EinZugins Ungewisse

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24 Magazin SAMSTAG / SONNTAG, 10. / 11. FEBRUAR 2018 74. JAHRGANG NR. 35 Frankfurter Rundschau Frankfurter Rundschau SAMSTAG / SONNTAG, 10. / 11. FEBRUAR 2018 74. JAHRGANG Nr. 35 Magazin 25 24 Ein Zug ins Ungewisse Mehr als ein Jahrhundert war eine Schmalspurbahn aus der Kolonialzeit die Lebensader Kenias. Dann wurde eine neue Strecke gebaut, um das ostafrikanische Land ins 21. Jahrhundert zu befördern – und die Waren von den überfüllten Straßen zurück auf die Schiene zu holen. Seit neun Monaten rollt die neue Bahn durchs Land – und sorgt immer wieder für Streit Von Florian Sturm D as Steuerpult für die Signalanlage des Bahnhofs von Nakuru erinnert an eine elektronische Orgel. Un- zählige Hebel, Knöpfe und mit Instruktio- nen versehene Messingplatten lassen die Komplexität der Apparatur erahnen. Vol- ler Stolz steht Mary W. Kimani im Signal- häuschen des Bahnhofs und streicht be- hutsam den Staub von der Anlage: „Lange hatten wir hier eines der modernsten Weichensysteme im ganzen Land. Von hier oben konnten wir jedes einzelne der 19 Gleise ansteuern. Alles lief elektro- nisch.“ Wenn die Bahnhofsvorsteherin jetzt die Schalter umlegt, passiert: nichts. 2009 ordnete die Regierung die Rückkehr zur manuellen Steuerung an. Seither müssen Kimani und ihre Kollegen jede Weiche wieder per Hand umlegen. Fort- schritt sieht anders aus. Der einst drittgrößte Bahnhof Kenias, 160 Kilometer westlich von Nairobi, wirkt wie aus einer Geisterstadt: Die Farbe blät- tert von den Wänden, drinnen liegt Bau- schutt in der Ecke, darüber hängt noch das Foto eines prächtigen Dampfers auf dem Viktoriasee. Viele der Gleise sind längst von Gestrüpp überwuchert. Dabei steckt ganz Kenia im Eisen- bahnfieber. Am 31. Mai 2017 weihte Präsi- dent Uhuru Kenyatta die Standard Gauge Railway (SGR) ein – Kenias bislang teuers- tes Infrastrukturprojekt seit der Unabhän- gigkeit 1963. Gebaut mit chinesischem Geld. Die neue Bahn hat den sogenannten Lunatic Express, eine noch aus Kolonial- zeiten stammende und zuletzt kaum funktionstüchtige Schmalspurbahn, er- setzt. Und soll den Personen- und Güter- verkehr von den überfüllten Straßen zu- rück auf die Schienen holen. Doch inzwi- schen bezweifeln immer mehr der 45 Mil- lionen Kenianer, dass die Pläne der Regie- rung aufgehen werden – und erkennen stattdessen andere Gründe dafür, dass der Lunatic Express nach und nach aufs Ab- stellgleis befördert wurde. Kaum etwas ist für Kenia wichtiger als die Eisenbahn. Wirtschaftlich, kulturell und politisch. Die Briten bauten über die Jahrhundertwende den Lunatic Express, der über 100 Jahre zur Lebensader des Landes werden sollte. Sie führte von Mombasa, dem wichtigsten Hafen Ostafri- kas, über Nairobi bis nach Kisumu am Victoriasee und wurde über die Jahrzehn- te bis weit nach Uganda hinein erweitert. Zu Hochzeiten profitierten mehr als 30 Millionen Menschen entlang des Nördli- chen Korridors, der bedeutendsten Han- delsroute Ost- und Zentralafrikas, von der Bahn. Ohne sie wären die Binnenländer Uganda, Ruanda, Burundi, Südsudan und die Demokratische Republik Kongo vom Welthandel abgeschnitten. „Diese Eisenbahn hat Kenia zu dem Land gemacht, das es heute ist. Viele Orte gibt es nur, weil dort Schienen verlegt wur- den“, sagt Maurice Barasa. Er ist seit 1972 Kurator des Nairobi Railway Museum, aber Besucher führt er nur noch selten über das Gelände im Herzen der Haupt- stadt. Der Souvenirshop neben seinem Büro ist abgeschlossen. Die Miniaturloks, Bildbände und Postkarten, die einst in den Regalen standen, sind längst ver- schwunden. Mit seinem müden Blick, der leicht untersetzen Figur und dem blauweiß-ka- rierten Hemd wirkt auch Barasa wie aus der Zeit gefallen. Dennoch berichtet er voller Enthusiasmus von der glorreichen Vergangenheit des Lunatic Express: Von Tausenden Passagieren und Güterwag- gons, die täglich im gesamten Land um- herfuhren; von zahlreichen Hindernissen während der Bauphase und luxuriösen Erste-Klasse-Fahrten, in deren Verlauf adrett gekleidete Kellner Fünfgang-Menüs servierten. Doch in den vergangenen dreißig Jah- ren ist die Bahn zunehmend in die Kritik geraten. Verbogene Schienen und Unfälle führten zu heftigen Verspätungen, nach Entgleisungen gab es immer wieder To- desopfer, Teilabschnitte der Strecke wur- den stillgelegt. Als Folge wichen sowohl Fracht- als auch Personenverkehr auf die Straßen aus. Die sind inzwischen heillos überfüllt und zählen zu den gefährlichs- ten der Welt. Auf den meist zweispurigen Straßen drängeln sich unzählige Lastwa- gen Stoßstange an Stoßstange durchs Land. Laut Berichten der nationalen Ver- kehrs- und Sicherheitsbehörde NTSA ster- ben monatlich über 230 Menschen als Fol- ge eines Verkehrsunfalls. Auch deshalb braucht Kenia eine Eisenbahn: um die Straßen wieder zu entlasten. An einer dieser verstopften Straßen steigt Nirmit Dave aus einem azurblauen Reisebus, reckt die Arme in die Höhe und nimmt einen tiefen Atemzug. Eigentlich sollte der Geschäftsmann schon längst in Mombasa sein. Vor zwölf Stunden war er in Nairobi in den Bus gestiegen. Mit ihm gut 40 weitere Passagiere, die entweder beruflich an der Küste zu tun haben oder dort die Zeit um die Jahreswende verbrin- gen wollen. Inzwischen ist es weit nach Mitternacht und noch immer sind es 120 Kilometer bis Mombasa. Seit zwei Stun- den gleicht der zweispurige Highway, die einzige annehmbare Straße zwischen Ke- nias beiden größten Städten, einem fünf- spurigen Parkplatz. Irgendwo habe der Regen die Straße überspült, heißt es. „Kei- ne Ahnung, wann wir weiterfahren kön- nen, aber es wird wohl noch eine Weile dauern. Vielleicht verbringen wir auch die ganze Nacht hier“, sagt Dave. Bei keinem der Reisenden macht sich Resignation oder Wut breit. Das Verkehrs- problem ist längst Normalität. Nach 15 statt der geplanten acht Stunden wird Da- ve Mombasa schließlich erreichen. Rettung aus diesem Verkehrschaos verspricht sich Kenia von der neuen Bahnlinie. Auch ein halbes Jahr nach der Jungfernfahrt des Madaraka Express dem ersten Teilstück zwischen Mombasa und Nairobi – ist die Euphorie in der Be- völkerung ungebrochen. Die Tickets sind mitunter wochenlang im Voraus ausge- bucht. Erstens weil es nur vier Fahrten täglich gibt – zwei in jede Richtung –, zweitens weil jede Fahrkarte an einen der 1088 Sitzplätze im Zug gebunden ist. Seit dem Jahreswechsel müssen die Tickets nun sogar 30 Tage im Voraus gebucht wer- den. „Das helfe, den Service weiter zu ver- bessern“, sagt Atanas Maina, Geschäfts- führer von Kenya Railways. Gladys Maina sitzt entspannt auf ih- rem Fensterplatz, die Augen geschlossen, und genießt die sanfte Popmusik, die aus den Lautsprechern im SGR-Abteil klingt. Die 27-Jährige arbeitet zweieinhalb Stun- den nördlich von Nairobi und besucht ih- re Familie in Mombasa. „Früher musste ich durch die langen Busfahrten meist ei- ne Nacht in Nairobi bleiben, ehe ich wei- terreisen konnte. Jetzt ist alles viel zuver- lässiger und bequemer“, sagt Maina. Die Schmalspurbahn hat sie nie genommen. Zu unsicher. Maina fährt zum fünften Mal mit der SGR. Heute erstmals im VIP-Bereich. Der ist mit 27 Euro fast vier Mal so teuer wie die 2. Klasse. Die günstigen Tickets waren be- reits ausverkauft, wurde ihr gesagt. Wirk- lich glauben kann sie das nicht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Schwarz- markthandel mit den SGR-Tickets boomt. Woher die Karten kommen, lässt sich nicht genau ermitteln. Mutmaßlich sind es Mitarbeiter des Betreibers, Kenya Rail- ways, die die Tickets aus dem offenen Ver- kauf nehmen und bei Bedarf für ein Viel- faches verkaufen. Der Profit wandert in die eigene Tasche. Die neuen Bahnhöfe liegen weit au- ßerhalb der Stadtgrenzen von Nairobi oder Mombasa – und sind gewissermaßen der Gegenentwurf zum alltäglichen Ver- kehrschaos: Alles ist geräumig, sauber, einladend. Am Eingang des pompösen Gebäudes stehen Sicherheitsleute mit Drogenspürhunden und kontrollieren Ge- päck und Passagiere. Das Personal lässt die Reisenden nicht einen Moment aus den Augen. Erst wenn der Zug bereitsteht, werden sie nach einer erneuten Ticket- kontrolle auf den Bahnsteig geleitet, es pa- trouilliert die kenianische Armee, kenia- nische Zugbegleiter verkaufen Essen und Getränke, danach wischt die kenianische Putzkolonne während der knapp sechs- stündigen Fahrt zweimal den Fußboden. Hin und wieder läuft auch ein chinesi- scher Techniker durchs Abteil. Eine der Bedingungen von chinesi- scher Seite, um Kenia den Milliardenkre- dit zu gewähren: Die Chinesen sollen in den ersten zehn Jahren die wichtigen technischen Positionen bekleiden – um ihre kenianischen Kollegen anzulernen. Tatsächlich prangt in jedem Abteil eine chinesische Flagge direkt neben der ke- nianischen, die Feuerlöscher sind mit englischen sowie chinesischen Schriftzei- chen versehen und die Uniformen der Zugbegleiterinnen erinnern an die Farb- symbolik Chinas. Die enge Partnerschaft der beiden Länder ist nicht zu übersehen. Von einer Partnerschaft im klassi- schen Sinne könne jedoch keine Rede sein, meint Kariuki Kimiti. Der 52-Jährige arbeitete selbst lange als Ingenieur und Lokführer beim ausrangierten Lunatic Ex- press, ehe ihm 1998 gekündigt wurde. Of- fizieller Grund waren Sparmaßnahmen, doch vielleicht wurde Kimiti einfach zu unbequem. Immer wieder bemängelte er den fahrlässigen Umgang mit den Zügen, die fehlenden Wartungsarbeiten. Dass die Bahn zuletzt in einem so miserablen Zu- stand war, läge keineswegs am Alter, sagt Kimiti. Viele der Gleise seien auch nach über 100 Jahren gut in Schuss und dort, wo es Probleme gab, hätte man ohne viel Aufwand alles instand setzen können. Diese Ansicht teilt auch Kwame Owi- no. Der Geschäftsführer des Institute of Economic Affairs Kenya ist überzeugt, dass eine Modernisierung der alten Schmalspurbahn genauso effektiv, aber deutlich günstiger gewesen wäre als der SGR-Neubau. Bereits das erste Teilstück zwischen Mombasa und Nairobi ver- schlang 3,4 Milliarden Euro – 800 Millio- nen mehr als ursprünglich geplant. Geld, das Kenia nicht hat. Der Staatshaushalt ist seit der Jahrtausendwende fast durchweg defizitär. 2016 überstiegen die Importe den Wert der Exporte um das Zweiein- halbfache, die Direktinvestitionen der ke- nianischen Diaspora sinken. Zwar erholt sich der für das Land so wichtige Touris- mussektor langsam vom somalischen al- Shabaab-Terror, doch das allein wird nicht reichen. Noch immer beträgt die Staats- verschuldung 53,5 Prozent des Bruttoin- landprodukts. China hingegen hat genügend finan- zielle Mittel. Allein 2016 investierte das Land über 17 Milliarden Dollar in ganz Afrika. Auch knapp 90 Prozent der Bau- kosten des Madaraka Express werden von China getragen. Und da das Schienennetz bis nach Uganda erweitert wird, werde auch der Schuldenberg weiter wachsen, vermutet Owino. Finanzexperten schät- zen, dass es über 100 Jahre dauern wird, bis dieser wieder abgebaut ist. Von Regie- rungsseite heißt es, die SGR würde zu ei- nem Wirtschaftswachstum von mindes- tens 1,5 Prozent führen. Dem Argument glaubt Owino nicht: „Bis auf die Bahnhöfe ist die Strecke komplett eingleisig. Sie wird weder das Fracht- noch das Finanz- volumen erreichen, um jemals profitabel zu sein.“ Warum die SGR trotzdem gebaut wur- de? „Es ist ein reines Prestigeprojekt“, meint Kimiti. „Die Regierung will de- monstrieren, wie fortschrittlich Kenia ist.“ Im gleichen Atemzug ergänzt er, dass der Gütertransport trotz neuer Bahnstrecke weiterhin auf der Straße statt der Schiene ablaufen werde: „Über Tochterunterneh- men und Firmenanteile verdient die Elite des Landes kräftig am LKW-Verkehr mit. Und auf diese Einnahmen werden sie nicht verzichten.“ Einzige Alternative, sind sich die SGR- Kritiker einig, wäre ein massiver Ausbau des Straßennetzes. Der hat vereinzelt tat- sächlich schon begonnen denn auch hier gehen die chinesischen Unternehmer mit Tatkraft ans Werk. So sieht Bahnfahren im Kenia des 21. Jahrhunderts aus: Die Zugbegleiterinnen lächeln, in den Abteilen plätschert leise Musik, zwei Mal wird durchgewischt. FLORIAN STURM (3) „Die Bahn hat Kenia zu dem Land gemacht, das es heute ist“, sagt Maurice Barasa. Kariuki Kimiti war Lokführer beim Lunatic Express, ehe ihm 1998 gekündigt wurde. KARL -GEROLD - STIFTUNG Dieser Text entstand mit Unterstützung eines Reisestipendiums der Karl-Gerold- Stiftung. Die Karl-Gerold-Stiftung ist Mitbe- sitzerin der FR. Sie hilft Studierenden und jungen Journalistinnen und Journalisten. Die Stiftung orientiert sich bei dem Reise- stipendium an ihrem Stifter Karl Gerold, der aus eigener Erfahrung stets die Bedeu- tung von Reisen junger Menschen zum Erwerb von Welterfahrung und Weltzuge- wandtheit betonte. Dabei geht es aus- drücklich nicht alleine um das Abarbeiten konkreter, vor Reisebeginn durchgeplanter Recherchen, sondern stets auch um Offen- heit für neue, womöglich unerwarteter Ein- drücke und deren journalistische Aufarbei- tung. Der FR-Chefredakteur und Herausgeber Karl Gerold hat die Stiftungsverfassung noch zu seinen Lebzeiten festgelegt. Die Stiftung wurde nach seinem Ableben auf- grund seiner testamentarischen Verfü- gung errichtet. In diese Stiftung wurden von Karl Gerold und seiner Ehefrau Elsy Gerold-Lang wesentliche Teile ihres Ver- mögens eingebracht. FR Viele Orte gibt es nur, weil dort Schienen verlegt wurden 3,4 Milliarden Dollar hat das „Prestige-Projekt“ bisher gekostet

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24 Magazin SAMSTAG / SONNTAG, 10. / 11. FEBRUAR 2018 74. JAHRGANG NR. 35 Frankfurter Rundschau Frankfurter Rundschau SAMSTAG / SONNTAG, 10. / 11. FEBRUAR 2018 74. JAHRGANG Nr. 35 Magazin 2524

Ein Zug insUngewisseMehr als ein Jahrhundert war eine Schmalspurbahn ausder Kolonialzeit die Lebensader Kenias. Dann wurdeeine neue Strecke gebaut, um das ostafrikanische Landins 21. Jahrhundert zu befördern – und die Waren vonden überfüllten Straßen zurück auf die Schiene zuholen. Seit neun Monaten rollt die neue Bahn durchsLand – und sorgt immer wieder für Streit

Von Florian Sturm

Das Steuerpult für die Signalanlagedes Bahnhofs von Nakuru erinnertan eine elektronische Orgel. Un-

zählige Hebel, Knöpfe und mit Instruktio-nen versehene Messingplatten lassen dieKomplexität der Apparatur erahnen. Vol-ler Stolz steht Mary W. Kimani im Signal-häuschen des Bahnhofs und streicht be-hutsam den Staub von der Anlage: „Langehatten wir hier eines der modernstenWeichensysteme im ganzen Land. Vonhier oben konnten wir jedes einzelne der19 Gleise ansteuern. Alles lief elektro-nisch.“ Wenn die Bahnhofsvorsteherinjetzt die Schalter umlegt, passiert: nichts.2009 ordnete die Regierung die Rückkehrzur manuellen Steuerung an. Seithermüssen Kimani und ihre Kollegen jedeWeiche wieder per Hand umlegen. Fort-schritt sieht anders aus.

Der einst drittgrößte Bahnhof Kenias,160 Kilometer westlich von Nairobi, wirktwie aus einer Geisterstadt: Die Farbe blät-tert von den Wänden, drinnen liegt Bau-schutt in der Ecke, darüber hängt nochdas Foto eines prächtigen Dampfers aufdem Viktoriasee. Viele der Gleise sindlängst von Gestrüpp überwuchert.

Dabei steckt ganz Kenia im Eisen-bahnfieber. Am 31. Mai 2017 weihte Präsi-dent Uhuru Kenyatta die Standard GaugeRailway (SGR) ein – Kenias bislang teuers-tes Infrastrukturprojekt seit der Unabhän-gigkeit 1963. Gebaut mit chinesischemGeld. Die neue Bahn hat den sogenanntenLunatic Express, eine noch aus Kolonial-zeiten stammende und zuletzt kaumfunktionstüchtige Schmalspurbahn, er-setzt. Und soll den Personen- und Güter-verkehr von den überfüllten Straßen zu-rück auf die Schienen holen. Doch inzwi-schen bezweifeln immer mehr der 45 Mil-lionen Kenianer, dass die Pläne der Regie-rung aufgehen werden – und erkennenstattdessen andere Gründe dafür, dass der

Lunatic Express nach und nach aufs Ab-stellgleis befördert wurde.

Kaum etwas ist für Kenia wichtiger alsdie Eisenbahn. Wirtschaftlich, kulturellund politisch. Die Briten bauten über dieJahrhundertwende den Lunatic Express,der über 100 Jahre zur Lebensader desLandes werden sollte. Sie führte vonMombasa, dem wichtigsten Hafen Ostafri-kas, über Nairobi bis nach Kisumu amVictoriasee und wurde über die Jahrzehn-te bis weit nach Uganda hinein erweitert.Zu Hochzeiten profitierten mehr als 30Millionen Menschen entlang des Nördli-chen Korridors, der bedeutendsten Han-delsroute Ost- und Zentralafrikas, von derBahn. Ohne sie wären die BinnenländerUganda, Ruanda, Burundi, Südsudan unddie Demokratische Republik Kongo vomWelthandel abgeschnitten.

„Diese Eisenbahn hat Kenia zu dem Landgemacht, das es heute ist. Viele Orte gibtes nur, weil dort Schienen verlegt wur-den“, sagt Maurice Barasa. Er ist seit 1972Kurator des Nairobi Railway Museum,aber Besucher führt er nur noch seltenüber das Gelände im Herzen der Haupt-stadt. Der Souvenirshop neben seinemBüro ist abgeschlossen. Die Miniaturloks,Bildbände und Postkarten, die einst inden Regalen standen, sind längst ver-schwunden.

Mit seinem müden Blick, der leichtuntersetzen Figur und dem blauweiß-ka-rierten Hemd wirkt auch Barasa wie ausder Zeit gefallen. Dennoch berichtet ervoller Enthusiasmus von der glorreichenVergangenheit des Lunatic Express: VonTausenden Passagieren und Güterwag-gons, die täglich im gesamten Land um-

herfuhren; von zahlreichen Hindernissenwährend der Bauphase und luxuriösenErste-Klasse-Fahrten, in deren Verlaufadrett gekleidete Kellner Fünfgang-Menüsservierten.

Doch in den vergangenen dreißig Jah-ren ist die Bahn zunehmend in die Kritikgeraten. Verbogene Schienen und Unfälleführten zu heftigen Verspätungen, nachEntgleisungen gab es immer wieder To-desopfer, Teilabschnitte der Strecke wur-den stillgelegt. Als Folge wichen sowohlFracht- als auch Personenverkehr auf dieStraßen aus. Die sind inzwischen heillosüberfüllt und zählen zu den gefährlichs-ten der Welt. Auf den meist zweispurigenStraßen drängeln sich unzählige Lastwa-gen Stoßstange an Stoßstange durchsLand. Laut Berichten der nationalen Ver-kehrs- und Sicherheitsbehörde NTSA ster-ben monatlich über 230 Menschen als Fol-ge eines Verkehrsunfalls. Auch deshalbbraucht Kenia eine Eisenbahn: um dieStraßen wieder zu entlasten.

An einer dieser verstopften Straßensteigt Nirmit Dave aus einem azurblauenReisebus, reckt die Arme in die Höhe undnimmt einen tiefen Atemzug. Eigentlichsollte der Geschäftsmann schon längst inMombasa sein. Vor zwölf Stunden war erin Nairobi in den Bus gestiegen. Mit ihmgut 40 weitere Passagiere, die entwederberuflich an der Küste zu tun haben oderdort die Zeit um die Jahreswende verbrin-gen wollen. Inzwischen ist es weit nachMitternacht und noch immer sind es 120Kilometer bis Mombasa. Seit zwei Stun-den gleicht der zweispurige Highway, dieeinzige annehmbare Straße zwischen Ke-nias beiden größten Städten, einem fünf-spurigen Parkplatz. Irgendwo habe derRegen die Straße überspült, heißt es. „Kei-ne Ahnung, wann wir weiterfahren kön-nen, aber es wird wohl noch eine Weiledauern. Vielleicht verbringen wir auch dieganze Nacht hier“, sagt Dave.

Bei keinem der Reisenden macht sichResignation oder Wut breit. Das Verkehrs-problem ist längst Normalität. Nach 15statt der geplanten acht Stunden wird Da-ve Mombasa schließlich erreichen.

Rettung aus diesem Verkehrschaosverspricht sich Kenia von der neuenBahnlinie. Auch ein halbes Jahr nach derJungfernfahrt des Madaraka Express –dem ersten Teilstück zwischen Mombasaund Nairobi – ist die Euphorie in der Be-völkerung ungebrochen. Die Tickets sindmitunter wochenlang im Voraus ausge-bucht. Erstens weil es nur vier Fahrtentäglich gibt – zwei in jede Richtung –,zweitens weil jede Fahrkarte an einen der1088 Sitzplätze im Zug gebunden ist. Seitdem Jahreswechsel müssen die Ticketsnun sogar 30 Tage im Voraus gebucht wer-den. „Das helfe, den Service weiter zu ver-bessern“, sagt Atanas Maina, Geschäfts-führer von Kenya Railways.

Gladys Maina sitzt entspannt auf ih-rem Fensterplatz, die Augen geschlossen,und genießt die sanfte Popmusik, die ausden Lautsprechern im SGR-Abteil klingt.Die 27-Jährige arbeitet zweieinhalb Stun-

den nördlich von Nairobi und besucht ih-re Familie in Mombasa. „Früher mussteich durch die langen Busfahrten meist ei-ne Nacht in Nairobi bleiben, ehe ich wei-terreisen konnte. Jetzt ist alles viel zuver-lässiger und bequemer“, sagt Maina. DieSchmalspurbahn hat sie nie genommen.Zu unsicher.

Maina fährt zum fünften Mal mit der SGR.Heute erstmals im VIP-Bereich. Der ist mit27 Euro fast vier Mal so teuer wie die 2.Klasse. Die günstigen Tickets waren be-reits ausverkauft, wurde ihr gesagt. Wirk-lich glauben kann sie das nicht. Es ist einoffenes Geheimnis, dass der Schwarz-markthandel mit den SGR-Tickets boomt.Woher die Karten kommen, lässt sichnicht genau ermitteln. Mutmaßlich sindes Mitarbeiter des Betreibers, Kenya Rail-ways, die die Tickets aus dem offenen Ver-kauf nehmen und bei Bedarf für ein Viel-faches verkaufen. Der Profit wandert indie eigene Tasche.

Die neuen Bahnhöfe liegen weit au-ßerhalb der Stadtgrenzen von Nairobioder Mombasa – und sind gewissermaßender Gegenentwurf zum alltäglichen Ver-kehrschaos: Alles ist geräumig, sauber,einladend. Am Eingang des pompösenGebäudes stehen Sicherheitsleute mitDrogenspürhunden und kontrollieren Ge-päck und Passagiere. Das Personal lässtdie Reisenden nicht einen Moment ausden Augen. Erst wenn der Zug bereitsteht,werden sie nach einer erneuten Ticket-kontrolle auf den Bahnsteig geleitet, es pa-trouilliert die kenianische Armee, kenia-nische Zugbegleiter verkaufen Essen undGetränke, danach wischt die kenianischePutzkolonne während der knapp sechs-stündigen Fahrt zweimal den Fußboden.Hin und wieder läuft auch ein chinesi-scher Techniker durchs Abteil.

Eine der Bedingungen von chinesi-scher Seite, um Kenia den Milliardenkre-dit zu gewähren: Die Chinesen sollen inden ersten zehn Jahren die wichtigentechnischen Positionen bekleiden – umihre kenianischen Kollegen anzulernen.Tatsächlich prangt in jedem Abteil einechinesische Flagge direkt neben der ke-nianischen, die Feuerlöscher sind mitenglischen sowie chinesischen Schriftzei-chen versehen und die Uniformen derZugbegleiterinnen erinnern an die Farb-symbolik Chinas. Die enge Partnerschaftder beiden Länder ist nicht zu übersehen.

Von einer Partnerschaft im klassi-schen Sinne könne jedoch keine Redesein, meint Kariuki Kimiti. Der 52-Jährigearbeitete selbst lange als Ingenieur undLokführer beim ausrangierten Lunatic Ex-press, ehe ihm 1998 gekündigt wurde. Of-fizieller Grund waren Sparmaßnahmen,

doch vielleicht wurde Kimiti einfach zuunbequem. Immer wieder bemängelte erden fahrlässigen Umgang mit den Zügen,die fehlenden Wartungsarbeiten. Dass dieBahn zuletzt in einem so miserablen Zu-stand war, läge keineswegs am Alter, sagtKimiti. Viele der Gleise seien auch nachüber 100 Jahren gut in Schuss und dort,wo es Probleme gab, hätte man ohne vielAufwand alles instand setzen können.

Diese Ansicht teilt auch Kwame Owi-no. Der Geschäftsführer des Institute ofEconomic Affairs Kenya ist überzeugt,dass eine Modernisierung der altenSchmalspurbahn genauso effektiv, aberdeutlich günstiger gewesen wäre als derSGR-Neubau. Bereits das erste Teilstückzwischen Mombasa und Nairobi ver-schlang 3,4 Milliarden Euro – 800 Millio-nen mehr als ursprünglich geplant. Geld,das Kenia nicht hat. Der Staatshaushalt istseit der Jahrtausendwende fast durchwegdefizitär. 2016 überstiegen die Importeden Wert der Exporte um das Zweiein-halbfache, die Direktinvestitionen der ke-nianischen Diaspora sinken. Zwar erholtsich der für das Land so wichtige Touris-mussektor langsam vom somalischen al-Shabaab-Terror, doch das allein wird nichtreichen. Noch immer beträgt die Staats-verschuldung 53,5 Prozent des Bruttoin-landprodukts.

China hingegen hat genügend finan-zielle Mittel. Allein 2016 investierte dasLand über 17 Milliarden Dollar in ganzAfrika. Auch knapp 90 Prozent der Bau-kosten des Madaraka Express werden vonChina getragen. Und da das Schienennetzbis nach Uganda erweitert wird, werdeauch der Schuldenberg weiter wachsen,vermutet Owino. Finanzexperten schät-zen, dass es über 100 Jahre dauern wird,bis dieser wieder abgebaut ist. Von Regie-rungsseite heißt es, die SGR würde zu ei-nem Wirtschaftswachstum von mindes-tens 1,5 Prozent führen. Dem Argumentglaubt Owino nicht: „Bis auf die Bahnhöfeist die Strecke komplett eingleisig. Siewird weder das Fracht- noch das Finanz-volumen erreichen, um jemals profitabelzu sein.“

Warum die SGR trotzdem gebaut wur-de? „Es ist ein reines Prestigeprojekt“,meint Kimiti. „Die Regierung will de-monstrieren, wie fortschrittlich Kenia ist.“Im gleichen Atemzug ergänzt er, dass derGütertransport trotz neuer Bahnstreckeweiterhin auf der Straße statt der Schieneablaufen werde: „Über Tochterunterneh-men und Firmenanteile verdient die Elitedes Landes kräftig am LKW-Verkehr mit.Und auf diese Einnahmen werden sienicht verzichten.“

Einzige Alternative, sind sich die SGR-Kritiker einig, wäre ein massiver Ausbaudes Straßennetzes. Der hat vereinzelt tat-sächlich schon begonnen – denn auchhier gehen die chinesischen Unternehmermit Tatkraft ans Werk.

So sieht Bahnfahren im Kenia des 21. Jahrhunderts aus: Die Zugbegleiterinnen lächeln, in den Abteilen plätschert leise Musik, zwei Mal wird durchgewischt. FLORIAN STURM (3)

„Die Bahn hat Kenia zu dem Land gemacht, das es heute ist“, sagt Maurice Barasa.

Kariuki Kimiti war Lokführer beim Lunatic Express, ehe ihm 1998 gekündigt wurde.

KARL -GEROLD -STIFT U N G

Dieser Text entstand mit Unterstützungeines Reisestipendiums der Karl-Gerold-Stiftung. Die Karl-Gerold-Stiftung ist Mitbe-sitzerin der FR. Sie hilft Studierenden undjungen Journalistinnen und Journalisten.Die Stiftung orientiert sich bei dem Reise-stipendium an ihrem Stifter Karl Gerold,der aus eigener Erfahrung stets die Bedeu-tung von Reisen junger Menschen zumErwerb von Welterfahrung und Weltzuge-wandtheit betonte. Dabei geht es aus-drücklich nicht alleine um das Abarbeitenkonkreter, vor Reisebeginn durchgeplanterRecherchen, sondern stets auch um Offen-heit für neue, womöglich unerwarteter Ein-drücke und deren journalistische Aufarbei-tung.

Der FR-Chefredakteur und HerausgeberKarl Gerold hat die Stiftungsverfassungnoch zu seinen Lebzeiten festgelegt. DieStiftung wurde nach seinem Ableben auf-grund seiner testamentarischen Verfü-gung errichtet. In diese Stiftung wurdenvon Karl Gerold und seiner Ehefrau ElsyGerold-Lang wesentliche Teile ihres Ver-mögens eingebracht. FR

Viele Orte gibt es nur, weil

dort Schienen verlegt wurden

3,4 Milliarden Dollar hat das

„Prestige-Projekt“ bisher gekostet