Zur Problematik des Schuldstrafrechts

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Zur Problematik des Schuldstrafrechts* Von Professor Dr. Claus Roxin, München I. Nach überlieferter, auch in Deutschland heute noch vielfach vertretener Lehre ist Grundlage des Strafrechts das Prinzip des Schuldausgleichs 1 . Das heißt: Die Schuld, die der Täter durch seine Tat auf sich geladen hat, wird durch Verbüßung der Strafe ausgegli- chen (nach üblichem Sprachgebrauch: vergolten, gesühnt). Dieser einfache Satz, der die Voraussetzungen der Strafbarkeit ebenso wie die Aufgabe und Rechtfertigung der Strafe in sich schließt, hat sich als Grundlage unserer Wissenschaft nicht nur deshalb so lange be- haupten können, weil seine Wurzeln tief in die Geschichte des abendländischen Denkens hinabreichen. Er hat vor allem den Vor- zug, daß er juristisch außerordentlich viel leistet und die entschei- denden kriminalpolitischen und dogmatischen Fortschritte der letz- ten 200 Jahre ermöglicht hat. Wenn wir keine Kinder, keine ein- sichtsunfähigen Jugendlichen und keine Geisteskranken mehr be- strafen, und wenn wir auf der Grundlage verfeinerter psychiatrischer Erkenntnisse heute geneigt sind, auch bei rein seelischen Störungen (wie schweren Affekten und Neurosen) auf die Strafe zu verzichten, so ist das immer konsequenter durchgeführte Schuldprinzip 2 der Mo- * Der nachstehende Text enthält die durch Fußnoten ergänzte, sonst aber im wesent- lichen unveränderte Fassung des Vortrages, den ich auf Einladung der juristischen Fakultät der Universität Coimbra am 11. April 1983 in der Universität Coimbra ge- halten habe. Er stellt inhaltlich eine Fortsetzung des wissenschaftlichen Gesprächs dar, das Figueiredo Dias mit seinem in ZStW 95 (1983), S. 220—255, veröffentlichten Beitrag über „Schuld und Persönlichkeit" begonnen hat. Mein besonderer Dank gilt meinen beiden strafrechtlichen Kollegen in Coimbra, den Herren Professoren Dr. Eduarde Correia und Dr. Jörge de Figüeiredo Dias, sowie meinem Mitarbeiter Ma- nuel Cortes Rosa, der den Text ins Portugiesische übersetzt und es mir ermöglicht hat, ihn auch in portugiesischer Sprache vorzutragen. Die Anmerkungen die ich der Druckfassung beigegeben habe, beschränken sich angesichts der Unübersehbarkeit der einschlägigen Literatur auf die wichtigsten Hinweise. Zur näheren Kennzeichnung meiner eigenen Position habe ich mir er- laubt, gelegentlich auf eigene Veröffentlichungen hinzuweisen, in denen die von mir vertretenen Auffassungen weiter ausgeführt werden. 1 Dazu näher: Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, JuS 1966, 377, wieder abge- druckt in: ders., Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. l, in spanischer Spra- che in: ders., Problemas Basicos del Derecho Penal, Madrid 1976, S. 11. 2 Zum Schuldprinzip vor allem Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip. Eine strafrecht- lich-rechtsphilosophische Untersuchung, 2. Aufl. 1976. ZStW96(1984)Heft3 Bereitgestellt von | University of Saska Angemeldet | 128.233.210.97 Heruntergeladen am | 03.06.14 04

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Zur Problematik des Schuldstrafrechts*Von Professor Dr. Claus Roxin, München

I. Nach überlieferter, auch in Deutschland heute noch vielfachvertretener Lehre ist Grundlage des Strafrechts das Prinzip desSchuldausgleichs1. Das heißt: Die Schuld, die der Täter durch seineTat auf sich geladen hat, wird durch Verbüßung der Strafe ausgegli-chen (nach üblichem Sprachgebrauch: vergolten, gesühnt). Diesereinfache Satz, der die Voraussetzungen der Strafbarkeit ebenso wiedie Aufgabe und Rechtfertigung der Strafe in sich schließt, hat sichals Grundlage unserer Wissenschaft nicht nur deshalb so lange be-haupten können, weil seine Wurzeln tief in die Geschichte desabendländischen Denkens hinabreichen. Er hat vor allem den Vor-zug, daß er juristisch außerordentlich viel leistet und die entschei-denden kriminalpolitischen und dogmatischen Fortschritte der letz-ten 200 Jahre ermöglicht hat. Wenn wir keine Kinder, keine ein-sichtsunfähigen Jugendlichen und keine Geisteskranken mehr be-strafen, und wenn wir auf der Grundlage verfeinerter psychiatrischerErkenntnisse heute geneigt sind, auch bei rein seelischen Störungen(wie schweren Affekten und Neurosen) auf die Strafe zu verzichten,so ist das immer konsequenter durchgeführte Schuldprinzip2 der Mo-

* Der nachstehende Text enthält die durch Fußnoten ergänzte, sonst aber im wesent-lichen unveränderte Fassung des Vortrages, den ich auf Einladung der juristischenFakultät der Universität Coimbra am 11. April 1983 in der Universität Coimbra ge-halten habe. Er stellt inhaltlich eine Fortsetzung des wissenschaftlichen Gesprächsdar, das Figueiredo Dias mit seinem in ZStW 95 (1983), S. 220—255, veröffentlichtenBeitrag über „Schuld und Persönlichkeit" begonnen hat. Mein besonderer Dank giltmeinen beiden strafrechtlichen Kollegen in Coimbra, den Herren Professoren Dr.Eduarde Correia und Dr. Jörge de Figüeiredo Dias, sowie meinem Mitarbeiter Ma-nuel Cortes Rosa, der den Text ins Portugiesische übersetzt und es mir ermöglichthat, ihn auch in portugiesischer Sprache vorzutragen.Die Anmerkungen die ich der Druckfassung beigegeben habe, beschränken sichangesichts der Unübersehbarkeit der einschlägigen Literatur auf die wichtigstenHinweise. Zur näheren Kennzeichnung meiner eigenen Position habe ich mir er-laubt, gelegentlich auf eigene Veröffentlichungen hinzuweisen, in denen die vonmir vertretenen Auffassungen weiter ausgeführt werden.

1 Dazu näher: Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, JuS 1966, 377, wieder abge-druckt in: ders., Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. l, in spanischer Spra-che in: ders., Problemas Basicos del Derecho Penal, Madrid 1976, S. 11.

2 Zum Schuldprinzip vor allem Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip. Eine strafrecht-lich-rechtsphilosophische Untersuchung, 2. Aufl. 1976.

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tor dieser Entwicklung gewesen. Wenn wir in der Strafrechtsdogma-tik die Reste der Erfolgshaftung weitgehend beseitigt haben, wennheute anerkannt ist, daß das versari in re illicita keine Strafbarkeitbegründen kann, daß bei erfolgsqualifizierten Delikten der schwereErfolg mindestens fahrlässig herbeigeführt werden und daß der un-vermeidbare Verbotsirrtum zur Straflösigkeit führen muß, dann sindalle diese unleugbaren Fortschritte die Frucht schuldstrafrechtlichenDenkens. Wenn unsere gesamte Straföumessungslehre auf demAxiom beruht, daß die Strafe das Maß der Schuld nicht überschrei-ten darf, so ist dieser die staatliche Strafgewalt beschränkende, libe-rale Grundsatz allein aus dem Schuldprinzip ableitbar; und wennnoch vor kurzem unser Verfassungsgericht entschieden hat, daß diefür den Mord vom Gesetzgeber ausnahmslos angedrohte lebensläng-liche Freiheitsstrafe entgegen dem Gesetzeswortlaut gemildert wer-den muß3, falls sie zur Schuld des Täters nicht im rechten Verhältnissteht, so ist auch dies eine Folgerung aus dem Schuldgedanken, derseine Bedeutung für die reformerische Evolution des Strafrechts bisheute bewahrt hat.

II. Ungeachtet dessen sind aber die theoretischen Grundlagendes Schuldstrafrechts in ihrer traditionellen Form ins Wanken gera-ten. Diese Erkenntnis ist der auslösende Faktor für die neuartigeKonzeption von Figueiredo Dias gewesen, und an diesem Punkt willauch ich einsetzen. Dabei sind für meine Kritik nicht die Gründe ent-scheidend, aus denen der Gedanke des Schuldausgleichs immerschon umstritten war. Wenn man, wie es der Bundesgerichtshof inÜbereinstimmung mit einer sehr alten philosophischen Tradition tut,die Schuld des Täters darin sieht, daß er sich für das Unrecht ent-schieden hat, obwohl er sich für ein rechtmäßiges Verhalten hätteentscheiden können4, dann setzt die Schuld einen Entscheidungs-spielraum des Handelnden und damit eine mindestens relative Wil-

3 BVerfGE 45, 187. Der Bundesgerichtshof hat inzwischen solche Ausnahmen von derlebenslänglichen Freiheitsstrafe ausdrücklich anerkannt, zuerst 1981 in BGHSt. 30,105.

4 In der maßgebenden Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen beim Bun-desgerichtshof, BGHSt. 2, 194, 200, heißt es: „Mit dem Unwerturteil der Schuld wirddem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für dasUnrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Rechthätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daßder Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt unddeshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden ...,sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien sittlichenSelbstbestimmung nicht... vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist."

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lensfreiheit des Menschen voraus, deren Vorhandensein erkenntnis-theoretisch und empirisch weder beweisbar noch endgültig wider-legbar ist und wahrscheinlich immer ungeklärt bleiben wird. Ebensowird das Prinzip der Vergeltung schon seit dem Altertum von prä-ventiven Lehren rechtspolitisch bekämpft, ohne daß dieser Streit auftheoretischer Ebene je hätte entschieden werden können5. Diese al-ten Kontroversen haben aber den Siegeszug des Schuldstrafrechtsnie entscheidend hemmen können, und sie brauchten es auch heutenicht zu tun. Denn der Jurist muß in zahlreichen Fällen zwischenverschiedenen denkbaren Möglichkeiten entscheiden, und er kannseine Wahl nur nach teleologischen Gesichtspunkten treffen, dieihm das Schuldprinzip so einleuchtend zur Verfügung stellt.

Aber die neuere Diskussion hat doch, wie mir scheint, in zweiPunkten die definitive Unhaltbarkeit der bisherigen, das Schuldstraf-recht tragenden Annahmen ergeben. Folgerungen aus einer unhalt-baren Prämisse aber sind unzulässig, mögen sie auch noch so er-wünscht sein. Die beiden unüberwindlichen Schwierigkeiten derüberlieferten Schuidausgleichskonzeption sind diese:

1. Eine Schuld im Sinne individuellen Andershandelnkönnensim Tatzeitpunkt ist nicht feststellbar. Ich sehe dabei vom unlösbarenProblem der Willensfreiheit einmal völlig ab und nehme an, daß derMensch in den Grenzen, die ihm durch Anlage und Umwelt gezogensind, eine gewisse Wahlfreiheit besitzt. Jedenfalls entzieht sich einesolche Wahlfreiheit nachträglicher forensischer Rekonstruktion. Esbesteht, soweit ich sehe, in Deutschland völlige Einigkeit darüber,daß kein psychologischer oder psychiatrischer Sachverständiger dieFähigkeit des konkreten Täters, im Tatzeitpunkt anders zu handeln,als er es getan hat, mit empirischen Mitteln nachweisen kann6.Wenn aber zur Annahme von Schuld ein empirischer Befund voraus-gesetzt wird, der sich prinzipiell nicht feststellen läßt, so müßte dasnach dem Grundsatz „in dubio pro reo" zum Freispruch führen.

5 Man vergleiche das bekannte Diktum von Seneca, De ira, Buch I, Kap. 16: „Nam, utPlato ait, nemo prudens punit quia peccatum est, sed ne peccetur. Revocari enimpraeterita non possunt, futura prohibentur." Da der von Seneca zitierte Plato denAusspruch dem Protagoras in den Mund legt, kann dieser als der älteste Vertretereiner präventiven Straftheorie gelten.

6 Vgl. zusammenfassend und besonders deutlich Bockelmann, Willensfreiheit undZurechnungsfähigkeit, ZStW 75 (1963), S. 372; ferner etwa das repräsentative Lehr-buch von Jescheck, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, S. 328 ff. Wie hier Figueiredo Dias,ZStW 95 (1983), S. 228 ff.

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2. Unhaltbar ist aber auch der weitere Gedanke, daß die Strafedie Aufgabe haben könnte, die Schuld des Täters auszugleichen. Frü-here Generationen haben aus der Annahme von Schuld viel zu raschauf ein staatliches Recht zur Vergeltung geschlossen. Auch wennman davon ausgeht, daß der Richter menschliche Schuld feststellenkann, bedarf jedoch die zweite Prämisse der Schuldausgleichslehre,daß er das Recht und die Pflicht habe, diese Schuld durch sein Urteilzu vergelten, einer zusätzlichen Begründung. Eine solche Begrün-dung aber gibt es nicht mehr, weil sie eine staatsrechtliche Grund-lage voraussetzt, die endgültig der Vergangenheit angehört. Untereiner Konstitution, in der Träger der Staatsgewalt ein Monarch ist,der seine Rechte aus der Autorität Gottes herleitet und an Richterdelegiert, die ihre Urteile folgerichtig „im Namen Gottes" sprechen,hat das Recht des Richters zur schuldausgleichenden Vergeltungeine staatsrechtliche Legitimation: Das Urteil ist die stellvertretendeVollziehung des göttlichen Richteramtes und stellt in dieser Funk-tion die verletzte Gerechtigkeit wieder her. Unter einer demokra-tisch-parlamentarischen Staatsverfassung aber ist diese Begründungnicht mehr tragfähig. Denn der Richter hat seine Macht ausschließ-lich vom Volk als dem nunmehrigen Träger der Staatsgewalt, und dasVolk kann ihm ein Recht zur Vergeltung nicht übertragen7.

Das läßt sich leicht erklären. Der entscheidende Unterschiedzwischen Vergeltung und Prävention liegt darin, daß die Vergeltungallein der Idee der Gerechtigkeit dient und von allen gesellschaftli-chen Zwecken absieht, während die präventiven Lehren im Gegen-satz dazu ausschließlich gesellschaftliche Zwecke verfolgen, ob mandiese nun in der Sozialisation des Täters, in seiner Abschreckung, inder Sicherung vor ihm oder in der Einwirkung auf die Allgemeinheitsieht. Eben deshalb spricht man beim Gedanken der Schuldvergel-tung von einer „absoluten", d. h. von allen Zwecksetzungen „losgelö-sten" Theorie, während die präventiven Auffassungen allesamt „rela-tive", d. h. zw* ckbezogene Theorien sind. Eine absolute Theorie aberist mit dem staatsvertraglichen Denkmodell, das der parlamentari-schen Demokratie zugrunde liegt, nicht zu vereinbaren. Denn da-nach übertragen die Bürger die Staatsgewalt auf ihre gewählten Ver-treter und die von diesen eingesetzten Amtsträger nur insoweit, wiees nötig ist, um einen Gesellschaftsverband zu organisieren, der deneinzelnen vor Eingriffen in seine Freiheitssphäre bewahren und ihm

7 Vgl. dazu schon Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, in: StrafrechtlicheGrundlagenprobleme, S. 4 f.

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ein Leben in Frieden und Wohlfahrt ermöglichen soll. Die Befug-nisse der Staatsorgane sind also auf die gesellschaftlichen Aufgabender inneren und äußeren Friedenssicherung und der Daseinsvor-sorge beschränkt. Zu diesem Aufgabenkreis gehören auch die prä-ventiven Funktionen des Strafrechts. Die Verwirklichung von Ideenaber gehört nicht dazu. Die Idee der Schuldvergeltung beruht auf dermetaphysischen Annahme, daß eine Übeltat ausgeglichen oder auf-gehoben wird, wenn man dem Täter selbst ein entsprechendes Übelzufügt. Ob man diese Annahme teilt, ist eine Frage des Glauoens, inder sich der einzelne nach seinem persönlichen Gewissen entschei-den kann. Die Metaphysik ist außerdem ein wichtiger Gegenstandder Philosophie und Theologie, aber die Verwirklichung ihrer Postu-late ist in einer modernen Demokratie keine Staatsaufgabe mehr.Der Gedanke der Vergeltung, wie jede absolute Straftheorie, iststaatstheoretisch ausgeschlossen, weil alle staatliche Machtaus-übung nur noch gesellschaftlichen Zwecken dienen darf, also ihremWesen nach „relativ" ist.

III. Wenn man mir insoweit folgt, scheint sich auf den erstenBlick eine niederschmetternde Bilanz zu ergeben. Wie soll es mög-lich sein, am Schuldstrafrecht festzuhalten, wenn individuelle Schulderstens nicht feststellbar ist und zweitens, wenn sie feststellbar wäre,vom Richter nicht vergolten rerden darf? Es liegt nahe, angesichtsdieses Befundes auf ein rein präventives Sanktionenrecht überzuge-hen, die Strafe abzuschaffen und nur noch Maßregeln * jizubehalten.Eine solche Lösung ist schon seit den Zeiten von Liszts Bestandteilder internationalen Diskussion und wird auch heute in Deutschlandwieder in unterschiedlichen Varianten befürt Ortet, die das Schwer-gewicht teils auf die Spezial-, teils auf die Genaralprävention legen.

Ich muß aber dem Kollegen Figueiredo -ONs8 darin recht geben,daß diese Lösung nicht durchführbar ist. De/ das Prinzip der Prä-vention ist allein nicht in der Lage, die staatliche Strafgewalt inrechtsstaatlich angemessener Weise zu begrenzen. Das gilt für dieStrafbegründung wie die Strafzumessung gleichermaßen. Es wärez. B. generalpräventiv durchaus zweckmäßig, alle Auswirkungen derversari in re illicita unter Strafe zu stellen, vom Grundsatz error iurisnocet auszugehen und zahlreiche abstrakte Gefährdungsdelikteohne Schuldbeziehung zu schaffen. Auch können sich im Einzelfallspezial- und generalpräventive Strafen empfehlen, die über das

8 ZStW95(1983),S.226f.

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Schulämaß weit hinausgehen. Die Ersetzung der Schuld durch Prä-vention würde also auf dogmatischem Gebiet die Tendenz haben, dierechtsstaatlichen Errungenschaften der neueren Strafrechtsentwick-lung, die als solche von niemandem bestritten werden, wieder rück-gängig zu machen. Denn Prävention zielt nicht so sehr auf die Ein-schränkung wie auf die gesellschaftliche Wirksamkeit der Strafdro-hungen; diese Wirksamkeit aber kann (jedenfalls nach Meinung vie-ler Gesetzgeber) in manchen Fällen durch eine Ausdehnung derStrafbarkeit verstärkt und gesichert werden. Erst recht kann bei derStrafzumessung eine lange, den Schuldgehalt der Tat weit überstei-gende Freiheitsstrafe für eine erfolgreiche Resozialisierung des Tä-ters oder zur Verstärkung des Eindrucks der Strafdrohungen auf dieBevölkerung zweckmäßig sein. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit,das von den Theoretikern der reinen Prävention anstelle des Schuld-prinzips zur Begrenzung der Strafhöhe angeboten wird9, leistet fürdie Einschränkung der Sanktionsdauer weit weniger. Denn Bezugs-gegenstand der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann vom präventivenStandpunkt aus nur das öffentliche Interesse an der Verbrechensbe-kämpfung sein. Unverhältnismäßig ist also nur, was im Grund schonpräventiv nicht geboten ist, während das Schuldprinzip viel weiter-gehend in der Lage ist, das individuelle Freiheitsinteresse gegen dasstaatliche Eingriffsinteresse durchzusetzen.

Der These, daß ein reines Präventionsstrafrecht dem Schuld-strafrecht unter rechtsstaatlichen Aspekten weit unterlegen sei,kann der Präventionist zweierlei entgegenhalten. Erstens kann ergeltend machen, daß eine vernünftige Prävention nur maßvoll betrie-ben werden könne10. Man könne der Kriminalität am wirkungsvoll-sten nicht durch eine möglichst extensive und strenge Bestrafung,sondern nur durch Sanktionen vorbeugen, die von der Bevölkerungals notwendig und gerecht anerkannt würden. Die Bestrafung desversari in re illicita oder des unvermeidbaren Verbotsirrtums odereine übermäßig harte Straie aber werde bei dem inzwischen erreich-ten Kulturzustand von der Bevölkerung und auch vom Täter nichtakzeptiert werden und deshalb präventiv wirkungslos bleiben. Daherseien die Ergebnisse, zu denen das Schuldstrafrecht führe, vom prä-ventiven Standpunkt aus ebenso gut zu begründen. Dazu ist zu sa-

9 Vgl. etwa Ellscheid/Hassemer, Strafe ohne Vorwurf, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Se-minar: Abweichendes Verhalten II, l, 1975, S. 226; dazu Figueiredo Dias, ZStW95(1983), S. 226.

10 Näher zu dieser Argumentation Gimbernat Ordeig, Hat die Strafrechtsdogmatikeine Zukunft?, ZStW 82 (1970), S. 379, 394 ff.

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gen: Wir wissen von den empirischen Wirkungen der Bestrafung zuwenig, um eine wissenschaftlich zuverlässige Aussage darüber ma-chen zu können, welche Art von Prävention die erfolgreichste ist.Wenn man sich aber den Einwand zu eigen macht, läuft er auf eineRückkehr zum Schuldprinzip in präventiver Verkleidung heraus.Wenn nur die Ergebnisse, zu denen das Schuldprinzip führt, geeignetsind, den Täter und die Bevölkerung zu rechtstreuem Verhalten zumotivieren, wird der Schuldgedanke nicht aufgegeben, sondern vor-ausgesetzt und mit einer zusätzlichen präventiven Legitimation ver-sehen.

Zweitens kann man ein reines Präventionsrecht damit verteidi-gen, daß man die rechtsstaatlichen Schutzwirkungen des Schuldprin-

' zips als gering veranschlagt und darauf hinweist, daß die meisten eu-ropäischen Strafrechtsordnungen auf dem System der Zweispurig-keit beruhen und sich durch die Anerkennung nicht schuldabhängi-ger Maßregeln ohnehin in immer zunehmendem Maße über dasSchuldprinzip hinwegsetzen. Es liege in der Konsequenz dieser Ent-wicklung, das theoretisch unhaltbar gewordene Schuldprinzip ganzaufzugeben. Dieser Einwand ist stichhaltig, wenn bei schwerwiegen-den Eingriffen, also bei Freiheitsentziehungen, tatsächlich nebenoder anstelle der Strafe in weitem Umfange auch freiheitsentzie-hende Maßregeln verhängt werden können, wie es anscheinend inSpanien der Fall ist11. Aber ein solches Sanktionensystem, das ich fürrechtsstaatlich sehr bedenklich halten würde, gilt in der Bundesre-publik nicht. Vielmehr werden freiheitsentziehende Maßregeln nurim Ausnahmefall (bei geistigen Defekten des Täters, bei der Abhän-gigkeit von berauschenden Mitteln und der mehrfach wiederholtenBegehung schwerer Taten) angeordnet. Im Regelfall bleibt es bei derStrafe, deren eingriffsbegrenzende Wirkung gerade dadurch unter-strichen wird, daß das Schuldprinzip erst dann aufgegeben werdenmuß, wenn der Gesellschaft von einem Täter sehr schwere und an-ders nicht abwendbare Gefahren drohen. Aber das sind Regelungenfür Notstandsfälle, die der Rechtsstaat auch in anderen Bereichennicht entbehren kann-, er gibt sich auf, wenn er solche Ausnahmenzur Regel macht.

IV. Als Zwischenbilanz ergibt sich also, daß das überlieferteSchuldstrafrecht theoretisch, ein reines Präventionsrecht aber prak-

i i Näher dazu Munoz Conde, Monismus und Dualismus im spanischen Straf recht, G A1984, 218 ff. Munoz Conde macht sich diesen Einwand aber nicht zu eigen, sondernbekämpft ein unbegrenztes Maßregelrecht.

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tisch unlösbare Schwierigkeiten mit sich bringt. Figueiredo Dias, mitdem ich in dieser Diagnose übereinzustimmen glaube, macht deshalbden kühnen Versuch, das Schuldstrafrecht durch eine veränderteSchuldkonzeption neu zu begründen. Ich brauche seine Lehre an die-ser Stelle nicht im einzelnen zu entwickeln12, sondern nenne nur dasErgebnis. Er verzichtet auf die Annahme einer Wahlfreiheit bei Aus-führung der dem Täter zur Last gelegten Einzeltat, greift statt dessenaber auf eine „Grundwahr zurück, durch die „sich der Mensch zu sichselbst entscheidet und dadurch ... sein eigenes Wesen festlegt". DerMensch schafft also in existentieller Freiheit seine eigene Persön-lichkeit, deren Artung dann freilich ihre einzelnen Handlungsaktedeterminiert. Schuld ist „Einstehenmüssen für die Persönlichkeit, inder die Begehung eines Unrechtstatbestandes ihren Grund hat"; wereinen Unrechtstatbestand verwirklicht, ist schuldig, „wenn er in derTat strafrechtlich wertwidrige persönliche Eigenschaften — und indiesem Sinne eine tadelnswerte Persönlichkeit — zum Ausdruckbringt"13.

Damit ist zweifellos die Schwierigkeit überwunden, die sich ausder Unbeweisbarkeit des Andershandelnkönnens ergibt: Obwohl derMensch im Augenblick der Tat nicht anders handeln konnte, ist erschuldig, weil er sich in existentieller Freiheit zu der Persönlichkeitgemacht hat, die sich in der Handlung ausprägt. Ich zögere dennoch,mich dieser Auffassung anzuschließen, weil sie das Problem wenigerlöst als verschiebt. Denn die Annahme einer in existentieller Frei-heit sich vollziehenden „Grundwahl" ist zwar Sache eines wohlbe-gründeten philosophischen Glaubens, aber dem forensischen Beweisist sie genauso wenig zugänglich wie das Andershandelnkönnen imAugenblick der Tat.

Zusätzliche Schwierigkeiten sehe ich in den Fällen der Unzu-rechnungsfähigkeit. Denn wenn die existentielle Freiheit mit demSein des Menschen unlösbar verbunden ist und somit auch dem Gei-steskranken eine sich in ihrer Weise verwirklichende Persönlichkeitzugesprochen wird, ist die Annahme unabweisbar, daß selbst derGeisteskranke schuldig ist; da er die Determiniertheit seines Han-delns mit dem Normalen gemeinsam hat, kann dieser Umstand nichtzur Begründung einer Straffreistellung dienen. In der Tat macht Fi-gueiredo Dias hier denn auch eine zusätzliche Voraussetzung, indem

12 Ausführlich Figueiredo Dias, Liberdade, culpa, direito penal, 1976; zusammenfas-send ders., ZStW 95 (1983), S. 237 ff.

13 Figueiredo Dias, ZStW 95 (1983), S. 240,242, 243.

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er den Nachweis der Schuld von einer „personalen Kommunikation"zwischen Richter und Angeklagtem abhängig macht, aufgrund derender Richter zum Verständnis der Persönlichkeit des Täters kommt.Daran fehlt es nach Figueiredo Dias im Falle der Schuldunfähigkeit,bei der sich die Persönlichkeit des Täters „der verstehenden Betrach-tung des Richters verschließt". Es handelt sich nach seiner Lehre beider Schuldunfähigkeit folglich „weniger um einen »Schuldausschlie-ßungsgrund' als vielmehr um einen tatsächlichen ,Hinderungsgrundfür die Schuldfeststellung"114.

Wenn man auf diese Weise die Schuldfeststellung von einemrichterlichen Verstehensakt abhängig macht, wird aber, so fürchteich, einerseits zu viel und andererseits zu wenig verlangt. Zu viel,weil eine personale Kommunikation, die für den ethischen Schuld-vorwurf erforderlich sein mag, in einer öffentlichen Hauptverhand-lung zwischen Richter und Angeklagtem kaum herstellbar ist unddeshalb nicht Voraussetzung für eine Schuldfeststellung sein kann.Der Angeklagte hat das Recht, sich einer Kommunikation durchSchweigen oder Leugnen von vornherein zu entziehen, kann aufdiese Weise aber nicht die Feststellung seiner Schuld verhindern.Auch kann es nicht von den unterschiedlichen Verstehensmöglich-keiten der Richter abhängen, ob und in welchem Ausmaß Schuldfestgestellt wird. Andererseits wird man auch nicht in allen Fällender Schuldunfähigkeit sagen können, daß die Persönlichkeit des Tä-ters sich dem Verständnis des Richters völlig verschließt. Bei nochnicht schuldfähigen Jugendlichen kann eine personale Kommunika-tion durchaus möglich sein, und sie kann, meine ich, auch bei schuld-unfähigen Erwachsenen zustande kommen, wenn der Defekt nicht inder objektiven Sinnlosigkeit oder Unfaßbarkeit der Tat, sondern imfehlenden Hemmungsvermögen seinen Grund hat.

Diese Bemerkungen führen auf eine tiefere Differenz. Ich binder insoweit konservativen Auffassung, daß der Unterschied zwi-schen einem voll verantwortlichen Menschen und einem Schuldun-fähigen nicht nur in der Feststellbarkeit von Schuld, sondern in ihrerBejahung oder Verneinung selbst liegen muß. Es ist zwar völlig rich-tig, daß man auch dem Schuldunfähigen Persönlichkeit und Men-schenwürde in vollem Umfang zuerkennen muß, aber ich folge Fi-gueiredo Dias nicht in der engen Verknüpfung von Menschenwürde,Schuldfähigkeit und Persönlichkeit. Ich habe gerade (in einem Bei-trag zur Gedächtnisschrift Delitala, 1984) versucht, das Kriterium der

14 Figueiredo Dias, ZStW 95 (1983), S. 248.

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„Persönlichkeitsäußerung" als das gemeinsame Merkmal dermenschlichen Handlungen aufzuweisen und mit seiner Hilfe Hand-lungen und Nichthandlungen im Strafrecht voneinander abzugren-zen. Dieser Versuch impliziert die Voraussetzung, daß auch dasHandeln des Geisteskranken eine Persönlichkeitsäußerung ist unddem Grundsatz der Menschenwürde untersteht, daß es aber schuld-hafte und nicht schuldhafte Persönlichkeitsäußerungen gibt. Ich sagedas mit allem Respekt vor der philosophisch tiefgründigen Konzep-tion von Figueiredo Dias, zumal da ich im übrigen mit ihren prakti-schen Ergebnissen, wie sich noch zeigen wird, weitgehend überein-stimme. Jedenfalls hat für mich die Rückkehr zu der überliefertenPosition, die Schuld als Andershandelnkönnen versteht, die Konse-quenz, daß die oben geschilderten Einwände gegen das Schuldstraf-recht in vollem Umfang bestehen bleiben und daß ich versuchenmuß, sie auf andere Weise zu überwinden.

V. Die Aufgabe besteht also darin, die rechtspolitischen Vorzügedes Schuldprinzips gegen die Auswirkungen des reinen Präventions-denkens zu bewahren, gleichzeitig aber den theoretischen Bedenkengegen das Schuldprinzip Rechnung zu tragen und die präventivenZiele des Strafrechts mit ihm in Einklang zu bringen. Dabei gehe ichin zwei Schritten so vor, daß ich die beiden oben (II.) erörtertenHaupteinwände nacheinander behandle (V., VI.) und anschließenddie Folgerungen für verschiedene Materien der Schuldlehre im Ver-gleich mit den Lösungsvorschlägen von Figueiredo Dias in allerKürze erörtere (VII.).

Ich beginne mit der heute unbestrittenen Erkenntnis, daß dasAndershandelnkönnen im Tatzeitpunkt sich dem emprischen Nach-weis vor Gericht entzieht. Meine These ist: Diese Handlungsfreiheitbedarf keines Beweises, weil ihre Rolle im Strafrecht nicht die einesrealen Faktums, sondern einer normativen Setzung ist. Wenn unsereVerfassung von den Grundsätzen der Menschenwürde und derfreien Entfaltung der Persönlichkeit ausgeht, dann greift sie damitnicht in den Streit zwischen Determinismus und Indeterminismusein — wozu sie auch gar nicht in der Lage wäre —, sondern sie er-teilt der Legislative, der Exekutive und der rechtsprechenden Ge-walt den Befehl: Ihr sollt den Bürger als freien, verantwortungsfähi-gen Menschen behandeln! Es geht also bei der Annahme menschli-cher Entscheidungsfreiheit nicht um eine Seinsaussage, sondern umein rechtliches Regelungsprinzip. Ich habe oft Mühe, mit dieser Be-hauptung, die den Streit um die Willensfreiheit für das Strafrecht ge-

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genstandslos macht, das rechte Verständnis zu finden. Und dochsteht es mit der Freiheit des Menschen im Recht nicht anders alsz. B. mit der Gleichheit. Wenn die Rechtsordnung von der Gleichheitaller Menschen ausgeht, stellt sie nicht den unsinnigen Satz auf, daßdie Menschen tatsächlich alle gleich seien, sondern sie ordnet an,daß die Menschen vor dem Gesetz eine gleiche Behandlung erfahrensollen. Das bestreitet niemand, während die Unerheblichkeit derFrage nach der Willensfreiheit so schwer verstanden wird, weil dieseFrage erkenntnistheoretisch, theologisch und naturwissenschaftlichtatsächlich wichtig ist; aber der strafrechtliche Aspekt ist ein ande-rer.

Das rechtliche Urteil über das Schuldstrafrecht ist also nicht da-von abhängig, ob Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen phi-losophisch oder psychologisch beweisbar sind, sondern allein davon,ob es teleologisch angemessen ist, daß der Mensch als frei und ver-antwortlich behandelt wird. Dies aber ist uneingeschränkt zu beja-hen. Es ist nicht so, wie manchmal gesagt wird, daß in einem Schuld-strafrecht aufgrund einer empirisch unbeweisbaren Annahme Sank-tionen ausgesprochen würden, die ohne diese Annahme nicht ver-hängt werden könnten. Denn die Alternative zur Schuldstrafe istnicht Sanktionslosigkeit, sondern die Maßregel. Da ein reines Maß-regelrecht eine sowohl umfassendere als auch längerdauernde Sank-tionierung ermöglichen würde, liegt die wesentliche rechtspolitischeFunktion des Schuldprinzips gerade darin, der Prävention im Inter-esse der bürgerlichen Freiheit eine Schranke zu setzen. Die An-nahme menschlicher Entscheidungsfreiheit ist daher nicht, wieKohlrausch einmal sagte, eine „staatsnotwendige Fiktion", sondern,im Gegenteil, ein die Staatsmacht in Schranken haltendes, freiheits-verbürgendes Rechtsprinzip.

Mit der Ausschaltung des Determinismus-Problems ist dieSchwierigkeit, die sich für das Schuldstrafrecht aus der forensischenUnbeweisbarkeit des Andershandelnkönnens ergibt, aber erst zurHälfte beseitigt. Denn auch für die hier vertretene normative Frei-heitsauffassung bleibt noch die Frage zu beantworten, wie das als freiund schuldhaft anzusehende Handeln vom Verhalten des Schuldun-fähigen abgegrenzt werden soll. Das Strafrecht beurteilt ja nicht alleMenschen gleichermaßen als freier Entscheidung fähig, sondern be-handelt bestimmte Personengruppen (Unzurechnungsfähige, Kinder,zum Teil auch Jugendliche) als unfrei und verantwortungsunfähig.Der danach erforderliche Maßstab für die Behandlung als frei oderZStW96(1984)Heft3

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unfrei läßt sich nur aus den sozialpsychologischen Grundlagen desStrafrechts gewinnen.

Das Strafrecht beruht auf der Erkenntnis, daß Menschen — ei-nerlei, ob aufgrund einer freien oder einer determinierten Entschei-dung — durch Normen und Werte in ihrem Verhalten bestimmtwerden können, und zwar besonders dann, wenn ihre Durchsetzungdurch eine Zwangsgewalt wahrscheinlich gemacht wird. Es will da-her den Bürger (einen etwaigen Gesetzesbrecher wie die Allgemein-heit) durch die Aufstellung von Verhaltensrichtlinien, durch Straf-androhungen, Strafverhängungen und Strafvollzug zur Einhaltungder Normen motivieren, deren Befolgung für ein friedliches und frei-heitliches Zusammenleben der Menschen unerläßlich ist. Aus derbegründeten Erwartung, daß die Menschen durch das Strafrecht inder Regel zu rechtstreuem Verhalten veranlaßt werden, resultierenRechtsfrieden und Rechtssicherheit in einer Gesellschaft. Wenn da-her jemand die Strafgesetze übertritt, bewirkt das eine Erschütte-rung des allgemeinen Rechtsbewußtseins (und damit Unzufrieden-heit und Unsicherheit), die wieder behoben wird, wenn sich die Nor-men durch die Bestrafung des Täters in ihrer Geltung behaupten.Würden dagegen Delikte unbestraft bleiben, so würden die Normenihre Motivationskraft weitgehend verlieren, und die Gesellschaftwürde mehr und mehr in Anarchie versinken.

Daraus folgt, daß der Einsatz des Strafrechts dort unnötig undunangemessen ist, wo die Annahme, daß ein Mensch durch das Ge-setz motiviert werden kann, nach seiner geistigen und seelischen Be-schaffenheit von vornherein nicht begründet ist. So verhält es sichbei geistig oder seelisch kranken und in ihrer Motivationsfähigkeitschwer gestörten ebenso wie bei unreifen Menschen. Von ihnenwird allgemein nicht erwartet, daß sie die Normen befolgen. Übertre-ten sie das Gesetz, so wird keine soziale Erwartung enttäuscht unddas allgemeine Rechtsbewußtsein nicht erschüttert. Niemand wirdzur Nachahmung angereizt, weil die Normgeltung in den Augen derÖffentlichkeit durch solche Taten nicht gemindert wird. Jeder siehtund akzeptiert auch, daß der Täter selbst durch eine Bestrafung nichtzu rechtstreuem Verhalten veranlaßt werden könnte, weil er denAnforderungen der Norm nicht zugänglich ist.

Mit anderen Worten: Eine Prävenüon mit den Mitteln des Straf-rechts ist nur dann geboten, wenn der Täter im Augenblick der Tatgrundsätzlich normativ ansprechbar war15. Läßt sich das bejahen, so15 In diesem Sinne in der Nachkriegszeit richtungsweisend zuerst Noll, Schuld und

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wird er als frei behandelt. Läßt sich die normative Ansprechbarkeitdagegen nicht feststellen, sieht ihn die Rechtsordnung als schuldun-fähig an und läßt ihn unbehelligt oder unterwirft ihn anderenRechtsfolgen als der Strafe. Die normative Ansprechbarkeit, die ichzum Kriterium der Schuldunfähigkeit mache, ist unabhängig vom Be-stehen menschlicher Willensfreiheit oder davon, ob in der konkretenEntscheidungslage der Täter sich tatsächlich hätte anders motivie-ren können; sie ist das einzige, was in diesem Bereich überhaupt mitden Mitteln der Psychologie und der Psychiatrie empirisch festge-stellt werden kann.

Allerdings ist nicht zu bestreiten, daß auch bei dieser Art vonSchuldfeststellung im Grenzbereich teleologische Gesichtspunktemit einfließen. Denn das Urteil darüber, bei welcher psychischen Be-schaffenheit vom einzelnen ein rechtstreues Verhalten noch erwar-tet wird, hängt nicht ausschließlich vom Fortschritt der wissenschaft-lichen Einsicht in die Bedingtheit menschlichen Handelns, sondernauch vom Bewußtseinsstand der Gesellschaft und der kriminalpoliü-schen Haltung des Gesetzgebers ab. Nur daraus ist zu erklären, daßz. B. die Frage, ob und inwieweit Psychopathien oder schwere Neuro-sen oder hochgradige Affekte die Schuldfähigkeit ausschließen kön-nen, in Deutschland den Gesetzgeber beschäftigt hat16 und auch kei-neswegs in allen Ländern gleich entschieden wird. Doch bestätigtdas nur die allgemeine Erkenntnis, daß allen Rechtsbegriffen ein ge-wisses Maß an Normativität eigen ist. Keine denkbare Schuldkon-zeption kann dieser Abgrenzungsschwierigkeit entgehen.

VI. Unser bisheriges Ergebnis ist also das folgende: Strafe darfnur verhängt werden bei schuldhafter Verwirklichung des Unrechts-tatbestandes und in den durch die Schuld des Täters gezogenenGrenzen. Die für die Schuld vorauszusetzende Handlungs- und Ent-scheidungsfreiheit ist zu bejahen, wenn sich feststellen läßt, daß derTäter zur Zeit der Tatbegehung grundsätzlich normativ ansprechbarwar.

Es bleibt nun noch, die Konsequenz aus dem zweiten Einwandgegen die Konzeption des überlieferten Schuldstrafrechts zu ziehen,nämlich aus der Unhaltbarkeit eines abstrakten, von der sozialenNotwendigkeit losgelösten Vergeltungsprinzips. Diese Konsequenzläßt sich in einem Satz zusammenfassen: Wenn die Strafe nicht zum

Prevention unter dem Gesichtspunkt der Rationalisierung des Strafrechts, Fest-schrift für Hellmuth Mayer, 1966, S. 219.

16 Vgl. Siratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977, S. 12 ff.

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Ausgleich der Schuld, sondern nur zu präventiven Zwecken ver-hängt werden darf, gleichwohl aber an die Schuld des Täters gebun-den ist, dann ist die schuldhafte Verwirklichung eines Unrechtstat-bestandes zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung derStrafe. Das bedeutet, daß die sog. Zweiseitigkeit des Schuldprinzipsaufgegeben werden muß. Sie war von Arthur Kaufmann ursprünglichso formuliert worden17: „Erst aus dieser Zweiseitigkeit des Schuld-prinzips, d. h. daraus, daß nicht nur die Strafe der Schuld zu entspre-chen hat, sondern daß Schuld auch Strafe notwendig macht, ergibtsich sein Absolutheitscharakter. Wer leugnet, daß grundsätzlich aufSchuld Strafe folgen muß, kann das Schuldprinzip nicht als absolutesPrinzip... reklamieren. Wer zum Schuldprinzip ja sagt, muß konse-quenterweise auch zur Notwendigkeit der Schuldstrafe ja sagen, d. h.er darf nicht aus irgendwelchen Zweckmäßigkeitserwägungen her-aus das Strafbedürfnis trotz vorhandener Schuld verneinen".

Gerade das, was Kaufmann in seinem Buch verwirft, ist nach derhier vertretenen Auffassung geboten. Strafe setzt dem Grunde undder Höhe nach die Schuld des Täters voraus, außerdem aber ihrespezial- oder generalpräventive Notwendigkeit, ohne die sie auchbei bestehender Schuld nicht verhängt werden darf. Dieser Satz istprinzipiell in Westdeutschland heute meist anerkannt. Arthur Kauf-mann hat seine ursprüngliche Ansicht inzwischen aufgegeben18, undauch der Bundesgerichtshof19 hat einmal ausgesprochen, „daß dieStrafe nicht die Aufgabe hat, Schuldausgleich um ihrer selbst willenzu üben, sondern nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich zugleich alsnotwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe desStrafrechts erweist". Aber die praktische Bedeutung, die diesemÜbergang von der Zweiseitigkeit zur „Einseitigkeit" des Schuldprin-zips zukommt, ist bisher weder in der Wissenschaft noch in derRechtsprechung hinreichend erkannt worden. Sie besteht vor allemdarin, daß Schuld und Prävention in ein Verhältnis wechselseitigerBeschränkung zueinander treten: Die Schuld setzt den staatlichenPräventionsbedürfnissen eine Grenze, aber die Präventionsbedürf-

17 Anm.2,S.201.18 In der Abhandlung „Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Schuldge-

dankens im Straf recht", JZ 1967, 553. Der Aufsatz ist im Anhang der zweiten Auf-lage von „Das Schuldprinzip" wieder abgedruckt (S. 263 ff). Eine nähere Auseinan-dersetzung mit Arthur Kaufmann findet sich in meiner in deutscher Sprache nichtveröffentlichten Abhandlung „Concepciön bilateral y unilateral del principio deculpabilidad", in: „Culpabilidad y Prevencion en Derecho Penal", Madrid 1981, S. 187.

19 BGHSt. 24, 42.

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nisse ihrerseits begrenzen auch die Schuldstrafe. Das führt bei derStrafbegründung, also im Bereich der Strafrechtsdogmatik, und beider Strafzumessung zu zwei wichtigen Folgerungen:

1. Zunächst deute ich die Schuldausschließungsgründe, diemeist mit Hilfe der Unzumutbarkeit erklärt werden, als Fälle einermangelnden präventiven Bestrafungsnotwendigkeit20. Wenn z. B. un-ser Strafgesetzbuch (§ 35) den Täter entschuldigt, der einen Un-rechtstatbestand verwirklicht, um eine Gefahr für Leben, Leib oderFreiheit von sich, einem Angehörigen oder sonst einer nahestehen-den Person abzuwenden, dann meine ich, daß eine Schuld des Tätersauch in solchen Fällen noch zu bejahen ist. Denn ein normativ an-sprechbarer Mensch kann, wenn es sein muß, zur Vermeidung einerSchädigung Unschuldiger auch Gefahren ertragen, die ihn oder ihmnahestehende Personen treffen. Trotzdem verzichtet der Gesetzge-ber, wenn jemand in einer solchen Situation durch die Norm nicht zurechtmäßigem Verhalten motiviert wird, darauf, den Täter für seinVerhalten verantwortlich zu machen. Er leistet diesen Verzicht, weileine Bestrafung präventiv nicht erforderlich ist. Der Täter ist sozialeingeordnet, und wegen der Seltenheit von Notstandssituationen be-steht keine Wiederholungsgefahr, so daß unter spezialpräventivemAspekt eine Sanktion überflüssig ist. Sie ist auch generalpräventivnicht geboten, weil das Verhalten des Täters wegen des Ausnahme-charakters der Situation die prinzipielle Normgeltung in den Augender Öffentlichkeit nicht beeinträchtigt. Ganz anders fällt das gene-ralpräventive Urteil aus, wo die gesellschaftliche Sicherheit von be-stimmten Personengruppen das Ertragen von Gefahren verlangt, z. B.bei Polizisten, Soldaten, Feuerwehrleuten und Rettungsmannschaf-ten. Wenn Angehörige solcher Gruppen in Gefahrenlagen sich selbstauf Kosten und unter Schädigung der Bevölkerung straflos rettenkönnten, würde dies gesellschaftlich unerträgliche Folgen haben.Hier versagt der deutsche Gesetzgeber denn auch die Straffreistel-lung (§ 35 Abs. l Satz 2 StGB). Das ist zulässig, weil trotz der Gefah-rensituation die Schuld des Täters bejaht werden kann, die präventi-ven Notwendigkeiten aber anders als beim Normalbürger eine Be-

20 Das ist eingehend ausgeführt in meinen beiden Abhandlungen „Schuld und Verant-wortlichkeit als strafrechtliche Systemkategorien", Festschrift für Henkel, 1974,S. 171, sowie „Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlich-keit im Straf recht", Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 279. Beide Abhandlungenfinden sich auch in spanischer Sprache in dem in Anm. 18 genannten Sammelband,die erstgenannte außerdem in der in Anm. l angeführten spanischen Ausgabe mei-ner „Strafrechtlichen Grundlagenprobleme".

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strafung gebieten. Ähnlich erklärt sich die Vorschrift über den Not-wehrexzeß (§ 33 StGB), -die den Täter von Strafe freistellt, wenn er„die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken"überschreitet21. Ein solcher Täter handelt nicht ohne Schuld; denndie Grenzen der Notwehr sind vom Gesetzgeber geschaffen worden,weil er von einem normativ ansprechbaren Menschen erwartet, daßer sich daran hält. Auch bedürfte es keiner eigenen Vorschrift überden Notwehrexzeß, wenn der Gesetzgeber annähme, daß in solchenFällen eine Schuldunfähigkeit vorläge (§ 20 StGB). Es wird aber aufdie Strafe deswegen verzichtet, weil sie präventiv nicht erforderlichist. Das Opfer eines rechtswidrigen Angriffs, das sich nur aufgrundeines asthenischen Affektes einen Exzeß zu schulden kommen läßt,ist nicht sozialgefährlich und deshalb keiner spezialpräventiven Ein-wirkung bedürftig. Aber auch ein generalpräventiver Anlaß zur Be-strafung besteht nicht, weil eine Notwehrüberschreitung, die ausVerwirrung und Schwäche erfolgt, die Autorität der Strafgesetzenicht in Frage stellt. Anders ist es bei den sthenischen Affekten wieZorn, Wut und Kampfeseifer. Wer aus solchen Gründen die Grenzender Notwehr überschreitet, fördert in der Bevölkerung die für dieFriedensordnung sehr gefährliche Neigung zur Selbstjustiz. Es mußdeshalb aus generalpräventiven Gründen bestraft werden. Die ge-setzliche Unterscheidung zwischen straffreistellenden asthenischenund nicht exkulpierenden sthenischen Affekten findet ihre Rechtfer-tigung also nicht in einer abweichenden Schuldbeurteilung, sondernin unterschiedlichen präventiven Erfordernissen.

Beide Beispiele sollen zeigen, daß schon nach geltendem Rechtdie Schuldstrafe auch im Bereiche der Strafbegründung durch die Er-fordernisse der Prävention eingeschränkt wird. Die schuldhafte Ver-wirklichung eines Unrechtstatbestandes führt nicht ohne weitereszur Bestrafung; vielmehr tritt eine Strafbarkeit nur ein, wenn sie au-ßerdem präventiv geboten ist. Weil somit zur Schuld noch die prä-ventive Bestrafungsnotwendigkeit hinzukommt, möchte ich die aufdem Unrecht aufbauende Deliktskategorie auch lieber „Verantwort-lichkeit" statt „Schuld" nennen; denn die Schuld allein bezeichnet ih-ren Inhalt nicht vollständig. Die praktische Relevanz der von mirvertretenen Lehre erschöpft sich nicht darin, daß den gesetzlichenEntschuldigungsgründen eine neuartige Erklärung gegeben wird. Sieführt außerdem in mancherlei Auslegungsfragen und beim Problem

21 Die Gedanken über den Notwehrexzeß sind eingehender ausgeführt in meiner Ab-handlung „über den Notwehrexzeß", Festschrift für Schaffstein, 1975, S. 105.

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eines sog. übergesetzlichen Schuldausschließungsgrundes zu Lösun-gen, die manche bisherige Streitfrage klären können. Es ist hier nichtmöglich, das näher auszuführen. Doch will ich meine Konzeption imfolgenden Abschnitt im Zusammenhang mit den Lehren von Figuei-redo Dias noch in einigen Punkten verdeutlichen.

2. Bei der Strafzumessung führt die Lehre von der Einseitigkeitdes Schuldprinzips dazu, daß die Schuld die Höhe der Strafe zwarnach oben, nicht aber nach unten begrenzt22. Die Strafe kann und sollalso hinter dem Maß der Schuld zurückbleiben, sofern dies aus prä-ventiven Gründen angebracht ist. Wenn z. B. eine Strafhöhe, die derSchuld entspricht, den Täter voraussichtlich (z. B. durch Zerstörungvon Beruf und Ehe) vollends entsozialisieren und seine Rückfallnei-gung fördern würde, halte ich es für richtig, mit der Strafhöhe so weitunter das Schuldmaß hinabzugehen, wie dies ohne schwere general-präventive Nachteile möglich ist. Die westdeutsche Rechtsprechunghat sich dieser These, die unsere bisherige Strafzumessungspraxiserheblich verändern würde, nicht angeschlossen, sondern beharrt aufdem Standpunkt, daß die Strafe das Schuldmaß weder über- noch un-terschreiten darf23. Und doch ist die Zulässigkeit einer schuldunter-schreitenden Strafzumessung die notwendige Konsequenz einerAufgabe des absoluten Vergeltungsgedankens: Wo die präventiveLegitimation fehlt, kann die Schuldangemessenheit allein ein sozial-schädliches Strafmaß nicht rechtfertigen.

VII. Abschließend will ich noch auf die Behandlung zweier wich-tiger Problemkreise in der Schuldkonzeption von Figueiredo Diaseingehen, um zu zeigen, daß unsere Auffassungen einander trotz dergeschilderten Abweichungen in entscheidenden Punkten doch sehrnahestehen. Ich wähle dazu die Irrtumslehre und die Behandlungder Unzumutbarkeit.

1. In seiner bedeutenden Monographie „O problema da con-sciencia da ilicitude em direito penal" (1969) hat Figueiredo Dias eineIrrtumslehre entwickelt, die in das portugiesische Strafgesetzbuchvon 1983 Eingang gefunden hat und im Streit zwischen Vorsatz- undSchuldtheorie eine vermittelnde Position einnimmt. Sie läuft, auf dieeinfachste Formel gebracht, darauf hinaus, daß der intellektuelle Irr-

22 Darüber näher meine Abhandlungen „Strafzumessung im Lichte der Strafzwecke",Festgabe für Schultz, 1977, S. 463, sowie „Prävention und Strafzumessung", Fest-schrift für Bnms, 1978, S. 183. Beide Abhandlungen sind in spanischer Sprache indem in Anm. 18 genannten Sammelband abgedruckt.

23 BGHSt. 24, 132.

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turn den Vorsatz ausschließt, der moralische Irrtum ihn aber beste-hen läßt und im Falle seiner Vorwerfbarkeit zur Bestrafung wegenvorsätzlicher Schuld führt. Ein intellektueller und damit vorsatzaus-schließender Irrtum ist nach Art. 16 des portugiesischen Strafgesetz-buches in drei Fällen anzunehmen:

a) beim Irrtum über faktische oder normative Merkmale des Ver-brechenstatbestandes;

b)beim Erlaubnistatbestandsirrtum und beim Irrtum über die Vor-aussetzungen eines Entschuldigungsgrundes (von dem ich aller-dings in diesem Beitrag absehe) sowie

c) beim Irrtum über Verbote, deren Kenntnis vernünftigerweise fürdie Erlangung des Unrechtsbewußtseins hinsichtlich der Tat uner-läßlich ist.

Die Abweichung dieser Lehre von der herkömmlichen Unter-scheidung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum liegt vor allemdarin, daß bei strafbaren Handlungen, deren materielle Rechtswid-rigkeit nicht schon aus den allgemein bekannten sozialethischen An-schauungen ersichtlich ist, sondern erst durch gesetzgeberische An-ordnung geschaffen wird (wie im Verwaltungs- und überhaupt viel-fach im Nebenstrafrecht), die Unkenntnis des Verbots den Vorsatzausschließt.

Ich halte das für richtig. Den Vorwurf, ein vorsätzlicher Krimi-neller zu sein, verdient nur der, dessen Werthaltung von derjenigendes Gesetzgebers abweicht, bei dem wir, um mit Figueiredo Dias zusprechen, eine vorwerfbar-unzulängliche rechtsethische Gewissens-bildung feststellen können, nicht schon der, der bei rechtstreuer Per-sönlichkeitsartung nur im Bereich der äußeren Wahrnehmung oderder intellektuellen Kenntnis irrt. Für Figueiredo Dias ergibt sich dasunmittelbar aus dem Gedanken der Persönlichkeitsschuld, die bei ei-nem Irrtum über elementare sozialethiscke Gebote (also beim „mora-lischen" Irrtum) qualitativ anders und wesentlich größer ist als beimWahrnehmungs- und Kenntnisirrtum (dem „intellektuellen" Irrtum)des in seiner Werthaltung Intakten; letztgenannter Irrtum sollte ggf.allein dem wesentlich geringeren Vorwurf der auf nebenstrafrechtli-chem Gebiet meist straflosen Fahrlässigkeit unterworfen werden.

Das westdeutsche Strafgesetzbuch gestattet es aber nicht, dieLösung von Figueiredo Dias unmittelbar zu übernehmen. Denn esbejaht in § 17 beim vermeidbaren Verbotsirrtum — einerlei, ob er aufeinem moralischen Defekt oder einem intellektuellen Fehler beruht

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— immer das Vorliegen von Vorsatzschuld. Wenn man diese bei derUnkenntnis rechtsethisch neutraler Verbote unangemessene Ent-scheidung einmal zugrunde legt, wäre vom hier vertretenen Stand-punkt aus aber trotzdem noch zu fragen, ob eine Vorsatzbestrafungpräventiv geboten ist. Das ist sie nicht bei einem bloß intellektuellenIrrtum, der die sozialethische Integrität des Handelnden nicht anta-stet. Ein Täter, der in dieser Weise irrt, ist ein rechtstreuer Bürger,der keiner Resozialisierung bedarf. Auch generalpräventiv ist eineBestrafung nicht angezeigt. Denn nicht der Irrtum, der jedem unter-laufen kann, erschüttert das allgemeine Rechtsbewußtsein, sondernnur die Gleichgültigkeit gegenüber elementaren sozialethischen Ge-boten.

Ich würde deshalb auf der Grundlage des geltenden deutschenGesetzes so argumentieren: Nach rechtlichen Maßstäben vermeid-bar ist ein Verbotsirrtum nur dann, wenn man ihn dem Täter vorwer-fen darf, d. h. wenn er nicht unter präventivem Aspekt eine Entschul-digung verdient. Eine solche Entschuldigung ist dort geboten, wo dieKenntnis des Verbots für die Erlangung des Unrechtsbewußtseinshinsichtlich der Tat unerläßlich ist. Umgekehrt ist eine Entschuldi-gung ausgeschlossen, wo der Täter auch ohne Kenntnis des formel-len Verbotes sich der Unrechtmäßigkeit seines Verhaltens hätte be-wußt werden müssen. Mit Hilfe dieser Konstruktion eines entschul-digten intellektuellen Verbotsirrtums wird man auch nach deut-schem Recht das Ergebnis erzielen können, das Art. 16 des portugie-sischen Strafgesetzbuches in eleganterer Weise durch die Anerken-nung eines in solchen Fällen vorsatzausschließenden Verbotsirrtumsherbeiführt.

2. Ein Wort noch zur Unzumutbarkeit, bei der ich meine Lösungschon an den Fällen des Notstandes und des Notwehrexzesses ver-deutlicht habe. Figueiredo Dias14 begründet den Schuldausschluß inden Fällen der Unzumutbarkeit, bei denen er wohl vor allem an denNotstand denkt, mit dem „beherrschenden Druck äußerer Umstände,die in der Person keine Zustimmung gefunden, sondern die normaleVerwirklichung ihrer Grundbestrebungen »behindert1 oder .abge-drängt' haben". Er will also eine Strafbarkeit ausschließen, weil sichin einer solchen Tat nicht die Persönlichkeit des Täters ausgedrückthat, sie „persönlichkeitsfremd" ist. Nun meine ich zwar, daß auch inder Reaktion auf Gefahrenlagen sich die Persönlichkeit des Han-

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delnden noch ausprägt. Und doch entspricht die Begründung vonFigueiredo Dias im Ansatz durchaus der von mir verfochtenen prä-ventiven Konzeption. Denn eben deshalb, weil davon auszugehen ist,daß der Täter in den Normalsituationen des Lebens, für die das Straf-recht geschaffen ist, seiner ganzen Persönlichkeit nach eine Hand-lung wie die Notstandstat nicht begehen würde, ist eine Bestrafung,wie ich dargelegt habe, weder spezial- noch generalpräventiv gebo-ten.

Zur unterschiedlichen Behandlung der asthenischen und dersthenischen Affekte beim Notwehrexzeß sagte Figueiredo Dias25:„Man muß sich hier ganz nüchtern fragen, ob hierfür überhaupt eineandere Erklärung möglich ist als die, daß in Wirklichkeit die demsthenischen Affekt entsprechenden Eigenschaften sogleich alsSchuldgesichtspunkte bewertet werden." Das ist sicher richtig. Aberwarum werden sie als schuldhaft bewertet? Sie dürfen nicht exkul-pieren, weil der gewaltsamen Aggression bei menschlichen Ausein-andersetzungen aus generalpräventiven Gründen Einhalt gebotenwerden muß. Zugleich läßt sich die unterschiedliche Behandlung je-doch auch unter dem Gesichtspunkt der Persönlichkeitsschuld erklä-ren. Denn Zorn und Wut sind persönlichkeitsadäquate Affekte, wäh-rend der Ängstliche und Verwirrte normalerweise friedlich und un-aggressiv ist, so daß die Begehung einer Unrechtshandlung durchihn zu seiner Persönlichkeit im Widerspruch steht.

3. Es ist kein Zufall, daß der Gedanke der Persönlichkeitsschuldund eine die Freiheitsannahme festhaltende, aber präventiv be-grenzte Verantwortlichkeitslehre solche Gemeinsamkeiten aufwei-sen. Denn es ist klar, daß eine Strafsanktion präventiv um so drin-gender geboten ist, je mehr in einem Delikt die Wesensart des Tä-ters, seiner Persönlichkeit, zur vollen Ausprägung kommt. Der Ge-danke der Persönlichkeitsschuld ist gewissermaßen von vornhereinzur Prävention hin geöffnet, so wie umgekehrt jede Prävention per-sönlichkeitsorientiert sein muß. Doch darüber ließe sich ein neuerVortrag halten.

25 ZStW95(1983),S.252.

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