Zur Harmonik in Debussys Nocturnes für Orchesterstefanprey.de/debussy_zur_harmonik.pdf · 5 Vgl....

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  • Zur Harmonik in Debussys Nocturnes frOrchester

    Stefan Prey

    Bis auf nderungen der Zitierweise entspricht der folgende Text der Fassungaus der Musica, Heft 1/1987, S. 712.

    Debussys Harmonik klingt bunt und raffiniert. Sie ist nicht zielgerichtet, wie etwa dieHarmonik von Beethoven, Wagner oder Brahms, ruft aber auch nicht den Eindruck vonWillkr oder Beliebigkeit hervor. Irgendeine Gesetzmigkeit mu ihr also zugrundelie-gen. Wie diese beschaffen sein knnte, lt sich hufig beim ersten Hren nicht erkennen.Bei der Analyse bestimmter Stellen aus Werken von Debussy findet man jedoch zumin-dest Anhaltspunkte zur Lsung dieses Problems. Dazu ist allerdings eine Vorberlegungerforderlich.In der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts war die Harmonik fester Bestandteil der ge-meinsamen Tonsprache einer ganzen Generation von Komponisten. Bis auf wenige Stel-len hatte sie mit der individuellen Gestalt eines Werkes kaum etwas zu tun. Deshalb ltsie sich auch leicht als System darstellen. Dies gilt fr Debussy nicht. Bei ihm ist dieHarmonik wesentliches Merkmal seiner individuellen Kompositionsweise oder sogar einesbestimmten Werks. Sie wandelt sich von Stck zu Stck und lt sich darum auch nichtsystematisch darstellen. (hnliches gilt auch schon fr Wagner. Hier redet man z. B.von Tristan-Harmonik. Von einer Zauberflten-Harmonik zu sprechen, wre unsinnig.)Deshalb kann im folgenden auch nur ein harmonisches Prinzip unter vielen mglichenerrtert werden. Besonders interessant ist bei Debussy der groe Nonakkord. An seinerVerwendung lt sich auch gut zeigen, in welcher Weise Debussy harmonische Prinzipiender Tradition aufgreift und weiterentwickelt.Dazu sind die Nocturnes1 fr Orchester von 1899 besonders geeignet. Weil die zentraleRolle des Nonakkordes im Mittelteil des zweiten Satzes am deutlichsten zu erkennen ist,wird die Analyse dort beginnen und anschlieend auf einige Stellen der anderen Stzeeingehen.

    1 Claude Debussy, Nocturnes: Triptique symphonique pour orchestre et churs, Hrsg. Max Pommer,Leipzig 1977.

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  • Der Mittelteil des zweiten Satzes lt sich formal folgendermaen gliedern:

    bergeordnete Abschnitte Vorspann A B ATeilabschnitte a b a b a bLnge in Takten 8 8 8 8 8 8 10

    Aus Platzgrnden stehen der Vorspann und Abschnitt A nicht im Notenbeispiel; imVorspann werden lediglich der Grundrhythmus und die Begleitung exponiert und Ab-

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  • schnitt A stellt bis auf die Schlutakte die Tuttiversion von A dar. Die Abschnitte A,B und A unterscheiden sich in Dynamik, Harmonik und Instrumentation, whrend siesich thematisch-motivisch genau entsprechen.Zusammengehalten wird dieser ganze Mittelteil durch die einheitliche Motivik und be-sonders durch die Ostinato-Begleitung ber dem Orgelpunkt as bzw. gis. Insgesamt ister als Steigerung angelegt.Zunchst soll nun das Tonmaterial untersucht werden, wobei auch die Tne mit einbezo-gen werden, die man als harmoniefremd auffassen knnte. Dann lassen sich relativ leichtdiatonische Felder voneinander abgrenzen.Als diatonisch verstehe ich hier jede Leiter, in der kein Ton zusammen mit einer chro-matischen Variante vorkommt (also etwa ges und g). Dazu gehren dann natrlich auchPentatonik und Ganztonleiter. Bei der Abgrenzung der tonalen Felder reicht es also, ber-all dort einen Harmoniewechsel anzunehmen, wo eine chromatische Variante eines Tonserscheint. (Enharmonik ist hierbei natrlich lediglich als Schreib- und Spielerleichterungzu verstehen).Wie man deutlich erkennt, ist das harmonische Material des ganzen Mittelteils eherbegrenzt. Bis auf den verminderten Septakkord as-h-d-f , der die Abschnitte A, B und Avoneinander trennt, werden berhaupt nur drei Fnftonfelder verwendet: as-ces-des-es-f ,f -as-b-c-d und h-d-e-fis-gis. Jedes dieser Fnftonfelder enthlt die Tne eines groenNonakkords, nmlich der Akkorde Des

    97 , B

    97 und E

    97 . (Die drei Ausnahmen in den Takten

    3, 19 und 22 des Notenbeispiels fallen kaum auf und brauchen meines Erachtens nichtspeziell bercksichtigt zu werden.)Schaut man sich nun die Klanggestalt der Begleitakkorde an, so findet man bis auf denabschnitttrennenden Verminderten zwei verschiedene Typen: den Dominantseptakkordund den halbverminderten Septakkord (verminderter Dreiklang mit kleiner Septe). Beidelassen sich als Bestandteile eines groen Nonakkordes auffassen. Dabei fehlt im Domi-nantseptakkord der oberste Ton des Nonakkordes, im halbverminderten der unterste. Dasheit je ein Paar aus einem Dominantseptakkord und einem halbverminderten bilden einFnftonfeld, das aus den Tnen eines Nonakkordes besteht.

    Nach dieser berlegung lt sich die besondere Auswahl des Tonmaterials gut erkl-ren. Das as des Orgelpunkts ist nmlich den ganzen Mittelteil hindurch Bestandteil derBegleitakkorde. Nun gibt es, weil der Nonakkord ein Fnfklang ist, genau fnf groeNonakkorde, die den Ton as bzw. gis enthalten. Soll das as jedoch auch in jeweils beidenTeilakkorden vorkommen, darf es weder unterster, noch oberster Ton des Nonakkordessein, da es in diesen Fllen entweder im Dominantseptakkord oder aber im halbver-minderten fehlen wrde. Somit bleiben nur drei Nonakkorde brig, und das sind genaudiejenigen, die Debussy benutzt hat. as ist entweder Terz, Quint oder Septe des jeweiligenAkkords. Ich benenne diese Fnftonfelder im folgenden mit dem Grundton des entspre-chenden Nonakkordes. Das soll jedoch nicht heien, da dieser Grundton die Rolle einesmelodischen oder harmonischen Zentraltons spielt.

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  • Betrachtet man nun das Akkordmaterial der Abschnitte A, B und A, so stellt man fest,da in jedem smtliche drei Nonakkorde verwendet werden.Interessant ist daran, wie sie auf die beiden Teilabschnitte a und b verteilt sind. Diea-Teile bestehen jeweils aus zwei Fnftonfeldern, von denen das zweite eine kleine Terztiefer steht als das erste. In ihnen knnen daher nur die Kombinationen Des

    97 B

    97 und

    E97 Des

    97 auftreten; der Akkord b-d-f -as-c kann also nie am Anfang eines a-Teils stehen,

    weil der ergnzende Akkord G97 nicht mehr zum System gehrt er enthlt den Ton

    as nicht. Der b-Teil bringt dann jeweils den Nonakkord, der im vorangegangenen a-Teilnicht vorkommt. Deswegen kann auch nicht ein ganzer bergeordneter Teil die Sequenzeines anderen sein. Das Prinzip, in jedem Abschnitt alle drei Nonakkorde erscheinen zulassen, wre so nicht mehr durchzufhren.Dieses Prinzip ist nun offensichtlich der Grund fr die harmonische Buntheit der Stelle,aber auch fr ihre Geordnetheit. Bunt wirkt sie, weil die Akkordfolgen nicht mehr alsfunktionsharmonische Verwandtschaftsverhltnisse empfunden werden. Der Eindruck desGeordneten dagegen entsteht durch das deutlich hrbare harmonische Band des Orgel-punkts und durch die Beschrnkung auf die drei Fnftonfelder, die alle drei in jedem derdrei bergeordneten Abschnitte erscheinen.Versucht man brigens eine funktionsharmonische Analyse, z. B. des ersten Teilabschnittsb, so stt man auf mehrere Phnomene, die der Funktionsharmonik fremd sind. Manmte h-Moll als Tonika auffassen. Dann htte man Erklrungsprobleme mit der dori-schen sechsten Stufe gis, die obendrein noch als Orgelpunkt erscheint, dem stndigenWechsel zwischen Molltonika und Dursubdominante und der Tatsache, da Tonika undSubdominante nicht einmal deutlich voneinander getrennt werden, so da die Klngeineinander verschwimmen.Die grundlegende Rolle des groes Nonakkordes lt sich auch an vielen Stellen deranderen Stze nachweisen. Dabei kann ich natrlich nicht auf alle in Frage kommendenStellen eingehen, sondern will im folgenden diejenigen herausgreifen, an denen sich weitereMglichkeiten, mit dem groen Nonakkord zu arbeiten, zeigen lassen.In allen Stzen treten Nonakkordmixturen auf, also bloe Reihungen verschiedener Non-akkorde ohne funktionalen Zusammenhang, z. B. im 1. Satz T. 14, im 2. Satz T. 9ff. undim 3. Satz T. 38ff.Interessant sind im 3. Satz auch T. 12f. und T. 17f. An beiden Stellen verwendet Debussyeine Folge von drei Nonakkorden, in der ein Ton allen drei Akkorden gemeinsam ist, alsogenau wie im Mittelteil des zweiten Satzes.Auch das Prinzip, da Skalen oder Tonfelder auf Nonakkorden basieren, wird in denanderen Stzen verwendet. Um dies klar zu machen, ist jedoch eine kurze abstrakteberlegung notwendig. Im Mittelteil des zweiten Satzes entspricht dem Nonakkord dieVerwendung einer fnftnigen diatonischen Skala in der Melodie. Nun kann man die Fragestellen, ob sich dieses Prinzip so erweitern lt, da dabei eine volle siebentnige Skalaentsteht. Das heit aber: Entweder mu man einen siebentnigen Akkord zugrundelegen,oder man mu von mehreren Nonakkorden ausgehen, die sich zu einer diatonischen Skalazusammenfgen lassen. Siebentnige Akkorde hat Debussy um 1900 nicht verwendet.

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  • Sehen wir uns also an, welche Mglichkeiten es gibt, mit mehreren Nonakkorden einediatonische Skala zu konstruieren.Ausgangsakkord sei g-h-d-f -a. Welche Vorzeichen mssen nun die Stammtne c und ehaben, um als Bestandteile eines weiteren Nonakkordes aufgefat werden zu knnen?Dafr gibt es nur zwei Mglichkeiten. Entweder whlt man die Tne c und es, der zweiteNonakkord heit dann f -a-c-es-g, oder man whlt cis und e. Dann heit der zweiteAkkord a-cis-e-g-h. In jedem Fall entsprechen einer solchen Skala also zwei Nonakkorde,deren Grundtne eine groe Sekunde voneinander entfernt sind.Die so entstandene Leiter (g-a-h-cis-d-e-f) entspricht, von ihrem Tonmaterial her ge-sehen, dem Melodisch-Moll der Tradition (in diesem Falle d-Moll-melodisch). Dieses istjedoch fest an einen bestimmten Grundton gebunden und wird gewhnlich als zu harmo-nischen Zwecken modifiziertes Dorisch oder olisch aufgefat. Dagegen ist die hergeleiteteSkala lediglich als Tonvorrat zu verstehen, von dem verschiedene Tne die Rolle einesGrund- oder Zentraltons bernehmen knnen. Schon in den Nocturnes treten verschie-dene Flle auf. Weitere kann man bei Janek und Bartk finden, worauf ich hier nichteingehen kann.Die konstruierte Leiter lt sich im Gegensatz zu den herkmmlichen diatonischen Skalennicht als lckenloser Ausschnitt des Quintenzirkels darstellen. Deswegen ist sie auch inkeiner Transposition auf den weien Tasten des Klaviers spielbar. Sie besitzt eine unre-gelmige Ganz- und Halbtonstruktur, enthlt also Intervalle wie z. B. die verminderteQuarte.Gleich der erste Satz beginnt mit dieser Skala in der Oberstimme, die hier allerdings nochals h-Moll-melodisch gedeutet werden kann.

    Die oben hergeleitete Leiter mu dazu auf e transponiert werden (e-fis-gis-ais-h-cis-d).Die chromatisch gefhrte Unterstimme lt sich natrlich nicht mit einbeziehen.In Takt 5 spielt das Englischhorn ein Thema, das vollstndig auf der hergeleiteten Skalabasiert (ohne Transposition). Es ist laut Debussy brigens dem Klang einer Schiffssi-rene nachempfunden.2 Dieses Thema erscheint an mehreren Stellen im ersten Satz mitunterschiedlicher Begleitung. Das Notenbeispiel zeigt drei Versionen.

    2 Siehe Lon Vallas, Debussy und seine Zeit, bers. Karl August Horst, Mnchen 1961, S. 196.

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  • Hier besteht also an allen drei Stellen der gesamte Tonsatz und nicht nur die Melodieaus Tnen dieser Leiter. Dabei macht Debussy von der Mglichkeit, das Thema mitNonakkordbestandteilen zu begleiten, regen Gebrauch.Auch in diesem Thema ist wie am Beginn des Satzes h der melodische Zentralton. Dashat natrlich zur Folge, da die Leiter, wenn man sie mit dem Zentralton beginnen lt,eine extrem exotische Intervallstruktur besitzt. ber dem Zentralton erscheinen nmlicheinerseits die groe Sekunde, andererseits die verminderte Quinte.Im dritten Satz schlielich verwendet Debussy zwei verschiedene Transpositionen dieserSkala (h- und g-Transposition) in direkter Folge, wobei der Abschnitt mit der g-Trans-position bis auf den Ba und die Instrumentation lediglich eine Sequenz des Teils davordarstellt.

    Zusammengehalten wird der Abschnitt durch einen ununterbrochenen Streicherteppich,durch den Orgelpunkt auf h, also mit derselben Technik, wie in der analysierten Stelle ausdem zweiten Satz, und durch den Anschlu in der Melodie. Die Sekundfortschreitung wirdan der Nahtstelle nicht unterbrochen und die im ersten Takt des zweiten Teilabschnittsverwendeten Melodietne cis und h gehren beiden Leitern an.Die Begleitung basiert brigens hier wie auch an den anderen Stellen nicht auf der ge-samten siebentnigen Leiter, sondern nur auf einem Akkord, dessen Tne in dieser Leiterenthalten sind, in diesem Fall dem Dominantseptakkord auf h. Nun wre es natrlichmglich gewesen, auch den Dominantseptakkord auf cis zu whlen. Die Melodie httegleich bleiben oder eine Sekunde nach oben sequenziert werden knnen. Der Unterschied,der sich dann ergibt, besteht hauptschlich im mehr oder minder starken harmonisch-tonalen Eindruck. Mit einem Cis7-Akkord klingt die Stelle nach Fis-Dur oder fis-Moll; esliegt ja auch die melodische fis-Moll-Tonleiter zugrunde. In der von Debussy komponier-

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  • ten Fassung mit dem H7-Akkord verhindert jedoch der Ton eis in der Melodie, da dieTakte dominantisch auf e gehrt werden knnen. Von den Mglichkeiten, die zugrunde-liegende Skala traditionell oder neuartig zu verwenden, entscheidet sich Debussy fr dasletztere.Der groe Nonakkord bzw. das ihm entsprechende Fnftonfeld lt sich somit in allenerrterten Beispielen direkt oder indirekt als konstitutives Prinzip auffassen. Interessantist dabei, wieviel verschiedene Mglichkeiten Debussy gefunden hat, von diesem AkkordGebrauch zu machen. Er spaltet Teilakkorde von ihm ab (Dominantseptakkord, halbver-minderter). Er verwendet ihn als fr Melodie und Begleitung gleichermaen konstitutivesFnftonfeld. Er benutzt eine siebentnige Skala, die sich auf den Nonakkord zurckfh-ren lt. Das soll natrlich nicht heien, da es fr eine solche Skala nicht noch andereErklrungsmglichkeiten gibt, z. B. die Polymodalitt.Auf der Basis des Nonakkords bzw. seiner dissonanten Bestandteile lassen sich kaum nochfunktionsharmonisch sinnvolle Akkordfolgen schreiben. Das beabsichtigt Debussy auchgar nicht. Kadenzen kann man in den Nocturnes mit der Lupe suchen. Es mssen alsoandere Arten der Akkordverknpfung gefunden werden. So kann der ganze Tonsatz ausparallelverschobenen Nonakkorden bestehen (Mixtur), oder ein gemeinsamer Ton hltdie verschiedenen Akkorde zusammen (harmonisches Band). Auch eine durchgehendeSekundbewegung in der Melodie kann verschiedene Abschnitte verknpfen.Interessant ist die Tatsache, da Debussy an den analysierten Stellen nur traditionelleAkkorde verwendet, die so auch z. B. bei Wagner oder Debussys Lehrer Csar Franckvorkommen (verminderter, halbverminderter, Dominantseptakkord, Nonakkord). So istWagners Tristan ja geradezu das Paradebeispiel fr den stndigen Gebrauch von Domi-nantseptakkorden und halbverminderten und der dadurch bedingten Emanzipation vonder Funktionsharmonik.Angesichts dessen stellt sich jedoch die Frage, welche satztechnischen Phnomene dafrverantwortlich sind, da Debussy sich klanglich so sehr von Wagner unterscheidet. Beson-ders wichtig ist hier offenbar die jeweilige Einstellung zu Chromatik und Dissonanz. Vonbeidem macht Wagner reichlich Gebrauch. Beides dient ihm zumeist zur Darstellung vonSpannung und Auflsung. Wagners Musik, und natrlich nicht nur seine, kann auf dieseWeise als zielgerichteter Verlauf empfunden werden. Die Dissonanz, der unvollkommeneZustand, strebt zur Konsonanz, dem vollkommenen Zustand.Dies gilt fr Debussy nicht mehr. Seine Chromatik hat selten einen drngenden Charakterwie bei Wagner (vgl. den Anfang der Nocturnes). Kleine Sekunden wirken nicht mehr alsLeittne. Dissonante Harmonien behlt er hufig ber mehrere Takte bei. Statt einer Auf-lsung erscheint dann oft eine neue dissonante Harmonie (Nocturnes II, Mittelteil). Diesist ein Grund, weshalb seine Musik eher bunt wirkt als zielgerichtet, nicht mehr logisch,sondern assoziativ. Wahrscheinlich wird sie deshalb auch hufig als impressionistischbezeichnet.Die Unterscheidung zwischen Konsonanz und Dissonanz ist bei Debussy mit zwei Proble-men verbunden. Erstens sind die beiden Begriffe eigentlich nur gegenseitig zu definieren.Wenn es keine Auflsungen mehr gibt, gibt es auch keine Dissonanzen mehr. Wenn nunaber eine Harmonie, die nach traditioneller Auffassung dissonant ist, ber lange Streckenbeibehalten wird, ohne aufgelst zu werden, oder wenn verschiedene dissonante Harmo-

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  • nien, ohne sich gegenseitig aufzulsen, aufeinander folgen, dann kann man nicht mehrsinnvoll von Dissonanzen reden. (Siehe z. B. das 2. und das 13.Prlude.)Zweitens fllt auf, da Debussy hufig ber weite Strecken mit Akkorden arbeitet, diekeine kleinen Sekunden enthalten, also dem groen Nonakkord, der Ganztonleiter, derPentatonik, dem vermindertem Septakkord und in diesen enthaltenen Teilakkorden. Denverminderten Septakkord verwendet er wesentlich seltener. Mglicherweise hat er ihnschon als abgegriffen und verbraucht empfunden.3 In diesen Fllen wird die Unterschei-dung Konsonanz/Dissonanz also nicht aufgehoben, sondern es wird die Grenze zwischenKonsonanz und Dissonanz, die traditionell zwischen konsonanten Terzen und dissonantenSekunden lag, so verschoben, da nunmehr die groen Sekunden konsonant sind und nurnoch die kleinen dissonant.Die Melodie wird anders als bei Wagner wieder mehr diatonisch gestaltet. Dies hat wahr-scheinlich mehrere Grnde. Einerseits wird die Chromatik als Spannungsmittel berfls-sig. Andererseits ermglichte die Diatonik in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts dieVerbindung von Eingngigkeit, Einbeziehung auch auereuropischer Musik und Abkehrvon der Funktionsharmonik. Diese Punkte waren fr Debussy unterschiedlich wichtig.An Eingngigkeit war er kaum interessiert, wie seine Polemik gegen diejenigen Kompo-nisten zeigt, die nach der Oper auf der Strae gepfiffen werden.4 Da der Eindruck derGamelan-Musik, die er 1889 auf der Pariser Weltausstellung kennengelernt hat, fr ihnentscheidend war, ist allgemein bekannt.5

    Die Abkehr von der Funktionsharmonik, die sich im spten 19. Jahrhundert bei denmeisten Komponisten beobachten lt, ist mit Diatonik durchaus zu verbinden, soferndie Diatonik dazu verwendet wird, wesentliche Elemente der Funktionsharmonik zu ver-meiden, z. B. die groe zweite, die reine fnfte oder die leittnige siebte Stufe. Dies trifftnatrlich auch besonders in denjenigen Fllen zu, in denen, wie etwa in der Pentatonikoder der Ganztonleiter, berhaupt keine siebentnige Leiter verwendet wird. Bei einersolchen Verwendungsweise verliert die Diatonik dann auch den Charakter des Konven-tionellen, fr den Wagner sie noch hufig verwendet.Debussy war also bei seiner musikalischen Revolution nicht nur auf die Adaption vonGamelan-Musik angewiesen, sondern konnte wesentliche Elemente der Tradition aufgrei-fen, indem er eine neuartige Verwendung fr sie fand.

    3 Vgl. hierzu Arnold Schnberg, Harmonielehre, Wien 1949, S. 287f.4 Vgl. Claude Debussy, Monsieur Croche, Stuttgart 1982, S. 37.5 Vgl. z. B. Diether de la Motte, Harmonielehre, Kassel 1976, S. 249.

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