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ZWEI SONATEN FÜR DIE DISKANTGAMBE VON CARL PHILIPP EMANUEL BACH Zur Geschichte der Viola da gamba in Preußen ANNETTE OTTERSTEDT Die Bibliotheken von Brüssel und Berlin bewahren je eine Handschrift mit zwei Sonaten von Carl Philipp Emanuel Bach für die Viola da gamba und Baß 1 . Da in den letzten Jahren das Interesse an der Musik für die Viola da gamba aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts intensiver geworden ist, sind auch die beiden vorliegenden Sonaten ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen. Zur Zeit existieren drei Einspielungen 2 . Von der Brüsseler Version ist eine Faksimile-Ausgabe erschienen 3 , während die Berliner Fassung, eine Abschrift der Brüsseler, bisher der Aufmerksamkeit entgangen zu sein scheint. Im späten 18. Jahrhundert notierte man die Literatur für die Viola da gam- ba üblicherweise im Violinschlüssel, der jedoch als tiefoktavierter Violin- schlüssel zu lesen ist. Das gilt wahrscheinlich für sämtliche Gambenkomposi- tionen von Karl Friedrich Abel, Franz Xaver Hammer 4 oder Ludwig Christian Hesse 5 . Der Ursprung für diese bis dato nicht übliche Praxis mag in der Ge- 1 Brüssel, Conserv. Royal Littera T 5634 und Berlin, Nachlaß Klingenberg 6. Wq 136/ 137 = Helm Nr. 558/559. 2 Bielefelder Katalog 2/1992, S. 24: Fono Tac CD 7102 0501 (Paolo Pandolfo/Rinaldo Alessandrini); Cap 10 102 (Siegfried Pank/Christiane Jaccottet); Hek R 47025 (Ricercar Consort) (Sonate C-Dur); Aud 53 192/93 (Freiburger Barocksolisten) (Sonate D-Dur). 3 Hrsg. von G. Haenen, in: Facsimile Series for Scholars and Musicians, Peer (Belgi- en) Alamire 1990. Das Faksimile ist um 8% gegen die Vorlage verkleinert und leider sehr unscharf. Außerdem sind die Nummern des Helm-Verzeichnisses unrichtig: Statt wie ange- geben H557 und 558 handelt es sich bei den vorliegenden Sonaten um H558 (Wq 136) und H559 (Wq 137). 4 Diverse Mss. in der Mecklenburgischen Landesbibliothek Schwerin. 5 Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Haus 1 (Unter den Linden), KHM 6208 und KHM 6412.

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Zwei Sonaten für die Diskantgambe von Carl Philipp Emanuel Bach

ZWEI SONATEN FÜR DIE DISKANTGAMBEVON CARL PHILIPP EMANUEL BACH

Zur Geschichte der Viola da gamba in Preußen

ANNETTE OTTERSTEDT

Die Bibliotheken von Brüssel und Berlin bewahren je eine Handschrift mitzwei Sonaten von Carl Philipp Emanuel Bach für die Viola da gamba undBaß1. Da in den letzten Jahren das Interesse an der Musik für die Viola dagamba aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts intensiver geworden ist,sind auch die beiden vorliegenden Sonaten ins Bewußtsein der Öffentlichkeitgedrungen. Zur Zeit existieren drei Einspielungen2. Von der Brüsseler Versionist eine Faksimile-Ausgabe erschienen3, während die Berliner Fassung, eineAbschrift der Brüsseler, bisher der Aufmerksamkeit entgangen zu sein scheint.

Im späten 18. Jahrhundert notierte man die Literatur für die Viola da gam-ba üblicherweise im Violinschlüssel, der jedoch als tiefoktavierter Violin-schlüssel zu lesen ist. Das gilt wahrscheinlich für sämtliche Gambenkomposi-tionen von Karl Friedrich Abel, Franz Xaver Hammer4 oder Ludwig ChristianHesse5. Der Ursprung für diese bis dato nicht übliche Praxis mag in der Ge-

1 Brüssel, Conserv. Royal Littera T 5634 und Berlin, Nachlaß Klingenberg 6. Wq 136/137 = Helm Nr. 558/559.

2 Bielefelder Katalog 2/1992, S. 24: Fono Tac CD 7102 0501 (Paolo Pandolfo/RinaldoAlessandrini); Cap 10 102 (Siegfried Pank/Christiane Jaccottet); Hek R 47025 (RicercarConsort) (Sonate C-Dur); Aud 53 192/93 (Freiburger Barocksolisten) (Sonate D-Dur).

3 Hrsg. von G. Haenen, in: Facsimile Series for Scholars and Musicians, Peer (Belgi-en) Alamire 1990. Das Faksimile ist um 8% gegen die Vorlage verkleinert und leider sehrunscharf. Außerdem sind die Nummern des Helm-Verzeichnisses unrichtig: Statt wie ange-geben H557 und 558 handelt es sich bei den vorliegenden Sonaten um H558 (Wq 136) undH559 (Wq 137).

4 Diverse Mss. in der Mecklenburgischen Landesbibliothek Schwerin.5 Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Haus 1 (Unter den Linden),

KHM 6208 und KHM 6412.

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wohnheit begründet liegen, Originalkompositionen für Violine auf die Gambezu übertragen, was seit Beginn des 18. Jahrhunderts Mode geworden war6.

Die beiden vorliegenden Sonaten unterscheiden sich jedoch in signifikan-ter Weise von den der Baßgambe zugedachten Arrangements und Solokompo-sitionen und legen die Vermutung nahe, daß ein Diskantinstrument gemeintsein könnte. Diese scheinbar überraschende und ungewöhnlich erscheinendeTatsache soll im folgenden näher erläutert und begründet werden.

Die Rolle der Viola da gamba in Brandenburg-Preußen

Die Viola da gamba war spätestens seit Beginn des 17. Jahrhunderts in Bran-denburg heimisch. Die einzelnen Stationen ihrer Entwicklung bedürfen nocheiner gründlicheren Erforschung, sollen aber hier als Grundlage späterer Be-schäftigung mit dem Thema in Stichworten umrissen werden.

Seit 1614 weilte der Engländer Walter Rowe als Gambenspieler und -leh-rer am brandenburgischen Hof. Er starb hochbetagt im Jahr 16717 und scheintbis zum Ende seines Lebens pädagogisch tätig gewesen zu sein. Sein Ruf warso bedeutend, daß von weither Studenten zu ihm gereist kamen, um die „Ba-stardviole“ zu lernen8. Während der Jahre 1642-ca. 16529 hielt sich DietrichSteffkins, der vor dem englischen Bürgerkrieg geflüchtet war, in Berlin auf.Er scheint ein guter Freund Rowes gewesen zu sein und war wohl ein rechtlebhafter Geist. Möglicherweise stammte er aus Nord- oder Westdeutschland,spielte 163110 in der Kapelle der englischen Königin Henriette Marie, war be-freundet mit dem niederländischen Universalgelehrten Constantijn Huygens11

und scheint sogar bis Rom gekommen zu sein12. Später kehrte er nach Eng-

6 Arrangements von Arcangelo Corellis Opus V für Viola da gamba in Paris und Lon-don. Dazu H. Miladorovitch: Eighteenth-Century Manuscript Transcriptions for Viols ofMusic by Corelli and Marais in the Bibliothèque Nationale, Paris: Sonatas and Pièces deViole, in: Chelys 12, 1983, S. 47-73, Faks. ed. in: Alamire, 1989; weitere Beispiele in Ber-lin (Mss.).

7 C. Sachs, Musik und Oper am kurbrandenburgischen Hof, Berlin 1910, S. 151.8 A. Otterstedt, Die englische Lyra viol – Instrument und Technik, Kassel 1989, S. 207.9 C. Sachs, Musik und Oper am kurbrandenburgischen Hof, a. a. O., S. 166.

10 A. Ashbee, Records of English Court Music III, Snodland 1988, S. 246.11 T. Crawford, Constantijn Huygens and the ‚Engelsche Viool‘, in: Chelys 18, 1989,

S. 46 ff.12 MS Goëss A verzeichnet auf fol. 43 eine „All(emande) Stefkens Roma 1689“. Nähe-

res zu den Goëss-Manuskripten siehe die Faksimile-Veröffentlichungen von Tim Crawford(in Vorbereitung). Ich danke Dr. Douglas Alton Smith und Albert Reyerman für die freund-liche Überlassung der Kopien.

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land zurück, ließ sich dort naturalisieren und starb im Jahr 1673 als berühmterGambenspieler und Busenfreund von John Jenkins.

Der Große Kurfürst selbst spielte die Diskantgambe, wie aus einem vonRowe erstellten Inventar hervorgeht13, und förderte brandenburgische Gam-benspieler, die er mit Stipendien ausstattete, damit sie in England, der damali-gen Hochburg des Gambenspiels, studieren konnten. Zu ihnen gehörten Wal-ter Rowe d. J., der bei seinem Aufenthalt in England als Deutscher angesehenwurde14, David Adams15, seinem Namen nach wohl ebenfalls von den briti-schen Inseln stammend, und Wilhelm Ludwig Vogelsang16, die teilweise inenglischen Quellen dokumentiert sind. So schrieb Roger North:

Here came over many Germans, cheifly (sic) violists, as Scheiffare, Voglesang, and ofother names to fright one. These introduced many solos for the viol and violin, being roughand unaiery devisions, but for the active part they were coveted17.

Es kamen viele Deutsche zu uns herüber, wie Schäfer (Schäffer?), Vogelsang und andereNamen, die einen erschrecken können. Diese führten zahlreiche Solokompositionen für dieGambe und die Violine ein, die aus rauhen und affektlosen Diminutionen bestanden. Aberwegen ihrer Virtuosität waren sie geschätzt.

Die Schilderung von North bestätigt uns nicht nur, daß diese ausländischenSpieler in England wahrgenommen wurden, sondern gibt uns auch einen Be-griff von der Technik, die die deutschen Gambisten gegen Ende des 17. Jahr-hundert anwandten und die einem Gourmet wie North wenig zugesagt zu ha-ben scheint. Der brandenburgische Hof war die letzte deutsche Bastion, in derdas Gambenensemble englischer Prägung gepflegt wurde, während sich dieanderen Höfe bereits nach dem Vorbild Frankreichs und den „Vingt-quatreViolons“ Ludwigs XIV. zu orientieren begannen. Die Gambenherrlichkeitfand denn auch ein Ende mit dem Regierungsantritt des frankophilen Kurfür-sten Friedrich III., als Friedrich I. seit 1701 König in Preußen. Im Jahr 1707wurden die letzten brandenburgischen Hofgambisten pensioniert18.

Ein knappes Jahrhundert später jedoch hatte sich der Nachfolger FriedrichsII., Friedrich Wilhelm II., bereits zu seiner Thronfolgerzeit für die Viola dagamba interessiert. Tonangebend auf diesem Sektor war inzwischen Frank-reich, und Friedrich Wilhelm berief als seinen Lehrer Ludwig Christian Hes-se, einen Sohn des berühmten Gambisten und Diplomaten Ernst Christian

13 C. Sachs, Musik und Oper am kurbrandenburgischen Hof, a. a. O., S. 224 f.14 Ich danke Dr. Andrew Ashbee für seine Auskünfte über den jüngeren Rowe.15 C. Sachs, Musik und Oper am kurbrandenburgischen Hof, a. a. O., S. 169 f.16 Ebenda, S. 170.17 Roger North on Music, hrsg. von J. Wilson, London 1959, S. 302.18 C. Sachs, Musik und Oper am kurbrandenburgischen Hof, a. a. O., S. 66.

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Hesse, der in Paris bei Marin Marais und Antoine Forqueray studiert hatte19.Von Ernst Christian sind kaum Kompositionen erhalten, aber es mag sein, daßer eine spezifisch französische Spielweise und die siebensaitige Gambe, die inFrankreich seit dem späten 17. Jahrhundert üblich geworden war, in dendeutschsprachigen Bereich gebracht hatte. Der Kronprinz und sein Lehrer er-öffneten eine Korrespondenz mit dem jüngeren Forqueray20, in der dieser diebeiden Preußen über spiel- und bautechnische Details unterrichtete, wie sie zuseiner Zeit in Frankreich gängig waren. Die Noten, die Forqueray mitsandte,scheinen jedoch leider verloren zu sein. Er bot Friedrich Wilhelm auch eineGambe von Guillaume Barbey zum Kauf an. Der Handel zerschlug sich je-doch, denn inzwischen waren der Prinz und sein Lehrer zum Violoncelloübergewechselt.

Das Interesse am Gambenspiel aber war nicht ganz erloschen, denn imJahr 1790 reiste der böhmische Oboist und Gambist Joseph Fiala durch Berlinund scheint am königlichen Hof auch auf der Gambe konzertiert zu haben21.

Berliner Gambenbau

In Berlin lebten zumindest seit dem späten 17. Jahrhundert Gambenbauer. Zuihnen zählt Jacob Meinertzen (vor 1693-1713), von dem heute jedoch kein In-strument mit Sicherheit mehr nachgewiesen werden kann. Das AuktionshausSotheby’s in London bot im Jahr 1985 eine unsignierte sechssaitige Baßgam-be zum Kauf an, die laut Gutachten von Günther Hellwig als Instrument vonMeinertzen ausgewiesen wurde22. In seinem Werk über Joachim Tielke gehtHellwig jedoch nicht auf spezifische Eigenheiten Meinertzens ein23, so daßwir nicht mehr wissen, wie Hellwig zu seinem Urteil kam. Die Gambe – le-diglich das Corpus ist alt – erinnert in Umriß des Corpus und Form der Schal-löcher an Gamben von Joachim Tielke.

19 Eine witzige Anekdote berichtet darüber: F. W. Marpurg, Legenden einiger Musik-heiligen, Köln 1786, S. 49 ff.

20 Y. Gérard, Notes sur la fabrication de la viole de gambe et la manière d’en jouer, in:Revue Musicologique 2, 1961-62, S. 165-171.

21 Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Art. „Fiala“.22 Sotheby’s, Early Musical Instruments, London, Thursday 12th December 1985; Ver-

steigerungskatalog S. 106/107. Das Gutachten Hellwigs datiert vom 12. September 1984.23 G. Hellwig, Joachim Tielke – Ein Hamburger Lauten- und Violenmacher der Ba-

rockzeit, Frankfurt/Main 1980, S. 127.

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Eine weitere Baßgambe von Meinertzen - allem Anschein nach stark ver-ändert - befand sich in der Sammlung alter Musikinstrumente in Berlin24. DasInstrument ist seit dem Krieg verschollen. Dem Druckzettel dieses Instru-ments zufolge war Meinertzen „Königl. Hoff, Violdegam.../ und Lautenma-cher“. Lütgendorff verzeichnet von ihm eine weitere Baßgambe von 1710 inder Sammlung Wildhagen sowie ein Violoncello im Besitz von Paul Caré inDanzig25. Es kann natürlich auch nicht ausgeschlossen werden, daß bei denvon mir genannten Instrumenten Doppelnennungen unterlaufen. Außerdem istes möglich, daß einige der zahlreichen unsignierten Instrumente, die Tielkezugeschrieben werden, in Wirklichkeit von Meinertzen oder anderen Instru-mentenbauern stammen.

Von Jacques Sainprae (1. Hälfte 18. Jahrhundert?) befindet sich als einzi-ges erhaltenes Instrument ein Baryton im Victoria and Albert-Museum in Lon-don26. Über diesen allem Anschein nach französischstämmigen (hugenotti-schen?) Instrumentenmacher ist nichts Biographisches bekannt. Das äußerstreich verzierte Instrument deutet auf einen versierten Kunsthandwerker, überdessen Beziehungen und Werdegang jedoch nichts weiter ausgesagt werdenkann. Interessant ist jedoch das Faktum, daß auch Barytone in Berlin gebautwurden.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkte in Berlin Antonius Bach-mann, der außer zahlreichen Violininstrumenten auch Lauten und Gambenbaute. Eine sechssaitige Baß-Viola da gamba von 1746 befand sich bis zumKrieg in der Berliner Sammlung27. Dieses Instrument wird von denen, die esgesehen haben, nicht allzu günstig beurteilt. Lütgendorff28 bemängelt Bach-manns Arbeit wegen schlechter Holzwahl und schlechten Lackes, und OskarFleischer29 vermerkt lakonisch, daß die Gambe „gute Arbeit, typische Form“besessen habe, und fügt hinzu: „Die Wangen des Wirbelkastens sind mitBlattschnitzerei verziert.“ Diese Bemerkung kann darauf hindeuten, daßBachmann in bezug auf den Gambenbau in der Ornamentik der norddeutschen

24 C. Sachs, Sammlung alter Musikinstrumente bei der Staatlichen Hochschule für Mu-sik in Berlin. Beschreibender Katalog, Berlin 1922, Sp. 119 f., Kat. Nr. 405.

25 W. L. Frh. von Lütgendorff, Die Geigen- und Lautenmacher vom Mittelalter bis zurGegenwart, Frankfurt/Main 41922, Bd II, S. 328.

26 A. Baines, Catalogue of Musical Instruments of the Victoria and Albert Museum,vol. II: Non-Keyboard Instruments, London 1978, S. 12 f. und Taf. 15.

27 C. Sachs, Sammlung alter Musikinstrumente, a. a. O., Sp. 120, Kat. Nr. 404.28 W. L. von Lütgendorff, Die Geigen- und Lautenmacher vom Mittelalter bis zur Ge-

genwart, a. a. O., S. 24.29 O. Fleischer, Führer durch die Sammlung alter Musikinstrumente, Berlin 1892,

S. 81.

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Tradition verhaftet gewesen ist. Derlei Verzierungen in Holz oder auch Elfen-bein finden sich auch bei Instrumenten von Tielke, Gregorius Karpp oder amBaryton Sainpraes.

Bei diesen Instrumenten handelt es sich ausnahmslos um Baßgamben. Fürkleinere Exemplare muß man sich im brandenburgisch-preußischen Umlandumsehen. Gregorius Karpp wirkte vor 1700 in Königsberg. Er baute nicht nurAltgamben – ein unsigniertes, ihm zugeschriebenes Instrument mit fünf Sai-ten befindet sich heute in der Berliner Sammlung30 –, sondern scheint auchsiebensaitige Baßgamben den sechssaitigen vorgezogen zu haben31.

Der Name Würffel aus Greifswald verweist ebenfalls auf diesen interes-santen Personenkreis. Dabei handelt es sich möglicherweise um zwei Persön-lichkeiten: Johannes und Jeremias (vor 1700). Ähnlich Karpp scheinen siesiebensaitige Baßgamben bevorzugt zu haben und gefielen sich außerdem inbizarr anmutenden Formen32. Die Gamben von Kopenhagen und Berlin sindDiskantinstrumente und beinahe deckungsgleich. In ihren Mensuren sind siegrößer als die gleichzeitigen französischen Diskantgamben und lassen sich da-her nicht im selben Stimmton einstimmen. Otto und Adelmann33 vermuteneine Stimmung in c statt in d. Die Berliner Diskantgambe erzeugt ein etwasbeklommenes Gefühl nicht nur durch die vom Gewohnten abweichende Form,sondern auch in ihrer Diskrepanz von Decke und Rest des Corpus. Währenddie Decke dreiteilig, offensichtlich gebogen und von feiner, eleganter Arbeitist, erscheint das Corpus – aus verschiedenen Hölzern zusammengefügt undmit groben Intarsien versehen – reichlich unbeholfen. Die Vermutung drängtsich auf, daß der Erbauer eine ältere Decke zurechtgeschnitten und dem Cor-pus angefügt hat. Diese merkwürdigen, hochinteressanten Gamben werfenviele Fragen auf, scheinen aber auch als ein Symbol dafür zu stehen, das denpreußischen Gambenbau allgemein zu charakterisieren scheint: Man hat vielesaus zweiter Hand übernommen, und die Kargheit und relative Entlegenheitdes Landstriches ließen es nicht zu, daß daraus eine eigenständige Kultur ent-stand, wie es in Regionen mit reichlichem kulturellen Austausch möglich ist.

30 Berlin, Musikinstrumenten-Museum PK, Kat. Nr. 4521.31 Eine vorläufige Liste von Karpps Instrumenten habe ich in concerto III, Heft 2, Feb.

1986, S. 39-45, veröffentlicht.32 Instrumente in Genf und London (Royal College of Music), Kopenhagen und Berlin.33 I. Otto und O. Adelmann: Katalog der Streichinstrumente, Berlin 1975, S. 103 f.

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Die Diskantgambe im Unterschied zur Baßgambe

Gegenüber der vielfältigen Beachtung, die die Baßgambe zu ihrer Zeit und bisin die Gegenwart erfuhr, verwundert das nahezu vollständige Fehlen von Äu-ßerungen über die Diskantgambe. Der schlichten Annahme, daß Diskant- undAltinstrument spätestens gegen 1700 ausgestorben waren, widerspricht dasVorhandensein von zahlreichen Instrumenten, die nach 1700 gebaut und allemAnschein nach fleißig gespielt wurden. Die Altgambe scheint nach JohannGottfried Walther34 zusammen mit der Viola oder als Alternative zu ihr in derKammermusik, vielleicht sogar in der Orchestermusik, eingesetzt worden zusein. Da dieses Instrument ohnehin nie eine eigene Sololiteratur besaß, ist seinVorhandensein oder Verschwinden nicht weiter auffällig.

Anders verhält es sich mit den beiden Ausprägungen der Diskantgambe.Der „Dessus de viole“ ist die alte Diskantgambe in d, die bereits in Branden-burg und anderswo aus der Besetzung des englischen Consorts bekannt war.Die kleine Quartgambe von fünf oder sechs Saiten erlebte während des 18.Jahrhunderts in Frankreich als „Pardessus de viole“ eine Blüte35, für die Mi-chel Corrette ein eigenes Lehrbuch verfaßte: Méthode pour apprendre facile-ment à jouer du pardessus de viole à cinq et à six cordes avec des Leçons à IIet III parties. Paris 1749. (Methode, um leicht den Pardessus von fünf undsechs Saiten zu erlernen, mit Lektionen für zwei und drei Stimmen.) Der Par-dessus gehört in Frankreich zusammen mit der Block- und Querflöte, der Vio-line und Oboe zu den zahlreichen Alternativmöglichkeiten, eine Diskantstim-me auszuführen, und ist in dieser Eigenschaft auf zahlreichen Titelblättern ge-nannt. Es soll hier auch noch einmal erwähnt werden, daß der Druck mit denGambenwerken Forquerays, der immer noch als das Nonplusultra technischenKönnens angesehen wird, als Alternative den Pardessus angibt.

Es wird zwar nirgends expressis verbis vermerkt, aber in Frankreich schei-nen diese kleinen Gamben zum größten Teil von Frauen gespielt worden zusein, die auch mit diesem Instrument öffentlich auftraten.

34 J. G. Walther, Musicalisches Lexicon, Leipzig 1732, S. 637, Art. „Violetta“.35 Eine Bibliographie französischer Literatur für diese Instrumente befindet sich bei A.

Rose, Music for the Dessus and Pardessus de violes, Published in France, ca. 1650-1770,in: Journal of the Viola da gamba Society of America 16, 1979, S. 40-46. Hierbei sind kei-ne handschriftlichen Quellen erfaßt.

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Abbildung 1: Dame mit Pardessus de violeanon. frz. Meister (Ausschnitt, Verbleib unbekannt)

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Vor allem der fünfsaitige Pardessus bildete in gewisser Weise eine Konkur-renz zur Violine, da er ihr im Umfang entsprach. Zahlreiche Veröffentlichun-gen tragen dem Rechnung, teilweise gar mit gemischtsprachigen Titeln, die inkurioser Weise die unterschiedliche nationale Zuordnung der beiden Instru-mente signalisieren, zum Beispiel der Druck von J. Avolio: Sei duetti per dueviolioni – ces duo se peuvent exécuter avec deux pardessus de violes, violons,et violoncelles. Paris 1765.

Im Gegensatz zu den Franzosen scheinen die Deutschen die gewöhnlicheDiskantgambe („Dessus de viole“) bevorzugt zu haben. Zu diesem Instrumentschreibt Johann Gottfried Walther: „Die Discant-Viola di Gamba gehet vom cbis ins g'', a''“36. Damit steht die von ihm beschriebene Praxis im Widerspruchzur französischen, in der der Dessus eine Oktave über dem Baß steht (d'' a' e'c' g d). Theoretisch ist mit der bequemen Oktaventsprechung von Baß- undDiskantgambe sowohl die Adaption von Baßgambenkompositionen als auchdiejenige von Violinwerken auf die Diskantgambe möglich. Walthers Angabekönnte einen interessanten Fragenkomplex eröffnen. Das größere Diskantin-strument in c war in Frankreich als „Taille de viole“ bekannt. Eine spezifischeSololiteratur für dieses Instrument ist jedoch nicht nachgewiesen, vielmehrwurde es im Ensemble als zweite Stimme eingesetzt. Über einen Gebrauch imdeutschsprachigen Raum schweigen die Quellen. Walthers Behauptung könnteebenso wie die Existenz der Würfel-Gamben, die auffällig von den vergleich-baren Mensuren abweichen, auf eine Ensemblepraxis hindeuten, über die wiransonsten keinerlei Material besitzen.

Die Griffweise der Diskantgambe war prinzipiell diatonisch. Diese Technikist mindestens nachweisbar bis zu dem Lehrwerk Danovilles37.

‚Prinzipiell diatonisch‘ bedeutet, daß es Ausnahmen von dieser Regel gab,denn dank ihrer bequemen Stimmung verfügt die Diskantgambe gleich derBaßgambe über vielfältige Möglichkeiten akkordischen Spiels, von dem auchstets Gebrauch gemacht wurde. Diskantgambenakkorde sind von Violinakkor-den meist leicht zu unterscheiden, da sie eine reichhaltigere Palette an Terzen-gängen und Klängen in enger Lage zur Verfügung haben, ganz abgesehen vonder Verwendung zweier zusätzlicher Saiten. So steht am Ende eine Grifftech-nik, die aus der diatonischen Griffweise der Violine und der akkordischen,von der Laute abgeleiteten Griffweise der Gambe gemischt ist. Der Baßgambegegenüber besitzt der Dessus den Vorteil größerer Spreizmöglichkeiten, unddamit können Töne erreicht werden, die auf der Baßgambe entweder mit ei-nem Sprung oder mehr oder minder komplizierten Lagenwechseln getroffenwerden müssen.

36 J. G. Walther, Musicalisches Lexicon, a. a. O., Art. „Violetta“.37 L’Art de toucher le Dessus et basse de violle, Paris 1687.

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Bereits Michael Praetorius beklagte die relative Klangschwäche der Dis-kantgambe gegenüber den Violine38. Das bedeutet jedoch keinen absolutenLautstärkewert, denn alte Diskantgamben sind nicht notwendigerweise leiserals (im Originalzustand belassene) Violinen. Der Unterschied zeigt sich eherin der Klangbalance. Die Diskantgambe wird nämlich im Gegensatz zur Violi-ne in höheren Lagen zunehmend schwächer, und das macht sie relativ unge-eignet für die Ausführung einer brillanten Oberstimme. Diese spezifischeKlangcharakteristik prägte in der Folgezeit das Image der Diskantgambe undgereichte ihr gar nicht unbedingt zum Nachteil. Dem Instrument kamen damitlediglich eine andere Sphäre und ein anderer Affekt zu. Während die Violinedazu da sei zu glänzen, solle der Dessus de viole schmeicheln, meinte JeanRousseau39.

Diesem Umstand haben die Komponisten Rechnung getragen und für dieDiskantgambe anders komponiert als für die Violine. Charakteristische deut-sche Vertreter dieser Richtung sind Georg Philipp Telemann, der etliche Kom-positionen für den „Dessy de viole“ hinterließ, und Johann Melchior Molter,der für den „Soprano di viola di gamba“ komponierte40. Die Stücke erschei-nen sämtlich technisch einfach und von gefälliger Melodik. Virtuose Partien,zum Beispiel in den Konzerten von Molter, halten sich im Rahmen des leichtzu Bewältigenden und erfreuen mehr, als daß sie beeindrucken. BesondereBeachtung verdient die Solosonate in G-Dur aus Telemanns GetreuemMusic=Meister, die, obwohl heute in der Regel auf der Baßgambe ausgeführt(was satztechnisch ohne weiteres möglich ist), ausdrücklich von Telemann alsKomposition für die Diskantgambe deklariert ist (Abb. 2). Diese Notations-weise steht allerdings einzig da, denn das Stück ist im Altschlüssel notiert, dereine Oktave höher zu lesen ist.

38 M. Praetorius, Syntagma musicum, Bd III, Wolfenbüttel 1618, S. 157.39 J. Rousseau, Traité de la viole, Paris 1687, S. 73: „… la maniere du Violon, dont le

propre est d’animer, au lieu que le propre du Dessus est de flater.“40 Laut Eitner-Quellenlexikon Bd 7, S. 24, befinden sich in der Badischen Landesbi-

bliothek in Karlsruhe mehrere Manuskripte mit Kompositionen für den „Dessus de viole“oder „Soprano di viola da gamba“. Sie sind mir bisher lediglich aus Abschriften ohne Si-gnaturbeigabe bekannt.

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Zwei Sonaten für die Diskantgambe von Carl Philipp Emanuel Bach

Abbildung 2: Telemann, Solosonate in G-Dur

Der süße, etwas verhangene Klang von Dessus und Pardessus de viole paßteden Franzosen gut in die galante Schäferidyllik. Auch die deutsche Galanterieund die Zeit der Empfindsamkeit waren für derlei Klänge nicht unempfäng-lich. Instrumente wie Gambe, Viola d’amore und Baryton erlebten geradejetzt wieder eine Blütezeit. Dabei ist es nicht einfach, auf der oft spröde und

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starr klingenden Diskantgambe jene tonliche Geschmeidigkeit zu erreichen,die von den Komponisten der Empfindsamkeit als erstrebenswert angesehenwird und die Friedrich Wilhelm Marpurg beschreibt:

Ich meine nicht die Höhe und Tiefe der Töne; ich habe deren Stärcke und Schwäche imSinn, und ob sie ausgehalten, abgestoßen, zärtlich, rauh, scharf, dehnend, schleppend, hüp-fend, springend, reissend, scherzhaft, schlapp, gezogen, matt, rasend u.d.g. seyn sollen41.

Marpurgs Schilderung der Möglichkeiten, einen einzelnen Ton zu beschrei-ben, wirkt so ungelenk, als habe man erst vor kurzer Zeit begonnen, sich überTongestaltung Gedanken zu machen (was natürlich keineswegs ausschließt,daß diese Mittel den Musikern schon vorher bekannt waren. Aber anscheinendgelangten sie erst jetzt in das Bewußtsein der Hörer). Auffällig ist auch dieVorliebe für leise Instrumente. Carl Philipp Emanuel Bachs Fähigkeiten, aufdem Clavichord ‚Leidenschaften zu erregen‘, das heißt, den schmalen dyna-mischen Bereich dieses lnstruments bis zum äußersten zu kultivieren, so daßman glaubte, pianissimo und fortissimo zu empfinden, ist zu bekannt, als daßhier darauf eingegangen werden muß. Interessant ist, daß auch die Diskant-gambe in diesem Rahmen eine Rolle spielte, ja daß ihre Rolle anscheinendbedeutender war als bisher angenommen.

Zu den Manuskripten der beiden Sonaten von Carl Philipp Emanuel Bach

Bereits die Brüsseler Handschriften sind keine Autographe, sondern stammenvon unterschiedlichen Schreibern, wobei die Sonate in C-Dur durch den Ham-burger Kopisten Michel im Auftrag von Bachs Tochter Anna Carolina Philip-pina aufgrund einer Bestellung des Schweriner Organisten Johann JacobHeinrich Westphal (1756-1825) erstellt wurde. Uber den Fétis-Nachlaß ge-langte sie in die Brüsseler Bibliothek42.

Das Berliner Exemplar ist eine Abschrift beider Sonaten nach der Brüsse-ler Quelle, erstellt in „Braunschweig 5. Februar 1904“43. Der BraunschweigerKammermusikus Johannes Klingenberg pflegte seine zahlreichen Abschriften

41 Der Critische Musicus an der Spree, 2. September 1749, Berlin 1750, S. 216.42 M. H. Schmidt, Das Geschäft mit dem Nachlaß von C. Ph. E. Bach, in: Carl Philipp

Emanuel Bach und die europäische Musikkultur des mittleren 18. Jahrhunderts. Berichtüber das Internationale Symposium der Joachim Jungius-Gesellschaft der WissenschaftenHamburg 29. September-2. Oktober 1988, Göttingen 1990, S. 473-528.

43 Anmerkung des Schreibers am Ende des Manuskripts. Für seine freundliche Unter-stützung bin ich Herrn Ziegler von der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Preu-ßischer Kulturbesitz, Haus 1 (Unter den Linden), herzlich dankbar.

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Zwei Sonaten für die Diskantgambe von Carl Philipp Emanuel Bach

akribisch zu datieren und die Herkunft seiner Quellen anzugeben. Auch indiesem Fall vermerkte er die Herkunft aus Brüssel. Nach seinem Tod (1905)gelangte seine umfangreiche Musikaliensammlung über seinen Nachlaßver-walter, den Braunschweiger Hofmusikalienhändler Julius Bauer, für die Sum-me von 300.-M an die Königliche Bibliothek und wurde dort am 28. Novem-ber 1905 unter den Nummern 1905.246-537 inventarisiert. Das Manuskriptmit den beiden Gambensonaten erhielt die Nummer 1905.249. Ein eingekleb-ter Zettel verzeichnet – wie in diesen Fällen meist üblich und von den nach-folgenden Lesern mit Interesse zur Kenntnis genommen – die Reihe der Be-nutzer, die in die Handschrift Einsicht genommen haben. In diesem Fall be-ginnt die Liste im Jahr 1935, verzeichnet fünf Interessenten im Zeitraum zwi-schen 1936 und 1939 (darunter August Wenzinger) und acht weitere im Zeit-raum von 1970 bis 1993 (mich eingerechnet), darunter Eugene Helm, denVerfasser des neuen Werkverzeichnisses von Carl Philipp Emanuel Bach. EinVergleich der beiden Versionen weist die Abschrift Johannes Klingenbergs alsaußerordentlich zuverlässig aus. Die einzigen Versehen finden sich bei gele-gentlichen ungenauen Zuordungen von Bindebögen und seltenen Auslassun-gen von Forte- und Piano-Zeichen. Die einzigen echten Fehler befinden sichin der C-Dur-Sonate im ersten Satz, Takt 18 (Solostimme, Sekundverschreibergegenüber der Brüsseler Version), und im zweiten Satz, Takt 6 (Baß, die letz-ten vier Noten weisen einen Balken zuviel auf). Es ist wichtig und beruhi-gend, um diese Zuverlässigkeit zu wissen, denn verschiedene Items des Nach-lasses bilden heutzutage die einzige erhaltene Sekundärquelle für seit demletzten Krieg verschollene Musikalien.

Die beiden Sonaten unter die Lupe genommen

Die beiden Sonaten sind in der Literatur zu Carl Philipp Emanuel Bach bisherwenig erwähnt worden. Die erste knappe Würdigung finden wir bei ErnstFritz Schmid44, der anmerkt:

Eine ganz besonders virtuose Faktur weisen die beiden Gambensoli auf (Wq 136 u. 137,Berlin 1745 u. 1746). Sie sind wahrscheinlich für Ludwig Christian Hesse geschrieben,den Hiller „zu unseren Zeiten unstreitig den größten Viola da Gambisten in Europa“ nennt;... Neben Hesse könnte auch der Gambenvirtuose Karl Friedrich Abel... in Frage kom-men...Die Gambensoli sind beide sehr dankbar für das Instrument geschrieben; in keinem ande-ren Kammermusikwerk seiner Berliner Zeit, von einigen Flötensoli abgesehen, hat Bachden Charakter des Instrumentes, für das er schrieb, so sehr berücksichtigt; den gambenmä-

44 E. F. Schmid, Carl Philipp Emanuel Bach und seine Kammermusik, Kassel 1931,S. 90 f.

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ßigen Satz (Klang eine Oktave tiefer) mögen einige Beispiele aus dem zweiten und drittenSatz der D-Dur-Sonate (Wq. 137) zeigen.

Ein weiterer Kommentar befindet sich bei Schulenberg45, in dem lediglich aufdie Technik der Fortspinnung in diesen Sonaten hingewiesen wird. In einerausführlichen Anmerkung schreibt der Autor:

Bach’s sonatas for gamba and continuo date from 1745 and 1746, respectively, and musthave been written for one of those late masters of the instrument (among them C. F.Abel)... Bach, like Abel, apparently wrote the solo part of his gamba sonatas in treble clef;this may account for the error in NV which assigns H. 558 (= Wq 136) to the flute. (Thesame convention applied in several sources of Sebastian Bach’s D-major gamba sonata,BWV 1028, is probably the source of references to a violin version of the work. In bothcases the notation of a few very low passages in bass clef makes performance of the alter-native instrument unlikely.)Bachs Sonaten für Gambe und Generalbaß stammen aus den Jahren 1745 und 1746 undmüssen geschrieben worden sein für einen der späten Meister des Instruments (unter ihnenCarl Friedrich Abel)... Bach schrieb offensichtlich, wie Abel, die Solostimme seiner Gam-bensonaten im Violinschlüssel. Dieses mag verantwortlich sein für den Irrtum in NV, woH. 558 (= Wq 136) der Flöte zugerechnet wird. (Dieselbe Notierweise, die in verschiede-nen Quellen der D-Dur-Sonate für die Viola da gamba von Sebastian Bach, BWV 1028,angewandt wurde, ist möglicherweise der Grund von Zuschreibungen dieses Werkes fürdie Violine. In beiden Fällen macht (jedoch) die Notierung einiger sehr tiefer Passagen imBaßschlüssel eine Ausführung in dem anderen Instrument unwahrscheinlich.)

Dem Autor ist die Notationsweise immerhin aufgefallen, und er scheint auchnicht zwingend von einer Tiefoktavierung auszugehen. Allerdings entgehtihm, daß in diesem Fall der Umfang in der Höhe auf einer Baßgambe nichtvorhanden ist.

Eine gründlichere Erwähnung der D-Dur-Sonate findet sich in einem Auf-satz von Hans Peter Linde46. Allem Anschein nach hielt sich der Verfasser lei-der an die arg verballhornte Neuausgabe47, in der abweichend vom Original-text mit Oktavversetzungen recht willkürlich umgegangen wird, um das Stückder Baßgambe anzupassen. Ein derartig entstellender Sachverhalt war bereitsim Jahr 1894 Henry Saint-George bei der Veröffentlichung der Sonate Wq 88für Viola da gamba und obligates Cembalo durch Friedrich Grützmacher auf-

45 D. Schulenberg, The Instrumental Music of Carl Philipp Emanuel Bach (= Studiesin Musicology), No. 77, Ann Arbor 1984, S. 134 und 178.

46 H. P. Linde, Die letzte Blütezeit der Viola-da-gamba-Kunst in der Kammermusik derzweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Studien zur Aufführungspraxis undInterpretation von Musik des 18. Jahrhunderts, Heft 29, Michaelstein/Blankenburg 1986,S. 63 f.

47 Sonate C-Dur: bearbeitet für Violoncello oder Violine und Klavier (Paul Klengel),Leipzig (Breitkopf und Härtel) 1930.Sonate D-Dur: hrsg. von Rolf von Leyden, Peters, Leipzig 1933.

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gefallen48, und dieses sollte eine Mahnung sein, sich nicht allzusehr auf ältereAusgaben für die Viola da gamba zu verlassen. Linde war mit seinem Ver-zicht auf das Quellenmaterial eine dem Urbild entsprechende Untersuchungunmöglich. Dennoch sind seine Ergebnisse durchdacht und plausibel. Er deu-tet – meines Erachtens zutreffend – die Sonate als ein Beispiel des musikali-schen Sturm und Drang und demonstriert dieses anhand einzelner Motive.

Daß mit der Zuordnung der Sonate bereits nach dem Tode Bachs Unklar-heiten entstanden sind, zeigt ein Brief von Philippina Bach vom Dezember1791 an Johann Jacob Heinrich Westphal:

Die beyden Soli N. 10 und N. 12 haben mich in die Nachbarschaft eines in das Verzeichnißeingeschlichenen Druckfehlers gebracht, den ich bey dieser Gelegenheit Ew. Wohlgeborenbekannt machen will: Das Solo No. 11 ist nicht für die Flöte, sondern für die Gambe ge-setzt49.

In beiden Fällen handelt es sich um einen dreisätzigen Typus mit der Satzfol-ge langsam – schnell – schnell, der vor allem in der Berliner Ensemblemusikbeliebt gewesen zu sein scheint. Dem begeisterten Urteil von Ernst FritzSchmid kann ich mich aus vollem Herzen anschließen. Die beiden Sonatensind nicht nur trotz bedeutender technischer Ansprüche der Gambe auf denLeib geschneidert, sondern auch außerordentlich schöne Musik. Die beidenKopfsätze sind einteilig und erfordern jeweils eine Kadenz. Die restlichenSätze sind zweiteilig mit stark gelängten zweiten Teilen, in denen in der Tatdas einmal aufgestellte motivische Material ‚fortgesponnen‘ wird. Was bedeu-tete denn dieses Prinzip der ‚Fortspinnung‘ für Gambenspieler, denen die re-gelmäßige Textur französischer „Pièces de viole“ mit ihrer durch vier teilba-ren Taktstruktur zur Gewohnheit geworden war? Die französische Schule warallenthalben bestimmend, und vor allem Berlin machte hier keine Ausnahme.Diese neuartigen Sonaten, wie sie bereits der Vater Carl Philipp Emanuelsvorgestellt hatte (wenn auch großenteils in Übertragungen aus anderen Beset-zungen), müssen ihnen nicht ganz geheuer gewesen sein. Ich habe bereits an-dernorts formuliert50, daß zu Kompositionen ‚empfindsamer‘ Couleur unver-zichtbar die Durchbrechung tradierter Regeln gehört, die für die Hörer um sofaszinierender waren, als man bei ihnen selbst Kenntnisse und Bildung voraus-

48 H. Saint-George, The Viola da gamba, in: The Strad vol. IV, London 1894, S. 314.Die Ausgabe von Wq 88 stammt aus dem Jahr 1881. Ich danke der Musikabteilung derStadtbibliothek Leipzig, insbesondere Herrn Krause, für seine gründliche Suche in denVeröffentlichungslisten des Peters-Verlages.

49 M. H. Schmid, Das Geschäft mit dem Nachlaß von C. Ph. E. Bach, a. a. O., S. 496 f.Dort befindet sich auch ein Faksimile dieses Briefes.

50 A. Otterstedt, A Sentimental Journey Through Germany and England – English‚Empfindsamkeit‘ in the 17th-Century, in: Chelys 21, 1992, S. 39-56.

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setzte. Dazu zählen der Aufbau unregelmäßiger Perioden ebenso wie auch einebiegsame (und zuweilen labil erscheinende) Harmonik. Beide Elemente sind imPrinzip der ‚Fortspinnung‘ enthalten und werden in den beiden vorliegendenSonaten fleißig angewandt. Bereits die ersten Takte der beiden Kopfsätze ma-chen diese scheinbare Absichtslosigkeit und Unregelmäßigkeit deutlich:

Abbildung 3: Die jeweils ersten Zeilen der beiden Sonaten

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Abbildung 4: Notenbeispiel von E. F. SchmidAusschnitte aus der Sonate in D-DurDie Pfeile sind von mir hinzugefügt und bezeichnen jene Stel-len, an denen bei einer Tiefoktavierung die Gambenstimme un-ter den Baß ginge.* bezeichnen ungedeckte Quarten.

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Die Motivik besitzt, um mit einem Ausdruck der alten Autoren zu sprechen,„etwas Zärtliches“, das nicht einmal in dem brillantesten Satz, dem Mittelsatzder D-Dur-Sonate, verloren geht. Das „zärtliche“ Element war auch bereits inTelemanns Sonaten für den Dessy de viole vorherrschend gewesen. Und daßauch Carl Philipp Emanuel Bach bei diesen Sonaten einen „Dessy de viole“im Auge hatte, glaube ich mit den folgenden Argumenten beweisen zu kön-nen.

Schmids Notenbeispiele zeigen ausgerechnet Takte aus der D-Dur-Sonate,in denen eine Gambe, die nach seiner Empfehlung „Klang eine Oktave tiefer“häufig in dissonanter Weise unter den Baß reichte (Abb. 4).

Mit Ausnahme des ersten Satzes der D-Dur-Sonate enthalten die Sätze kei-nerlei Bezifferung. Dadurch sowie durch die nahezu vollständige Absenz vonPhrasierungs- und Bindebögen erhalten die Sonaten etwas Fragmentarisches,und man fragt sich, für welchen Zweck sie komponiert worden sind.

Die „Sonata Viola da Gamba Solo“ in C-Dur besteht aus den Sätzen Andante– Allegretto – Arioso. Die Umfänge der Instrumente in den drei Sätzen sind:

Viola da gamba BassoAndante g-c''' (Violinschlüssel) C-d'Allegretto f-d'' (Violin-, Baßschlüssel) C-gArioso gis-b'' (Violin-, Baßschlüssel) D-d'

Die Sonate würde problemlos auf der Baßgambe spielbar sein mit Ausnahmeeiniger Stellen im 2. Satz, wo die Stimme unter den Baß reicht. Davon bildeteine Überlappung im 2. Teil des 2. Satzes eine unabgedeckte Quarte. DieStimme ist jedoch so notiert, daß sie ins Baßsystem hinübergleitet.

Denkt man sich die Solostimme tiefoktaviert, so erforderte das auch eineTiefoktavierung der Baßstimme. Wegen der tiefen Tessitura des gesamten Sat-zes wäre das jedoch schon aus klanglichen Gründen wenig wahrscheinlich.

Abbildung 5: Sonate C-Dur, Takt 43Wechsel ins Baßsystem

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In der Sonate in D-Dur fallen die Ungereimtheiten drastischer aus. Sieträgt den Titel „Solo a Viola di Gamba è Basso“.

Die Umfänge der einzelnen Sätze sind

Viola da gamba BassoAdagio ma non tanto d'-e''' D-fis'Allegro di molto cis/d-e''' (Violin-, Baßschlüssel) D-e'Arioso gis-d'' D-e'

Die ungedeckten Quarten sind zahlreich (Abb. 6), und im zweiten Satz erge-ben sich zwei lange Sechzehntelketten, die fast durchgehend bei Oktavtrans-position unter dem Baß lägen (Abb. 7).

Abbildung 6: Sonate in D-Dur:Einige Beispiele für ungedeckte Quarten

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Auch hier gleitet die Solostimme mehrfach ins Baßsystem.

Abbildung 7: Sonate in D-Dur, 2. Satz, Takt 106-118

Eine Violine scheidet in beiden Sonaten grundsätzlich aus wegen des Um-fangs in der Tiefe. Im zweiten Satz kommt ein einziges cis vor, das bei derfolgenden Figur eine Oktave höher wiederholt wird. Handelt es sich hierbeium einen Schreibfehler, oder könnte man doch an eine Bratsche denken? Oderkäme eine Diskantgambe in Frage, wie sie Johann Gottfried Walther be-schreibt? Die diese Töne umgebenden Akkordgriffe sind auf der Bratsche je-denfalls nicht spielbar. Dagegen liegen sie auf der Gambe geradezu ideal.

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Linde hatte bemerkt:

Weiträumige gebrochene Akkordfolgen, souveränes Hohe-Lage-Spiel, oft weit jenseits dessiebenten Bundes, weite Strecken mit Doppelgriffen und Akkorden und Terzentriller sowieTerzengänge gehen an die Grenze des spieltechnisch Möglichen51.

Diese Feststellung trifft auf die Diskantgambe nicht minder zu. Abgesehen da-von, daß dieses Instrument heute kaum ernsthaft studiert wird und daher diemeisten Spieler gar nicht auf den Gedanken kommen, daß es eine ernstzuneh-mende Literatur dafür geben könnte, entstehen auch erhebliche technischeProbleme beim Meistern hoher Lagen, wie sie auf der Baßgambe immerhinseit dem 16. Jahrhundert bekannt waren. Auf dem kleinen, im Schoß zuspielenden Instrument erfordern sie ein abgeknicktes Handgelenk, das die Be-weglichkeit durchaus einschränken kann. Es wäre eine Überlegung wert, obder Pardessus auch aus dem Grund entwickelt worden sein könnte, daß manden für die französische Musik um 1700 benötigten Ambitus bis ins d''' aufder Diskantgambe leichter erreichbar machen wollte. Sämtliche Saitenhinzu-fügungen auf anderen Instrumenten – Lauten-, Gitarren- und Gambentypen –geschahen in die Tiefe. Bei der Baßgambe stand das Thema einer zusätzlichenSaite im Diskant niemals zur Debatte. Die der Laute entlehnte Griffweise ver-langte als oberstes Gebot, einen Finger solange auf seiner Position zu belas-sen, bis er woanders gebraucht wurde. Eine konsequente Befolgung diesesGrundsatzes führt zu einer akkordischen Grifftechnik mit einer langsam undökonomisch bewegten Hand, der nichts Sprunghaftes und Hektisches anhaftet.Diese ausgefeilte Grifftechnik ist nicht nur erkennbar in den Fingersätzen –am bekanntesten in den fünf Bänden mit Gambenmusik von Marin Marais –,sondern auch oft genug in der Struktur der Musik selbst, die akkordisch indurchbrochener scheinbarer oder zuweilen auch realer Mehrstimmigkeit ange-legt ist. Derartige Merkmale und zusätzliche akkordische Möglichkeiten, dieauf der Baßgambe nicht, auf der Diskantgambe jedoch wegen der kleinerenMensur zu halten sind, könnten Indizien sein für eine Diskantgambenkompo-sition. Abbildung 8 verzeichnet einige Beispiele aus beiden Sonaten mit vonmir beigefügten Fingersätzen für Diskant- und Baßgambe.

Obwohl sich mit wenigen Ausnahmen (8c, d, e) die angegebenen Beispieleauch auf der Baßgambe ausführen lassen, liegen sie auf einem Diskant we-sentlich günstiger, da sie sich auf benachbarten Saiten befinden und keinenLagenwechsel benötigen. Damit können die Töne gehalten werden, währendbei einer Ausführung auf der Baßgambe sprunghafte Bewegungen erforderlichsind, bei denen Töne unterbrochen werden und damit die gambentypische

51 H. P. Linde, Die letzte Blütezeit der Viola-da-gamba-Kunst in der Kammermusik derzweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, a. a. O., S. 65.

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Abbildung 8: Beispiele mit von mir hinzugefügten Fingersätzen

52 Weiteres hierzu siehe unten.

Idiomatik verloren geht. Jedes Beharren auf einem tiefoktavierten Violin-schlüssel löst neue Schwierigkeiten aus. Einer tiefoktavierten Diskantstimmemüßte sich das Baßinstrument anschließen, das heißt, man müßte als Streich-baß einen Violone verwenden, der bis ins Kontra-C reicht52. Gespielt ‚ut ia-

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cet‘ passen die Baßstimmen beider Sonaten sowohl auf ein Violoncello alsauch auf eine Baßgambe, letztere entweder mit tiefalterierter tiefster Saiteoder einer siebten Saite in Kontra-A. Ein derartiges Instrument wäre in Berlinauf jeden Fall vorstellbar, denkt man an die \/erbindungen der beiden Hesseund des Prinzen Friedrich Wilhelm nach Frankreich.

Dann erhebt sich die Frage, welches Tasteninstrument Bach zur Begleitungvorgesehen hatte. Daß er damit rechnete, zeigt zumindest die Bezifferung imersten Satz der zweiten Sonate, auch erklärt er explizit:

Das vollkommenste Accompagnement beym Solo, dawider niemand etwas einwendenkann, ist ein Clavierinstrument nebst dem Violoncell53.

In welcher Lage sollte dieses dann spielen? Die einfachste Lösung wäre aller-dings, daß wir den Titel wörtlich nehmen und uns dazu bequemen, für diesebeiden Kompositionen ein Diskantinstrument anzunehmen, oder aber wir be-säßen hier einen Beleg dafür, daß dieser Sohn eines als Kontrapunktiker nichtunbekannten Vaters keinen korrekten zweistimmigen Satz zu schreiben ver-mochte. Dagegen aber verwahrt sich Carl Philipp Emanuel selbst ganz ent-schieden:

Einige lassen sich beym Solo mit der Bratsche oder gar mit der Violine ohne Clavier be-gleiten. Wenn dieses aus Noth, wegen Mangel an guten Clavieristen, geschiehet, so mußman sie entschuldigen; sonst aber gehen bey dieser Art von Ausführung viele Ungleichhei-ten vor. Aus dem Solo wird ein Duett, wenn der Baß gut gearbeitet ist; ist er schlecht, wienüchtern klingt er ohne Harmonie! Ein gewisser Meister (Corelli, Anm. d. A.) in Italienhatte dahero nicht Ursache, diese Art der Begleitung zu erfinden. Was können nicht fürFehler entstehen, wenn die Stimmen einander übersteigen! oder will man etwa, dieses zuverhüten, den Gesang verstümmeln? Beyde Stimmen halten sich näher bey einander auf,als der Componist wolte. Und die vollstimmigen Griffe, welche in der Hauptstimme zu-weilen vorkommen, wie jung klingen sie, wenn sie nicht ein tiefer Baß unterstützt? AlleSchönheiten, die durch die Harmonie herausgebracht werden, gehen verlohren; ein großerVerlust bey affectuösen Stücken54.

Mutatis mutandis wäre hier zu argumentieren: Die beiden Stimmen liegen zueng beieinander, um noch durch eine Harmonie unterstützt zu werden. Undwie „alt“ klingt ihr „Gegrummel“, wenn nicht ein hoher Ton hörbar wird! Daßes auch bei Arrangements von Violinsonaten für die Viola da gamba keines-wegs üblich war, über die Umkehrung der Verhältnisse von Baß und Soloin-strument hinwegzusehen, vermerkte auch Miladorovitch:

In the untransposed sonatas in (Paris, Bibl. Nat.) Vm7 6308, the bass part is copied from theoriginal version, except that the bass sometimes descends an octave to exploit the lower tes-situra of the solo gamba part... However, the bass never descends lower than low C55.

53 Versuch, Teil 2, S. 3, § 9.54 Versuch, Teil 2, S. 2/3, § 8.55 H. Miladorovitch, Eighteenth – Century Manuscript Transcriptions for Viols of Music

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In den untransponierten Sonaten in (Paris, Bibl. Nat.) Vm7 6308 ist die Baßstimme von derOriginalversion kopiert, außer daß der Baß zuweilen um eine Oktave nach unten versetztist, um die tiefere Lage des solistischen Gambenparts auszunutzen... Der Baß reicht jedochniemals unter das C.

Die Frage nach dem Violone

Satztechnisch kann es sich bei den beiden vorliegenden Sonaten nur um Kom-positionen für ein Diskantinstrument handeln. In beiden Fällen kommt jedocheine Violine wegen der Überschreitung der unteren Grenze (f- bzw. cis/d)nicht in Betracht. Eine Viola scheidet ebenfalls aus, nicht so sehr wegen ver-hältnismäßig großen Umfanges in der Höhe (d''' resp. e'''), sondern vielmehr,weil die Akkordgriffe im zweiten Satz der Sonate in D-Dur auf diesem Instru-ment nicht spielbar sind. Dasselbe gilt natürlich auch für eine Bratsche mitzusätzlicher e'-Saite, die gelegentlich als „Viola pomposa“ – wie weit zuRecht oder nicht sei hier nicht diskutiert – bezeichnet wird.

Man könnte einwenden, daß dennoch eine Baßgambe gemeint sei, wobei,um die satztechnischen Probleme zu umgehen, ein Violone die Baßstimme inder Unteroktave mitzuspielen hätte.

Die Frage nach der Funktion und Wirkungsweise des Violones ist von Al-fred Planyavsky56 eingehend behandelt worden. Zum einen ist der Violonenicht grundsätzlich durch das 16 Fuß-Register charakterisiert. Sehr viel häufi-ger finden sich in den einschlägigen Quellen für die Kammermusik die 12Fuß-Violones in Kontra-G (womit der tiefste Ton lediglich einen Ganzton un-ter dem einer siebensaitigen Viola da gamba stand), und es gibt genügend An-gaben darüber, daß sich die Violonespieler ihre Stimmen selbst einrichtetenund darüber entschieden, wann sie in der Unteroktave mitspielten und wann‚ut iacet‘. Der Gamben-16 Fuß stand eine Oktave unter der sechssaitigen Baß-gambe und reichte damit ins Kontra-D. Die erste Sonate aber verlangt wieder-holt das C (Kontra-C). Im Fall einer vollständigen Tiefoktavierung – und beider einfachen Struktur der Bässe in den vorliegenden Sonaten wäre diese Lö-sung die wahrscheinlichste – fehlte dennoch ein Ton.

Es ist aber keinerlei Nachweis darüber zu führen, daß in Norddeutschland(das gilt auch für Berlin) in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Violone zur

by Corelli and Marais in the Bibliothèque Nationale, Paris: Sonatas and Pièces de Viole,a. a. O., S. 50.

56 A. Planyavsky: Geschichte des Kontrabasses, 2. Auflage, Tutzing 1984. Der gesam-te Absatz über den Kontrabaß in Berlin (S. 247-250) läßt die strikte Reduktion auf das Or-chester erkennen. Über die Verwendung von Kontrabässen in der brandenburgisch-preußi-schen Kammermusik fehlt offenbar jeder Beleg.

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Begleitung des Solospiels – und das noch auf der Viola da gamba, des„Cammer=Musik-Instrumentes“ per se – herangezogen wurde. (Für Süd-deutschland, Österreich und Italien gelten andere Regeln, die von Planyavskyausführlich beschrieben werden. Je nach Größe erschien das Instrument ent-weder im Orchester, in der Ensemblemusik und zur Rezitativbegleitung in derKirche oder in der Oper.) So wird der „Contraviolon“ bei Quantz lediglichzum Gebrauch im Orchester erwähnt57. Planyavsky verweist statt dessen aufeine interessante Gegenentwicklung: In Preußen setzte man allem Anscheinnach eher auf das Violoncello als den Violone, einerlei welcher Größe. DasSprachrohr preußischer Musikauffassung ist hier Quantz, der meint:

Mit dem großen Violon geht es, wie mit der Bratsche. Er wird ebenfalls von Vielen, nichtin dem Werthe, und von der Nothwendigkeit gehalten, welche er doch, wenn anders gutgespielet wird, in einer großen Musik verdienet. ... Denn er ist nebst dem Violoncellistengleichsam das Gleichgewicht, um das Zeitmaaß in einer großen Musik... zu erhalten58.

Daraus folgert Planyavsky: „Je wirkungsvoller das Violoncello zur Geltungkam, desto tiefer sollte der Kontrabaß in den Orchesterorkus verbannt wer-den“59. Das Violoncello als Continuoinstrument für eine Diskantgambe er-scheint auf den ersten Blick zumindest ungewöhnlich. Für die Baßgambe je-doch ist dies nicht gar so abartig gewesen, wie man heute annehmen könnte.Miladorovitch hatte darauf hingewiesen, daß in den von ihr untersuchten Ar-rangements von Sonaten von Arcangelo Corelli für die Baßgambe ein Violon-cello als die wahrscheinlichste Lösung anzunehmen sei60, da nicht nur derTon C nirgends unterschritten würde, sondern auch zum Beispiel auf der sie-bensaitigen französischen Gambe, die sich um diese Zeit überall, auch in Itali-en, durchzusetzen begann61, naheliegende nachklappende Oktaven (bis insKontra-A) vermieden seien. Ebenso gibt es Belege für die Besetzung von Dis-kantgambe oder Pardessus de Viole und Violoncello, und zwar wiederum inder französischen Literatur für den Pardessus. Dazu gehören die „Sonatespour le pardessus de viole avec la Basse Continüe“ (Paris, ca. 1746) von JeanBarrière sowie die „Sonates a violon seul et basse... Il y’a plusieurs Sonates;dans cet Oeuvre, qui peuvent se Jouer sur la Flute Traversiere, et sur le par-

57 J. J. Quantz, Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen, Berlin 1752,XVII. Hauptstück, Absatz V, S. 218 ff.

58 Ebenda, S. 218.59 Ebenda, S. 248.60 Ebenda, S. 50.61 Beispiele der „Viola da gamba alla francese“ oder „a sette corde“, deren Pläne sich

im Nachlaß Antonio Stradivaris erhalten haben. Siehe dazu S. Sacconi, Die GeheimnisseStradivaris (Dt. Übers. O. Adelmann), Frankfurt/Main 1976.

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dessus de Viole, et la dixieme est a Violoncello obligez“ (Paris 1722) (Sona-ten für eine Solovioline und Baß... Es gibt mehrere Sonaten in diesem Werk,die man entweder auf der Flûte traversière oder auf dem Pardessus de Violespielen kann, und die zehnte Sonate ist für das obligate Violoncello) des Joa-chim Michau Chamborn. Barrière gehörte zu den ersten französischen Virtuo-sen für das Violoncello, und die Baßstimme seines Druckes reicht fast in jederder sechs Sonaten bis ins C. Dies, obwohl es zahlreiche Möglichkeiten gäbe,den Tonumfang einer siebensaitigen Gambe bis ins Kontra-A auszunutzen,falls es denn beabsichtigt sein sollte. Die Solostimme ist virtuos, und perfektdem sechssaitigen Pardessus de viole auf den Leib geschneidert. (Das fünfsai-tige Instrument kommt nicht in Frage, da Akkorde vorkommen, die auf ihmnicht spielbar sind, zum Beispiel der Schlußakkord der 5. Sonate.) In dersechsten Sonate ist der Baß außerordentlich virtuos und paßt grifftechnischausgezeichnet auf ein fünfsaitiges Violoncello, wie es Barrière möglicherwei-se verwendet hat. Diese Beispiele zeigen, daß auch die Kombination von Des-sus/Pardessus de viole und Violoncello nicht so außergewöhnlich erscheint,wie gemeinhin angenommen wird.

Zum Schluß sei noch ein Beispiel angeführt für die Übereinstimmung vonNotationsweise und Satztechnik der beiden vorliegenden Sonaten mit der So-nate in g-Moll für Viola da gamba (es existieren auch Bearbeitungen dieserSonate für Viola, in denen die tiefer als c liegenden Töne entsprechend ver-setzt worden sind) und obligates Cembalo (Wq 88). Dieses Stück ist in denfür die Gambe traditionellen Alt- und Baßschlüsseln notiert und zeigt die Auf-teilung der beiden diskantierenden Stimmen auf das Cembalo und die Violada gamba ähnlich den drei Sonaten für Cembalo und Viola da gamba JohannSebastian Bachs. Der Umfang reicht von F-es'', und der Komponist vermeidetes, die Gambenstimme unter den Baß zu führen, außer an Stellen, wo sichzwischen Gambe und Cembalo eine Oktave ergibt. Dieses geschieht zweimalim ersten Satz („Allegro moderato“) (Abbildung 9).

Bereits mit dem nächsten Ton des Cembalos hingegen wird der tiefe Tonder Gambe abgebrochen, um keine dissonanten oder ‚Umkehrwirkungen‘ zuerzeugen. Die Gambe ist hier ein Medium, das mit der Stimme der rechtenHand des Cembalos im Wechsel diskantiert. Somit besteht ein grundlegenderUnterschied zwischen dieser Sonate und den beiden Solos für die Diskant-gambe.

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Zwei Sonaten für die Diskantgambe von Carl Philipp Emanuel Bach

Wer hat das gespielt?

Für die Diskantgambe, für die, soweit es bisher bekannt und akzeptiert war,allenfalls die Franzosen echte Virtuosität vorgesehen haben, bedeutet derSchwierigkeitsgrad dieser beiden Sonaten den absoluten Höhepunkt in der Li-teratur. Sie sind um so rätselhafter, als sie in den bekannten musikalischenKontext Carl Philipp Emanuel Bachs in Berlin nicht einzubinden sind. DieFrage „Wer hat das gespielt?“ kann bisher nur spekulativ beantwortet werden,und es wäre mir ein großes Vergnügen, wenn sich Personen fänden, die meineSpekulation festigen oder auch widerlegen könnten. Schmids Vermutung,Ludwig Christian Hesse oder Karl Friedrich Abel kämen als Dedikanten inFrage, ist selbstverständlich möglich. Meine Vermutung zielt jedoch in eineandere Richtung.

Diskantgamben sind bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts gebautworden, und demnach muß ein Bedarf bestanden haben. Auch deutet ihre Er-wähnung im Lexikon des Johann Gottfried Walther darauf hin, daß sie zumin-dest nicht allen völlig unbekannt waren. Das vollständige Fehlen von weiterenliterarischen Quellen jedoch zeigt, daß diese Instrumente nicht in der Öffent-lichkeit sichtbar wurden, ja, daß sie nicht einmal dort im Bewußtsein vorhan-den waren, wo man den mit ihnen befaßten Personenkreis im Auge hatte.

Abbildung 9: Sonata in g-Moll, Takt 28/29 und 97

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Annette Otterstedt

Eine Annonce aus den Wöchentlichen Berlinischen Frag- und Anzeigungs-nachrichten vom 16. Januar 174762, also justament zu der Zeit, aus der diebeiden Sonaten stammen, verzeichnet unter Item 7: „(um einen billigen Preißzu bekommen, als) Eine kleine Diskant Viol di Gamb vor Frauenzimmer.“

Die Diskantgambe als Frauenzimmerinstrument in Frankreich war so all-gemein bekannt und angesehen, daß sie bei Komponisten und Publikum einenfesten Platz besaß. Virtuosinnen traten mit ihr öffentlich auf. Daß sie aberauch im deutschen Sprachraum bekannt und beliebt war, beweist ihr Bau. DerWortlaut der Anzeige kennzeichnet auch ihre Verwendung. Wahrhaft erstaun-lich aber ist, daß von ihnen so wenig Notiz genommen wurde, daß sie selbstin Frauenzimmer-Handbüchern nicht auftauchen, in denen sich Autoren damitbeschäftigen, was sich für ein Frauenzimmer an Musikinstrumenten schickt –und die Einschränkungen waren ganz bedeutend63 – und was nicht. Unange-bracht für eine Frau waren von jeher – und nicht erst seit dem Entstehen derbürgerlichen Gesellschaft, wie in verschiedenen Veröffentlichungen, die sichin jüngerer Zeit mit dem Thema befassen, angenommen wird – große Instru-mente, Blasinstrumente oder auch Instrumente, die „anstößig“ wirken konn-ten, was immer man darunter verstehen mochte. So war es weder in Italien im16. Jahrhundert noch in Frankreich im 18. Jahrhundert anstößig, daß eineFrau die Baßgambe spielte, wohingegen diese Instrumentenwahl in Englandund den Niederlanden im 17. Jahrhundert offenbar nicht gern gesehen wurde.Niederländische Gemälde wie die Darstellung von Gabriel Metsu (Abb. 10)zeigen, wie Damen die Gambe auf ihre Füße stützen, ohne sie zwischen denKnien zu halten. Sogar noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde den Da-men eine besondere Haltung des Violoncellos nahegelegt, die angeblich be-quem und gleichzeitig ‚anständig‘ aussah. Der Kuriosität halber sei eine der-artige Passage hier zitiert:

The ’cello must be slightly turned towards the right, or bowing arm, so that the A stringmay be reached without unduly elevating the elbow – an attitude ungraceful in a man, un-pardonable in a lady.… The female player must not attempt to grip the sides of the ’cello as does her brother ofthe bow, but she must so depress the right knee that it serves to act as a support, pressingas it does against the back of the ’cello at its lower part … The ’cellist will have full com-

62 D. Krickeberg, Einige Nachrichten über Musikinstrumente und Instrumentenbaueraus den Berliner Intelligenzblättern der Jahre 1729 bis 1786, in: Festschrift Arno Forchert,S. 123-126. Ich danke Dieter Krickeberg für seinen Hinweis.

63 Zu diesem Thema äußert sich Freia Hoffmann, Instrument und Körper – Die musi-zierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt/Main und Leipzig 1991. Allerdings be-ginnt ihre Untersuchung erst mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Eine Gesamtkulturge-schichte weiblicher Musikausübung mit der Berücksichtigung aller einschlägigen Quellensteht jedoch noch aus.

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Zwei Sonaten für die Diskantgambe von Carl Philipp Emanuel Bach

Abbildung 10: Gabriel Metsu: Gambe spielende Frau

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Annette Otterstedt

64 A. Broadley, A Complete Course of Instruction in Violoncello Playing, in: The Stradvol. XIII No. 156, April 1903, S. 367.

mand of her instrument and will not shock the susceptibilities of her many female admirersby any ungainly attitude64.Das Cello muß leicht zum rechten oder dem Bogenarm gewendet sein, so daß man die a-Saite erreichen kann, ohne den Ellenbogen ungeziemend zu erheben – eine Haltung, die füreinen Mann unschön, für eine Dame jedoch unverzeihlich wäre.… Die Spielerin soll sich nicht darum bemühen, die Zargen des Cellos zu umspannen wieihr „Bruder-im-Bogen“, sondern sie soll das rechte Knie herunterdrücken, damit es als eineStütze dient, und in dieser Haltung gegen die Rückseite des Cellos an dessen unterer Partiedrücken … Die Cellistin wird auf diese Weise die volle Beherrschung ihres Instrumentsbesitzen und nicht die Empfindlichkeit ihrer vielen weiblichen Verehrer durch eine unsittli-che Haltung verletzen.)

Die Photographie der Cellistin Elsa Ruegger aus dem Jahr 1900 zeigt, daß dieProblematik einer ‚moralisch einwandfreien Haltung‘ keineswegs an Aktuali-tät eingebußt hatte. Die Musikerin sitzt zwar ‚anständig‘, aber deutlich er-kennbar ist die Verspanntheit ihrer Haltung, die Wirbelsäulenerkrankungengeradezu vorprogrammiert (Abbildung 11).

Es scheint, daß man den kleinen Pardessus de viole weniger mißtrauischbeäugte, da man ihn – wie ein Baby – in den Falten eines weiten Rockes wie-gen konnte. Darstellungen Diskantgambe spielender Frauen wirken jedenfallsstets außerordentlich graziös und verraten damit wohl nicht zuletzt die morali-sche Billigung von Maler und Betrachter. Einschränkungen galten aber auchvor allem für öffentliche Auftritte. Das bezieht sich nicht nur auf den ‚An-stand‘, sondern auch auf die Professionalität, die von einer sich auf einem Po-dium produzierenden virtuosen Musikerin ausging und die man als anstößigempfand. Die Forschung zu diesem interessanten Thema befindet sich erst amAnfang, und längst sind noch nicht alle Quellen erschlossen.

Die „Diskant Viol di Gamb vor Frauenzimmer“ scheint so privat gewesenzu sein, daß sie der öffentlichen Aufmerksamkeit vollkommen entging. AllemAnschein nach aber entging sie nicht Carl Philipp Emanuel Bach, der für die-ses Instrument zwei Sonaten schrieb – Frauenzimmermusik auf höchstem Ni-veau. Es lohnte sich, dieser Frage weiter nachzugehen.

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Zwei Sonaten für die Diskantgambe von Carl Philipp Emanuel Bach

Abbildung 11: Die Cellistin Elsa Ruegger (Photographie aus dem Jahr 1900),aus: The Strad, vol. II, Supplement to No. 128