Kanton St.Gallen
Gesundheitsdepartement
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Care Migration: Pflege der Zukunft?
Anke Lehmann
Leiterin Fachbereich Pflege und Entwicklung
St.Gallen, 12. Mai 2017
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Inhalt
1. Definition Care Migration
2. Ausgangslage
3. Charakteristiken
4. Befragung Spitex-Organisationen Kanton St.Gallen
5. Befragung Care- Migrantinnen Kanton St.Gallen
6. Empfehlungen und Handlungsoptionen
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Definition Care- Migration
Der Begriff Care-Migration umschreibt ein Arrangement,
bei dem Migrantinnen, vornehmlich aus Mittel- und Osteuropa, dauerhaft oder in
der spezifischen Form der «Pendelmigration» in Privathaushalten von pflege- und
hilfebedürftigen Personen arbeiten.
Mehrheitlich handelt es sich dabei um Live-in-Verhältnisse bei dem die
ausländische Haushaltshilfe oder Betreuerin im selben Haushalt mit der
pflegebedürftigen Person lebt.
Die Zuständigkeit der ausländische Haushaltshilfe oder Betreuerin besteht
während 24 Stunden am Tag.
Pendelmigration bedeutet, dass die Migrantinnen nach einem bestimmten
Zeitintervall (häufig über drei Monate) wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren,
um nach einer Pause (unterschiedliche Zeitabschnitte) wieder an ihre
Arbeitsstelle zurückkehren.
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Ausgangslage (1)
• Demographische Entwicklung
• Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen
und den existierenden Angeboten/Kosten für die Betreuung in
bestehenden öffentlichen und privaten Strukturen.
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Ausgangslage (2)
• Erweiterung der vollständigen Personenfreizügigkeit auf die
EU-8-Staaten per 1. Mai 2011
• während bis zu 90 Arbeitstagen im Kalenderjahr als grenzüberschreitende
Dienstleistungserbringer
• Einkommensunterschiede zwischen West-und Osteuropa
ermöglichen die Beschäftigung einer ausländischen
Haushaltshilfe oder Betreuerin zu finanziell realisierbaren
Bedingungen
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Ausgangslage St.Gallen
• Unbefriedigende rechtliche Situation (Im Kanton St.Gallen wird für die Abklärung und Behandlung von Krankheiten,
von Verletzungen und von anderen körperlichen oder seelischen
Gesundheitsstörungen eine Bewilligung benötigt (vgl. Art. 43 des
Gesundheitsgesetzes, sGS 311.1, abgekürzt GesG). Nach Art. 46 GesG wird die
Bewilligung für die selbständige Ausübung eines Berufes der Gesundheitspflege
erteilt, wenn die Gesuchstellerin bzw. der Gesuchsteller einerseits die fachlichen
Voraussetzungen zur Ausübung ihres bzw. seines Berufs erfüllt und andererseits
vertrauenswürdig ist sowie insbesondere physisch und psychisch Gewähr für
eine einwandfreie Berufsausübung bietet.)
• Zuständigkeiten?!?
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Ausgangslage: Problematische Arbeitssituation
der Care Migrantinnen
• Niedriger Lohn (CHF 1'500.- bis CHF 3'000 plus Logis und Essen, in Einzelfällen
weniger als CHF1'000.- pro Monat)
• Fehlende Weiterbildungsmöglichkeiten
• Geringe Arbeitsplatzsicherheit (temporärer Arbeitsplatz)
• Kündigungsfristen (i.d.R. zwei bis sieben Tage)
• Ungeregelte Arbeitszeiten mit 24h-Präsenzzeit
• Nachtarbeit mit Mangel an Erholungszeit
• Zerstückelte Arbeitszeiten (Arbeitsunterbrüche infolge der 24h-Präsenz)
• Wenig Privatsphäre
• Gefahr der sozialen Isolation (Beschränkung der sozialen Aktivitäten)
• Psychische Belastungen (fehlendes Fachwissen über Wissen über vorhandene
Betreuungs- und Beratungsangebote, emotionale Situationen am Lebensende, etc.)
• Physische Belastungen (Belastende Haltung, grosser Krafteinsatz, repetitive
Bewegungen über eine längere Zeitdauer, Fehlen von Ressourcen zur
Unterstützung)
• Wer betreut in den Ländern die pflegebedürftige Bevölkerung? vgl. SECO, 2015
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Charakteristiken der ausländischen Haushaltshilfen
und Betreuerinnen
• Höheres Ausbildungsniveau, als für die ausgeführten Arbeiten erforderlich wäre
• Ausländische Haushaltshilfen und Betreuerinnen haben selten eine
hauswirtschaftliche Ausbildung oder im Bereich der Pflege und Betreuung von
älteren, pflegebedürftigen Menschen absolviert.
• Arbeitsgrund: höheres Lohnniveaus oder weil sie in ihrem Herkunftsland keine
passende Anstellung finden.
• Häufig sind sie über 45 Jahre alt und ihre Kinder sind nicht mehr
betreuungspflichtige Kleinkinder.
• Das in der Schweiz erarbeitete Zusatzeinkommen dient oft der Verbesserung der
finanziellen Verhältnisse der Familie im Herkunftsland oder zur
Studienfinanzierung der Kinder.
• Ausländische Haushaltshilfen und Betreuerinnen verfügen in der Schweiz
vielfach über ein Beziehungsnetz von Frauen, die aus demselben Ort oder
derselben Familie stammen.
Schilliger et al. (2013)
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Befragung Spitex-Organisationen Kanton St.Gallen
• Erhebungszeitraum: August bis Oktober 2015
• Stichprobe: 19 Spitex-Organisationen (ca.30%)
• Grösse: zwischen 45 und 430 Klientinnen und Klienten
• 13 Organisationen (68 %) hatten Kontakt zu ausländischen Betreuerinnen
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Aufgaben und Arbeiten der ausländischen
Betreuerinnen
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Zeitaufwand der Spitex für den Kontakt zu
ausländischen Betreuerinnen
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21.1%
36.8%
26.3%
15.8%
kein zusätzlicher Zeitaufwand von Seitender Spitex
in unregelmässigen Abständen wenigeMinuten (max. 15 Minuten pro Monat)
in regelmässigen Abständen wenigeMinuten (max. 1h pro Monat)
in gehäuften Abständen intensiverKontakt (max. 1h pro Woche)
bei jedem Besuch zusätzlicherZeitaufwand
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Kontakt mit ausländischen Betreuerinnen
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42.1%
47.4%
5.3% 5.3%
gut / angenehm, keineSchwierigkeiten
mehrheitlich gut, in wenigenSituationen problematisch
mehrheitlich schwierig, in vielenSituationen problematisch
problematisch, nahezu in allen Fällenist der Kontakt erschwert
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Einschätzung der (emotionalen) Belastung der
ausländischen Haushaltshilfen und Betreuerinnen
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5.3%
42.1%
36.8%
15.8%
für die ausländischenBetreuerinnen ist / war dieSituation nicht belastet
in einigen Situationen ist / wardie ausländische Betreuerinbelastet
in den meisten erlebtenSituationen ist / war dieausländische Betreuerin belastet
in allen erlebten Situationen ist /war die ausländische Betreuerinbelastet
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Befragung Care- Migrantinnen Kanton St.Gallen
Halbstrukturierte Leitfadeninterviews
Inhaltsanalyse nach Mayring
Vorgehensweisen und Methode von der
Ethikkommission SG bewilligt
Insgesamt wurden sechs Interviews durchgeführt.
Dabei ergaben sich sechs Überkategorien Care Migration,
Care Arbeit und Rahmenbedingungen,
Care Arbeit und Tätigkeiten,
Care Arbeit und Herausforderungen,
Care Arbeit und Gesundheit und
Care Arbeit und Kommunikation
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Stichprobe
6 Frauen (44 bis 65 Jahre)
5 x Slowakei; 1 x Polen
Niveau der Deutschkenntnisse unterschiedlich. 50% sprach gebrochen Deutsch
und benötigte Unterstützung bei den Interviews. Die andere Hälfte sprach
fliessend Deutsch.
2 x Personen aus dem Gesundheitswesen (diplomierte Krankenpflegerin;
Hilfskraft psychiatrische Klinik).
Quereinsteigerinnen: Schneiderin, Grundschullehrerin, Köchin und Bankerin in
einer Nationalbank.
Die Frauen haben zwischen 12 und 22 Jahren in ihren Berufen gearbeitet, bis sie
aus gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Gründen die Einrichtungen verlassen
mussten.
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Ergebnisse: Umgang mit Demenz
Interview 5: Er ist dement, depressiv und sehr aggressiv. Ich habe blaue
Flecken. Ganz schwierig. ((Name der Tochter der zu betreuenden Person))
will nicht, dass er Medikamente nimmt. Das ist ganz schwer. Ich muss das
tolerieren.
Interview 1: Bei der Person mit schweren Demenz stand ich am Morgen auf
und ging in diese Wohnung, öffnete die Türe und die ganze Wohnung stank
sehr stark und der Stuhlgang war an den Wänden usw. oder am Boden oder
im Bett. Die Leute wissen natürlich nicht was sie machen, ich verstehe das,
aber ich habe Probleme damit. Ja das ist sehr schwierig wirklich.
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Ergebnisse: Schwierige Situationen
Interview 5: Bei der dritten Familie habe ich ganz schlechte Erfahrungen gemacht. Ich
habe für eine nette Frau gesorgt, aber der Mann will jeden Abend Sex von mir. Ich habe
das aber nicht gemacht und die Tür geschlossen. Er war in psychiatrischer Behandlung
und Alkoholiker. Er war ganz böse. Ich war da zwei Wochen und dann habe ich gesagt –
Schluss! Ich bin nach Hause gekommen und musste drei Tage lang nur Erbrechen von
diesem psychischen Druck. (…) Dieser Mann hat gesagt, du musst mit mir schlafen. (…)
Er sagte jede Pflegerin muss mit mir schlafen. Das macht mir Angst. Ich habe überlegt
was passiert. Weil mein Deutsch nicht so gut ist, um die Polizei anzurufen. Ich hatte zu
viel Angst. (…) oder ich habe gekocht oder aufgeräumt. Er nimmt alle Wäsche weg und
ist nackt. Vor mir. Er dreht sich um, um sich mir zu zeigen ((Care-Migrantin zeigte vor,
wie der Mann vor ihr masturbierte)). Ich habe nicht geschaut, er zeigte mir immer weiter
seinen nackten Körper. (…) In einer anderen Familie (…) habe ich mich um drei
Patienten gekümmert. Ich musste immer in Ruhe arbeiten, immer leise, ganz leise. Das
gab mir viel Stress und Druck. Und ich war hungrig. Es war eine Katastrophe. Ich habe
geweint. (…) Die Frau war ganz böse. Sie hat immer gebrüllt. Ich lief ganz leise und sie
brüllt. (…) immer Stress, immer Impulse (…) Sie hat an meinen Haaren gezogen und
gerissen. (…) Ja viele Pflegerinnen haben Angst und Probleme. Ich weiss das. Eine
Freundin ist hungrig, die zweite hat es schwierig.
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Ergebnisse: Vorlieben
Interview 1: Ich habe am liebsten Männer zu betreuen. Auch diese Agentur hat mich
gefragt was ich will, Frau oder Mann oder Ehepaar, und ich habe gesagt, falls es
möglich ist, möchte ich einen Mann. Zum Beispiel ist die Hygiene anders, und
Männer – nicht wie Frauen. Wir sind ein bisschen anders wir Frauen in einem
Haushalt. Frauen sagen mehr „Nein, das machst du so, nein das musst du so
machen.“ Und Männer, ihnen ist das egal. Koche ich, essen sie. Putze ich, sind sie
zufrieden. Nicht putzen, ist auch okay ((lacht)). Männer sind da ein bisschen anders.
Frauen können immer sehen und das habe ich nicht gerne.
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Empfehlungen und Handlungsoptionen
Regelung der rechtlichen Rahmenbedingungen
Informations- und Sensibilisierungsmassnahmen
Aufklärungspflicht der Arbeitgeber
Information der ausländischen Haushaltshilfen und Betreuerinnen
Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Institutionen
Sprachtraining
Niederschwellige Supervisionsangebote oder Bewusstseinsarbeit zu
bestimmten Krankheitsbildern (z.B. Demenz, Sterbebegleitung,
Abgrenzung, Psychohygiene)
Soziale Treffpunkte und soziale Angebote für Care-Migrantinnen
Notfallhotline für Care-Migrantinnen
Rechts- und Arbeitsberatung für Care-Migrantinnen
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