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Nicht erst seit PISA ist das Lernen im Unter-richt ein zentrales Anliegen für die Entwick-lung von Unterricht. Johann Amos Comeniushat bereits in seiner „Großen Didaktik“ (1632)gefordert: „ERSTES UND LETZTES ZIELUNSERER DIDAKTIK SOLL ES SEIN, dieUnterrichtsweise aufzuspüren und zu erkun-den, bei welcher die Lehrer weniger zu lehrenbrauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; inden Schulen weniger Lärm, Überdruss undunnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit,Vergnügen und wahrhafter Fortschritt.“(Comenius 1985 [1632], 9) Über „wahrhaften“Fortschritt lässt sich anhand der Ergebnissegroßflächiger Tests wohl streiten. Sie habenaber eine heftige Debatte erzeugt, die denUnterricht wieder stärker in den Fokus rückt.

Dabei gibt es im weitesten Sinne immerwieder um die Frage der Qualität von Unter-richt, im Engeren darum, welche Dimensio-nen für diese von besonderer Relevanz sind.Interessanterweise weisen die meisten Auto-

Michael Schratz & Bernhard Weiser

Dimensionen für dieEntwicklung der Qualität

von Unterricht

Michael Schratz, Prof. Dr.,Leiter des Instituts fürLehrerInnenbildung undSchulforschung an derLeopold-Franzens-Univer-sität Innsbruck

Bernhard Weiser, Dr.,klinischer Psychologe undPsychotherapeut, arbeitetam Institut für LehrerIn-nenbildung und Schulfor-schung der UniversitätInnsbruck (ILS) und ist alsLehrtrainer am Ausbil-dungsinstitut für Gruppeund Bildung (AGB) tätig.

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rinnen und Autoren zwischen 5 und 7 solcherDimensionen aus. So etwa fassen JochenGerstenmaier und Heinz Mandl (1995, 874-875) neuere Ansätze der (amerikanischen)Forschungsdiskussion in fünf Grundannah-men zusammen. Eine andere Klassifikationstammt von Franz Weinert (2000), die für denBildungsprozess sechs Bereiche umfasst,nämlich:– Erwerb intelligenten Wissens– Erwerb anwendungsfähigen Wissens– Erwerb variabel nutzbarer Schlüsselquali-

fikationen– Erwerb des Lernen Lernens (Lernkompe-

tenz)– Erwerb sozialer Kompetenzen– Erwerb von Wertorientierungen

Weitere Modelle und Konzepte zur Qualitätvon Unterricht finden sich – übrigens hervor-ragend zusammengefasst und kommentiert –in Helmke 2002. Daneben gibt es Vorschlägeaus der Reformpädagogik, die sich von deninstitutionalisierten Formen des Lernensabheben, indem sie besondere Aspekte alszentrales Element in den Vordergrund stellen(vgl. etwa Maria Montessoris Credo für Ler-nen, das sich mit „Hilf mir, es selbst zu tun!“auf den Punkt bringen lässt). Oder Ansätze,welche die Einbettung in den Erfahrungskon-text des Handelns stärker situieren (cognitionin practice bzw. situated learning), das sichetwa mit Jean Lave (1988, 14) durch „Every-day activity is ... a more powerful source ofsocialization than intentional pedagogy“zusammenfassen lässt.

Wenn es um die praktische Entwicklungvon Schul- und Unterrichtsqualität geht, ist eserforderlich, den Zusammenhang zwischenden einzelnen Dimensionen sichtbar zumachen. Durch die Komplexheit von Lernenim Zusammenspiel von Kopf, Herz und Hand(Pestalozzi) oder Denken, Fühlen und Han-deln (Roth 2001) stellt sich die schwierige Fra-

ge, wie ein Entwicklungsprozess die einzelnenDimensionen in einen sinnstiftendenZusammenhang bringen kann. In unserereigenen Arbeit zur Entwicklung von Unter-richtsqualität haben wir uns einerseits an derbewährten Taxonomie von Bloom u.a. (1956)ausgerichtet, diese aber mit den person- undgruppenzentrierten Modellen u.a. von RuthCohn (1975) und Carl Rogers (1974) inZusammenhang gesetzt, um dem HentigschenAnspruch „Die Menschen stärken, die Sachenklären“ (Hentig 1985) gerecht zu werden, derheute noch nichts an Bedeutung verloren hat.Im Gegenteil: Angesichts der Auflösung derGrenzen zwischen den Lebensaltern (vgl.Zeltner 1998), der Saturiertheit des Selbst mitden damit verbundenen Identitätsdilemmasin der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ent-wicklung (vgl. Gergen 1991) sowie der Infla-tion am „Wertehimmel“ (Jugend 2000, S. 93-156) wird es immer schwieriger, junge Men-schen zu stärken, um sie auf ein unbekanntesMorgen vorzubereiten. Was das Klären derSachen anbelangt, wird es ebenso schwierigerdie Frage zu beantworten, was heute noch(Allgemein-)Bildung ist, wenn Bildungsin-halte und -methoden von der Grundschulebis zur Hochschule nicht mehr dem gesell-schaftlichen Bildungsideal entsprechen. Werdefiniert heute (im Vergleich zu früher) Bil-dungsziele in den Institutionen (Kindergar-ten, Schule, Universität, Erwachsenen- undWeiterbildungseinrichtungen)? Gibt (gab) eseinen gesellschaftlichen Konsens darüber, waswissenswert war und ist?

Abbildung 1 zeigt den Zusammenhang zwi-schen den drei Aspekten der Taxonomie vonBloom u.a. (Wissen, Verstehen, Anwendung)und den individual- und sozialhumanenBezügen von Cohn und Rogers (Person undGruppe) in einem Modell der fünf Dimensio-nen, die – angedeutet durch das Spinnennetz– in einem Wechselwirkungsbezug stehen.

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Thema: Effizientes Lernen

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Um die Bedeutung des Lernens im Hinblickauf die einzelnen Qualitätsdimensionensichtbar zu machen und ihren spezifischenStellenwert in der Entwicklung von Unter-richt zu verdeutlichen, erläutern wir sie imFolgenden. Dabei geht es uns bewusst darum,die jeweilige Dimension einzeln bloß zu stel-len, um ihren Stellenwert für den Unterrichtzu betonen.

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Abbildung 1: Die fünf Qualitätsdimensionen

Vier dieser Dimensionen finden sich auch in der von Jacques Delors geleiteten UNESCO-Kom-mission (Delors 1997) „Bildung für das 21. Jahrhundert“ unter dem Titel „Lernfähigkeit: Unserverborgener Reichtum“:

learning to know lernen Wissen zu erwerbenlearning to do lernen zu handelnlearning to live together lernen zusammen zu lebenlearning to be lernen für das Leben

als Fünftes ergänzen wirlearning to understand lernen zu verstehen.

Für die Entwicklung der Qualität von Unter-richt sind jene Formen des Lernens vonBedeutung, die den fünf Dimensionengerecht werden. Diese sind in Abbildung 2aufgezeigt.

Abbildung 2: Abgeleitete Formen des Lernens

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1. Reproduzierendes, faktenorien-tiertes Lernen

Die Vermittlung von Wissen an die nächsteGeneration ist die allgemein anerkannte zentra-le Funktion der Schule. Bei der Frage, welchesWissen zu vermitteln ist, scheiden sich aberbereits die Geister. Wie dieses Wissen nun denSchülerInnen beigebracht werden soll, istgestern wie heute eine zentrale Frage der Schul-pädagogik. Allen reformpädagogischen Bestre-bungen des letzten Jahrhunderts zum Trotz ver-bringen sie auch heute noch den überwiegen-den Teil der Unterrichtszeit als passive Wissens-empfänger. Reproduzierendes, faktenorientier-tes Lernen wird oft mit Frontalunterricht gleich-gesetzt.Wenn diese Gleichsetzung zumeist auchzutrifft, so kann gut gestalteter Frontalunter-richt doch grundsätzlich weit über reproduzie-rendes, faktenorientiertes Lernen hinausgehen.

1.1 Merkmale reproduzierenden Lernens:– Wissensgefälle

LehrerInnen als Wissensträger und -ver-mittler, die SchülerInnen als Wissensemp-fänger

– Einseitiger Kommunikationsfluss:Der Lehrer trägt vor, erklärt, stellt Fragen,die Schüler hören zu, schreiben mit, beant-worten Fragen

– Die Rolle der SchülerInnen ist vorwiegendrezeptiv-aufnehmend und eher passiv:abschreiben, abzeichnen, mitschreiben, ausdem Buch vorlesen, dem Lehrervortraginnerlich folgen, im Auftrag des Lehrerseine Frage beantworten, etwas nachspre-chen oder nachmachen …

– Wissen als „Abbild“Die Aufgabe des Lehrers ist es, Wissen zu-sammengefasst für die SchülerInnen soaufzubereiten, dass diese ein verdichtetes„Abbild“ des Wissens erhalten und aufneh-men können.

Für das eigenständige Lernen werden vomSchüler wiederum eigene „Abbilder“ (Mit-schrift) angefertigt, auf vorgefertigte Abbil-der zurückgegriffen (Lehrbuch) oder vomLehrer Abbilder dem Schüler übergeben(Arbeitsblätter, Skripten).Der Schüler versucht nun wesentliche Teiledes so abgebildeten Wissens in seinemGedächtnis zu speichern („pauken“) undso ein inneres Abbild davon zu schaffen.Bei der Prüfung wird der Grad der Überein-stimmung des vermittelten Wissensbildesdes Lehrers mit jenem inneren Wissensbilddes Schülers getestet. Je höher die Überein-stimmung, desto besser die Beurteilung.

– ReproduktionBeim abbildenden Lernen wird also vorge-fertigtes Wissen reproduziert. Neues Wis-sen, neue Erkenntnis fallen dabei kaum an.

1.2 Merkmale faktenorientierten Lernens:– „Gereinigtes“ Wissen

Faktenwissen ist von seinen Entstehungszu-sammenhängen „gereinigt“. Die SchülerIn-nen erhalten die Endergebnisse der For-schungsanstrengungen früherer Generatio-nen auf der Suche nach Wissen und Pro-blemlösungen. Sie „ersparen“ sich die zurErkenntnisfindung notwendigen frustrie-renden aber auch motivierenden Umwegeund Sackgassen. Damit wird zwar viel Zeitgespart, gleichzeitig gehen jedoch auch dieSpannungen und Motivationen verloren,die der Suche nach eigenständigen Lösun-gen von Problemstellungen innewohnen.

– Verdichtetes WissenSchulbücher waren früher – und sind esteilweise heute noch – gute, stark verdich-tete Zusammenfassungen der wichtigstenSchwerpunktgebiete einer wissenschaft-lichen Disziplin, nach Möglichkeit auf dasjeweilige Lernniveau „herunter“ transfe-riert bzw. didaktisiert.

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– Fragmentiertes WissenIm faktenorientierten Unterricht wird Wis-sen in einzelne Fragmente unterteilt: Jah-reszahlen, Vokabeln, Grammatikregeln,Formeln, Theorien. Der Lehrer gliedert siein einer Systematik, die meist der wissen-schaftlichen Systematik des jeweiligenFaches entspricht. Die Gliederungslogik istalso eine wissenschaftliche, selten eine di-daktische. Im faktenorientierten Unter-richt wird Wert auf die Vermittlung dereinzelnen Wissensfragmente gelegt, nichtaber auf deren sinnvolle Vernetzung.

– „Sinnloses“ WissenOb Wissen auch zum Verstehen wird,hängt im hohen Maße mit dem Erkennenvon Zusammenhängen und Vernetzungenzusammen. Wissen, das nicht wirklich imBezug auf das Leben verstanden wird,ergibt für Schüler oft keinen erkennbarenSinn. Untersuchungen haben gezeigt, dassLernen von Einzelfakten ohne Verstehender Zusammenhänge mühsam und auchvon geringer Nachhaltigkeit ist.

2. Verstehendes, forschendesLernen

Schon in der Antike gab es mit Sokrates einenmodernen „Reformpädagogen“. Er vertrat dieAnsicht, auch ein ungebildeter Sklave tragebereits alles Wissen der Welt in sich. Es bedür-fe nur eines – vor allem auf Fragen beruhen-den – systematischen Dialogs, um diesesnoch verdeckte Wissen über die Zusammen-hänge der Welt freizulegen. Noch heute spre-chen wir daher vom „Sokratischen Dialog“.Auch die heutigen reformpädagogischenStrömungen stellen den Erkenntnisweg desLernenden in den Mittelpunkt. Maria Mon-tessori formulierte das mit dem markantenSatz: „Hilf mir, es selbst zu tun!“

2.1 Merkmale forschenden, entdeckendenLernens:– Lehrperson ist nicht WissensvermittlerIn

sondern LernorganisatorIn.Es ist nicht die Aufgabe des Lehrers Wissenzu vermitteln, sondern die für die Lernen-den entsprechenden lernanregendenBedingungen für deren eigenständigenLernprozess zu schaffen.

– LehrerIn als LernexpertInDer Lehrer muss also vielmehr Lern- alsLehrexperte sein. Er muss Lernprozesseder jeweiligen Altersstufe und des jeweili-gen Faches tiefgreifend verstehen. Das setzttiefgreifende Kenntnisse über kognitiveProzesse allgemein, aber auch über dieimmanente Erkenntnislogik und dieErkenntniswege des jeweiligen Lerngegen-standes voraus.

– Anthropologische GrundlagenEine anthropologische Grundthese derindustriellen bürgerlichen Gesellschaft lau-tete vereinfacht:„Der Mensch ist von Naturaus faul und dem leiblichen Genuss zuge-tan, nur äußerer Zwang bzw. Belohnungs-anreize bringen den Menschen zu Fleißund Tugend.“ So wurden junge Menschenvor allem durch Strafe und Belohnung zufleißigen, sparsamen und gehorsamen Mit-gliedern der bürgerlichen Gesellschafterzogen. Auch in der heutigen Schule sindwesentliche Züge dieser anthropologischenHaltung immer noch weit verbreitet:„Schüler sind grundsätzlich faul, ohneNoten würden sie überhaupt nichts lernen...“Reformpädagogische Ansätze vertreten eingegensätzliches Menschenbild: DerMensch sei ein in höchstem Maße derUmwelt zugewandtes neugieriges Wesen,das von sich aus versucht, die Welt zu ent-decken, zu verstehen und zu gestalten. Erstdurch eine Erziehung, die dieses natürlicheExplorationsverhalten regelmäßig durch-

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bricht und verformt bzw. keine Räume füreigenständiges, selbst gesteuertes Entde-cken ermöglicht, werden junge Menschenzu desinteressierten, faulen und destrukti-ven Schülern.

– Entdeckungs- und Lernlust fördernAufgabe der Lehrperson ist es also, Bedin-gungen zu schaffen, in denen sich dieursprüngliche Neugier und Entdeckungs-freude entfalten können. In Phasen offenenLernens arbeiten die SchülerInnen ineinem klaren organisatorischen Rahmenselbstständig und selbsttätig an komplexenund interessanten Lernaufgaben. Diesesind möglichst so strukturiert und organi-siert, dass der Lernende durch die Lösungder Aufgaben nicht nur Wissen dazugewinnt, sondern auch die Strukturen undkomplexen Zusammenhänge des Themasverstehen lernt.

– SchülerIn als ForscherInIn der Auseinandersetzung mit der „Lern-welt“ werden die SchülerInnen zu zahlrei-chen Forschungsaktivitäten angeregt:Erproben, experimentieren, im Lexikonnachschlagen, mit Fachleuten Kontakt auf-nehmen, bei Eltern und Bekannten Infor-mationen einholen, in Büchern, Filmen,auf CD-ROMs nach neuen Informationensuchen.

– Metakognitive KompetenzenIm eigenständigen Erforschen von Phäno-menen (im Experiment, im Umfeld oderanhand von Lernmaterialien) werdenneben dem Wissen und Verstehen auchnoch „metakognitive“ Kompetenzen ange-eignet. Die SchülerInnen lernen auch ihreigenes Lernen zu verstehen und zu reflek-tieren, wie sie zu ihren Erkenntnissen undEinsichten kommen. So entwickeln sie aufder Basis ihrer Lernerfahrungen für dasLeben wichtige Strategien zum Denkenund Handeln in neuen und komplexenSituationen.

2.2 Merkmale verstehenden Lernens:– Tiefgreifendes Durchdringen

Ein wichtiges Ziel des forschenden Lernensist es, bei den Lernenden ein grundlegen-des Verstehen der Phänomene des Unter-richtsgegenstandes zu bewirken.

– Verstehen statt ÜberblickIm Gegensatz zum überblicksartigen,enzyklopädischen Wissen des faktenorien-tierten Lernens steht beim verstehendenLernen das Erfassen der komplexenZusammenhänge und gegenseitigenBedingtheiten des Lerngegenstandes imMittelpunkt.

– Gliederung: Verständniseinheiten stattSystematikDer Unterricht wird nicht mehr nach derklassischen Systematik des Faches aufge-baut. Anhand von exemplarisch ausge-wählten Schwerpunktthemen werdenwichtige Prinzipien, Zusammenhänge undauch wichtige Fakten zum jeweiligen Facherarbeitet. Die Fakten sind aber integrier-ter Bestandteil eines vernetzten Gesamt-wissens.

3. Problem- und anwendungsorien-tiertes Lernen

Der Spruch von Seneca „Nicht für das Leben,sondern für die Schule lernen wir!“ ist einerder am meisten verquerten Zitate im BereichSchule und Unterricht. Regelmäßig wird inden Medien die Entrümpelung der Lehrplänezugunsten zeitgemäßer Inhalte gefordert.Und doch bewegt sich die Schule auf ihremWeg in die Gesellschaft der Zukunft schwer-fälliger, als es den meisten Beteiligten lieb ist.Die Aufgabe der Schule ist eine schwierige: Ineiner Welt von heute sollen LehrerInnen miteinem Wissen und Erfahrungen von gesternjunge Menschen für ein Leben in einer Weltdes unbekannten Morgen vorbereiten.

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3.1 Merkmale problemorientierten Lernens:– Der Aneignungsprozess als Lerninhalt

„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hansnimmermehr“ war einst ein geflügelterpädagogischer Spruch, der Kinder zumLernen anspornen sollte. Heute, in einerZeit des dynamischen Wandels, müsstedieser Spruch umgeschrieben werden:„Was Hänschen gelernt hat, wird Hansanders lernen ...“ Wenn also das Wisseneinerseits immer unüberblickbarer wirdund andererseits immer schneller veraltet,verändert sich auch zwangsläufig dieGrundlage schulischer Lernprozesse. Nichtnur das Wissen, sondern der Aneignungs-prozess selbst (siehe verstehendes Lernen)wird Gegenstand des Lernens.

– Problemlösungskompetenz vor statischemWissenIn einer immer komplexer werdenden hochvernetzten Gesellschaft werden Problemlö-sungsfähigkeiten im privaten wie im beruf-lichen Leben immer wichtiger. Nicht dasAneignen statischen Wissens, sondern diegenerelle Fähigkeit zum lösungsorientierenUmgang mit komplexen Situationenbestimmen daher auch den Unterricht.

– Problemsituationen in ihrer Komplexitätanalysieren zu können, das entsprechendeFachwissen und die erforderlichen Res-sourcen zu beschaffen, die entsprechendenVernetzungen zu bereits bekannten Pro-blemstellungen und Lösungen zu knüpfen,Räume für kreatives Querdenken zu schaf-fen, all das wird im praktischen Tun ankonkreten Beispielen im schulischen Alltagimmer wieder geübt und gelernt.

– Wissenszugänge statt FaktenwissenNeben dem beim aktiven Problemlösungs-lernen auch anfallenden Wissenserwerblernen die SchülerInnen auch vor allem,Wissenszugänge aktiv zu nutzen und sichin der Informationsflut den Weg zu denvon ihnen benötigten Daten zu bahnen.

– Dynamische vor statischen FähigkeitenFlexibilität, Kreativität, praktische Fertig-keiten sind dabei ebenso wichtige Basis-qualifikationen wie klassische Arbeitstu-genden (Ausdauer, Konzentrationsfähig-keit, Verlässlichkeit).

3.2 Merkmale anwendungsorientierten Lernens:– Lebens- und Alltagsorientierung

Unterricht bezieht sich so oft als nurirgendwie möglich auf die den Schülernzugängliche Alltagswelt. Forschendes Ler-nen (siehe 2.1) wird möglichst in Aufga-benstellungen verpackt, die in hohemMaße auf die Lebens- und Vorstellungsweltder Schüler bezogen ist.

– Induktion vor DeduktionAus der praktischen Bewältigung und derAnalyse einer konkreten Problemstellungwerden allgemeine Gesetzmäßigkeitenerschlossen und erarbeitet und dann wie-der an anderen praktischen Beispielenangewendet.

– Aktive, praktische TätigkeitDie SchülerInnen sind während eines gro-ßen Anteiles der Unterrichtszeit selbstpraktisch handelnd oder reflektierendaktiv.

– Öffnung der Schule zur WeltDurch häufige Exkursionen, Lernpartner-schaften mit Betrieben und Institutionender Umgebung, aktive Naturerfahrung,regelmäßige Sozial- und Betriebspraktikawerden die Schüler systematisch zur Aus-einandersetzung mit der gesellschaftlichenWirklichkeit angeregt.

– Viel „Welt“ in der SchuleDurch eine Vielfalt von Materialien für Ver-suche, Experimente und praktischesUmsetzen, durch den Einsatz von szeni-schen Elementen im Unterricht (Rollen-spiel, Planspiel) und durch computerunter-stützte Simulationstechniken werden auf

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vielfältige Weise auch innerhalb der Schulepraxisnahe Erfahrungen ermöglicht.

– Mündliche Kommunikation gleichberech-tigt neben schriftlicherDie übliche Dominanz der schriftlichenLeistung im Sprachunterricht wird aufgrundder Wichtigkeit aktiv handelnder Sprach-kompetenz im Alltags- und Berufsleben auf-gehoben. Spracherwerb vollzieht sich imUnterricht so wie im Leben vor allem inkommunikativen Handlungssituationen.

– Aktive Teilhabe am schulischen und gesell-schaftlichen LebenAufgabenstellungen für SchülerInnen sol-len nicht nur Lern- und Übungscharakter,sondern so oft als möglich „Ernstcharak-ter“ haben: Die Schüler veranstalten mitihren Produkten eine öffentliche Ausstel-lung und sorgen auch für die entsprechen-de Öffentlichkeitsarbeit, wichtige Aufgabendes Schulbetriebes werden z. T. vonSchülerInnen übernommen (der Pausen-kiosk wird von ihnen selbst geführt), stattDeutschaufsätzen für den Lehrer wird eineSchülerzeitung gestaltet.

– Leistungskontrolle in praktisch-aktivenHandlungssituationenNatürlich muss auch die Leistungskontrol-le entsprechend den Lernsituationen anHandlungssituationen ausgerichtet sein.

4. Persönliches, reflexives Lernen

Demotivation, Aggression und Schülerfrustsind mittels zweier Faktoren des schulischenLebens zumindest teilweise erklärbar:– Fremdbestimmung

Eine wesentliche Grundlage von persön-licher Lebenszufriedenheit ist das Erlangeneiner ausreichenden Autonomie undSelbstbestimmung über das eigene Han-deln im Konsens mit den jeweiligen Hand-lungspartnern. Dieses Streben nach per-

sönlicher Autonomie wird im Betrieb derklassischen Regelschule dramatischbeschnitten und eingeschränkt: das strengeKorsett der 50-Minuten Stunde, die keinerSachlogik entsprechende wahllose Anein-anderreihung von verschiedenen Unter-richtsfächern, der zumeist lehrerzentrierteUnterrichtsstil u. a. m.

– SelbstwertproblematikDer Erhalt eines positiven Selbstwertge-fühls ist die Grundlage einer stabilen Iden-tität. Dazu ist die Erfahrung von Lob,Unterstützung, Würdigung, persönlicherWertschätzung und Resonanz unumgäng-lich. Die Realität der Regelschule kann die-se Erfahrungen den meisten SchülerInnennur in einem geringen Ausmaß bieten.Auch heute noch haben sich die meistenSchulen nicht von der klassischen „Feh-lerorientierung“ gelöst. Gute Leistungenwerden oft über die Fehlerlosigkeit defi-niert (Rechtschreibfehler bei Schul-/Klas-senarbeiten). Wichtige aktive praktischeLeistungen dienen oft nur dem Notenauf-putz (bei Zwischennoten). PersönlicheWertschätzung ist zumeist an die Leis-tungsfähigkeit und -willigkeit gebunden,Rituale der Wertschätzung und Würdi-gung sind immer noch sehr selten.

4.1 Merkmale persönlichen, reflexiven Lernens:– Persönliche Entscheidungsspielräume

Den Schülern werden im Unterricht syste-matisch Entscheidungsspielräume einge-räumt: Das Mitentscheiden bei der Aus-wahl der Unterrichtsthemen, die Möglich-keit bei Arbeiten immer wieder eigenenInteressen nachzugehen, die Förderungvon selbst bestimmten und selbst gewähl-ten Leistungen.

– „SchülerIn als Mensch“Die Schüler werden im Unterricht regelmä-ßig angeregt, sich nicht nur als Wissensträ-

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ger, sondern auch als Mensch mit persön-lichen Interessen, Meinungen, Werthaltun-gen, Stärken und Schwächen einzubringen.

– Persönliche ErfahrungenDie Gestaltung des Unterrichts ist so aufge-baut, dass auch im Unterricht immer wie-der persönliche Erfahrungen ermöglichtund reflektiert werden. In der Ausein-andersetzung mit dem Stoff werden immerwieder die persönlichen Erfahrungsweltender SchülerInnen angesprochen und dieinhaltlichen Themen mit den Schülerer-fahrungen vernetzt.

– Empathische GesprächsmoderationDie Lehrperson ist ein/e gute/r ZuhörerInund ModeratorIn. Er/Sie ist in der Lage,auch konträre und sachlich vielleicht nichtimmer fundierte Meinungen anzunehmen,die persönlichen Meinungsäußerungen zuunterstützen und Meinungsäußerungenauch gegen die Gruppenmeinung (bzw. dieeigene Meinung) herauszufordern.

– Aktivierung innerer BilderDie SchülerInnen werden immer wiederangeregt, zu Unterrichtsthemen eigeneinnere Bilder und Vorstellungen zu ent-wickeln und diese z. T. auch zu gestalten.

– Selbstreflexive LernformenDie Fähigkeit sich selbstreflexiv mit deneigenen Lernfortschritten (und -hemmnis-sen) auseinanderzusetzen wird im Unter-richt regelmäßig gefördert und geübt. Aus-wertungen von anwendungszentriertenUnterrichtssequenzen werden nicht nursachlich, sondern immer auch persönlichausgewertet. Schulausgänge, Praktika undandere wichtige persönliche Lernschrittewerden in Form von Lernjournalen doku-mentiert.

– Entwicklungs- und IdentitätsthemenDie Schüler werden nicht nur bei ihrenkognitiven Entwicklungsschritten, son-dern auch bei ihrer persönlichen Identi-tätsfindung und -entwicklung unterstützt.

Für den Umgang mit persönlichen Krisenvon SchülerInnen hat die Schule ausgebil-dete BetreuungslehrerInnen und kompe-tente außerschulische Partner.

5. Dialogisch, kooperatives Lernen

Von der Geburt an ist menschliches Lernenein durch und durch dialogischer Prozess: Imkörperlichen Kontakt mit der Mutter lerntdas Kind erst langsam die Abgrenzung zwi-schen dem eigenen Körper und der Außen-welt; durch die spezifischen Resonanzen derBezugsperson auf den kindlichen Gefühls-ausdruck entwickelt das Baby und Kleinkindlangsam aus einem Bündel von chaotischenEmotionen strukturierte Gefühle und Be-dürfnisse; die Entwicklung der eigenen Iden-tität vollzieht sich nicht von innen, sondern ineinem stetigen Austausch mit den Botschaf-ten der Mitwelt; der Spracherwerb beginntmit dem dialogischen Zeigen und demBenennen von Gegenständen. Schon vor demSchuleintritt hat das Kind mühelos und ohnespezifische „Lernanstrengung“ im gemeinsa-men Zusammenleben eine, manchmal sogarzwei Sprachen erlernt. Im klassischen Schul-unterricht erfährt das Kind sehr schnell, dassanstelle des lebendigen Dialogs im Alltag einoft sehr einseitiger Dialog vom Lehrer zumSchüler tritt. Kontakt zwischen den Schüler-Innen wird meistens als Unterrichtsstörungqualifiziert. Während einerseits sozialeTugenden wie Hilfsbereitschaft propagiertwerden, ist das gegenseitige Unterstützen beiTests und Prüfungen streng verboten!

5.1 Merkmale dialogisch, kooperativen Lernens:– Klassenraumgestaltung

Der Klassenraum wird als gemeinsamerLernraum von der Klasse freundlich undanregend gestaltet.

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– GruppenbildungDie Lehrperson übernimmt nicht nur Ver-antwortung für die intellektuelle, sondernauch für die soziale Entwicklung der Schü-lerInnen. In Phasen, in denen sich eineKlasse neu oder in neuer Zusammenset-zung wieder konstituiert, wird überMethoden des sozialen Lernens dieserGruppenentwicklungsprozess unterstützt.

– VerantwortungDie Verantwortung für die notwenigen All-tagstätigkeiten im Klassenzimmer wirdgemeinsam getragen. Jeder Schüler über-nimmt ein klar abgegrenztes Stück persön-licher Verantwortung für die Organisationdes gemeinsamen Zusammenlebens.

– Regeln für das ZusammenlebenDie Regeln für das gemeinsame Zu-sammenleben werden nicht nur vom Leh-rer bestimmt, sondern gemeinsam mit derKlasse erarbeitet und in einem Ritual vonallen SchülerInnen unterzeichnet. Regel-verletzungen werden unmittelbar themati-siert. Psychische und physische Gewalt zwi-schen SchülerInnen wird nicht toleriert.

– KonfliktlösungKonflikte in der Klasse werden innerhalbder Unterrichtszeit besprochen undgemeinsam mit den Beteiligten gelöst.Manche Schulen haben bereits Mediato-rensysteme eingerichtet, bei denen ausge-bildete SchülerInnen die Konfliktmodera-tion bei Konflikten zwischen SchülerInnenin anderen Klassen übernehmen.

– Partner- und Teamarbeit:Im Unterricht werden die SchülerInnensystematisch angeregt, Lernschritte mitPartnern oder einer Gruppe zu bespre-chen, Lernwege gemeinsam zu erarbeiten,Problemlösungen nach individueller Lö-sungssuche in der Gruppe zu betreiben.

– LernschwierigkeitenEs gehört zum Unterrichtsstil, dass Ver-ständnisprobleme, individuelle Fehler und

Schwächen nicht vor der Gruppe und derLehrperson versteckt sondern offen ange-sprochen werden.

– Gegenseitige UnterstützungDas didaktische Konzept des Lehrers nutztregelmäßig die fachlichen und persön-lichen Stärken von Schülern für den Lern-erfolg der ganzen Klasse. Die leistungs-schwächeren SchülerInnen werden durchdie leistungsstärkeren in ihren Lernwegenunterstützt.

– FeedbackDie SchülerInnen geben sich für ihre per-sönlichen, sozialen und fachlichen Leis-tungen ehrliches, konstruktives Feedback.Auch die Lehrperson stellt sich regelmäßigden Rückmeldungen der Klasse.

– Die Sitzordnung der Klasse ist flexibel undwird den entsprechenden didaktischenSituationen angepasst. Die mobile Ausstat-tung ermöglicht dies.

Ausblick

Die schwierigste Arbeit in der täglichenUnterrichtspraxis liegt wohl darin, allePuzzle-Teile aus Abbildung 2 so zusammenzu setzen, dass Lernen in allen Dimensionengefördert wird. Dieser Anspruch ist in derSchule heute immer weniger leicht verwirk-lichbar. Jim Harris (1998) spricht diesbezüg-lich vom „Lernparadox“. Er sieht für dieBewältigung der aktuellen Herausforderun-gen drei Fähigkeiten erforderlich: Die Fähig-keit des kontinuierlichen Lernens, der Fähig-keit sich zu verändern (persönlich und orga-nisational) sowie die Fähigkeit mit Unsicher-heit umzugehen. Paradoxerweise vermeidenErwachsene diese Fähigkeiten, da sie Ängsteerzeugen (Angst vor dem Unbekannten,Angst vor Veränderung, Angst vor Unsicher-heit). Immerhin kann die Zusammenstellungüber die fünf Ausprägungen von Lernen ent-

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lang der Qualitätsdimensionen von Unter-richt aber als Stütze dafür dienen, die eigeneArbeit im Hinblick auf Stärken und Schwä-chen abzuprüfen. Dies lässt sich allerdingskaum als Einzelaufgabe lösen, weshalb Unter-richtsentwicklung eng im Zusammenhangmit Schulentwicklung gesehen werden sollte.Gemeinsames Arbeiten in „Communities ofPractice“ (Wenger 1998) schafft am ehesteneine tragfähige Basis zur Bewältigung diesesParadoxes. Der Weg von der (be)lehrendenSchule zur lernenden Schule erfordert einenunterstützenden Rahmen, der Raum und Zeitfür die Auseinandersetzung mit den (fünf)Qualitätsdimensionen und Lernformenerfordert. Dazu gibt es auch unterstützendeLiteratur (vgl. etwa Buhren/Rolff 2002, York-Barr u.a. 2001) oder Modelle (vgl. etwa das„Schwungrad zur Unterrichtsentwicklung“ indiesem Heft).

Eine Frage wird uns zusehends immermehr befassen: Ist Schule überhaupt noch dergeeignete Ort, um das zu lernen, was jungeMenschen in ihrem Vergesellschaftungspro-zess brauchen? Die Ergebnisse von PISA las-sen mit ganz wenigen Ausnahmen darüberkeine Schlüsse zu. Möglicherweise müssensich Schulen in Hinsicht auf die interneArbeitsorganisation, Strukturen und Unter-richt, vor allem aber in Hinsicht auf die drin-gende Professionalisierung der Lehrerschaftnoch viel radikaler ändern.Ansonsten wird esfür Lehrerinnen und Lehrer immer schwieri-ger, den vielerorts erzeugten Druck auf „bes-seren Unterricht“ produktiv umzusetzen. FürMarianne Gronemeyer erspart sich der Leh-rer aufgrund der derzeitigen Organisationvon Schule „die Unsicherheit und das Risikodes wirklichen Dialogs. Immer steht vorherfest, dass ihm die Sache, die er vertritt, rechtgibt ... Der Vermittler ist ein Souffleur fertigenTextes, notorisch im Recht, inventorisch nichtambitioniert, im Zweifel abstinent; ideenreichallerdings in der Produktion didaktischer

Finessen und von scharfsichtigem Urteil imSoll-Ist-Vergleich der Lernerfolge.“ (Grone-meyer 1996, 66) – und vor allem dann sehrzurückhaltend, wenn es darum geht, anhandder Komplexität der Probleme, mit denen ersich konfrontiert sieht, den sicheren Bodender Routinen zu verlassen. Oder, wie esAndreas Gruschka (2002, 447) in seinen „elfEinsprüchen gegen den didaktischenBetrieb“ für eine Lehrperson von heute aufden Punkt bringt: „Ich darf wollen, was ichnicht kann, soll aber tun, was ich nicht tunwill!“

Somit wird die Auseinandersetzung zwi-schen Sollen und Wollen die entscheidendeFrage für alle Ebenen des Bildungssystems(vgl. Schratz 2001): Wie weit werden Perso-nalentwicklungsmaßnahmen so wahrgenommen, dass dadurch auf jeder Ebeneleadership for learning erwächst, in dem Leh-rende und Lernende, Führende und Geführ-te, Experten und Neuanfänger in einen wech-selseitigen Reflexionsprozess kommen,sodass eine förderliche Dynamik zwischenDruck und Zug wirksam werden kann.

LiteraturBloom, B./Englehart, M. D./Furst, E. J./Hill, H. W./Krath-

wohl, D. R.: Taxonomy of Educational Objectives.Handbook 1: Cognitive Domain. New York: McKay,1956.

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Schratz/Weiser: Entwicklungsdimensionen

Konrad Krainer, Willibald Dörfler, Helga Jungwirth, Helmut Kühnelt, Franz Rauch, Thomas Stern (Hrsg.)Lernen im Aufbruch: Mathematik und Naturwissenschaften Pilotprojekt Imst2

Innovationen im Mathematik- und Naturwissenschaftsunterricht, Band 1250 Seiten,€ 19,00/sfr 33,10, ISBN 3-7065-1803-1

Schulen scheinen sich langsam zu verändern – aber in jüngster Zeit ist Vieles in Bewegung geraten. So beginnenim Bereich der Mathematik und der naturwissenschaftlichen Fächer immer mehr Teams von Lehrerinnen undLehrern den Oberstufenunterricht zu erneuern und suchen dabei Unterstützung von universitären Partnern.Auch in der universitären Forschung gewinnen Fragen der Bildungsqualität und der Kooperation mit der Schul-praxis zunehmend an Bedeutung.Das Buch fasst die Forschungsergebnisse zusammen, die den Ausgangspunkt und den Rahmen für das ProjektImst2 bilden. Es erläutert das Konzept, dessen zentrale Interventionsstrategie in der Förderung von Reflexionund Vernetzung liegt.

Helga Jungwirth, Helga Stadler Ansichten – Videoanalysen zur Lehrer/-innenbildung CD-ROM Innovationen im Mathematik- und Naturwissenschaftsunterricht, Band 2€ 14,00/sfr 24,80, ISBN 3-7065-1804-X

Kernstück der CD sind Videoaufnahmen von Szenen des Lehrens und Lernens von Mathematik und Physik,wobei der Schwerpunkt auf der Oberstufe der AHS liegt. Vorgestellt werden nicht nur Unterrichtsszenen, son-dern auch Ausschnitte aus je einem Interview von SchülerInnen und deren eigenständiger Bearbeitung einermathematischen bzw. physikalischen Aufgabe.Allgemeines Auswahlkriterium der Szenen war neben der Relevanz der dokumentierten Lehr-Lern-Prozesse ausder jeweiligen fachdidaktischen Sicht auch die Stärke des gebotenen Diskussionsanreizes.CD-Sonderpreis bei Bestellung mit Band 1: € 7,00!

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