ZUSCHALTBAR AKTIV - schindler-roding.de€¦ · 61 FASSADE FAÇADE 2/2016 REPORT Festo ist eines...

5
61 FASSADE FAÇADE 2/2016 REPORT Festo ist eines jener Unternehmen, die in der breiten öffentlichen Wahrnehmung nicht wirk- lich präsent sind, national wie international aber zu den wichtigsten und führenden Playern zählen. Bei Festo geht es um Steuerungs- und Automatisierungstechnik, die letztlich überall zu finden ist, im Automobilbau, in der Medizin- technik, in der Textilindustrie, der Wassertechnik und vielen anderen Bereichen. In Esslingen, rund zehn Kilometer südöstlich von Stuttgart und da- mit nicht weit von Mercedes, Bosch und Porsche entfernt, hat das Unternehmen seinen Stamm- sitz. Baulich hat sich Festo hier bisher eher in der Horizontalen entwickelt, mit dem neuen Haus nun wagt sich das Unternehmen in die Vertikale: Entstanden ist ein Hochhaus mit 16 Geschossen und einer auch für die Umgebung eher untypi- schen Höhe von 67 Metern. Nicht minder un- gewöhnlich ist die Gebäudeform, die aus einem Grundriss in Form eines Rhombus entwickelt ist, dessen Spitzen einen 50-Grad-Winkel zeichnen. Die städtebauliche Idee der Architekten des Stuttgarter Architekturbüros Jaschek gründet auf mehreren Ideen: Durch diese Positionierung nimmt das Hochhaus Rücksicht auf die Durchlüf- tungskorridore der Umgebung und bindet so die Kaltluftströme in den gesamtökologischen Plan der Umgebung ein. Das Gebäude zeigt durch seine charakteristische Form ausserdem wie eine Kompassnadel auf die angrenzende, bestehende Firmenzentrale und ist – nicht zuletzt – eine weithin sichtbare Landmarke mit hohem Iden- tifikationswert. Die Geschossfläche lässt sich durch die rhom- bische Form des Grundrisses recht sinnvoll ein- teilen: In beiden spitzen Winkeln befinden sich aussteifende Gebäudekerne mit den Treppen- häusern, den Toiletten, einem Lastenaufzug und * Thomas Geuder Der Raumjournalist www.DerRaumjournalist.net Gebäude mit schicker Glasfassade haben bisweilen schwer mit der Sonneneinstrahlung zu kämpfen, wenn sich die Räume schlicht zu sehr aufheizen und das direkte Licht ausserdem ein Arbeiten unmög- lich macht. In Esslingen ist beim Festo AutomationCenter jedoch ein Fassadenaufbau gelungen, für den die Sonne kein Problem darstellt und der sogar jede Menge Energie spart, erdacht vom Architekturbüro Jaschek zusammen mit den Fassadenplanern von Priedemann. 1 *Thomas Geuder Neubau des Festo AutomationCenter in Esslingen D ZUSCHALTBAR AKTIV

Transcript of ZUSCHALTBAR AKTIV - schindler-roding.de€¦ · 61 FASSADE FAÇADE 2/2016 REPORT Festo ist eines...

61

FASSADE FAÇADE 2/2016

REPORT

Festo ist eines jener Unternehmen, die in derbreiten öffentlichen Wahrnehmung nicht wirk-lich präsent sind, national wie internationalaber zu den wichtigsten und führenden Playernzählen. Bei Festo geht es um Steuerungs- undAutomatisierungstechnik, die letztlich überallzu finden ist, im Automobilbau, in der Medizin-technik, in der Textilindustrie, der Wassertechnikund vielen anderen Bereichen. In Esslingen, rundzehn Kilometer südöstlich von Stuttgart und da-mit nicht weit von Mercedes, Bosch und Porscheentfernt, hat das Unternehmen seinen Stamm-sitz. Baulich hat sich Festo hier bisher eher in derHorizontalen entwickelt, mit dem neuen Hausnun wagt sich das Unternehmen in die Vertikale:Entstanden ist ein Hochhaus mit 16 Geschossenund einer auch für die Umgebung eher untypi-schen Höhe von 67 Metern. Nicht minder un-gewöhnlich ist die Gebäudeform, die aus einem

Grundriss in Form eines Rhombus entwickelt ist,dessen Spitzen einen 50-Grad-Winkel zeichnen.Die städtebauliche Idee der Architekten desStuttgarter Architekturbüros Jaschek gründetauf mehreren Ideen: Durch diese Positionierungnimmt das Hochhaus Rücksicht auf die Durchlüf-tungskorridore der Umgebung und bindet so dieKaltluftströme in den gesamtökologischen Plander Umgebung ein. Das Gebäude zeigt durchseine charakteristische Form ausserdem wie eineKompassnadel auf die angrenzende, bestehendeFirmenzentrale und ist – nicht zuletzt – eineweithin sichtbare Landmarke mit hohem Iden-tifikationswert.Die Geschossfläche lässt sich durch die rhom-bische Form des Grundrisses recht sinnvoll ein-teilen: In beiden spitzen Winkeln befinden sichaussteifende Gebäudekerne mit den Treppen-häusern, den Toiletten, einem Lastenaufzug und

*Thomas GeuderDer Raumjournalist

www.DerRaumjournalist.net

Gebäude mit schicker Glasfassadehaben bisweilen schwer mit der

Sonneneinstrahlung zu kämpfen,wenn sich die Räume schlicht zu

sehr aufheizen und das direkte Lichtausserdem ein Arbeiten unmög-lich macht. In Esslingen ist beim

Festo AutomationCenter jedoch einFassadenaufbau gelungen, für den

die Sonne kein Problem darstellt undder sogar jede Menge Energie spart,

erdacht vom Architekturbüro Jaschekzusammen mit den Fassadenplanern

von Priedemann.

1

*Thomas Geuder

Neubau des Festo AutomationCenter in Esslingen D

ZUSCHALTBARAKTIV

62

FASSADE FAÇADE 2/2016

REPORT

Nebenräumen. Direkt in den Spitzen verbindenzwei Glasaufzüge auf jeder Seite die Stock-werke miteinander, Panoramablick inklusive.Die grosse Fläche dazwischen steht für die Büro-arbeitsplätze zur Verfügung und muss – dankder Gewichtsminimierung des Rohbaus durchHohlkammerdecken – nur noch von insgesamtfünf relativ schmalen Stützen gehalten werden.

Ganzheitliches Energiekonzept

Wichtig neben diesem formalen Rahmen warenArchitekten wie Bauherren das Energiekonzeptund die Gebäudeautomation, sprich: alle Be-reiche der technischen Infrastruktur, Heizung,Lüftung, Klima, Elektroanlagen, Beleuchtung,Beschattung, Zutrittskontrolle, Sicherheit undEnergiemanagement. Hier haben die Planereinige moderne Technologien verwendet, wieetwa die reversible Nutzung von Geothermie (49Erdsonden, 2940 m Gesamtlänge) in Kombina-tion mit einem Eisspeicher (1300 m³ Volumen),arbeitsplatzunabhängige LED-Beleuchtung, fre-quenzbezogene Optimierung der Raumakustikund vieles mehr. In Sachen Gebäudetechnolo-gie wollte der Bauherr mit seinem Neubau aufdem innovativsten Stand sein, und so gründetdas Energiekonzept auf eine Ganzheitlichkeit alsKombination aus passiven und aktiven Massnah-men zur Minimierung des technischen Aufwandsund zur effizienten Verwertung von Energie.Eine zentrale Aufgabe übernimmt dabei die Fas-sade. Denn mit dem AutomationCenter sollte einGebäude entstehen, das Unternehmenswertewie Verantwortung und Weitblick in der Archi-tektur transportiert. Also planten die Architek-ten ein transparentes Hochhaus mit kristallinerOptik und gläserner Hülle – dessen Erschei-nungsbild weder durch opake Fassadenflächennoch durch einen aussenliegenden Sonnen-schutz beeinträchtigt werden sollte. Hinzu kam,dass eine Ganzglasfassade unter Berücksichti-gung der EnEV (Energieeinsparverordnung) fürein energieeffizientes Gebäude wie dieses nichtmachbar gewesen wäre. Es konnte also nur einneuer Weg helfen.

Innovative Abluftfassade

So entschieden sich die Bauherren gemeinsammit den Fassadenplanern von Priedemann ausBerlin, eine sogenannte Abluftfassade einzuset-zen. Ihr Funktionsprinzip ist so simpel wie raffi-niert: Der ohnehin wegen der Sonneneinstrah-lung notwendige innenliegende Blendschutzist ein links und rechts wie bei einer Markisegeführter «Screen» aus einem nicht brennbaren,

2

3

4

63

FASSADE FAÇADE 2/2016

REPORT

1 Festo will mit demneuen Gebäude nebeneinem Wahrzeichen fürdie Region auch eineStätte der Begegnung undmodernen Raum für zu-kunftsweisende Ideen undInnovationen schaffen.

2 Der innenliegendeBlendschutz wirkt alsvollwertiger Sonnenschutzund ist gleichzeitig wichti-ger Teil der Abluftfassade.

3 Die Fassade ist alsAbluftfassade konstruiert,bei der das Luftvolumenzwischen der 2,70×4,00 mgrossen Verglasung unddem Screen abgesaugtwird.

4 Die Parallelausstell-fenster können teilweisezur individuellen Komfort-lüftung manuell geöffnetwerden, sie dienen aberauch der Entrauchung imBrandfall.

5 Fassadendetail

5

① Luftstrom

② Konvektorgitter

③ Abluftanschluss

④ Abluftspalt zwischen Verglasung undBodenprofil

⑤ Motorachse des innen liegenden Screens

⑥ Zwischenraum der Abluftfassade beiaktiviertem Screen

⑦ Seitliche ZIP-Führung des Screens

⑧ Elementfassade mit dreifachSonnenschutzverglasung

⑨ Parallelausstellfenster, manuell bedien-bar, als Komfortlüftung und Entrauchung

Vertikalschnitt

Horizontalschnitt

64

FASSADE FAÇADE 2/2016

REPORT

mit Silikon und Aluminium beschichteten undhalbtransparenten Glasfasergewebe (SecuTex,Warema), der eine Trennschicht zum Innenraumbildet. Ist dieser Screen nun heruntergelassen,entsteht ein isoliertes Luftvolumen zwischenden Aluminiumbauteilen der Elementfassadeund der Verglasung (3-fach-Isolierverglasung,U-Wert ges. = 1,3 W/m²). Dieses Luftvolumenwird nun nach unten abgesaugt, wobei gleich-zeitig direkt oberhalb des Screens unter derDecke die verbrauchte Luft des Büroraumseingesaugt wird. Die Fassade wird somit zumgrossflächigen Abluftkanal umfunktioniert. Ander Oberfläche des gesamten Screens wird au-sserdem solare Einstrahlung absorbiert, die soentstehende Wärme wird durch den permanen-ten Luftstrom ebenfalls abtransportiert. Auf derRauminnenseite besitzt der Screen deswegennur nahezu Raumtemperatur, ein Aufheizen desRaumes wird dadurch effektiv verhindert, alleOberflächen im Raum haben dieselbe Oberflä-chentemperatur. Die Folgen sind: ein wesentlichgeringerer Kühlbedarf sowie eine erhöhte Be-haglichkeit im Innenraum.Dieses Konzept der Abluftfassade ist freilichnicht vom Himmel gefallen, denn bis dahin gabes keine nennenswerten Referenzen für einensolchen Aufbau. So wurden im Rahmen der Pla-nung detaillierte Untersuchungen von Konstruk-tion, Abmessungen, Betrieb und Wirkungsweiseerstellt, für die eigens das «Facade-Lab», dieForschungsabteilung von Priedemann und dasFraunhofer-Institut für Bauphysik in Holzkirchenherangezogen wurden. Am Testgebäude derFraunhofer IBP wurde eine Vielzahl von Mes-sungen anhand verschiedener Betriebsszenarienerstellt. Es wurden unterschiedliche Textilien fürden Screen, die Auswirkungen der Abmessun-gen des Zwischenraums und anderer Bereicheauf das Gesamtsystem sowie variierende Strö-mungsgeschwindigkeiten und -volumina unter-sucht. Sowohl Funktionalität, Effizienz als auchGestaltung und Behaglichkeit spielten dabeieine grosse Rolle. Die Prüfergebnisse schliesslichbrachten eine stolze Reduktion des Kühlenergie-verbrauchs um zehn bis dreissig Prozent gegen-über einer Standardimmobilie je nach Grundrissund Luftwechselrate.Das Prinzip der Abluftfassade wirkt vor allemim architektonischen Gesamtkonzept. Denn dasFesto AutomationCenter besitzt, bedingt durchseine Gebäudeform, weder eine Nord- nocheine Südfassade. Auch der Innenraum wird nichtdurch Trennwände geteilt. Da für die Berück-sichtigung der Sonneneinstrahlung vor allem dieOst- und die Westfassade von Bedeutung sind,ist der Screen folglich meist an einer der beiden

6 Ein Spannungspegelvon nur fünf Volt aktivierteinen Ionenaustausch,durch den sich das Glasmit der nanostrukturiertenBeschichtung blau färbt.

7 Mit dem 67 m hohenVerwaltungsbau hat dasUnternehmen Festo inEsslingen bei Stuttgartdamit begonnen, dieFirmenzentrale zu einemTechnologiecampus aus-zubauen.

6

Bildnachweis:Bilder 1–4, 7: FestoBild 5 (Detail): priedemannBild 6: EControl

65

FASSADE FAÇADE 2/2016

REPORT

Färbung bleibt die Durchsicht also erhalten.Beim Festo AutomationCenter erfolgt die ge-samte Steuerung übrigens vollkommen auto-matisch. So will das Unternehmen seiner Rolleals Impulsgeber in der Automatisierungstechnikauch im neuen Haus folgerichtig gerecht wer-den. Unterstrichen werden soll das auch beider Reinigung der Fassade: Ein Roboter (Gekko,Serbot) hangelt sich mit einer Geschwindigkeitvon 400 m² pro Stunde entlang der Fassadeund reinigt sie mittels einer speziellen, auf dervon Festo entwickelten Piezotechnik basieren-den Bürstentechnologie. Vakuumfüsse erlaubenes ihm, auf der senkrechten Glasoberfläche zulaufen, von oben wird er dabei mit Strom und io-nisiertem Wasser versorgt. Das Programm lerntselbstständig jeden Zentimenter der Fassadenkennen und arbeitet schliesslich vollkommen au-tark. Die 8500 m² grosse Fassadenfläche kannso an einem Tag gereinigt werden. Das FestoAutomationCenter steckt also voller intelligenterTechnologie, von der effizienten Verwertung vonEnergie mittels Wärmepumpe und Eisspeicherüber die Abluftfassade und die elektrochromeVerglasung bis hin zur effektiven Reinigung perRoboter. Das alles fügt sich mit der charakteris-tischen Architektur zu einem in sich runden undschlüssigen Gesamtkonzept, das dem Ansinnendes Bauherrn durch und durch entspricht. Derbedankt sich nachts mit einer LED-Fassaden-illumination – natürlich in der Festo-Farbe Blau.

Screen zur Erzeugung einer Abluftfassade wenigsinnvoll wäre, dennoch auch hier der Schutz vordirekter Sonneneinstrahlung gewährleistet seinmuss, sind die Fenster mit einem dimmbarenSonnenschutzglas (EControl) ausgerüstet, dassich nach Bedarf quasi per Knopfdruck verdun-keln lässt. Es besteht aus einer Sandwichscheibe,die einen elektrochromen Effekt nutzt: Ein ge-ringer elektrischer Spannungspegel von maximalfünf Volt aktiviert einen Ionenaustausch. Durchdie nanostrukturierte Beschichtung färbt sichdas veredelte Glas dunkelblau ein und reduziertso in der Verbundscheibe die Transmission desSonnenlichts. Von der hellsten (Tv=15%) bis zurintensivsten Färbung (Tv=55%) dauert dieserVorgang rund 20 Minuten, was für den Raum-nutzer langsam genug ist, um nicht zu stören.Der Gesamtdurchlasswert g variiert dabei zwi-schen 12 und 40 Prozent (DIN EN 410). Trotz

Gebäudeseiten heruntergelassen. Diese Seitewird dann als Abluftfassade aktiviert, über diedie verbrauchte Abluft abgesaugt wird. Einge-blasen wird die Frischluft übrigens ebenfalls inFassadennähe am Boden, durch normale Kon-vektoren, wodurch immer auch eine Querlüftunggewährleistet ist. Weitere Lüftungsöffnungen imRaum sind nicht mehr nötig. So ist die Abluftfas-sade eine Art passiv-aktives Instrument in einemPaket, das ja nach Sonnenstand und Bedarf zu-geschaltet werden kann.

Elektrochrome Verglasung

Eine weitere Raffinesse verbirgt sich in derVerglasung der Parallelausstellfenster, die einezusätzliche, individuelle Lüftungsmöglichkeitbieten und für die Entrauchung im Brandfall ge-nutzt werden können. Da vor diesen Fenstern ein

Bautafel

ProjektFesto AutomationCenter, Esslingen, D

BauherrFesto AG & Co. KG, Esslingen, D

Architektur, Innenarchitekturarchitekturbüro jaschek, Stuttgart, D

Fassadenplanungpriedemann fassadenberatung GmbH,Grossbeeren/Berlin, D

FassadenbauSchindler Fenster + Fassaden GmbH,Roding, D

Statikschlaich bergermann partner GmbH,Stuttgart, D

TGAPfeil & Koch ingenieurgesellschaft GmbH &Co. KG, Stuttgart, D

SonnenschutzgläserEControl-Glas GmbH + KG, Plauen D

Umbauter Raum 55000 m³

Fertigstellung 20157