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24 Magazin SAMSTAG / SONNTAG, 10. / 11. FEBRUAR 2018 74. JAHRGANG NR. 35 Frankfurter Rundschau Frankfurter Rundschau SAMSTAG / SONNTAG, 10. / 11. FEBRUAR 2018 74. JAHRGANG Nr. 35 Magazin 2524

Ein Zug insUngewisseMehr als ein Jahrhundert war eine Schmalspurbahn ausder Kolonialzeit die Lebensader Kenias. Dann wurdeeine neue Strecke gebaut, um das ostafrikanische Landins 21. Jahrhundert zu befördern – und die Waren vonden überfüllten Straßen zurück auf die Schiene zuholen. Seit neun Monaten rollt die neue Bahn durchsLand – und sorgt immer wieder für Streit

Von Florian Sturm

Das Steuerpult für die Signalanlagedes Bahnhofs von Nakuru erinnertan eine elektronische Orgel. Un-

zählige Hebel, Knöpfe und mit Instruktio-nen versehene Messingplatten lassen dieKomplexität der Apparatur erahnen. Vol-ler Stolz steht Mary W. Kimani im Signal-häuschen des Bahnhofs und streicht be-hutsam den Staub von der Anlage: „Langehatten wir hier eines der modernstenWeichensysteme im ganzen Land. Vonhier oben konnten wir jedes einzelne der19 Gleise ansteuern. Alles lief elektro-nisch.“ Wenn die Bahnhofsvorsteherinjetzt die Schalter umlegt, passiert: nichts.2009 ordnete die Regierung die Rückkehrzur manuellen Steuerung an. Seithermüssen Kimani und ihre Kollegen jedeWeiche wieder per Hand umlegen. Fort-schritt sieht anders aus.

Der einst drittgrößte Bahnhof Kenias,160 Kilometer westlich von Nairobi, wirktwie aus einer Geisterstadt: Die Farbe blät-tert von den Wänden, drinnen liegt Bau-schutt in der Ecke, darüber hängt nochdas Foto eines prächtigen Dampfers aufdem Viktoriasee. Viele der Gleise sindlängst von Gestrüpp überwuchert.

Dabei steckt ganz Kenia im Eisen-bahnfieber. Am 31. Mai 2017 weihte Präsi-dent Uhuru Kenyatta die Standard GaugeRailway (SGR) ein – Kenias bislang teuers-tes Infrastrukturprojekt seit der Unabhän-gigkeit 1963. Gebaut mit chinesischemGeld. Die neue Bahn hat den sogenanntenLunatic Express, eine noch aus Kolonial-zeiten stammende und zuletzt kaumfunktionstüchtige Schmalspurbahn, er-setzt. Und soll den Personen- und Güter-verkehr von den überfüllten Straßen zu-rück auf die Schienen holen. Doch inzwi-schen bezweifeln immer mehr der 45 Mil-lionen Kenianer, dass die Pläne der Regie-rung aufgehen werden – und erkennenstattdessen andere Gründe dafür, dass der

Lunatic Express nach und nach aufs Ab-stellgleis befördert wurde.

Kaum etwas ist für Kenia wichtiger alsdie Eisenbahn. Wirtschaftlich, kulturellund politisch. Die Briten bauten über dieJahrhundertwende den Lunatic Express,der über 100 Jahre zur Lebensader desLandes werden sollte. Sie führte vonMombasa, dem wichtigsten Hafen Ostafri-kas, über Nairobi bis nach Kisumu amVictoriasee und wurde über die Jahrzehn-te bis weit nach Uganda hinein erweitert.Zu Hochzeiten profitierten mehr als 30Millionen Menschen entlang des Nördli-chen Korridors, der bedeutendsten Han-delsroute Ost- und Zentralafrikas, von derBahn. Ohne sie wären die BinnenländerUganda, Ruanda, Burundi, Südsudan unddie Demokratische Republik Kongo vomWelthandel abgeschnitten.

„Diese Eisenbahn hat Kenia zu dem Landgemacht, das es heute ist. Viele Orte gibtes nur, weil dort Schienen verlegt wur-den“, sagt Maurice Barasa. Er ist seit 1972Kurator des Nairobi Railway Museum,aber Besucher führt er nur noch seltenüber das Gelände im Herzen der Haupt-stadt. Der Souvenirshop neben seinemBüro ist abgeschlossen. Die Miniaturloks,Bildbände und Postkarten, die einst inden Regalen standen, sind längst ver-schwunden.

Mit seinem müden Blick, der leichtuntersetzen Figur und dem blauweiß-ka-rierten Hemd wirkt auch Barasa wie ausder Zeit gefallen. Dennoch berichtet ervoller Enthusiasmus von der glorreichenVergangenheit des Lunatic Express: VonTausenden Passagieren und Güterwag-gons, die täglich im gesamten Land um-

herfuhren; von zahlreichen Hindernissenwährend der Bauphase und luxuriösenErste-Klasse-Fahrten, in deren Verlaufadrett gekleidete Kellner Fünfgang-Menüsservierten.

Doch in den vergangenen dreißig Jah-ren ist die Bahn zunehmend in die Kritikgeraten. Verbogene Schienen und Unfälleführten zu heftigen Verspätungen, nachEntgleisungen gab es immer wieder To-desopfer, Teilabschnitte der Strecke wur-den stillgelegt. Als Folge wichen sowohlFracht- als auch Personenverkehr auf dieStraßen aus. Die sind inzwischen heillosüberfüllt und zählen zu den gefährlichs-ten der Welt. Auf den meist zweispurigenStraßen drängeln sich unzählige Lastwa-gen Stoßstange an Stoßstange durchsLand. Laut Berichten der nationalen Ver-kehrs- und Sicherheitsbehörde NTSA ster-ben monatlich über 230 Menschen als Fol-ge eines Verkehrsunfalls. Auch deshalbbraucht Kenia eine Eisenbahn: um dieStraßen wieder zu entlasten.

An einer dieser verstopften Straßensteigt Nirmit Dave aus einem azurblauenReisebus, reckt die Arme in die Höhe undnimmt einen tiefen Atemzug. Eigentlichsollte der Geschäftsmann schon längst inMombasa sein. Vor zwölf Stunden war erin Nairobi in den Bus gestiegen. Mit ihmgut 40 weitere Passagiere, die entwederberuflich an der Küste zu tun haben oderdort die Zeit um die Jahreswende verbrin-gen wollen. Inzwischen ist es weit nachMitternacht und noch immer sind es 120Kilometer bis Mombasa. Seit zwei Stun-den gleicht der zweispurige Highway, dieeinzige annehmbare Straße zwischen Ke-nias beiden größten Städten, einem fünf-spurigen Parkplatz. Irgendwo habe derRegen die Straße überspült, heißt es. „Kei-ne Ahnung, wann wir weiterfahren kön-nen, aber es wird wohl noch eine Weiledauern. Vielleicht verbringen wir auch dieganze Nacht hier“, sagt Dave.

Bei keinem der Reisenden macht sichResignation oder Wut breit. Das Verkehrs-problem ist längst Normalität. Nach 15statt der geplanten acht Stunden wird Da-ve Mombasa schließlich erreichen.

Rettung aus diesem Verkehrschaosverspricht sich Kenia von der neuenBahnlinie. Auch ein halbes Jahr nach derJungfernfahrt des Madaraka Express –dem ersten Teilstück zwischen Mombasaund Nairobi – ist die Euphorie in der Be-völkerung ungebrochen. Die Tickets sindmitunter wochenlang im Voraus ausge-bucht. Erstens weil es nur vier Fahrtentäglich gibt – zwei in jede Richtung –,zweitens weil jede Fahrkarte an einen der1088 Sitzplätze im Zug gebunden ist. Seitdem Jahreswechsel müssen die Ticketsnun sogar 30 Tage im Voraus gebucht wer-den. „Das helfe, den Service weiter zu ver-bessern“, sagt Atanas Maina, Geschäfts-führer von Kenya Railways.

Gladys Maina sitzt entspannt auf ih-rem Fensterplatz, die Augen geschlossen,und genießt die sanfte Popmusik, die ausden Lautsprechern im SGR-Abteil klingt.Die 27-Jährige arbeitet zweieinhalb Stun-

den nördlich von Nairobi und besucht ih-re Familie in Mombasa. „Früher mussteich durch die langen Busfahrten meist ei-ne Nacht in Nairobi bleiben, ehe ich wei-terreisen konnte. Jetzt ist alles viel zuver-lässiger und bequemer“, sagt Maina. DieSchmalspurbahn hat sie nie genommen.Zu unsicher.

Maina fährt zum fünften Mal mit der SGR.Heute erstmals im VIP-Bereich. Der ist mit27 Euro fast vier Mal so teuer wie die 2.Klasse. Die günstigen Tickets waren be-reits ausverkauft, wurde ihr gesagt. Wirk-lich glauben kann sie das nicht. Es ist einoffenes Geheimnis, dass der Schwarz-markthandel mit den SGR-Tickets boomt.Woher die Karten kommen, lässt sichnicht genau ermitteln. Mutmaßlich sindes Mitarbeiter des Betreibers, Kenya Rail-ways, die die Tickets aus dem offenen Ver-kauf nehmen und bei Bedarf für ein Viel-faches verkaufen. Der Profit wandert indie eigene Tasche.

Die neuen Bahnhöfe liegen weit au-ßerhalb der Stadtgrenzen von Nairobioder Mombasa – und sind gewissermaßender Gegenentwurf zum alltäglichen Ver-kehrschaos: Alles ist geräumig, sauber,einladend. Am Eingang des pompösenGebäudes stehen Sicherheitsleute mitDrogenspürhunden und kontrollieren Ge-päck und Passagiere. Das Personal lässtdie Reisenden nicht einen Moment ausden Augen. Erst wenn der Zug bereitsteht,werden sie nach einer erneuten Ticket-kontrolle auf den Bahnsteig geleitet, es pa-trouilliert die kenianische Armee, kenia-nische Zugbegleiter verkaufen Essen undGetränke, danach wischt die kenianischePutzkolonne während der knapp sechs-stündigen Fahrt zweimal den Fußboden.Hin und wieder läuft auch ein chinesi-scher Techniker durchs Abteil.

Eine der Bedingungen von chinesi-scher Seite, um Kenia den Milliardenkre-dit zu gewähren: Die Chinesen sollen inden ersten zehn Jahren die wichtigentechnischen Positionen bekleiden – umihre kenianischen Kollegen anzulernen.Tatsächlich prangt in jedem Abteil einechinesische Flagge direkt neben der ke-nianischen, die Feuerlöscher sind mitenglischen sowie chinesischen Schriftzei-chen versehen und die Uniformen derZugbegleiterinnen erinnern an die Farb-symbolik Chinas. Die enge Partnerschaftder beiden Länder ist nicht zu übersehen.

Von einer Partnerschaft im klassi-schen Sinne könne jedoch keine Redesein, meint Kariuki Kimiti. Der 52-Jährigearbeitete selbst lange als Ingenieur undLokführer beim ausrangierten Lunatic Ex-press, ehe ihm 1998 gekündigt wurde. Of-fizieller Grund waren Sparmaßnahmen,

doch vielleicht wurde Kimiti einfach zuunbequem. Immer wieder bemängelte erden fahrlässigen Umgang mit den Zügen,die fehlenden Wartungsarbeiten. Dass dieBahn zuletzt in einem so miserablen Zu-stand war, läge keineswegs am Alter, sagtKimiti. Viele der Gleise seien auch nachüber 100 Jahren gut in Schuss und dort,wo es Probleme gab, hätte man ohne vielAufwand alles instand setzen können.

Diese Ansicht teilt auch Kwame Owi-no. Der Geschäftsführer des Institute ofEconomic Affairs Kenya ist überzeugt,dass eine Modernisierung der altenSchmalspurbahn genauso effektiv, aberdeutlich günstiger gewesen wäre als derSGR-Neubau. Bereits das erste Teilstückzwischen Mombasa und Nairobi ver-schlang 3,4 Milliarden Euro – 800 Millio-nen mehr als ursprünglich geplant. Geld,das Kenia nicht hat. Der Staatshaushalt istseit der Jahrtausendwende fast durchwegdefizitär. 2016 überstiegen die Importeden Wert der Exporte um das Zweiein-halbfache, die Direktinvestitionen der ke-nianischen Diaspora sinken. Zwar erholtsich der für das Land so wichtige Touris-mussektor langsam vom somalischen al-Shabaab-Terror, doch das allein wird nichtreichen. Noch immer beträgt die Staats-verschuldung 53,5 Prozent des Bruttoin-landprodukts.

China hingegen hat genügend finan-zielle Mittel. Allein 2016 investierte dasLand über 17 Milliarden Dollar in ganzAfrika. Auch knapp 90 Prozent der Bau-kosten des Madaraka Express werden vonChina getragen. Und da das Schienennetzbis nach Uganda erweitert wird, werdeauch der Schuldenberg weiter wachsen,vermutet Owino. Finanzexperten schät-zen, dass es über 100 Jahre dauern wird,bis dieser wieder abgebaut ist. Von Regie-rungsseite heißt es, die SGR würde zu ei-nem Wirtschaftswachstum von mindes-tens 1,5 Prozent führen. Dem Argumentglaubt Owino nicht: „Bis auf die Bahnhöfeist die Strecke komplett eingleisig. Siewird weder das Fracht- noch das Finanz-volumen erreichen, um jemals profitabelzu sein.“

Warum die SGR trotzdem gebaut wur-de? „Es ist ein reines Prestigeprojekt“,meint Kimiti. „Die Regierung will de-monstrieren, wie fortschrittlich Kenia ist.“Im gleichen Atemzug ergänzt er, dass derGütertransport trotz neuer Bahnstreckeweiterhin auf der Straße statt der Schieneablaufen werde: „Über Tochterunterneh-men und Firmenanteile verdient die Elitedes Landes kräftig am LKW-Verkehr mit.Und auf diese Einnahmen werden sienicht verzichten.“

Einzige Alternative, sind sich die SGR-Kritiker einig, wäre ein massiver Ausbaudes Straßennetzes. Der hat vereinzelt tat-sächlich schon begonnen – denn auchhier gehen die chinesischen Unternehmermit Tatkraft ans Werk.

So sieht Bahnfahren im Kenia des 21. Jahrhunderts aus: Die Zugbegleiterinnen lächeln, in den Abteilen plätschert leise Musik, zwei Mal wird durchgewischt. FLORIAN STURM (3)

„Die Bahn hat Kenia zu dem Land gemacht, das es heute ist“, sagt Maurice Barasa.

Kariuki Kimiti war Lokführer beim Lunatic Express, ehe ihm 1998 gekündigt wurde.

KARL -GEROLD -STIFT U N G

Dieser Text entstand mit Unterstützungeines Reisestipendiums der Karl-Gerold-Stiftung. Die Karl-Gerold-Stiftung ist Mitbe-sitzerin der FR. Sie hilft Studierenden undjungen Journalistinnen und Journalisten.Die Stiftung orientiert sich bei dem Reise-stipendium an ihrem Stifter Karl Gerold,der aus eigener Erfahrung stets die Bedeu-tung von Reisen junger Menschen zumErwerb von Welterfahrung und Weltzuge-wandtheit betonte. Dabei geht es aus-drücklich nicht alleine um das Abarbeitenkonkreter, vor Reisebeginn durchgeplanterRecherchen, sondern stets auch um Offen-heit für neue, womöglich unerwarteter Ein-drücke und deren journalistische Aufarbei-tung.

Der FR-Chefredakteur und HerausgeberKarl Gerold hat die Stiftungsverfassungnoch zu seinen Lebzeiten festgelegt. DieStiftung wurde nach seinem Ableben auf-grund seiner testamentarischen Verfü-gung errichtet. In diese Stiftung wurdenvon Karl Gerold und seiner Ehefrau ElsyGerold-Lang wesentliche Teile ihres Ver-mögens eingebracht. FR

Viele Orte gibt es nur, weil

dort Schienen verlegt wurden

3,4 Milliarden Dollar hat das

„Prestige-Projekt“ bisher gekostet