortete Sandusky. „Das habe ich jedenfalls nicht vor. Vielleicht werde ich es die ersten paar Jahre tun müssen, aber danach werde ich ausschließlich bei Gericht arbeiten. Ich habe einen Onkel, der mir dazu verhelfen wird. Er kriegt zwischen 4000 und 10000 Dollar pro Tag dafür, dass er bei Kunstfehlerprozessen als Experte aussagt. Es spielt keine Rolle, welche Seite ihn an-heuert – er sagt ihnen immer das, was sie hören

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wollen, und kassiert dafür eine unglaubliche Koh-le.“

Dass auch India inzwischen gemerkt hatte, was für ein arrogantes kleines Miststück Sandusky war, erkannte ich daran, dass sie ihre Haare wieder zum Pferdeschwanz zusammenraffte. Wenn India es darauf anlegt, kann man ihr am Gesicht ablesen, was sie denkt. In diesem Moment sah sie aus, als wäre ihr schlecht, und sie knurrte: „Du hast deine Zukunft ja perfekt geplant.“

„Allerdings.“ Er grinste und schlug wieder auf das Metall ein.

„Wie lange arbeitest du schon in der Kranken-station des Zoos?“, fragte ich ihn.

„Ungefähr acht Monate“, sagte er. „An meiner Schule muss man dauernd irgendwelche Praktika machen – wahrscheinlich, damit man nach dem Abschluss kein kompletter Fachidiot ist. Aber mich stört das nicht. Ich komme deswegen früher aus der Schule, und auf meinen Bewerbungen fürs College und für die Uni wird sich der Job im Zoohospital gut machen. Schließlich weiß ja niemand, wie tod-langweilig es ist, mit einem solchen Haufen von Schwachköpfen zusammenzuarbeiten.“

Bang. Er schlug wieder auf die Schindel ein. „Mann, bist du clever“, sagte India scheinheilig

– ich wusste, dass sie ihm am liebsten mit dem Hammer eins auf die Nase gegeben hätte.

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„Yeah“, sagte Sandusky, und es hörte sich fast an wie das Wiehern eines Pferdes. „Alle anderen haben das übliche soziale Zeugs auf ihren Bewer-bungen – Altenpflege oder Fußballspielen mit Ghettokindern. Was sie aber nicht wissen, ist, dass die meisten Bewerbungen von Tussen gelesen werden. Und Tussen fahren voll auf Tiere ab. Wenn eine Harvard-Zulassungstussi meine Bewer-bung liest und auf das Wort Zoo stößt, wird sie auch auf mich voll abfahren, und der Studienplatz ist mir sicher.“

India und ich tauschten einen Blick. Der Typ war wirklich krank im Kopf.

Ich beschloss, das Ganze ein wenig abzukürzen. „Was wir eigentlich wissen wollten: Was weißt du über das, was heute mit Ivan Allen passiert ist?“

Sandusky hörte auf zu hämmern und musste feststellen, dass wir ihn mit unseren Blicken durch-bohrten. Plötzlich löste sich seine coole Fassade in Luft auf. „Ihr meint sein unerwartetes Ableben?“, fragte er und wählte seine Worte ausgesprochen bedächtig.

„Ja“, sagte India. „Seine Ermordung.“ „Oh“, sagte Sandusky. Er brachte sein Werk-

zeug in die Garage, und wir folgten ihm. Jetzt sah er wieder aus wie das Nervenbündel mit dem Pfer-degesicht, das wir in der Krankenstation gesehen hatten. „Ivan mag ja den Zoo in den letzten Jahren

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reformiert haben, aber …“ Es fiel ihm sichtlich schwer, seine Gedanken in Worte zu fassen. „Sagen wir einfach, dass er kein besonders netter Mensch war.“

„Wie meinst du das?“, bohrte India. „Ich hatte kaum Kontakt zu ihm. Das meiste,

was ich über ihn weiß, haben mir andere erzählt – die Leute, die mit ihm gearbeitet haben. Er soll ein Kontrollfanatiker gewesen sein. Und er hat darauf bestanden, in jeder Pressemitteilung, die den Zoo verließ, die Hauptperson zu sein. Das alles weiß ich von Maxine.“

„Hat sie dir viel über ihn erzählt?“, fragte ich. „Sie und der Doc“, sagte er. „Dr. Jahangir. Aber

ich habe auch vieles von den Tierärzten und Zoo-logen und auch von etlichen Pflegern gehört. In der Angestellten-Cafeteria wird viel geredet. Die meisten Leute haben ihn gehasst. Dr. Sagan war der Einzige, der manchmal etwas Nettes über ihn ge-sagt hat, und dabei ging es immer um die Spenden, die er gesammelt hat, oder um seine Auftritte im Fernsehen. Viele von den anderen meinen, dass er eine gespaltene Persönlichkeit hatte.“

„Wieso das?“, fragte ich. „Ich habe gehört, dass es kurz vor seinen Fern-

sehauftritten am schlimmsten gewesen sein soll. Dann ist er total ausgeflippt. Die Tiertrainer, die mit ihm arbeiten mussten, haben behauptet, dass er

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vor jedem großen Auftritt den Bezug zur Realität verloren und plötzlich die Leute angeschrien hat. Ich habe es auf einer Pressekonferenz wegen eines neuen Schneeleoparden selbst erlebt. Ich musste beim Servieren der Häppchen helfen. Kurz bevor er ans Mikrofon ging, hat er mich plötzlich gepackt und mir einen Becher glühend heißen Kaffee in die Hand gedrückt. ‚Da ist Vollmilch drin!‘, hat er ge-kreischt. ‚Ich habe ausdrücklich Magermilch be-stellt!‘ Ich habe nur gesagt: ‚Aber ich habe Ihren Kaffee doch gar nicht geholt.‘ ‚Bring mir neuen!‘, hat er so laut gebrüllt, dass ich dachte, entweder reißt er dir jetzt den Kopf ab, oder er kriegt einen Schlaganfall.“

„Haben viele Leute diese Seite von ihm kennen gelernt?“, fragte India.

„Ähnliche Geschichten kann jeder erzählen, nur dass die meisten viel schlimmer sind. Hinter seinem Rücken haben die Leute Ivan Dr. Jekyll genannt. Er war geisteskrank, daran besteht kein Zweifel.“

Plötzlich nahmen Sanduskys Augen einen merkwürdigen Ausdruck an, als hätte er gemerkt, dass er zu viel erzählt hatte. India versuchte das Eis zu brechen, indem sie ihm beim Verstauen des Werkzeugs half. Ich richtete derweil meine Auf-merksamkeit auf das Haus.

Auf dem Rasen stand einer von diesen billigen Liegestühlen, bei denen eine Fußstütze hoch-

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schwenkt, wenn man die Lehne ganz nach hinten kippt. Neben dem Stuhl standen ein paar leere Eis-teegläser, in denen Zitronenscheiben lagen. Auf einem Gartentisch neben dem Stuhl lag eine Zei-tung. Ich nahm sie in die Hand und stellte über-rascht fest, dass es eine deutsche war.

„He“, rief ich Sandusky zu. „Wer liest denn hier die Berliner Zeitung? Mein Deutschlehrer bringt sie manchmal mit in den Unterricht …“

Sandusky wirbelte herum. Er sah schockiert aus. Jetzt hatte er sich endgültig wieder in das bibbern-de Häufchen Elend verwandelt, das wir in der Krankenstation kennen gelernt hatten.

Er räusperte sich, sah auf seine Uhr und sagte: „Tut mir Leid, ich muss jetzt zur Klavierstunde.“

Wir warteten, bis er losrannte, und setzten uns dann in die andere Richtung in Bewegung.

„Bye“, rief India ihm nach, als wäre nichts ge-wesen.

Sandusky grunzte etwas zur Antwort, ohne sein Tempo zu verringern. Wir gingen weiter, bis wir ihn um eine Ecke verschwinden sahen. Dann pack-te ich India am Arm und zog sie zurück zu Num-mer 573.

Ich verspürte einen Heißhunger auf Schokolade, und meine Handflächen wurden feucht. Zwei un-trügliche Zeichen. „Hier stimmt etwas nicht“, sag-te ich.

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„Was denn?“ „Die deutsche Zeitung. Auf dem Adressaufkle-

ber stand diese Adresse und H. Sandusky. Das muss sein Großvater sein, der diese Zeitung nicht nur liest, sondern auch abonniert hat.“

„Ja, und?“, fragte India. „Weiß ich auch nicht“, gab ich zu. India schien etwas verwirrt. „Für mich ist San-

dusky ein ekliger, schleimiger Wurm und zudem nicht ganz dicht.“

Wir gingen zurück zu dem frisch gestrichenen Gartentor, das ich diesmal vorsichtig mit einem Stock aufdrückte.

„Bist du sicher, dass wir das tun sollten?“, fragte India, als wir auf die Vordertür des Hauses zugin-gen.

„Nö“, sagte ich. „Das dachte ich mir.“ Wir spähten durch das kleine, schmutzige Fens-

ter in der Haustür, doch die Nachmittagssonne stand so ungünstig, dass wir kaum etwas erkennen konnten. Also versuchten wir es bei den Fenstern an der rechten Hausseite, doch dort versperrten uns Gardinen und Jalousien den Blick. Wir gingen auf die andere Seite. Hinter einem der Fenster, wahr-scheinlich dem Küchenfenster, hingen dünnere Gardinen.

„Ich glaube, da drin hat sich was bewegt“, flüs-

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terte ich. Wer immer es gewesen war, er schien in einen anderen Raum gegangen zu sein. Ich bedeu-tete India, mir zu folgen. Vor einem anderen Fens-ter blieben wir stehen und lauschten. India sah sich hektisch um, als rechnete sie damit, dass Sandusky plötzlich mit einer Kettensäge hinter uns auftauch-te.

Ich kniff die Augen zu und horchte angestrengt. Ich glaubte, das Knarren eines Dielenfußbodens und Lautfetzen aus einem Fernseher oder Radio zu hören. Ich zog India nach unten, bis wir unterhalb des Fensters hockten. Dann sagte ich, so leise ich nur konnte: „Mach mal eine Katze nach.“

Das kann sie besser als jeder andere. India sah mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. „Tu es einfach!“ Sie schüttelte den Kopf und hauchte: „Nie im

Leben!“ Ich runzelte die Stirn und sah sie böse an, bis sie

schließlich nickte. „Mi-auuu.“ Ich gab ihr ein Zeichen, es noch einmal zu tun,

streckte meinen Arm aus und kratzte leicht mit den Fingernägeln an der Fensterscheibe.

„Mi-auuuuu.“ India sah jetzt stocksauer aus, aber ich kratzte

weiter. Dabei zeigte ich auf sie wie ein Dompteur im Zirkus und ließ sie noch ein weiteres Mal laut

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miauen. Plötzlich riss India den Mund auf und kreischte los.

Ich folgte ihrem entsetzten Blick zum Fenster. Der Vorhang war weggezogen und ein Gesicht aufgetaucht. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine von diesen billigen, durchsichtigen Hallo-weenmasken, doch dann blinzelten die Augen in der Maske. Das Gesicht – oder das, was von ihm übrig war – war echt: eine einzige Masse aus Nar-bengewebe, die mich an ein Reptil erinnerte. Die Nase fehlte fast ganz, und der Kopf war kahl, doch es waren die Augen, die mir am meisten Angst einjagten. Sie starrten mich an wie die Augen einer lebenden Leiche. Das Schlimmste war, dass sich hinter ihnen eindeutig ein intelligentes Wesen ver-barg – das uns mit unglaublicher Wildheit fixierte.

Ich schrie wie am Spieß, packte Indias Hand, und dann rannten wir um unser Leben. Wir haste-ten durch den Garten, durchs Tor und die Straße entlang, so schnell wir konnten. Erst als wir beim Zoo ankamen, stellte ich fest, dass meine Hand schon wieder mit weißer Farbe bedeckt war.

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Spurensuche im Internet

„Was war das? Was war das?“, keuchte India, nach-dem wir sicher in der Autowerkstatt des Zoos ge-landet waren. Ein Mechaniker in einem grauen Overall, auf dessen linker Brustseite der Name Chip eingestickt war, holte mir eine Dose mit Lösungs-mittel und einen Schwamm, damit ich mir zum zweiten Mal an diesem Tag die Farbe von den Griffeln putzen konnte. Chip sah uns an, als wüsste er genau, dass etwas im Busch war, aber er war höflich genug, uns nicht mit dummen Fragen auf die Nerven zu gehen. Erst als wir auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude waren, versuchte ich, Indias Frage zu beantworten.

„Ich vermute, dass es Peters Großvater war“, sagte ich. „Vielleicht aber auch ein verrückter Wis-senschaftler, der eine Ladung Salpetersäure oder flüssigen Wasserstoff abbekommen hat. Auf jeden Fall sah er aus, als hätte er an einem Experiment teilgenommen, das vollkommen danebengegangen ist.“

India zitterte – vielleicht waren es aber auch meine Augäpfel, die nach dem grauenvollen An- 94

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blick immer noch zuckten. „Vielleicht haben sie versucht, einen neuen Frankenstein zu erschaffen“, sagte sie.

„Es könnte sich auch um Genforschung han-deln“, überlegte ich. „Die Gentechnik ist ziemlich weit fortgeschritten – inzwischen haben die For-scher schon so eklige Dinge hervorgebracht wie ein Wiesel mit einem Hühnerkopf und andere abnor-male Viecher.“

„Eins ist sicher“, stellte India fest. „In diesem Haus gehen grauenhafte Dinge vor sich.“ Mit ei-nem energischen Ruck zog sie ihr Haarband straff. „Was immer es ist, Peter Sandusky hat versucht, es vor uns zu verheimlichen. Er muss uns für blöd halten.“

„Ich habe noch nie einen Jammerlappen erlebt, der sich für so cool gehalten hat“, stellte ich fest. „Wenigstens schlägt unsere Schulmannschaft seine immer im Fußball.“

„Das stimmt!“, sagte India. Ich spürte, wie ihr Entsetzen allmählich der Wut

wich, was jedes Mal passiert, wenn sie sich so auf-regt. Immer, wenn wir einen Fall untersuchen, gibt es Leute, die alle möglichen Gründe vorbringen, um uns zum Aufgeben zu überreden. Aber viel-leicht hatte es gar nichts mit unserem Fall zu tun, dass der alte Sandusky aussah wie ein Albinomons-ter aus einem schlechten Gruselfilm.

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„Dieser widerliche Peter hat das Blut ausge-tauscht“, sagte sie. „Daran besteht kein Zweifel. Er hat Ivan Allen umgebracht.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte ich. „Peter will zwar Anästhesist werden, aber ich wet-te, an seiner Schule lernt man nicht, wie man einen 250 Kilogramm schweren Gorilla betäubt. Keiner von denen, mit denen wir bis jetzt gesprochen ha-ben, hat irgendeinen Teenie oder sonst einen Fremden erwähnt, der im Kongo oder im Prima-tenhaus gesehen wurde. Umgekehrt gilt dasselbe: Den Blutraum der Krankenstation hätte niemand betreten können, der da nicht arbeitet, denn jeder Fremde wäre so auffällig gewesen wie ein zweiköp-figes Känguru.“

„Aber irgendjemand hat diesen Gorilla betäubt, ihm Blut abgezapft und es dann in der Blutbank deponiert“, sagte India gereizt.

Wir betraten das Verwaltungsgebäude. Inspektor Jamieson stand am Eingang zur Krankenstation und nickte uns flüchtig zu, während er den Beamten aus der Bronx Anweisungen gab. Zoode kam auf uns zu. Ich hatte den Eindruck, dass er krampfhaft den Bauch einzog – bestimmt wegen India. „Wir sind hier noch nicht fertig“, sagte der Sergeant.

„Wo ist Dr. Sagan?“, fragte ich. „Er ist zum Essen gegangen“, sagte der Sergeant.

„Meint ihr beide nicht, dass ihr lieber nach Hause

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fahren solltet? Wer immer Ivan Allen umgebracht hat, treibt sich vielleicht noch hier herum.“

„Ja“, sagte India. „Oder in der Nachbarschaft.“ „Sie sollten den Sandusky-Familienstammbaum

mal unter die Lupe nehmen und sich ansehen, was so in den Ästen herumschaukelt“, sagte ich. „Es könnte sich lohnen. Aber wir haben jetzt anderes zu tun.“

„Und das wäre?“, fragte Zoode misstrauisch. „Wir möchten in Ivans Büro“, sagte ich. „Da

drin befindet sich bestimmt einiges, was Sie so schnell wie möglich in Händen haben wollen. Und bis Ihre Fachleute dazu kommen, sich den Compu-ter anzusehen, ist Ivans Mörder sicher längst in Honolulu oder Rio.“

Darüber musste Zoode erst einmal nachdenken. Aber er kam wohl zu dem Schluss, dass er nichts zu verlieren hatte und wir ihm vielleicht ein paar nützliche Hinweise liefern konnten, ohne dass es ihn etwas kostete.

„Wisst ihr was?“, sagte er. „Einen Fall wie die-sen habe ich noch nie erlebt.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte ich. „Praktisch jeder hier hat mir erzählt, wie sehr er

das Opfer gehasst hat, und keiner von ihnen hat ein Alibi“, sagte Zoode. „Und das scheint ihnen auch noch vollkommen gleichgültig zu sein.“

Er zeigte den Hauptflur entlang, und India und

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ich setzten uns in Bewegung. Ivans Büro lag mitten in einer ganzen Reihe düster ausssehender Käm-merchen, zwischen dem Büro von Perry und dem Konferenzraum. An der offenen Tür hing ein Schild mit Ivans Namen. Drinnen waren die Leute von der Spurensicherung, die ich schon im Blut-raum gesehen hatte, gerade dabei, ihre Ausrüstung einzupacken. Im hinteren Teil des Raums standen zwei alte Computer.

„Sergeant Zoode hat erlaubt, dass wir uns die Computer vornehmen“, sagte ich. „Dr. Sagan ist darüber informiert.“

„Wir sind fertig“, knurrte einer der Beamten. Sie drängten sich an uns vorbei, und ich steuerte sofort auf einen der schon fast antiken Macintosh Performa-Computer zu, der wie sein Gegenstück auf einem grünen Rolltisch stand. Ich schaltete das Ding ein.

Es dauerte eine volle Minute, bis der Computer startbereit war und mich ins Internet ließ. „Wir müssen mehr über Ivan erfahren“, sagte ich und tippte seinen Namen ein. „Viel mehr.“ Als Erstes tauchte seine eigene Web-Site auf. Dort stand der übliche Blödsinn, geschmückt mit Pressefotos, auf denen er niedliche Jungtiere hochhielt und sein unechtes Lächeln zur Schau stellte. Wir verließen die Seite schnell wieder und riefen die ersten zehn der 319785 Eintragungen zum Thema „Ivan Al-len“ auf.

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India holte ihren Notizblock heraus und rollte mit dem Drehstuhl zum zweiten Computer. Nach-dem sie ihn in Schwung gebracht hatte, tippte sie „Ivan Allen + Zoo“ ein. Das Resultat war ein Haufen Artikel über Ivans erste Anstellung im Zoo von San Diego, die etwa zehn Jahre zurücklag. Es war nicht zu übersehen, dass er sich schon damals sehr darum bemüht hatte, möglichst oft in der Presse erwähnt zu werden. Er war fünf Jahre in San Diego geblieben und hatte dann ein paar Jahre im Zoo von St. Louis gearbeitet.

Wir hatten die Zahl der Eintragungen auf unter 1000 gesenkt, aber das waren immer noch viel zu viele. „Es geht fast nur um seine Talkshow-Auftritte“, sagte India, „und um diese Primatenan-lage, die er vor sechs Jahren hier im Zoo eingerich-tet hat. Die meisten Artikel handeln von ihm und dem Kongo-Gorilla-Wald.“

„Das ist alles nur Pressezeug“, stöhnte ich. „So erfahren wir nichts über sein Privatleben. Ich glau-be, wir müssen weiter zurückgehen.“

India blätterte in ihrem Notizblock. „Perry hat doch erwähnt, dass Ivan Verwandte in Deutschland hat.“

„Die Berliner Zeitung bei den Sanduskys!“, rief ich aufgeregt. Ich tippte „Ivan Allen + Deutsch-land“ ein.

Zu dieser Kombination gab es 415 Websites.

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Dazu gehörten auch solche wie: Christopher S. Allen, „Deutsche Parteien im Umbruch“; Milton J. Allen, „Ökosystem Niederwald“, und auch ein Haufen Verweise auf Zeitungs- und Zeitschriften-artikel. Ich hatte seit zwei Jahren Deutsch in der Schule und konnte inzwischen einigermaßen zwei-felsfrei erkennen, dass es bei „Nacht der Kavaliere: Allen; Deutsche Gedichte“ nicht um Ivan Allen ging.

„Ich hab was!“, sagte India. Ich rollte meinen Stuhl direkt neben ihren und

starrte auf ihren Monitor. India hat Französisch und Latein, aber ihre paar Brocken Deutsch reichten aus, um festzustellen, dass diese Site wichtig sein konnte. „Hier ist Ivan, ein Zoo und etwas über Stuttgart.“

Ich klickte den Originalartikel auf den Bild-schirm. „Es geht um ein Feuer“, übersetzte ich. Was die deutsche Sprache angeht, bin ich wirklich kein Genie, aber ich tat mein Bestes. „Ein Feuer in einem Zoo – im Stuttgarter Zoo.“ Ich überflog den Artikel und erfuhr, dass Ivan der leitende Pri-matenforscher dieses Zoos gewesen war. Der Arti-kel war 15 Jahre alt. „In der Anlage für die Affen ist ein Feuer ausgebrochen.“

„Was ist passiert?“ „Hier steht, dass alle verbrannt sind … Schim-

pansenbabys, Gorillas und Mandrills. Auch Arbeiter

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wurden verletzt … getötet … ein Zoologe … ein paar Laboranten … das Primatenhaus vollständig niedergebrannt …“

„Wie schrecklich“, sagte India. Ich hatte den Eindruck, dass India dasselbe

dachte wie ich – der Artikel hatte uns auf die rich-tige Spur gebracht. Natürlich konnten wir noch nicht überschauen, was das alles bedeutete. Ganz offensichtlich hatte die Tragödie im Stuttgarter Zoo etwas mit dem Mord an Ivan zu tun, doch worin dieser Zusammenhang bestand, konnte ich unmöglich in zwei Sekunden herausfinden.

India tippte wie wild auf ihre Tastatur ein. „Ich habe einen französischen Artikel darüber gefun-den.“ Ihr Französisch ist viel besser als mein Deutsch. In den nächsten Minuten fanden wir drei weitere Artikel und druckten sie aus.

„Die Namen!“, rief India. „Überprüf die Na-men der Getöteten. Der Verletzten. Einfach alle.“

Ich durchsuchte alle deutschen Artikel, die ich gefunden hatte. Ich stieß auf etwa ein Dutzend Namen, die mir nichts sagten – mit Ausnahme von Henning. „Henning“, sagte ich.

„Wie John Henning, der fliegende Gärtner?“, fragte India.

„Ja. Aber das hier ist Wilma Henning – sie war zuständig für …“ Ich kämpfte mit den wissen-schaftlichen Fachausdrücken. „Sie hatte sprechende

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Schimpansen. Sie hat Schimpansen das Sprechen beigebracht.“ Ich versuchte, mich klarer auszudrü-cken. „Ja, sie hat ein paar Schimpansen trainiert … sie konnten zeigen … sprechen … Zeichensprache … ein paar 100 Worte.“

Plötzlich kam mir ein Gedanke, und ich erstarr-te. India bemerkte es sofort. „Was ist los?“

Sie spähte auf meinen Bildschirm, während ich „Stuttgart + Paterfamilias“ eingab.

Ein einziger Hinweis auf einen Artikel in einer deutschen Zeitschrift tauchte auf. Ich holte ihn mir auf den Bildschirm. Es schien ewig zu dauern, bis Text und Fotos endlich aufgebaut waren. Uns starrte ein Gesicht entgegen. Ein haariges, etwas dümmlich wirkendes Gesicht mit hasserfüllten Au-gen und einem offenen Mund voller gefährlich aussehender Zähne. Die Bildunterschrift lautete: „Der preisgekrönte Tiefland-Gorilla Paterfamilias und seine Familie wurden Opfer der Brandkatast-rophe im Stuttgarter Zoo.“

„Mein Gott!“, sagte India. Ich betrachtete den stolzen Silberrücken. Ich

konnte mir seine Familie gut vorstellen. Seine Frau und die Tanten. Seine Kinder.

„Es bedeutet Familienvater“, sagte India. „Pater-familias – das heißt es doch, oder?“

Ich konnte ihr nicht antworten. Ich brachte kein Wort heraus.

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Die Bestie im Tunnel

„Sieh dir das an“, sagte ich, als mir das winzige rote Blinklicht in der rechten oberen Ecke meines Bild-schirms auffiel, genau zwischen dem WordPerfect-Logo und der Datumsanzeige.

„Was ist los?“, fragte India. „Jemand bespitzelt uns“, sagte ich und sprang

auf. Ich zeigte auf den blinkenden Punkt. „An ir-gendeinem anderen Computer in diesem Zoo sitzt jemand und sieht sich alles an, was wir gefunden haben.“

India wollte ihren Computer abschalten, aber ich konnte sie gerade noch rechtzeitig daran hin-dern. „Nicht.“ Ich durchsuchte die Symbolleisten nach einem Zahlencode des Computers, der sich bei uns eingeklinkt hatte, konnte aber nichts fin-den.

„Komm mit“, sagte ich und ging zur Tür. „Lass die Computer an.“

India holte unsere Ausdrucke aus dem Papier-fach des Druckers und rannte mir nach in die Hal-le. In Perrys Büro musste es einen Zentralrechner geben, der erkannte, welcher Computer gerade in 103

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Betrieb war. So etwas haben mittlerweile alle gro-ßen Firmen und Organisationen, weil sie nur so kontrollieren können, ob die Angestellten sich ge-genseitig alberne E-Mails schicken oder im Internet herumsurfen, statt zu arbeiten.

Ich hastete an der Glasfront von Perrys Büro vorbei. Die Tür war verschlossen. „Eine Kreditkar-te, schnell“, sagte ich zu India.

India wühlte kurz in ihrer Leopardentasche und fand ihre American-Express-Karte. Unsere Eltern ha-ben uns für den Notfall Kreditkarten gegeben, aber wir müssen erst fragen, bevor wir sie benutzen – das gilt natürlich nicht, wenn wir wirklich akut in der Klemme stecken oder es um Leben und Tod geht. Ich schob ein Ende der Karte in den Türspalt. Die Tür hatte nur ein einfaches Schloss, das schon beim ersten Abwärtsziehen der Karte nachgab. Diese Tür hätte selbst ein Dreijähriger öffnen können.

Wir betraten das Büro. Auf dem Zentralmonitor neben dem blau-grauen iMac leuchteten zwei Kontrolllampen, und alle ans Netz angeschlossenen Geräte waren in einer Liste aufgeführt. Das eine Licht verwies auf Ivans Computer, und das andere zeigte an, dass unser Spitzel irgendwo im Kongo-Bereich saß.

„Los, den schnappen wir uns“, sagte ich. Wir rannten los und knallten die Bürotür hinter

uns zu. Zoode stand in der Eingangshalle.

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„Habt ihr etwas gefunden?“, fragte er. „Kann schon sein“, sagte ich nur und rannte

weiter. Wir stürmten den Hauptweg hinunter. In-dia ging noch einmal die Ausdrucke durch, als wir am Elefantenhaus vorbeihetzten. Links von uns lag das Reptilienhaus und direkt vor uns die Unter-kunft der Krallenaffen. Am Himmel waren dunkle Regenwolken erschienen, und es war abzusehen, dass uns ein Gewitter oder zumindest ein Wolken-bruch bevorstand. Obwohl es erst Nachmittag war, war es durch die Regenfront so dämmrig gewor-den wie am späten Abend.

„Warum hat Ivan all die Jahre diese Denk-an-Paterfamilias-Briefe gekriegt?“, japste India außer Atem. „Wer hat sie geschickt, und warum ist er bei jedem so ausgeflippt? Wer wollte, dass er nicht ver-gisst, was in Stuttgart geschehen ist?“

Ich holte mein Handy heraus und wählte die Nummer von Jesus, unserem Computerexperten.

„Ja?“, meldete sich Jesus. Ich konnte ihn kauen hören; in seiner Familie aß man früh zu Abend.

„Wir brauchen dich“, sagte ich. „Schieß los.“ „Hast du Papier und Stift?“ „Klar.“ Ich erklärte hastig, was wir bisher herausgefun-

den hatten, und bat ihn, alles herauszusuchen, was mit den Namen Blessman, Sandusky, Waters und

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Henning zusammenhing, und außerdem zu über-prüfen, ob sich irgendeiner der Zooangestellten mit Ivan Allen und dem Stuttgarter Zoo in Verbindung bringen ließ. Irgendeiner, der einen Grund hatte, Ivan 14 Jahre lang zu hassen – so sehr zu hassen, dass es für einen Mord ausreichte.

India schnappte sich das Telefon. „Finde heraus, in welchem Verhältnis Wilma Henning zu John Henning steht.“ Dann drückte sie mir das Telefon wieder in die Hand.

„Ruf an oder mail mir, was du gefunden hast“, sagte ich. „Ich kann die Mails von den Computern hier abrufen.“

Jesus versprach, sich sofort an die Arbeit zu ma-chen. India und ich waren mittlerweile fast beim Eingang zum Kongo angekommen.

„Glaubst du, dass wir den Spitzel schnappen?“, fragte India und stopfte die Computerausdrucke in ihre Schultertasche.

„Gut möglich“, sagte ich. Wir rannten durch das riesige Holztor und in das Gewirr tropischer Bäume. Wir trafen keine Menschenseele – wahr-scheinlich waren die meisten Zooangestellten schon nach Hause gegangen und saßen mit einem Fertiggericht vor dem Fernseher. India dachte an-gestrengt über etwas nach. „Was ist los?“, fragte ich. „Ich kann fast hören, wie deine kleinen grauen Zellen arbeiten.“

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Sie holte tief Luft und schaute hoch ins Blätter-dach. „Ich habe mich gerade eines gefragt: Wenn die Menschen wirklich von Affen abstammen, wie-so gibt es dann immer noch Affen?“

Es herrschte plötzlich eine unnatürliche Stille im ganzen Zoo. Aus dem Gehege der Jaguare drang kein Laut. Nach etwa 100 Metern mussten wir durch ein Drehkreuz und kurz danach durch eine Drehtür aus Metall gehen, durch die man wohl hinein, aber nicht hinaus konnte. Der Nachmittag ging allmählich in den Abend über, die Zeit, in der die Welt den Jägern gehört und in der die Schwa-chen sich verstecken sollten, falls sie wissen, was gut für sie ist.

Je weiter wir kamen, desto unheimlicher wurde es. Oben in den Baumwipfeln zeterten noch ein paar Affen und Vögel herum – wahrscheinlich strit-ten sie um die besten Schlafplätze. Hinter einer gigantischen Mangrovenwurzel schoss plötzlich eine Gazelle hervor, und ihre kleinen Hufe mach-ten einen erstaunlichen Lärm. Dann war es wieder ruhig.

Der Pfad war mit ein paar matten Lampen er-leuchtet, die den Weg zum Glastunnel wiesen – dem Tunnel, der zum Primatenhaus und dem Frei-gehege der Gorillas führte.

Wir kamen an einigen der interaktiven Spielge-räte vorbei. India zeigte auf die Schlangengrube

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und das dazugehörige Gerät, bei dem man auf Knopfdruck ein Geräusch auslösen konnte, das die Kobras weckte. An dieser Stelle verzweigte sich der große Tunnel in vier kleinere. Wir wählten den ganz rechts, denn über ihm hing ein Schild, auf dem Zum Gorilla-Wald stand. Doch wir hatten kaum 100 Meter zurückgelegt, als plötzlich alle Lichter ausgingen.

„Oh, Mist“, sagte India entsetzt. „Ich schätze, sie machen das Licht aus, damit die

Tiere wissen, dass es Zeit zum Schlafengehen oder Fressen oder was auch immer ist“, versuchte ich sie zu beruhigen. Es donnerte, und die Gewitterwolken verdeckten jetzt den ganzen Himmel. Nur vom Primatenhaus ging ein schwacher Lichtschein aus.

An der nächsten Station war es so dunkel, dass ich Mühe hatte, das Schild Warzenschweine und der Handel mit Wildtierfleisch zu entziffern.

„Ich erinnere mich, dass uns der Führer bei ir-gendeinem Zoobesuch erzählt hat, das Warzen-schwein wäre der engste Verwandte des Elefanten“, sagte India.

„Ich wette, das war einer von diesen arbeitslosen Schauspielern, die ihren Job total langweilig finden und sich irgendwas ausdenken, nur um wach zu bleiben. Ich dachte immer, diese großen Nagetiere aus Südamerika wären die nächsten Verwandten des Elefanten.“

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„Meinst du Wasserschweine?“, fragte India. „Genau.“ „Vielleicht hat der Typ Wasserschwein gesagt.

Auf jeden Fall war es irgendein Schwein.“ Eines der Warzenschweine kam angaloppiert

und stoppte vor dem Glas. Es hob den Kopf und stieß eine Reihe von Grunzlauten aus, die sogar durch die Glasscheibe deutlich zu hören waren. Wir hasteten weiter, so schnell das in der Dunkel-heit möglich war.

Plötzlich ertönte ein lautes Bumm, als wäre je-mand gegen eine der Metalltüren gerannt, die den Zugang zu den Seitentunneln versperrten. Wir erstarrten und lauschten.

Nichts. „Was war das?“, fragte ich India. „Es hörte sich jedenfalls nicht gut an“, sagte sie.

„Hallo?“, rief sie in den gewundenen Tunnel. Es kam keine Antwort. Ich stand einfach nur da wie ein witternder

Hund und setzte all meine Sinne ein. Einen Au-genblick später hörten wir es wieder: Bumm Bumm Bumm. Meine linke Gesichtshälfte begann zu zu-cken, und mir war klar, dass auch India es nicht besonders lustig fand, im Dunkeln zu stehen, wäh-rend sich etwas Großes wütend gegen irgendwel-che Wände warf.

Irgendwann hörte der Lärm auf. Ich nahm In-

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dias Hand, und wir gingen weiter. In einer Kurve war genug Licht, um in einer Ecke dieser Station ein ziemlich großes Spinnennetz zu erkennen, an dessen Rand eine Spinne von der Größe eines Sektkorkens baumelte.

„He, das musst du dir ansehen“, sagte ich. „Was denn?“ „Da oben, in der Ecke.“ India kräuselte ihre Nase – ein Zeichen dafür,

dass sie die Spinne gesehen hatte. Blitzschnell lang-te ich mit einer Hand über ihre Schulter und strich ihr mit einer Fingerspitze über den oberen Rand des Ohrs. Sie kreischte und fuhr herum wie ein Derwisch, bis sie das Grinsen auf meinem Gesicht entdeckte.

„Du bist ein kindischer Idiot“, fauchte sie. Mein Grinsen wurde noch breiter. „Hast du das gehört?“, fragte sie plötzlich. „Klar.“ jetzt war sie wirklich sauer. „Nicht

mich. Etwas anderes.“ Ich horchte. Dann hörte ich es. Es klang fast wie eine

asthmatische Wildkatze, und es machte mir Angst. Was immer es war, es befand sich nicht hinter dem Glas.

„Irgendetwas ist hier mit uns im Tunnel“, sagte India. Doch dann herrschte wieder Stille, und wir gingen weiter bis zu einer Stelle, an der sich der

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Tunnel erneut verzweigte. Eine der Abzweigungen war durch eine große Metalltür versperrt.

„Ich schlage vor, wir nehmen diesen Weg“, sag-te ich und betrat den einzigen offenen Tunnel.

Schon nach ein paar Schritten nahmen wir ei-nen merkwürdigen Geruch wahr. India hielt sich den Kragen ihrer Bluse vor die Nase. „Da ver-schwenden die Millionen für diesen Bau und gei-zen dann mit den Desinfektionsmitteln“, sagte sie. Sie blieb abrupt stehen und betrachtete etwas, das auf dem Boden lag. Ich schaute ebenfalls hin. An dieser Stelle reichte das fahle Licht aus, um erken-nen zu können, dass es sich um eine Möhre han-delte – eine angeknabberte Möhre von der Größe eines Daumens.

India hob die Möhre mit den Fingerspitzen auf und ließ sie dann wieder fallen. „Sie ist nass“, sagte sie.

„Voll gesabbert.“ Sie wollte sich gerade die Hand an der Jeans abwischen, entschied sich dann aber dafür, den Schleim an die Glasscheibe zu schmieren.

Wir gingen ein paar Schritte weiter, bis wir ir-gendwo vor uns ein Tier schreien hörten. In die-sem Abschnitt des Tunnels war es stockdunkel, und wir konnten nichts sehen.

Aber wir konnten etwas hören. Wir hörten etwas atmen. Ein schnelles, hektisches Atmen, das sich genau-

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so anhörte wie mein eigenes. Mit weit aufgerisse-nen Augen starrte ich nach vorn. Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung, und India folgte mir. Ihre Hand griff nach meiner – sie fühlte sich genauso schweißfeucht an wie meine eigene.

Jetzt war ein leises Heulen zu hören. Es erinner-te mich an den Dobermann in unserer Nachbar-schaft, der immer die Nase gegen den Türspalt presst und stundenlang heult, wenn man ihn allein lässt. Doch was immer in der Dunkelheit auf uns lauerte, war kein Hund und sicher auch kein ande-res Haustier.

Wir mussten wissen, was es war, also gingen wir weiter. Erst ziemlich spät entdeckte ich etwas, das aussah wie zwei Diamanten. Es dauerte einen Mo-ment, bis ich begriff, dass es Augen waren.

„Wie süß“, sagte India. Sie kann in der Dunkel-heit besser sehen als ich. Meine Freude hielt sich in Grenzen, auch als ich das kleine Gorillababy vor uns an seinen spitzen Ohren erkannte.

„Der Kleine heißt Mr Spock“, erklärte ich. India lachte. „Der Name ist perfekt.“ Ich nahm an, dass Mr Spock hinter der Glaswand

saß, aber als ich ihm die Hand entgegenstreckte, schlug er schreiend die Hände vors Gesicht, und dabei fiel ihm das hintere Ende einer Möhre aus der Hand und rollte dicht vor unsere Füße.

India war hingerissen. Plötzlich flippte das Go-

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rillababy völlig aus, kreischte und japste und wedel-te mit den Armen, als stünde es unter Strom. India hob die Überreste seiner Möhre auf und hielt sie ihm hin. Mr Spocks kleine Nasenlöcher bebten.

„Lass das lieber“, warnte ich. India ignorierte mich, denn Mr Spock streckte

ihr eine Hand entgegen. Als seine Finger die Möh-re berührten, griff er danach und fing sofort wieder an, darauf herumzukauen. Einen Moment später legte er die Möhre weg und streckte India beide Arme entgegen, als verlangte er, dass sie ihn auf den Arm nahm.

Dann hörten wir ein weiteres Geräusch. Wir sahen uns um. Hinter uns war ein erleuch-

tetes Viereck erschienen, als hätte jemand eine Tür geöffnet.

Einen Moment später ertönte dasselbe Geräusch noch einmal. Es war ein tiefes Grunzen, doch diesmal schwoll es zu einem ohrenbetäubenden Brüllen an. Der massige Umriss von Gargantua schien den Tunnel fast vollständig auszufüllen.

„Das kann nicht sein“, stieß India hervor. Doch es war so. Mr Spocks Vater brüllte noch

einmal. Dann begann er sich mit den Fäusten auf die Brust zu schlagen wie auf eine Kesselpauke. Zwischen uns und der 250 Kilo schweren wüten-den Bestie befanden sich weder Gitterstäbe noch eine Glaswand.

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Affentheater bei Kerzenlicht

India und ich rührten uns nicht. Mr Spock schrie noch einmal. Wir sahen entgeistert zu, wie sich Gargantua auf

uns zubewegte. Er war gigantisch groß und ganz offensichtlich sehr wütend. Ich ergriff Indias Hand, und wir wichen langsam zurück, um nicht länger zwischen dem großen Silberrücken und seinem Sohn zu stehen. Mr Spock hatte seinen Vater längst gesehen, aber unseren Rückzug fand er interessan-ter. Gerade als wir uns in die totale Dunkelheit verdrücken wollten, brüllte Gargantua ein zweites Mal und fing wieder an, sich gegen die Brust zu trommeln.

Auch Mr Spock ließ uns nicht aus den Augen, vor allem India nicht. Er sah aus, als wäre er uns am liebsten gefolgt, und ich versuchte, ihn durch ein Handzeichen daran zu hindern. „Bleib da“, beschwor ich ihn. „Mach schön Sitz …“

Das Kleine sah meine Handbewegung und be-trachtete mich fragend. Dann stieß es einen Laut aus, der sich wie eine Aufforderung zum Spielen anhörte. Ein kurzer Lichtreflex ließ mich die Angst 114

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in Indias Augen erkennen, eine Angst, die sie zwei-fellos auch an meinem Gesicht ablesen konnte.

Ein weiteres Brüllen hallte durch den Gang. „Geh zu Papa“, flehte India den kleinen Gorilla

an. Mr Spock begann zu weinen. Wir drehten uns um und eilten im Stechschritt

davon. Es sah sicher so aus wie bei den Sportge-hern im Central Park – nämlich total albern. Das war uns im Moment aber egal. Als wir eine Kurve hinter uns hatten, rannten wir los und landeten prompt vor einer weiteren verschlossenen Tür. Wir saßen in der Falle.

„Wir müssen den Weg nehmen, auf dem wir gekommen sind“, sagte India tonlos, als verkündete sie unser Todesurteil.

Wir hörten das Tapsen von Füßen. Nah. Sehr nah.

„Nicht bewegen“, zischte ich. Es war Mr Spock, der nach uns suchte – und

wir wussten genau, wer als Nächstes auftauchen würde. Instinktiv wichen wir zurück bis an die Glasscheibe – dieselbe dicke Glasscheibe, die die wilden Tiere draußen halten sollte und uns jetzt den Fluchtweg abschnitt.

Wortlos sahen wir zu, wie die Silhouette von Gargantua auftauchte. Als ich ihn das erste Mal mit Betty Waters gesehen hatte, war er mir höchstens

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so groß vorgekommen wie ein Kleinwagen, doch jetzt sah er aus, als hätte er mindestens die Größe eines Reisebusses. Er senkte drohend den Kopf.

Ohne meinen Kopf zu bewegen, wisperte ich India zu: „Leg dich auf den Boden und spiel tot.“

Langsam und vorsichtig ließen wir uns auf den kalten Fliesenboden rutschen. Ich hatte irgendwo gelesen, dass man das machen soll, wenn einen ein wildes Tier in die Enge getrieben hat.

Wir lagen kaum auf dem Boden, als Mr Spock auch schon angerannt kam und anfing, mit Indias Haaren zu spielen.

„Nein, Kleines“, wimmerte India. „Nein.“ Gargantua war außer sich, als er sah, was sein

Sohn da trieb. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und machte sich so breit, wie er nur konnte. Sogar Mr Spock schrie vor Angst, als sein Vater plötzlich vorstürmte und erst direkt vor uns Halt machte. Er hob die Fäuste und begann auf die Fliesen, das Glas und die Metalltür einzuschlagen. Er schlug auf alles, was irgendwie Lärm machte.

Ich lag zur Kugel zusammengerollt vor India. Wir hatten beide die Knie an die Brust gezogen und schützten Kopf und Gesicht mit den Armen. Ich riskierte einen Blick durch meine zitternden Finger und sah, wie Mr Spock zwischen den Bei-nen seines Vaters hindurchlief.

Gargantua packte meinen Ärmel und zog daran.

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Er zerrte mich mehrere Meter weit über den Bo-den und ging dann schnaufend und sabbernd um mich herum. Ich war immer noch eingerollt wie ein Igel, und er schrie und hämmerte so laut gegen die Metalltür direkt neben mir, dass ich glaubte, meine Trommelfelle würden platzen.

Einen Moment lang hoffte ich, er würde sich verziehen, doch er bückte sich und pikste mir ei-nen Finger in die Seite. Dann hob er mich halb hoch und begann mich zu untersuchen. Als er mich beschnupperte, spürte ich, wie heißer Spei-chel auf meine Kopfhaut tropfte. Trotzdem gelang es mir, absolut bewegungslos zu bleiben. Ich glau-be, dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich den Ausdruck „starr vor Angst“ tatsächlich ver-stand.

Gargantua ließ mich los und stieß eine Reihe von Grunzlauten aus, die in einem letzten Brüllen und einem triumphierenden Brusthämmern ende-ten. Dann drehte er sich um und hob Mr Spock auf, der zurückgekommen war und von hinten an seinen Beinhaaren zog. Mr Spock schnatterte glücklich vor sich hin, als er mit seinem Vater hin-ter der Kurve verschwand.

Erst als das Schnattern und das Patschen der Go-rillafüße schon lange verstummt waren, wagten India und ich es, uns wieder zu bewegen. India schüttelte den Kopf und lächelte mich erleichtert

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an. Ich war nicht in der Lage, ihr Lächeln zu erwi-dern – ich hatte Todesangst ausgestanden. Mein Albtraum war Wirklichkeit geworden. Dann wur-de ich wütend, sehr wütend. Diese Gorillas waren nicht zufällig in den Tunnel geraten. Jemand hatte sie hineingelassen. Und dieser Jemand hatte ge-dacht, dass sie uns töten würden – oder uns zumin-dest dazu bringen würden, die Ermittlungen ein-zustellen.

Nun, da musste ich diesen Jemand enttäuschen – sein Plan hatte nicht funktioniert. Mit Indias Hil-fe würde ich ihn stellen und an die Wand nageln. Sobald sich mein Pulsschlag wieder normalisiert hatte.

Wir standen auf. „Bist du noch heil?“, fragte In-dia. „Hat dir das Vieh irgendwelche Knochen ge-brochen?“

„Nein, alles klar“, sagte ich. „Und bei dir?“ Sie bewegte Arme und Beine. „Alles noch

dran“, sagte sie. Plötzlich drang ein Klingeln aus ihrer Umhängetasche. India holte ihr Handy heraus und klappte es auf. Es war ihre Mutter.

Was will sie?, fragte ich pantomimisch, während India sich bemühte, normal zu klingen. Sie schnitt eine Grimasse und bedeutete mir, einen Ausweg aus dem Tunnel zu suchen. Ich ließ meine Hände su-chend über die Metalltür hinter uns wandern. Als ich dagegen drückte, ließ sie sich plötzlich öffnen.

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Jemand hatte sie entriegelt. India sprach noch immer mit ihrer Mutter, als ich sie in die Eingangshalle der Primatenstation führte. Nachdem ich mich über-zeugt hatte, dass wir hier vor weiteren Gorillaangrif-fen sicher waren, drückte ich mich dicht an India, weil ich mithören wollte, was ihre Mutter sagte.

„Nein, alles in Ordnung“, sagte India gerade. „Du klingst, als wärst du außer Atem“, stellte

Mrs Riggs fest. „Deine Stimme hört sich ganz merkwürdig an. Was ist bei euch los?“

India warf mir einen kurzen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass sie das Richtige sagte. „Wir hatten ein paar Probleme mit einer Drehtür“, sagte sie. „Sie hat geklemmt, aber jetzt ist alles in Ord-nung. Mum, ich glaube, wir sind auf etwas gesto-ßen. Hier geht so einiges vor sich. Wir glauben, jetzt das Motiv zu kennen – den Grund für den Mord an Ivan Allen. Zumindest haben wir eine Vermutung …“

„Das ist mir egal“, unterbrach ihre Mutter sie. „Ich habe noch einmal darüber nachgedacht, und ich will nicht, dass ihr heute Nacht im Zoo bleibt. Ich habe schon bei Perry angerufen und es ihm gesagt. Quentins Tante hat mich auch angerufen, und …“

„Aber wir stehen kurz vor dem Durchbruch …“, stieß ich hervor, sodass sie mich hören konn-te. „Wir sind dicht dran …“

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Mrs Riggs bestätigte mit einem Grunzen, dass sie mich gehört hatte. Sie wusste längst, dass ihre Tochter und ich praktisch immer mit jeweils einem Ohr am selben Telefon klebten. „Quentin, es ist mir völlig gleichgültig, vor welchem Durchbruch ihr steht. Wenn ihr unbedingt wollt, könnt ihr morgen bei Tage wieder in den Zoo gehen, und ich bin sicher, dass ihr dann vor demselben Durch-bruch stehen werdet. India, dein Vater und ich gehen heute zum Pokerabend in der Nähe der Uni. Du weißt schon, mit den beiden Philosophie-professoren. Wir holen dich und Quentin auf dem Rückweg ab, so gegen halb elf.“

„Ginge es auch um elf?“, fragte ich. „Wir brauchen die Zeit“, fügte India hinzu. Einen Moment herrschte Schweigen. Mrs Riggs

hat es nicht gern, wenn man sich ihren Anweisun-gen widersetzt. „Also gut“, sagte sie schließlich. „Aber nicht später. Ich habe übrigens mit Inspektor Jamieson gesprochen. Er musste zugeben, dass ihm dieser Fall ein Rätsel ist.“

„Das wundert mich nicht“, sagte ich. „Was?“, rief Mrs Riggs, doch das hörten wir

nur noch undeutlich. Im Telefon rauschte und knisterte es.

„Bis nachher, Mum“, schrie India ins Telefon. „Die Verbindung bricht zusammen.“

India klappte das Handy wieder zu. Sie warf

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noch einen Blick auf die Metalltür, schauderte und folgte mir dann durch die in unheimliches rotes Licht getauchte Eingangshalle.

„Es muss mehr als ein Mörder sein, nicht wahr?“, fragte sie.

„Entweder das, oder der Mörder ist achtarmig.“ „Aber wie hängt das alles mit Stuttgart und dem

Feuer zusammen?“ „Genau das müssen wir herausfinden“, sagte ich. Ich zuckte zusammen, als ich plötzlich zwei rot

erleuchtete Figuren auf uns zukommen sah, doch ich erkannte schnell, dass es sich dabei nur um die Spiegelbilder von India und mir handelte, die von einer gläsernen Trennwand zurückgeworfen wur-den. Ich blieb einen Moment stehen und nutzte diesen Spiegelersatz, um meine Haare wieder in Ordnung zu bringen und das Sweatshirt, das ober-halb meines Bauchnabels hing, wieder zurechtzuzie-hen. Der Gorilla hatte mich stärker gebeutelt, als ich gedacht hatte – ich sah aus wie der letzte Prolet. Mit einem Taschentuch half India mir, den letzten Rest Gorillasabber von meiner Stirn zu wischen.

„Wieso habe ich das Gefühl, dass wir erwartet werden?“, fragte ich und drückte die Schwingtür auf, an der ein Schild hing, auf dem Nur für Anges-tellte stand. „Wer immer uns Gargantua auf den Hals gehetzt hat, war ziemlich sicher, dass er uns nicht töten würde.“

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„Ich wünschte, ich wäre genauso sicher gewe-sen. Und was kommt als Nächstes?“, fragte India. „Vielleicht ein Tümpel voller Krokodile?“

„Das werden wir gleich wissen“, sagte ich. Wir kamen an der Narkosekabine vorbei, die

Dr. Waters mir gezeigt hatte. Hier war es wenigs-tens etwas heller – ein paar matte Glühbirnen und einige Oberlichter sorgten für eine gewisse Hellig-keit.

„Hier betäuben sie die Gorillas für Zahnbehand-lungen oder Blinddarmoperationen oder was die Viecher sonst haben mögen“, erklärte ich India. Von draußen waren mehrere Donnerschläge zu hören.

Wir folgten der Ausschilderung zur Primaten-Kinderstube. Im ganzen Gebäude schien keine Menschenseele mehr zu sein, auch die Polizisten und Spurensicherer waren längst verschwunden. Wir kamen um eine Kurve und konnten durch eine Glastür in das Reich von Betty Waters sehen. Sie saß auf einem Drehstuhl, hatte einen winzigen Affen auf dem Arm und fütterte ihn aus einer Nu-ckelflasche. Das Licht in dem Raum flackerte merkwürdig. Dr. Waters hielt den Kopf gesenkt, als wollte sie uns weismachen, dass sie uns noch nicht gesehen hatte.

Als wir eintraten, schaute sie auf. Sie war umge-ben von einem Dutzend brennender Kerzen. „Der

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Strom ist mal wieder ausgefallen“, sagte sie. „Ein Glück, dass alle Schimpansen Kerzenlicht lieben.“

Das Schimpansenbaby in ihrem Arm war in ein Tuch gehüllt, und sie schaukelte es wie ein men-schliches Baby. Irgendwie erweckte dieser Anblick einer Mutter-Parodie inmitten der Kerzen in mir das Gefühl, als wären wir in einem drittklassigen Theaterstück gelandet. Zu den Zuschauern gehör-ten außer India und mir auch ein halbes Dutzend Schimpansenmütter, die ihre größeren, haarigeren Kinder an sich drückten. Wir alle sahen Betty Wa-ters an, als wäre sie die Hauptdarstellerin in diesem Affenzirkus.

„Das ist meine Freundin India Riggs“, sagte ich zu Betty.

„Hallo“, sagte sie. „Perry hat mir erzählt, dass ihr beide zusammenarbeitet. Erfreut, dich kennen zu lernen, India. Macht euch das Detektivspielen Spaß?“

Wir hatten keine Zeit zu verlieren, und außer-dem ging mir ihre herablassende Art inzwischen gehörig auf die Nerven. „Falls es Sie interessiert: Gargantua hat uns nicht umgebracht“, warf ich ihr an den Kopf.

„Wie bitte?“, fragte sie und tat so, als wäre sie ehrlich überrascht. „Wie meinst du das?“

Das Adrenalin in meinen Adern ließ mich im-mer noch zittern. „Ich meine, dass India und ich da

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draußen in Ihrem kleinen Irrgarten waren und ir-gendjemand dafür gesorgt hat, dass wir von Gar-gantua begrüßt wurden.“

„Wir hätten getötet werden können“, sagte In-dia.

Betty machte große Augen. „Gargantua war draußen?“

„Allerdings“, sagte ich. „Du meine Güte.“ Dr. Waters klang ungefähr

so aufgeregt, als hätte sie gerade 30 Stunden Mu-sikberieselung im Kaufhaus über sich ergehen lassen müssen.

„Wir hätten Sie gerne dabeigehabt“, sagte India boshaft.

„Alle Tore und Absperrungen sind computerge-steuert“, sagte Dr. Waters. „Computer regieren unsere Tiere. Einer unserer Techniker muss einen schrecklichen Fehler gemacht haben.“ Diesen gön-nerhaften Ton hatte sie mir gegenüber auch schon am Nachmittag angeschlagen.

Wenigstens trug sie jetzt nicht mehr ihre hässli-che Plastik-Perücke. Ihre eigenen Haare waren schmutzig blond und dünn und hatten gespaltene Spitzen. Ich fragte mich, wie wir all die Fragen anbringen sollten, mit denen wie sie unter Druck setzen wollten. Mein Blick fiel auf einen Compu-terbildschirm und den blinkenden roten Punkt in der rechten oberen Ecke. „Wir wissen Bescheid

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über Stuttgart und das Feuer“, sagte ich. „Über all die toten Tiere.“

„Ja“, sagte Betty, und ihr Blick durchbohrte uns jetzt wie ein Laserstrahl. „Ich weiß, dass ihr es wisst.“

„Und wir wissen, dass Sie das wissen“, fügte In-dia hinzu.

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Der Feuerteufel

Dr. Waters streichelte dem nuckelnden Schimpan-senbaby den Kopf und tupfte mit einem Tuch die Mischung aus Milchpulver und Muttermilch ab, die aus seinem Mund rann. Das Kleine sah dankbar zu ihr auf.

Dann drehte sie ihren Stuhl zu einer Konsole voller Hebel. Sie legte einen der Hebel um, wo-raufhin in dem Raum hinter den Brutkästen ein sanftes blaues Licht anging. Dort waren junge Rhe-susaffen und Paviane untergebracht.

Ein zweiter Hebel machte den Blick frei auf ei-nen Großteil des Gorillageheges. Der Regen pras-selte auf die Farne und Lianen, und die Tropfen rannen an der Glasscheibe herunter wie Tränen. Alle Mitglieder der großen, glücklichen Gorillafa-milie betrachteten uns durch die Glaswand. Mr Spock war bei seiner Mutter, und in ihrer Nähe saßen Tante Nichts-Böses-hören, Onkel Jimbo und die anderen Tanten und Onkel. Und Gargantua. Alle starrten durch das Glas auf die Schimpansen in ihren Käfigen, auf Betty und auf das Baby, das sie im Arm hielt. 126

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Und auf uns. „Man kann nicht hier arbeiten, ohne zu bemer-

ken, wie menschenähnlich diese Tiere sind“, sagte Betty. „Sie sind beinahe Menschen. Sie können fühlen und denken wie wir. Man sieht es an ihren Augen. Sie lieben, können Freude empfinden und spüren Schmerzen genau wie wir. Wusstet ihr, dass unsere Gene zu 98 Prozent mit denen der Primaten identisch sind?“

Ich brauchte einen Moment, um herauszufin-den, worauf sie hinauswollte, denn ihr Tonfall hat-te sich plötzlich geändert, als wollte sie uns jetzt durch Fachsimpelei einlullen. Ich beschloss, zum Angriff überzugehen. „Waren Sie dabei, als es im Stuttgarter Zoo gebrannt hat?“

„Nein.“ „Waren Sie überhaupt jemals da?“, fragte India. „Nein. Ich war noch nie in Deutschland“, sagte

Betty. „Aber ich habe darüber gelesen – über das Feuer. Man hat mir auch davon erzählt. Es war furchtbar … so viele Tiere getötet … schrecklicher, als ihr euch vorstellen könnt. Bedeutende Zoolo-gen verletzt. Mitarbeiter verbrannt.“

„Sanduskys Großvater war da, stimmt’s?“, fragte India. „Ist das mit ihm passiert … mit seinem Ge-sicht?“

„Ja“, bestätigte Betty. „Das Feuer hat seinen Körper verstümmelt, aber das Entsetzen und die

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Verzweiflung haben ihn um den Verstand ge-bracht.“

„Wollen Sie damit sagen, dass er verrückt ist?“, fragte India.

Betty nickte. Sie wischte dem Schimpansenbaby noch einmal liebevoll das Gesicht ab und legte das winzige Wesen dann wieder in den Brutkasten. Sorgfältig überprüfte sie auch die anderen, gesünder aussehenden Jungtiere und hatte für jedes ein kur-zes Streicheln oder Kraulen übrig. „Ich habe ge-hört, dass die Schreie der Tiere das Schlimmste gewesen sein sollen“, fuhr sie fort. „Die Gorillas – die Babys – sind bei lebendigem Leib verbrannt. Das hat einige Leute in den Wahnsinn getrieben. Mitarbeiter, die ihren klaren Verstand nie zurück-gewonnen haben, die nie wieder sie selbst waren. Wie der arme Dr. Sandusky. Er hat so lange auf seine Rache warten müssen …“

„Hat er Ivan Allen umgebracht?“, fragte ich. „Ivan Allen war eine Würgerfeige“, sagte Betty.

„So hat Dr. Sandusky ihn immer genannt. Das ist eine spezielle Feigenart, die nur in den Tropen wächst. Die Affen scheiden ihre Samen hoch oben in den Mangroven mit dem Kot aus, und die Pflan-ze wächst von oben nach unten. Irgendwann ist der Baum so von ihren Luftwurzeln überwuchert, dass er abstirbt. Ivan Allen war genauso.“

Ich suchte den Blickkontakt zu India und be-

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dachte sie mit meinem Wir-sollten-nicht-alles-glauben-was-wir-hören-Blick.

„Hat Sandusky ihm all die Jahre diese Denk-an-Paterfamilias-Briefe geschickt?“, fragte India und ließ sich auf einen Plastikstuhl fallen. Sie blätterte wie-der in den Computerausdrucken und suchte nach weiteren Einzelheiten. Ich sah, dass sie eine Liste aller in den Artikeln aufgeführten Personen aufstell-te.

„Hat Sandusky etwa geglaubt, dass Ivan das Feuer in Stuttgart absichtlich gelegt hat?“, fragte ich Dr. Waters.

„Geglaubt?“, wiederholte sie. „Er hat es ge-wusst!“

„Warum?“, fragte ich. „Warum sollte Ivan in seinem eigenen Zoo Feuer legen? Und warum erzählen Sie uns das alles – und nicht der Polizei?“

Dr. Waters stand jetzt vor dem Glasfenster, hin-ter dem die Gorillas saßen. „Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Vielleicht, weil ich mir Verständnis und Mitleid von euch erhoffe.“

India und ich tauschten einen fassungslosen Blick.

„Dr. Waters, Ihnen muss doch bewusst sein, dass die Polizei irgendwann auf den Zusammen-hang mit dem Feuer in Stuttgart stoßen wird“, sag-te India.

„Nicht unbedingt“, sagte Betty. „Ich habe mit

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den Beamten gesprochen. Sie suchen nach jeman-dem, der Ivan wegen seines Ruhms gehasst hat. Jemand, der seinen Platz einnehmen wollte. Natür-lich habe ich in der Zeitung gelesen, dass die Poli-zei manchmal nachprüft, welche Websites ein Mordopfer als Letztes besucht hat. Aber sie sucht nicht im Web. Außerdem stand Ivan im Rampen-licht der Öffentlichkeit. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er schuldig sein könnte – schuldig an einem Feuer, das schon so lange zurückliegt. Er ist deswegen nie auch nur verdächtigt worden.“

„Warum hat Sandusky Ivan die Schuld an einem Feuer gegeben, das ein Unfall war?“, fragte India.

„Weil es kein Unfall war!“, schrie Betty. „San-dusky wusste genauso gut wie die anderen Zoolo-gen und Wissenschaftler, dass die Versicherung dem Zoo eine riesige Entschädigung zahlen musste. Damit hatte Ivan das Geld für einen Neuanfang an bedeutenderen Orten: London und den Vereinig-ten Staaten. Außerdem hat er das Geld von der Versicherung dazu genutzt, seinen Löwenpark in Deutschland aufzubauen, ein lange geplantes Pres-tigeobjekt, das sein Ansehen bei den Zoobetreibern der ganzen Welt vergrößerte.“

„Dann hat er das Feuer geplant?“, fragte ich. „Zweifellos. Wenn ihr euch die deutschen Lo-

kalzeitungen aus jener Zeit anseht, werdet ihr fest-stellen, dass es ein oder zwei Monate vor dem gro-

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ßen Feuer schon zu mehreren kleinen Bränden gekommen war. Das war Ivans Trick. Erst die klei-nen Feuer, für die jugendliche Randalierer verant-wortlich gemacht wurden, und dann das große.“

„Wie die kleineren Feuer, die hier in letzter Zeit ausgebrochen sind?“, fragte India.

„Genau“, sagte Betty. „Sandusky wusste, dass Ivan wieder Feuer legen wollte. Er hatte vor, das Affenhaus niederzubrennen. Die Versicherungs-summe ist immens und hätte auf jeden Fall für sein neues Panda-Projekt gereicht. Ja, Ivan hätte diese Bären aus China bekommen, auf die eine oder an-dere Art – und Sandusky wusste genau, auf welche Art er es versuchen wollte. Deshalb musste er han-deln. Trotz seines Wahnsinns war ihm klar, dass so etwas nicht noch einmal passieren durfte. Er würde die Würgerfeige ausrotten, das hat Peter ihn sagen hören. Ja, er würde sie an der Wurzel ausreißen und sie vollständig vernichten.

Seit der Doktor vor sieben Jahren hierher gezo-gen ist, ist er jede Nacht durch den Zoo gestreift und hat Ivan beobachtet. Ich habe ihn eines Nachts erwischt, und da hat er mir von Ivans Verbrechen erzählt. Dr. Sandusky ist nicht das Monster, das er zu sein scheint.“

„Das Phantom des Zoos“, sagte India nachdenk-lich.

„Ja. Als es zu den ersten kleinen Bränden kam,

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muss er beschlossen haben, etwas zu unternehmen. Wahrscheinlich hat er den Zucker in Ivans Kaffee geschüttet …“

Zwei Schatten tauchten hinter der Mattglas-scheibe auf, die die Affen-Kinderstube vom Korri-dor trennte. India und ich fuhren zusammen, denn wir hatten immer noch Angst vor Gargantua. Doch als die Tür geöffnet wurde, waren es John Henning und Peter Sandusky, die hereinkamen. Sie sahen Betty an, die den Kopf schüttelte.

„Ich vermute, ihr werdet der Polizei erzählen, was ihr wisst?“, fragte sie uns.

„Das müssen wir“, sagte ich. „Das müsst ihr nicht“, widersprach sie drohend. „Oh, doch, das müssen wir“, betonte India. „Habt ihr morgen keine Schule?“, fragte Mr

Henning und funkelte uns böse an. „Ihr solltet nach Hause gehen und diesen Zoo in Zukunft meiden.“

India sammelte ihre Papiere ein und stand auf. Vorsichtshalber machte ich mein großes Mund-werk erst auf, nachdem wir uns an den beiden Männern vorbeigedrückt hatten.

„Ach, ich weiß nicht“, sagte ich betont gelassen. „Wir finden es sehr spannend hier.“

Ich schlug die Tür hinter uns zu, packte Indias Hand und zog sie hinter mir her. Wir hörten Ge-räusche, die sich anhörten wie das Klicken der elektronisch gesteuerten Türschlösser.

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„Ich habe eine Liste von allen Leuten erstellt, die laut den Zeitungsberichten bei dem Feuer in Stuttgart dabei waren“, sagte India, „die Arbeiter, Zoologen, einfach alle, die verletzt wurden oder zu jener Zeit dort gearbeitet haben. Es waren sicher noch etliche mehr, und natürlich haben sie alle Eltern oder andere Angehörige. Dieser Brand hat Leid über viele Familien gebracht.“

Ich überflog die Namen in der Hoffnung, auf einen zu stoßen, der mir vertraut war. Die Liste war nicht sehr lang, und sie war internationaler, als ich erwartet hatte: Anna Preziosi, Maurice Benet, Wilma Henning, Adolph Kleinberg, Friedrich Hofmansthal, Hildegard Kipphardt, Dr. Hermann Sandusky, Elise Wasser, Anton Jodermann, Johann Ulbricht … und ein halbes Dutzend weitere Na-men. Der Stuttgarter Zoo war anscheinend größer, als ich gedacht hatte.

„Ich erkenne nur Henning und Sandusky“, sag-te India.

„Ich auch“, sagte ich. „Aber vielleicht haben wir etwas übersehen.“

„Was denn?“ „Keine Ahnung.“ In diesem Augenblick ertönte ein Geräusch, das

sich anhörte, als hätte jemand ein Garagentor zuge-schlagen. Dann war es wieder still.

Wir kamen an der Narkosekabine vorbei und

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befanden uns jetzt wieder im Eingangsbereich, doch die Drehtür, durch die wir gekommen war-en, war versperrt. Wir arbeiteten uns im Uhrzei-gersinn durch die Halle und probierten jede Tür aus. Wir merkten schnell, dass uns nur ein Weg übrig blieb, und rannten den Gang hinunter.

Es waren noch etliche andere Türen und Gänge versperrt, aber es gab doch immer eine Möglichkeit weiterzukommen. Die letzte Tür führte endlich ins Freie, und da es bereits stockdunkel und sehr spät war, brauchten wir keine Angst zu haben, irgend-welchen Tieren zu begegnen – mit Ausnahme von Fledermäusen.

Es goss in Strömen, und Sturmböen trieben die Wassermassen vor sich her.

Wir kämpften uns durch den hinteren Teil des Kongos in Richtung Ausgang, während uns der Regen aufs Gesicht prasselte. Abgesehen vom Rau-schen des Regens herrschte Totenstille. Ich weiß noch, dass ich dachte: „Bei dem Wetter fühlen sich die Tiere, die jetzt noch draußen sind, bestimmt wieder wie in der Wildnis.“

Uns war bewusst, dass wir durch den ganzen Zoo laufen mussten, um zum Haupttor zu kommen. Nach langem Herumirren fanden wir schließlich ein Tor, aber da es stockdunkel war, hatten wir keine Ahnung, in welchem Teil des Zoos wir uns befan-den und welche Richtung wir einschlagen mussten.

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Ich entdeckte ein Kassenhäuschen neben dem Tor und versuchte es zu öffnen, aber es war abge-schlossen. Wir gingen ein Stück weiter, bis wir ein erleuchtetes Gebäude bemerkten, das aussah wie ein Bunker. An der Tür hing ein Schild, auf dem Zutritt verboten stand. Mir war zwar klar, dass es Zeitver-schwendung war, aber ich versuchte trotzdem, die Tür zu öffnen – überraschenderweise ging sie auf.

Wir stürmten tropfnass und lachend in das Ge-bäude. Ich hielt sofort nach den Gorillas Ausschau, aber es waren keine da.

Noch während wir uns unsere Gesichter not-dürftig mit Taschentüchern trockenrieben, sahen wir durch das Fenster Scheinwerfer näher kom-men. Sie gehörten zu einem kleinen elektrischen Wagen, dessen Fahrer immer wieder anhielt und sich suchend umschaute. Ich hielt ihn für einen Wachmann, rannte hinaus in den Regen und winkte aufgeregt, bis der Wächter mich endlich entdeckte.

Er parkte seinen Wagen vor dem Bunker und stieg aus. Er trug einen riesigen grünen Regenum-hang und hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Nachdem er noch nach einer Sporttasche gegriffen hatte, die auf dem Wagen lag, folgte er mir ins Gebäude.

„Vielen Dank, dass Sie angehalten haben“, sagte ich. „Es schüttet wirklich wie aus Eimern.“

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Der Wächter sah sich um und stellte seine Ta-sche auf dem Tisch ab. India, die sich mit den Ta-schentüchern die Haare trocknete, sagte: „Ja, vielen Dank.“

Erst jetzt sah der Mann uns an. Er griff mit bei-den Händen nach der Kapuze und streifte sie ab. Im ersten Moment dachte ich, er trüge ein nasses weißes Tuch über dem Gesicht, doch dann er-kannte ich, dass es seine eigene Haut war.

India ließ die Taschentücher fallen. Wir hatten dieses Gesicht schon einmal gesehen,

aber diesmal konnten wir nicht einmal mehr schreien.

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Gejagt

Ich spürte nicht länger, wie mir die nassen Kleider am Rücken klebten oder wie das Wasser in meinen Schuhen quietschte, als ich zurückwich. Ich glaube, ich hätte nicht einmal gemerkt, wenn hinter mir ein tollwütiger Triceratops vorbeigetapst wäre.

Ich hatte nur noch Augen für den grausam ver-stümmelten Menschen, der vor uns stand. Aber es waren nicht die Entstellung und die Narben von Dr. Sandusky, die mir Angst machten. Nein, es waren seine Augen – die verschwollenen braunen Augen des Doktors, die uns mit einer unbeschreib-lichen Wildheit anstarrten.

„Ihr wurdet … gebeten … zu gehen“, zischte er durch die zwei dünnen, kalkweiß schimmernden Hautstreifen, die seine Lippen waren, „und ihr seid immer noch da.“ Er schob die Sporttasche auf dem Tisch in unsere Richtung, während wir zurückwi-chen bis an die Überwachungsmonitore an der Wand.

Er konzentrierte seinen hasserfüllten Blick auf India. Ich sah sie schaudern, und ihre Hand schloss sich um meine. 137

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„Hat John … euch das nicht klargemacht?“, flüsterte er mit zusammengebissenen Zähnen. „John …“

„Mr Henning?“, sagte ich. „Wir …“ Ich ver-suchte meine Stimme dazu zu zwingen, einen hör-baren Ton zu erzeugen. „Wir wollten Sie nicht … belästigen …“, stammelte ich. Wir mussten unbe-dingt aus diesem Raum fliehen, nur weg von die-sem gefährlichen, wütenden Irren. „Indias Mutter holt uns ab“, sagte ich absurderweise.

„Ja, wir müssen gehen“, fügte India hinzu. „Wir werden nichts sagen.“ Er sah mir direkt in die Augen. Er war eindeutig

wahnsinnig. „Ich glaube euch nicht“, sagte er. Dann zog er

den Reißverschluss der Sporttasche auf und griff hinein. Er holte etwas aus der Tasche, das aussah wie ein langes, dünnes Paddel in einer abgewetzten braunen Lederhülle. Mit dem Daumen öffnete er den Druckknopfverschluss am Ende der Hülle, und als er den Gegenstand herauszog, hörte ich, wie eine Klinge über einen in der Hülle eingenähten Wetzstein fuhr.

Es war eine Machete, wie sie in Filmen von Af-rikanern benutzt wird, die sich einen Weg durch den Urwald bahnen. Aber dies hier war kein ge-wöhnliches Modell – die Machete sah aus, als wäre sie von der NASA entworfen worden. Die Klinge

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schien aus Titan zu sein und schimmerte im Licht der Neonröhren an der Decke. Dr. Sandusky strich mit dem Daumen über die Schneide, um ihre Schärfe zu prüfen, und richtete die Machete dann auf mich.

„Damit habe ich mir jeden Tag 20 Kilometer Weg durch den dicksten Dschungel am Amazonas gebahnt. Sie fällt Gummibäume mit nur einem Schlag.“ Sein lippenloser Mund verzerrte sich zu einem Grinsen, das seine vernarbte, gespannte Haut so sehr streckte, dass wir von außen die Umrisse seiner Zähne sehen konnten.

Seine Augen verengten sich wie die eines Pumas kurz vor dem Sprung. Wir saßen in der Falle. Als ich sah, wie sich seine Hand um den Griff der Ma-chete krallte, wurde mir klar, dass wir nur eine Chance hatten: India musste es schaffen, ihm zu entkommen und Hilfe zu holen. Als Sandusky die Machete hob, stieß ich India blitzschnell nach links. Sanduskys Augen folgten ihr wie die eines Bullen, der vom roten Tuch des Stierkämpfers abgelenkt wird, doch er hatte längst entschieden, mir zuerst den Garaus zu machen. Ich duckte mich, als die lange Klinge durch die Luft sauste und dann zehn Zentimeter neben meinem Ohr in die Wand ein-schlug.

„Lauf!“, schrie ich India an. „Renn weg! Schnell!“

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Dr. Sandusky riss die Klinge aus der Wand und hob die Machete erneut. India rannte zu einer der Türen, warf mir vorher aber noch einen Blick zu, aus dem das blanke Entsetzen sprach – die Angst, dass ihr bester Freund zu Hackfleisch verarbeitet werden würde. Sie schrie, und Sanduskys Machete schlug zu wie eine Guillotine. Diesmal sprang ich nach links und landete vor der Wand mit den Mo-nitoren.

Kaum eine Sekunde später fuhr die Machete diagonal durch die Luft auf mich zu. Die Klinge zischte knapp an meinem Kopf vorbei und versank in einem der Monitore. Glassplitter und Funken sprühten aus dem Gerät.

Er blinzelte verwirrt, und ich lief los. Ich hörte den Verrückten hinter mir keuchen,

als er wieder zuschlug. Ich weiß nicht, wie knapp ich diesmal entkam. Ich rannte hinter India her, die nicht nach draußen, sondern weiter ins Innere des Gebäudes gelaufen war. Wir hetzten einen Korri-dor entlang und landeten in einem Bereich, bei dem es sich um das Affenkrankenhaus handeln musste. Ich holte India ein, als wir an einigen OP-Tischen und Stühlen vorbeikamen, die zum Bändi-gen der großen Affen mit Fesseln ausgestattet war-en. Der Raum sah aus wie eine Folterkammer. An diesem Ort durfte Dr. Sandusky uns auf keinen Fall erwischen.

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Wir liefen weiter, durch den OP und einen weiteren Flur entlang. Als wir nach rechts abbogen, hoffte ich nur, dass wir nicht in eine Sackgasse ge-rieten. Wir hatten keine Ahnung, wohin wir rann-ten. Das Einzige, was wir wussten, war, dass uns ein Wahnsinniger mit einer Machete verfolgte.

Sandusky holte auf, und ich griff nach dem nächsten Gegenstand, der zur Hand war – einem Rollwagen, auf dem Bechergläser und Flaschen mit destilliertem Wasser standen. Ich stieß im Laufen den Wagen in seine Richtung und hörte fast im gleichen Augenblick das Krachen und das wütende Gebrüll des Doktors, das sich anhörte, als käme es von einem wilden Tier. Als ich dann einen Blick nach hinten riskierte, sah ich, dass er schon wieder auf den Beinen war und dass sein Kopf blutete.

Ich hetzte hinter India her, die gerade schlit-ternd vor einem kleinen roten Kasten an der Wand anhielt. Sie schlug das Glas mit ihrem Hausschlüssel ein und drückte den Knopf. Ein ohrenbetäubender Alarm ging los. „Dieser Alarm mag Leben retten, aber uns wird er taub machen!“, hörte ich India schreien.

Wir rannten um eine Ecke und standen plötz-lich vor einer Tür, auf die jemand eine große Katze gemalt hatte. Darunter hing ein Schild mit der Auf-schrift Jaguar-Außengehege. Zutritt nur für Personal.

Dr. Sandusky bog um die Ecke. Er kam ge-

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mächlich auf uns zu, überzeugt, dass wir in der Falle saßen.

„Es ist Nacht“, flüsterte ich India hektisch zu. „Die Jaguare sind eingesperrt.“

„Aber wir wissen nicht, wann sie ins Bett ge-steckt werden“, flüsterte India zurück. Sie warf einen Blick auf den immer näher kommenden keuchenden Doktor und die drohend erhobene Machete. Dann drückte sie die Tür auf.

Wir rannten hinaus. Die Tür schlug hinter uns zu. Wir befanden uns

jetzt mitten im Urwald. Es regnete nicht mehr, doch dafür hatte sich ein etwa kniehoher Boden-nebel gebildet, der das Gras, die Steine und die Mangrovenwurzeln bedeckte wie ein nahezu un-durchsichtiger Teppich.

Wir flohen, so schnell es unter diesen Bedin-gungen möglich war. Hinter uns wurde die Tür aufgerissen. Im Türrahmen tauchte die Silhouette von Dr. Sandusky und seiner Machete auf. Er ent-deckte uns und stürmte vorwärts. Ich packte Indias Hand, und wir rasten planlos im Zickzack durch den Urwald. Die Nebelschwaden wurden dichter. Wir hörten Sandusky stolpern und rannten noch schneller.

Irgendwann mussten wir stehen bleiben, um Atem zu schöpfen. Weder Sandusky noch irgend-welche Jaguare waren zu sehen.

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Jenseits des Geheges brannten ein paar Lampen und spendeten genug Licht, um uns zu zeigen, dass der Lebensraum der Jaguare an dieser Stelle von einer hohen Betonmauer begrenzt war – viel zu hoch, um hinüberzuklettern. Die am weitesten von uns entfernte Begrenzung bestand aus einem Was-sergraben und einem rund acht Meter hohen Ma-schendrahtzaun.

Das war unsere einzige Chance. „Und wenn in diesem Graben Alligatoren

sind?“, keuchte India. „Unmöglich“, schnaufte ich. „Im Kongo gibt’s

nur Krokodile.“ Das hatte eigentlich ein Scherz sein sollen, aber mittlerweile hielt ich sogar das für mög-lich. Zwischen uns und dem Graben lagen ungefähr 100 Meter dichter Mangrovenwald. Der Feueralarm schrillte immer noch, und es hörte sich an, als triebe das Geräusch alle Zootiere in den Wahnsinn. Ele-fanten trompeteten, Löwen brüllten, und die Affen in den Bäumen kreischten wie verrückt.

In der Nähe des Grabens, wo der Untergrund steil abfiel, war der Nebel noch dichter. India stol-perte über eine Wurzel, und ich griff schnell nach ihrem Arm. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Aus Do-kumentarfilmen wusste ich, dass Jaguare und Gepar-de gern auf Bäume klettern. Sie schleppen ihre Beu-te häufig auf einen Baum, verkeilen sie dort in einer Astgabel und verspeisen sie dann in aller Ruhe.

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Über uns knarrte ein Ast, und ich starrte panisch nach oben. Wahrscheinlich hatte ich mir das Ge-räusch nur eingebildet, aber ich suchte die umste-henden Bäume trotzdem hektisch nach dem Um-riss einer Großkatze ab.

Nichts. Etwa 30 Meter vor dem Graben hörten wir

plötzlich ein Geräusch, das uns erstarren ließ. Es war das unverkennbare Knurren einer Katze.

„Los, wir rennen. Vielleicht schaffen wir es“, flüsterte ich India zu.

Sie nickte, und wir hetzten los. Doch plötzlich tauchte direkt vor uns etwas aus dem Nebel auf. Es war groß und nur ein paar Meter entfernt.

Es war Dr. Sandusky. India und ich machten eine Vollbremsung, doch

der Boden war so glitschig, dass wir beide flach auf den Rücken fielen. Ich fühlte den Luftzug, als die Machete dicht über meinem Kopf durch den Ne-bel fuhr. Sandusky war direkt über uns, und wir versuchten fieberhaft, auf dem schlammigen Boden rückwärts zu kriechen. Uns blieb keine Zeit aufzu-stehen, keine Zeit, um wieder zu Atem zu kom-men und uns zu verteidigen – oder etwas anderes zu tun als zu sterben.

Sandusky hob die Machete ein letztes Mal, und ich dachte: „das war’s jetzt. Wir haben gut ge-kämpft, und das ist nun das Ende.“ Doch dann

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hörte ich etwas. Sandusky hörte es auch und ers-tarrte. Es war ein Geräusch, das jeden dazu bringt, mit dem aufzuhören, was er gerade tut.

Irgendetwas sprang hinter Sandusky aus dem Nebel hervor. Es stürzte sich auf ihn und warf ihn um. Sandusky kreischte. Ein riesiger Jaguar war auf ihm gelandet und zerrte an ihm herum. Sein Kör-per wurde hin und her geschleift wie der einer Puppe.

India und ich sprangen auf, aber mittlerweile waren vier weitere Katzen aufgetaucht, von denen nur die Köpfe aus dem Nebel ragten. Die zwei kleineren wogen vielleicht 50 oder 60 Kilo, aber die beiden anderen waren riesig und sicher über 100 Kilo schwer. Mit geducktem Körper schlichen sie näher an uns heran.

Sie umzingelten uns. Der größte duckte sich noch tiefer und machte sich zum Absprung bereit. Er ließ uns nicht aus den Augen und fauchte, wo-bei er sein tiefschwarzes Zahnfleisch und die gro-ßen, gelben Zähne entblößte.

Genau in diesem Augenblick hörte ich ein merkwürdiges Geräusch über uns und schaute hoch. Es war der Korb des Hublifts, mit John Henning am Kontrollpult! Sofort zogen sich die Jaguare zurück und flüchteten in den Wald.

Henning packte India und mich und zog uns zu sich in den Korb. Als wir über den Zaun schweb-

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ten, konnten wir die Stelle sehen, an der Sandusky angefallen worden war. Dort befanden sich jetzt nur noch Fetzen seines grünen Regenumhangs und die silbern glänzende Machete. Irgendjemand wür-de später das von einer Mangrove herunterholen müssen, was von Dr. Sandusky noch übrig war.

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Beweisführung

Als Mr und Mrs Riggs mit ihrem Wagen am Haupteingang eintrafen, warteten wir mit Perry Sagan und Inspektor Jamieson in der Halle des Verwaltungsgebäudes, während ein Zoomitarbeiter Indias Eltern mit zwei riesigen Regenschirmen entgegenging. Wir sahen zu, wie Dr. Riggs seinen alten Volvo parkte, wie er und Kim ausstiegen und durch die Pfützen an dem immer noch Wasser sprühenden vergoldeten Schwan vorbeipatschten. Der Regen hatte wieder eingesetzt, in der Ferne grummelte es, und gelegentlich zuckte auch ein Blitz durch die Nacht.

Mit den großen Regenschirmen sahen Indias Eltern und ihr Begleiter aus wie Teilnehmer einer Begräbnisprozession. Als sie die Halle betraten, sprang Perry Sagan vor wie ein gepflegtes, vor-nehmes Teufelchen aus einer dieser Überra-schungsschachteln. Er begann sofort, wie ein Was-serfall auf Indias Eltern einzureden, während von Mrs Riggs’ schäbigem Hut das Wasser tropfte.

Es dauerte eine Weile, bis sie India und mich bewusst wahrnahm. Es schien sie ziemlich zu über- 147

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raschen, dass wir geliehene Polizei-Uniformjacken mit den dazugehörigen Dienstabzeichen trugen.

Natürlich hatten wir unter den Jacken ein Sammelsurium von trockenen Sachen an, die wir aus unseren Taschen im Wohnheim geholt hatten. India hatte sogar eine Polizeimütze auf, aber an dem, was man von unseren Haaren sehen konnte, war deutlich ersichtlich, dass wir beide pudelnass gewesen waren.

„Was ist passiert?“, fragte Kim. „Seid ihr in Ordnung?“

„Wir sind ein bisschen nass geworden“, war al-les, was India sagte.

Mrs Riggs wendete sich an Inspektor Jamieson, der in seinem mausgrauen Zweireiher aussah wie aus dem Ei gepellt. „Sind Sie der Lösung des Falls schon näher gekommen?“, fragte sie ihn.

Jamieson stotterte ein wenig, doch dann über-wand er sich. „Wir brauchen die Kinder noch eine Weile“, sagte er. „Sie sagen, dass sie den Fall gelöst haben.“

Kim und Dr. Riggs sahen uns an. „Tatsäch-lich?“, sagte Kim. „Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, wie clever sie sind.“

„Wohin sollen wir gehen?“, fragte Dr. Riggs. Er sah müde aus und warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr.

„Hier entlang“, sagte Jamieson und steuerte die

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Krankenstation an. Dort bat er Kim und Dr. Riggs, in einem Zimmer zu warten, das an den Behand-lungsraum angrenzte. Indias Eltern merkten sofort, dass man sie vom Höhepunkt des Abends aus-schloss.

Jamieson zuckte die Achseln. „Tut mir Leid, aber wir haben es schon mit so vielen Personen zu tun“, entschuldigte er sich. Perry blieb freiwillig bei Indias Eltern. Sie durften bei dem Gespräch zwar nicht dabei sein, konnten aber alles mithören, was im Nebenzimmer gesprochen wurde.

India, Jamieson und ich gingen hinein zu Zoode und einer Handvoll Uniformierter, die Dr. Betty Waters, John Henning und Peter Sandusky be-wachten. Die drei saßen in einer Reihe, und ob-wohl noch mehr Stühle da waren, zogen India und ich es vor, uns an das Fenster mit der klitschnassen Geranie zu stellen. Wir hatten Perry und Inspektor Jamieson schon einiges erzählt, doch bisher kannte keiner von ihnen alle Einzelheiten. India und ich waren bis zur letzten Minute damit beschäftigt ge-wesen, die Zusammenhänge zu überprüfen und alles hieb- und stichfest zu machen. Wir waren die Fakten noch einmal durchgegangen und hatten schließlich genug Material, um zu erkennen, war-um Ivan Allen ermordet wurde, wie, und von wem.

Von dem Augenblick an, als uns die Polizei am

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Jaguargehege abgeholt hatte, hatten wir nur noch eine Stunde Zeit gehabt, um handfeste Beweise zu sammeln. Auch Jesus hatte seinen Teil dazu beiget-ragen und mir seine Erkenntnisse durchgegeben. Er hatte alle Verdächtigen überprüft – und uns wie üblich eine Unmenge von Daten mitgeliefert, die kein Mensch brauchte, wie Sozialversicherungs-nummern, Einkommensverhältnisse, Reisepassda-ten und seitenweise Informationen über die Zivil- und Strafrechtsprozesse, zu denen es nach der Tra-gödie von Stuttgart gekommen war. India hatte die Mappe mit unseren Notizen und Daten unter dem Arm, darunter auch Fotos, die Jesus uns per E-Mail geschickt hatte. Mit ihnen hatten wir jetzt zu fast jedem, der zur Zeit des Feuers im Stuttgarter Zoo gearbeitet hatte, ein Gesicht.

Dr. Waters zeigte mit dem Finger auf uns. „Was machen die denn hier?“

Inspektor Jamieson setzte sich dem Trio gege-nüber. „Sie können uns möglicherweise helfen, die Umstände von Mr Allens Tod zu klären.“

„Das ist doch absurd“, sagte Betty. „Allerdings“, murmelte Peter. „Es ist doch eindeutig, was passiert ist“, fuhr

Betty fort. „Und es ist sehr traurig. Dr. Sandusky, ein armer Mensch, verstümmelt durch ein von Ivan Allen vorsätzlich gelegtes Feuer im Stuttgarter Zoo, hat durch diese Tragödie den Verstand verloren.

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Und jetzt schleppen Sie seinen Enkel hierher, und …“

„Es tut mir Leid, aber …“, sagte Zoode. „Dr. Sandusky wusste, was Ivan vorhatte“, fuhr

Betty fort. „Er wollte den Kongo in Brand stecken und das Geld von der Versicherung kassieren, so wie er es schon 14 Jahre zuvor in Stuttgart gemacht hat. Dr. Sandusky wollte ihn aufhalten, egal wie.“

Peter Sandusky begann zu zittern, und Betty legte ihren Arm um ihn. Es dauerte einen Mo-ment, bis er sich fing und etwas sagen konnte. „Ich habe meinen Großvater erst nach dem Feuer ken-nen gelernt. Meine Eltern haben mir erzählt, dass ihn das Feuer um den Verstand gebracht hat. Die Schmerzen, die Narben. Jahrelange Hauttransplan-tationen. Das Gesicht, das mein Großvater jeden Morgen im Spiegel sah …“

„Wir verstehen das“, sagte Inspektor Jamieson sachlich zu den drei Verdächtigen. „Ein entstellter, geistig verwirrter Zoologe, der sich nach 14 Jahren an Mr Allen gerächt hat.“

„Genau so war es“, sagte John Henning leise. „Dr. Sandusky hat Ivan oft heimlich beobachtet,

wenn er spät abends noch im Labor gearbeitet hat“, sagte Betty, die sich offenbar zur Sprecherin der Gruppe ernannt hatte. „Der Doktor war besessen davon, jede Bewegung Ivans zu überwachen. So war es auch in der letzten Nacht. Gegen Morgen

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sah er, wie Ivan versehentlich Zucker in seinen Kaffee gab und schläfrig wurde. Er hat sich auf ei-nes der Feldbetten im Labor gelegt, und Dr. Sandusky hat die Chance genutzt, ist ins Labor eingedrungen und hat den bewusstlosen Ivan ins Freigehege der Jaguare gebracht, weil er wusste, dass die Tiere bald hinausgelassen werden würden. Er hat darauf vertraut, dass sie Ivan töten würden, doch als das nicht geschah, hat er einen Weg ge-funden, das Gorillablut in die Krankenstation zu schmuggeln.

Sie dürfen nicht vergessen, dass Dr. Sandusky vor der Tragödie ein hoch angesehener Primaten-forscher war. Er wusste, wie man einem Gorilla Blut abnimmt. Dann muss er in den Blutraum ge-schlichen sein und die Konserven ausgetauscht ha-ben. Dass ihn dabei niemand gesehen hat, ist nicht verwunderlich, denn es war ja noch sehr früh. Die anderen Angestellten waren zum Teil gerade erst eingetroffen und noch damit beschäftigt, Kaffee zu kochen und ans Frühstück zu denken, und …“

Ich unterbrach Betty. „Sie wollen uns also weismachen, Dr. Sandusky hätte Ivan Allen allein getötet?“

„Mit dir rede ich nicht“, erwiderte Betty kühl. „Lassen Sie die Kinder ausreden“, befahl Inspek-

tor Jamieson. India und ich lächelten ihn an. „Ich glaube, es ist allen klar, dass der Mord an

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Ivan unmöglich die Tat eines Einzelnen gewesen sein kann“, erklärte ich gelassen.

Henning lockerte den Kragen seines Arbeits-hemdes.

„Sogar die Mörder selbst haben dazu beigetra-gen, uns davon zu überzeugen, dass sie mindestens zu zweit waren“, meldete sich India zu Wort.

„Genau“, sagte ich. „Durch den Rennbahn-bleistift im Blutraum und die Münzen, die überall herumlagen. Natürlich haben sie nicht damit ge-rechnet, dass Maxine Blessman den Bleistift aufhe-ben und diesen Hinweis damit fast zunichte ma-chen würde.“

India fuhr fort. „Der Stift sollte den Verdacht auf Dr. Jahangir – ja, den Arzt Dr. Jahangir – len-ken, und die Münzen im Jaguargehege und im Primatenhaus sollten beweisen, dass Pierre Lumet mit seinen Euros nicht nur den Cola-Automaten verstopft, sondern sie auch wie Senfsamen verstreut hat, als er Ivan umbrachte.“

„Das beweist außerdem, dass die Mörder Ama-teure sind“, sagte ich. „Inspektor Jamieson und wir haben nicht lange gebraucht, um herauszufinden, wie sich alles abgespielt haben muss. Punkt eins: Jemand hat Ivan Zucker in den Kaffee getan. Punkt zwei: Die Mörder haben gewartet, bis er das Be-wusstsein verlor, ihn dann in den Hublift gelegt und ihn damit ins Gehege der Jaguare befördert.

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Daher kommen auch die Pflanzensaftflecken auf seiner Kleidung.“

India blätterte in ihren Notizen. „Punkt drei: Die Jaguare haben Ivan zwar angegriffen, ihn aber nicht getötet“, sagte sie. „Punkt vier: Jemand hat Ivan aus dem Gehege geholt und in die Kranken-station gebracht, wo schnell klar wurde, dass er eine Bluttransfusion braucht. Punkt fünf: Ein Al-ternativplan musste her. Einer der Mörder hat Gar-gantua betäubt und ihm Blut abgenommen. Punkt sechs: Das Blut wird zur Krankenstation gebracht. Punkt sieben: Ivan Allen bekommt statt seines ei-genen das Gorillablut, was sich mit seinem natür-lich nicht verträgt und ihn augenblicklich tötet.“

„Wir behaupten, dass es ein Team war, das Ivan umgebracht hat“, schloss India ihre Ausführungen.

„Ihr Team“, sagte ich zu Betty. „Was für eine hirnrissige Theorie“, sagte sie. Sie

starrte mich und India an, und aus ihren Augen sprach so viel Hass, wie ich es noch nie erlebt hat-te.

„Dazu gehören Sie, John Henning, Peter und sein Großvater“, behauptete ich. „Jeder von ihnen hat seinen Teil zum Mord an Ivan beigetragen.“

Betty lachte verächtlich. Sie sah alle Anwesen-den an. Anscheinend erwartete sie, dass noch je-mand mit ihr über die Absurdität dieser Vorwürfe lachen würde, doch das tat niemand. „Wenigstens

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hast du richtig erkannt, dass der arme Dr. Sandusky einer der Mörder war“, sagte sie mit merkwürdiger Logik. „Vielleicht begreifst du auch irgendwann, dass er das Verbrechen ganz allein verübt hat.“

„Sie hat Recht“, sagte Peter. „Er war zwar mein Großvater, aber er war es, der Mr Allen ermordet hat.“

„Nein, Peter“, sagte ich. „Du warst einer der Mörder. Deinem Großvater kann man nur vorwer-fen, dass er euch alle so mit seinem Hass auf Ivan Allen angesteckt hat, dass seine Mörder den Bezug zur Realität verloren haben. Die Mörder sind aus-schließlich Leute oder Angehörige von Leuten, die in Stuttgart verletzt wurden oder die mit anhören mussten, wie die Tiere bei lebendigem Leib ver-brannten. Dr. Sandusky hat dafür gesorgt, dass kei-ner von Ihnen Paterfamilias vergessen hat – er wollte, dass weder Ivan noch Sie alle jemals verges-sen, was Ivan damals getan hat. Und deshalb hat er ihm diese Briefe geschrieben, und zwar mit Kohle, was ihm ganz passend erschienen sein muss. Dei-nem Großvater kann man nur eines vorwerfen, Peter. Er hat euch all die Jahre angefeuert wie ein Cheerleader sein Team. Er war der Cheerleader eines Mörderteams.“

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Das Team fliegt auf

Betty machte ein Gesicht, als müsste sie besonders scharf nachdenken, um dann etwas besonders Ge-meines zu sagen. Sie rückte ihren Stuhl vor, als würde es ihr mehr Macht verleihen, wenn sie die Reihe verließ. „Nur gut, dass unsere amerikani-schen Gerichte sich nicht auf die lächerlichen An-schuldigungen von ein paar Kindern einlassen“, warf sie uns an den Kopf. „Unser Rechtssystem verlangt immer noch Beweise.“

„Oh, davon haben wir genug“, sagte ich leicht-hin. „Fangen wir mit Peter an. Nachdem Peter die Konserve mit Ivans eigenem Blut gegen die mit dem Gorillablut ausgetauscht hat, hatte er das Prob-lem, dass er die Original-Blutkonserve irgendwo verschwinden lassen musste. Das Blut in den Aus-guss zu schütten war kein Problem, aber er musste den Plastikbeutel loswerden oder ihn zumindest irgendwo verstecken, um ihn später zu vernich-ten.“

„Ihr spinnt doch“, widersprach Peter, doch sei-ne Stimme brach.

„Die Polizei hat den Beutel nicht gefunden, und 156

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ich vermute, das hätten wir auch nicht“, sagte In-dia, „wenn ich nicht zufällig Pflanzen sehr mögen würde.“ Sie streckte die Hand aus und strich über die Blätter der Geranie, die auf der Fensterbank stand. „Mir ist heute Morgen sofort aufgefallen, dass alle Pflanzen leidlich feucht waren, während die arme Geranie im Wasser stand wie ein Sumpf-gewächs.“

India hob die Pflanze hoch und zog den gefalte-ten Plastikbeutel heraus, der unten im Übertopf lag.

„Kein Wunder, dass das Wasser nicht abfließt, wenn man eine Plastiktüte unterlegt“, bemerkte ich.

„Es war allerdings nicht diese Tüte“, sagte India. „Diese ist nur ein Ersatz.“

„Wir haben Inspektor Jamieson gebeten, den ursprünglichen Beutel aus dem Übertopf zu ho-len“, sagte ich. „In diesem Beutel waren noch ein paar Tropfen von Ivans Blut, und er war mit dei-nen Fingerabdrücken übersät, Peter. Du warst so unvorsichtig, beim Vertauschen der Blutkonserven keine Handschuhe anzuziehen.“

Wir warteten nicht darauf, das Peter etwas sagte oder alles abstritt – wozu auch, er war überführt.

„Sie haben den Hubwagen bedient“, sagte India zu Mr Henning. „Sie haben – wahrscheinlich mi-thilfe eines Mitglieds aus Ihrem Team – den be-

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wusstlosen Ivan in den Korb gelegt und ihn ins Gehege der Jaguare befördert.“

„Sie sind der Einzige, der wirklich mit dem Ding umgehen kann“, sagte ich. „Sie haben die Schlüssel. Und man braucht viel Übung, um den Korb gezielt durch den Urwald zu steuern.“

„Das könnt ihr nicht beweisen“, sagte Henning. „Das stimmt, das können wir nicht“, gab ich zu.

„Aber wir haben lange darüber nachgedacht. Wis-sen Sie, Mr Henning, viele Leute machen einen Fehler:

Sie unterschätzen kluge und berühmte Men-schen. Sie halten sie für egoistische Versager, die einfach Glück gehabt haben. Aber wir haben da andere Erfahrungen gemacht. India und ich haben festgestellt, dass bekannte und fähige Persönlichkei-ten ihr Ziel meistens erreichen, weil sie aus beson-derem Holz geschnitzt sind.“

„Man kann sie hassen“, sagte India. „Und oft sind sie gemein, böse und hinterhältig …“

„Und das alles trifft auf Ivan Allen zu, das glau-ben wir Ihnen gern“, sagte ich. „Aber Ivan Allen war auch cleverer als Sie, Mr Henning. Ich habe versucht, mich in seine Lage zu versetzen. Ich stelle mir vor, ich habe versehentlich Zucker zu mir ge-nommen. Ich spüre, wie mich der Schlaf überwäl-tigt, also lege ich mich hin. Ich, Ivan Allen, schlafe ein, und als ich wieder aufwache, liege ich auf dem

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Boden, und ein Jaguar hat mich an der Kehle ge-packt …“

„Was soll das alles?“, fragte Henning. „Ihr seid doch verrückt“, fauchte Betty. „Was ich Ihnen zu sagen versuche, Mr Hen-

ning“, fuhr ich fort, „ist, dass an Ihrem Hemd ein Knopf fehlt. Das ist India und mir sofort aufgefal-len, als Sie zum ersten Mal mit Ihrem Korb zu uns heruntergeschwebt sind. Nun, wir haben uns ge-fragt, was wohl mit diesem Knopf passiert ist und ob er vielleicht abgerissen ist, als Sie Ivan in den Korb gezerrt oder wieder herausgehoben haben. Und wie sich herausstellte, ist genau das passiert.“

Jetzt sprach Sergeant Zoode. „Quentin und In-dia haben uns darauf gebracht, nach dem Knopf zu suchen.“

„Selbst mit einem Jaguar an seiner Kehle“, sagte India, „war Ivan Allen klug und entschlossen ge-nug, um den Knopf von Ihrem Hemd abzureißen und ihn in die Tasche zu stecken, wo er dann auch gefunden wurde. Clevere und berühmte Leute sterben eben nicht so einfach.“

Henning schaute zu Boden. Wahrscheinlich konnte er sich denken, dass wir noch mehr Asse im Ärmel hatten.

„Ihre Tochter heißt Wilma Henning“, sagte ich. „Sie war in Stuttgart für das Zuchtprogramm zu-ständig. Ihnen muss doch klar gewesen sein, dass

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sich die Polizei früher oder später intensiv mit die-ser ganzen Sache in Stuttgart beschäftigt hätte. Wilma ist in so vielen Zeitungsartikeln erwähnt worden. Sie war sehr mutig …“

Mr Henning begann zu schluchzen. „Das war sie … mutig … ja …“

Ich sprach weiter. „In den Artikeln steht, dass sie in die brennende Kinderstube zurückgerannt ist, weil sie die jungen Schimpansen retten wollte. Und auch die beiden neugeborenen Tieflandgoril-las …“

Ich brauchte nichts mehr zu sagen. Wir alle – sogar Betty – ließen John Henning

weinen. Er bemühte sich krampfhaft, die Fassung zurückzugewinnen. Schließlich konnte er etwas sagen. „Wilma konnte sie nicht retten. Sie musste ihre Schreie mit anhören. Meine Tochter hat darü-ber den Verstand verloren. Ivan Allen ist Schuld daran, dass meine Wilma heute kein Mensch mehr ist!“

India und ich wendeten uns Betty zu. „Sie ha-ben gesagt, Sie wären nie in Deutschland gewe-sen“, sagte ich.

„Das hat sie uns auch gesagt“, bemerkte Ser-geant Zoode nach einem Blick auf sein Klemm-brett.

„Ich war auch nie da“, behauptete Betty. „Nun, Betty Waters war tatsächlich nie in

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Deutschland“, sagte ich. „Aber India und ich sind die Liste der Angestellten sehr sorgfältig durchge-gangen. Eine Woche vor dem Feuer ist in Stuttgart eine amerikanische Studentin eingetroffen. Sie wurde Wilma zugeteilt, um ihr während ihres Stu-dienjahrs im Ausland bei der Primatenzucht zu helfen.“

„Der Name der Studentin war Elise Wasser“, sagte India.

„Als ich die Liste der deutschen Mitarbeiter durchsah, bin ich zunächst nicht darüber gestol-pert“, gab ich zu. „Aber als ich mir die Namen dann genauer angesehen habe, ist mir klar gewor-den, dass Elise eine andere Form des Namens Elisa-beth ist – genau wie Betty. Und Water ist natürlich das englische Wort für Wasser.“

India öffnete die Mappe mit den Daten, die Je-sus uns geliefert hatte, und holte das Foto der jun-gen Studentin heraus, die eine Woche vor dem Feuer in Stuttgart eingetroffen war. Sie ließ das Foto herumgehen.

„Elise Wasser ist Betty Waters“, sagte ich. Betty begann zu zittern. „Ich werde das nie ver-

gessen“, sagte sie leise. „Niemals. Das habe ich mir damals geschworen.“

Einen Moment lang herrschte Stille, dann gab Inspektor Jamieson seinen Leuten ein Zeichen. Die Polizisten gingen auf Peter, Henning und Betty zu,

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die inzwischen aufgestanden waren. Anfangs sagte niemand ein Wort, doch plötzlich hob Betty ihren Kopf und kreischte India und mich an.

„Was hätten wir denn sonst tun sollen?“, schrie sie und konnte vor Wut kaum atmen. „Vor Ge-richt gehen? Zur Polizei? Uns an die Öffentlichkeit wenden? Glaubt ihr etwa, es hätte einen anderen Weg gegeben, Ivan für das zur Rechenschaft zu ziehen, was er getan hat? Das ist doch lächerlich! Wisst ihr eigentlich, was für eine Strafe er im Höchstfall zu erwarten gehabt hätte? Unser ganzes Rechtssystem ist jämmerlich, korrupt und nutzlos. Wir wären viel besser dran, wenn es keines gäbe.“

„Nein, wären wir nicht“, widersprach India. „Das stimmt“, unterstützte ich sie. „Wissen Sie,

was diese Welt ohne Gesetze wäre? Ein Dschun-gel!“

Einen Moment lang sah Betty aus wie ein in die Enge getriebenes Tier kurz vor dem Angriff. Sie warf einen Blick durch die Tür ins Nebenzimmer und starrte Mrs Riggs direkt in die Augen. Kim war aufgesprungen wie eine Löwin, die ihre Jun-gen bedroht sieht.

Als Inspektor Jamieson und Sergeant Zoode den Riggs-Clan und mich schließlich zum Wagen be-gleiteten, hatte es aufgehört zu regnen. Nachdem sich die Beamten zigmal bei uns bedankt und dann

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noch ewig mit Indias Eltern geschwatzt hatten, war es schließlich nach Mitternacht, bis wir endlich auf dem Rücksitz des Wagens saßen und vom Zooge-lände fuhren. Jetzt waren Kim und Dr. Riggs hell-wach, während India und ich uns hundemüde in unsere Schlafsäcke kuschelten. Wir müssen ausge-sehen haben wie zwei Eskimos im Koma, aber das war mir egal.

Kim saß am Steuer und warf uns über den In-nenspiegel immer wieder prüfende Blicke zu. „Ihr zwei habt gute Arbeit geleistet“, sagte sie. Dabei wusste sie noch gar nicht, was wir alles erlebt hat-ten. Aber wir waren beide der Meinung, dass es völlig ausreichte, wenn sie erst morgen von unserer Begegnung mit Gargantua erfuhr.

„Wir sind froh, dass es so gut ausgegangen ist“, sagte ich.

„Dem kann ich nur zustimmen“, murmelte In-dia halblaut.

Ihre Eltern begriffen schnell, dass wir zu müde waren zum Erzählen, und so begannen sie, eine hitzige Diskussion über irgendwelche Sachen zu führen, die einer von ihnen zur Reinigung hätte bringen sollen. Als wir die George-Washington-Brücke erreichten und nach Süden auf den West Side Highway abbogen, war aus ihrer Diskussion ein ausgewachsener Streit geworden.

India stieß einen Seufzer aus, der ihre Eltern

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verstummen ließ. Kim sah besorgt in den Rück-spiegel. „Alles in Ordnung bei euch?“, fragte sie.

„Klar“, murmelte India. „Ich musste nur gerade an die Lektion denken, die ich heute im Zoo ge-lernt habe …“

„Welche denn, mein Schatz?“, fragte Kim. „Ach“, sagte India und boxte mir leicht gegen

den Arm. „Es ist nur … zumindest sehe ich das jetzt so … wenn man im Dschungel ist, spielt es keine Rolle, wer die Gurke kauft.“

Bereits in der Highschool begann Paul Zindel, kleine Geschichten und Theaterstücke zu schreiben. Trotzdem arbeitete er nach dem Studium zuerst einige Jahre als Chemielehrer, bevor er sein Hobby zum Beruf machte. In der Zwischenzeit ist er einer der erfolgreichsten Kin-der- und Jugendbuchautoren Amerikas und wurde un-ter anderem mit dem renommierten Pulitzer-Preis aus-gezeichnet. Paul Zindel lebt mit seiner Familie in New Jersey.