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Page 1: FAZ-FHlöjsT PolitologieOhne Zahlen keine Wahlenrenzen ... · 70 WISSENSCHAFT FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 15. SEPTEMBER 2013, NR. 37 73 Lange hatten die Verfassungs-richterÜberhangmandatetoleriert–

7 0 W I S S E N S C H A F T F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N T A G S Z E I T U N G , 1 5 . S E P T E M B E R 2 0 1 3 , N R . 3 7 7 3

Lange hatten die Verfassungs-richterÜberhangmandatetoleriert–in der Fünf-Prozent-Hürde, die in-folge der Erfahrungen mit dersperrklausellosen Weimarer Ver-hältniswahl eingeführt wordenwar, weicht das deutsche Systemohnehin von der reinen Lehre ab.Doch ein negatives Stimmgewichtwar nicht hinnehmbar. Der Ge-setzgeber wurde zu einer Korrek-tur des Wahlgesetzes verdonnert,der er zögerlich nachkam. Bevordie meisten Fraktionen sich auf ei-ne Novelle einigen konnten, gab esVorschläge von Union und FDP,der SPD, den Grünen und der Lin-ken, die entweder das negativeStimmgewicht nicht beseitigt oderheilige Kühe geschlachtet hätten,etwa die zwingende Vergabe einesgewonnenen Direktmandats (Grü-ne) oder die Sperrklausel (Linke).

Das nun beschlossene Wahlver-fahren (siehe „Das neue Verfah-ren“) erfüllt alle Vorgaben des Ver-fassungsgerichts und lässt auch dieFinger von den heiligen Kühen. Eslöst das Problem vor allem da-durch, dass der Bundestag soweitvergrößert wird, dass die Mandate,die nach dem alten VerfahrenÜberhangmandate gewesen wären,immer ausgeglichen werden.

Letzlich führt dies wohl stets zueinem größeren Parlament – in al-len Wahlen bisher hätte sich derBundestag mit diesem System ver-größert. Das Ausmaß der Aufblä-hung hängt von Details wie unter-schiedlichen Wahlbeteiligungen inden Ländern ab, aber auch von derAnzahl der Parteien, die in denBundestag einziehen. Jede weitereFragmentierung des Parteienspek-trums würde wahrscheinlich einezusätzliche Vergrößerung desBundestages nach sich ziehen.

Der Mathematiker FriedrichPukelsheim von der UniversitätAugsburg, der das aktuelle Wahl-verfahren mitentwickelt hat, hältbis zu 800 Abgeordnete für denk-bar. Sollte es in einer der nächstenBundestagswahlen dazu kommen,erwartet Pukelsheim eine Diskus-sion darüber, wie die Sitzzahl nachoben begrenzt werden könnte, viel-leicht auf 700. Aber ginge das, oh-ne die beiden Prinzipien Verhält-niswahl und Mandantsgarantie für

Elementen die Lösung, die demWähler die „koalitionspolitischeKatze im Sack“ in der Regel er-sparte. Ein völliger Bruch mit derdemokratischen Tradition unseresLandes wäre das nicht, stellt dochbereits die Sperrklausel alias Fünf-Prozent-Hürde eine Verletzungdes reinen Verhältniswahl-Idealsdar. So gingen 2009 sechs Prozentder gültigen Stimmen nicht in die

Berechnung der Sitzverteilung ein,weil sie auf Parteien entfielen, dieunter den fünf Prozent blieben.

Der Preis eines Wechsels zu ei-nem reinen Mehrheitssystem wäreallerdings das Verschwinden klei-ner Parteien (siehe mittlere Grafikoben rechts), insbesondere derFDP. Auch wenn der Bundestag ei-ne solche Änderung des Wahl -systems mit einfacher Mehrheitbeschließen könnte, wäre dies nichtdurchsetzbar, weswegen Falter aufdie Möglichkeit eines sogenanntenGrabenwahlsystems aufmerksammacht, das ebenfalls Überhang-mandate und das damit zu-sammenhängende Problems desnegativen Stimmgewichts restlosbeseitigen würde, dabei aber ein -facher wäre als das gerade frisch re-formierte Wahlrecht. Denn dabeiwürde der Bundestag eine kon-stante Anzahl von Sitzen umfassen,

Gerechte AlgorithmenIn Verhältniswahlsystemen sollte eine vorgegebene Zahl von Parlamentssitzen auf die Parteien idealerweise pro-portional zu deren Stimmenanteilen verteilt werden. Eine analoge Aufgabe ist die Verteilung nationaler Ab ge ord -ne ten sitze auf Bundesstaaten proportional zu deren Bevölkerung. Das Problem: Sitzstärken sind ganze Zahlen,Stimm- oder Bevölkerungsanteile nicht. Perfekt kann solch eine Verteilung daher nicht gelingen. Es gibt aber ver-schiedene Verfahren, um sich dem Ideal anzunähern. Drei häufig verwendete sind:

Hare/NiemeyerMethode mit Ausgleich nach größten Resten

Eine Dreisatzrechnung ermittelthier zunächst für jede Partei derenQuote – also wie viele Sitze die Par-tei bekäme, wenn es gebrochenzah-lige Parlamentssitze gäbe. Derganzzahlige Anteil ihrer Quote gibtdann die Sitzzahl, die jede Partei si-cher hat. Von den verbliebenen Sit-zen bekommt dann den ersten diePartei, deren Quote den größtenRest aufweist, den zweiten die Par-tei mit dem zweitgrößten Rest undso fort, bis alle Sitze verteilt sind. Von 1987 bis 2005 wurde die Sitz-verteilung im Deutschen Bundestagmit diesem Verfahren ermittelt, dasnach dem Briten Thomas Hare(1806 bis 1891) und dem DeutschenHorst Niemeyer (1931 bis 2007) be-nannt ist. Es garantiert den ParteienSitzzahlen, die auf einen Sitz genaumit ihrer Quote übereinstimmen,hat aber den Nachteil, die soge-nannte Hausmonotonie zu verlet-zen: Wird das Parlament vergrößertund die Sitze danach neu verteilt,kann es vorkommen, dass eine Par-tei Sitze verliert, obgleich ihr Wäh-lerstimmenanteil unverändert blieb.Auch die Stimmenmonotonie istnicht gesichert: Gewinnt eine Parteivon einer Wahl zur anderen Stim-men auf Kosten einer anderen, kanneine dritte Partei unter UmständenSitze verlieren, auch wenn sich dieAnzahl ihrer Wähler nicht ändert.

D’HondtAusgleich nach größten Quotienten,Divisormethode mit Abrundung

Die Zahl der Wählerstimmen, dieauf jede Partei entfallen sind, wer-den hier nacheinander durch dieZahlen 1, 2, 3, 4, 5, … geteilt. Man er-hält lauter Quotienten, die nun derGröße nach geordnet werden. Dannwerden die Sitze der Reihe nach ver-teilt: Der erste Sitz bekommt die Par-tei mit dem größten Quotient, denzweiten die mit dem zweitgrößtenund so weiter, bis alle Sitze vergebensind. Das Verfahren ist äquivalent zueinem Divisorverfahren mit Abrun-dung: Dazu teilt man zunächst dieGesamtzahl der Wähler durch dieder Sitze. Das ergibt den Divisor.Durch diesen teilt man die Stimmenjeder Partei, rundet dann ab und ver-gibt die sich ergebenden ganzenZahlen als Sitze. Da dann im Allge-meinen Sitze übrig bleiben, wieder-holt man das Ganze mit einem etwaskleineren Divisor so lange, bis maneinen findet, bei dem alle Sitze zu-gewiesen werden können.Bis ins Jahr 1983 wurde das nachdem belgischen Rechtswissenschaf-ler Victor d’Hondt (1841 bis 1901)benannte Verfahren für die Ermitt-lung der Sitzverteilung im Deut-schen Bundestag benutzt. Dannwurde es durch das Hare/Niemeyer-Verfahren abgelöst, da es die größ-ten Parteien systematisch begün-stigt, kleinere dagegen benachtei-ligt (siehe „Leicht Verzerrt“).

Sainte-Laguë/SchepersDivisormethode mit Standardrundung

Wie beim Verfahren nach d’Hondtbestimmt man hier zuerst einen Di-visor, indem man Gesamtwählerzahldurch Gesamtsitzzahl teilt. ImGegensatz zu d’Hondt wird nach derTeilung der Wählerstimmen einerPartei durch den Divisor aber kauf-männisch gerundet (bei Resten klei-ner 0,5 ab-, sonst aufgerundet), umdie erste Näherung der Sitzvertei-lung zu bestimmen. Da dabei meistnicht alle Sitze zugewiesen werden,wiederholt man – ebenfalls wie beid’Hondt – die Rechnung mit einemkleineren Divisor, bis es passt.Seit 2008 werden Bundestagssitzenach der Methode verteilt, die nachdem französischen Mathematiker An-dré Sainte-Laguë (1882 bis 1950) be-nannt ist sowie nach dem PhysikerHans Schepers (*1928), der sie alsLeiter der EDV-Abteilung des Bundes-tages unabhängig entdeckte. Wie dasd’Hondt-Verfahren bewahrt sie Haus-und Stimmenmonotonie, benachtei-ligt dabei aber kleinere Parteien nicht(siehe „Leicht verzerrt“). Außerdemschwanken hier die Quotienten ausWählerstimmen- und Sitzzahlen derverschiedenen Parteien im Schnitt amwenigsten um den Idealwert des Quo-tienten aus Gesamtwählerzahl undGesamtsitzzahl. Dem Ideal, jeder Sitzmöge die gleiche Wählerzahl reprä-sentieren, ist man hier also am näch-sten gekommen. UvR

Deutschland kürt seinParlament nach einemVerhältniswahlsystem.Ein solches gilt oft alsgerechter verglichenmit der Mehrheitswahl.Allerdings kann mandas auch anders sehen.VON ULF VON RAUCHHAUPT

Was wollte der Wähler denn nun?Wenn am kommenden Sonntag-abend die ersten Trends und Pro-gnosen über die Bildschirme lau-fen, dann könnte die Frage wiedergestellt werden – von Kommenta-toren und Moderatoren, bei Inter-views und in der sogenannten Ele -fan ten runde. Nach der Bundes-tags wahl 2005 war man hierbesonders ratlos. In den Umfragendirekt vor dem Urnengang hattesich damals ein Viertel der Wahl-berechtigten für die Fortführungder rot-grünen Koalition ausge-sprochen, fast ein Drittel favori-sierte Schwarz-Gelb. Eine großeKoalition dagegen wäre damals we-niger als 15 Prozent der Befragtenlieber gewesen. Doch zu genau derkam es dann. Oder 1998. Damalsrechneten viele Unionswähler mit

Politologie Kommenden Sonntag können 61,8 Millionen Bundesbürger ihre Stimme abgeben. Daraus ein Parlament zusammenzustellen, das die Präferenzen möglichst vieler Wähler gerecht widerspiegelt, ist eine Wissenschaft für sich.

Ohne Zahlen keine Wahlen

Im 17. Deutschen Bundestag mit seinernach altem Wahlgesetz aus den Wahlen2009 berechneten Sitzverteilung saßen direkt nach der Wahl 622 Abgeordnete, davon waren 24 Überhangmandate.

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Der Proportionalität wegen gel-ten Verhältniswahlsysteme als be-sonders gerecht, da auch Parteien,die nur eine Minderheit der Wäh-ler ansprechen, Aussicht auf Abge-ordnetensitze haben und dieseMinderheit damit im Parlamentvertreten ist. Damit wird unter an-derem eine „Tyrannei der Mehr-heit“ verhindert, die Minderhei-tenpositionen keine Chance gibt,in der politischen Arbeit vielleichteinmal mehrheitsfähig zu werden.

Als Nachteil der Verhältniswahlwird empfunden, dass Parteien ge-wählt werden, nicht die Personen.Dem lässt sich dadurch begegnen,dass man den Wähler nicht unterstarren Parteilisten auswählenlässt, sondern ihm die Möglichkeitgibt, einzelnen Personen auf derListe zu einer höheren Chance zuverhelfen, einen Sitz der gewähltenPartei zu bekommen. Alternativkann man dem Wähler zusätzlichzur Zustimmung zu einer Parteidie Zustimmung zu einem Kandi-daten seines Wahlkreises ermög-lichen. Das geschieht in Deutsch-land mit der Erststimme. Über dasparlamentarische Kräfteverhältnisentscheidet trotzdem allein dieZweitstimme – vom dem jetzt ab-gestellten Problem der Überhang-mandate sowie der Sperrklausel ab-gesehen – in reiner Verhältniswahl.

sentiert. Von Proportionalitätkann hier also keine Rede sein,weswegen Mehrheitswahlsystemein den Augen mancher ein Ge-rechtigkeitsdefizit haben.

Das setzt aber einen bestimmtenBegriff von Gerechtigkeit voraus.Wie man eine „Tyrannei derMehrheit“ für ungerecht haltenkann, so auch eine „Tyrannei derMinderheit“, die ihre Koopera-tionsbereitschaft an die Durchset-zung von Partikularinteressenknüpft. Ebenso wie jemand Ge-rechtigkeit vermisst, wenn die Par-tei seiner Wahl es nicht ins Parla-ment schafft, kann es ein andererals ungerecht empfinden, wennseine Partei eine Koalition mit ei-ner anderen eingeht, die er odersie nie an der Regierung sehenwollte – eine Situation, die in ei-nem Mehrheitswahlsystem deut-lich unwahrscheinlicher ist.

Die Frage, ob nun Mehrheits-oder eine Verhältniswahl besser,gerechter oder demokratischer sei,ist allgemein und theoretisch somitkaum zu beantworten. Aber auchempirisch ist die Sache schwierig.Kaum ein Beispiel, das nicht sofortein Gegenbeispiel auf den Plan ru-fen würde, das genauso wenig freivon Vorurteilen ist. Hat nicht dasMehrheitssystem in den Vereinig-ten Staaten zu der beispiellosen po-litischen Kontinuität dort beige-tragen? Ja, aber eine grüne Partei,die gerade dieses Land so be-sonders nötig hätte, bleibt dort oh-ne Chance. Ist das Verhältnis -system in Italien nicht mitschuldigan dem politischen Dauerchaosdort? Schon, aber das geht nun be-reits Jahrzehnte so, ohne dass dasLand zusammengebrochen wäre.

Eine Frage des KontextesDie Politikwissenschaftler musstensogar feststellen, dass noch nichteinmal die berühmte These richtigist, die der Franzose Maurice Du-verger 1959 aufgestellt hatte undnach der Verhältniswahlsystemeam Ende stets zu einem Vielpar-teienparlament und Mehrheits -systeme zu einem Zweiparteien-staat führen. „Unser Erfahrungs-wissen hat sich in den letztenJahrzehnten erheblich vermehrt“,schrieb Dieter Nohlen, Emeritusan der Universität Heidelberg 2011.„Dabei hat sich erwiesen, dass einMehrheitswahlsystem im Ver-gleich zu einem Verhältniswahlsy-stem in einem Fall mehr konzen-trierende, im anderen mehr frag-mentierende Wirkung auf dasParteiensystem haben kann.“

Damit ist auch die Gerechtigkeiteines Wahlsystems eine Frage desKontextes, etwa dem, der durchandere Elemente des politischenSystems eines Landes gegeben ist.Gerd Strohmeier, der heute an derTU Chemnitz lehrt, hat 2006 einenArtikel mit dem provokantenUntertitel „Warum die Mehrheits-wahl gerechter ist als die Verhält-niswahl“ veröffentlicht. Dortunterscheidet er zwischen einerEbene der parlamentarischen Re-präsentation und einer der parla-mentarischen Entscheidungen.Letztere sei in der politischen Pra-xis die wichtigere und damit die -jenige, bei der Gerechtigkeits -erwägungen anzusetzen hätten.Aber dabei kommt es eben auf denKontext an, speziell den des Re-gierungssystems. In Präsidential-systemen, in denen die Regierungnicht aus dem Parlament hervor-geht, es keine Koalitionen und kei-ne starke Fraktionsdisziplin gibt,können die Parteien im Einzelnenauf der Entscheidungesbene dasvertreten, wofür sie vor der Wahlstanden. Eine proportionale Ver-tretung, wie sie ein Verhältnis-wahlsystem erzeugt, ist damit hiereindeutig die gerechtere. In parla-

verfehlter Fünf-Prozent-Hürdemit der Stärke ihres Zweitstim-menanteils in den Bundestag gezo-gen. Eine große Koalition wäredann unausweichlich geworden.

„Das ist eine deutliche Schwä-che unseres Wahlsystems“, sagtJürgen Falter von der UniversitätMainz. Seit Jahren weist der Poli-tologieprofessor darauf hin, dassinfolge der seit 1990 stärker frag-mentierten Parteienlandschaft sol-che Effekte häufiger werden undder Parteien- und Politikverdros-senheit weiter Vorschub leisten,zumal die Spitzenpolitiker nie anihren Aussagen vor der Wahl ge-messen werden könnten, da sie janicht genau wissen, mit wem sienach der Wahl koalieren. „DieWähler“, sagt Falter, „kaufen beiihrer Stimmabgabe koalitionspoli-tisch die Katze im Sack.“

Das schwierige IdealDamit kritisiert Falter ein Wahl -sys tem, das auch im Ausland in ho-hem Ansehen steht. Es nennt sich„personalisierte“, genauer, „mit ei-ner Personenwahl verbundeneVerhältniswahl“ und gehört damitzu einer der beiden Grundtypen, indie sich Verfahren zur Wahl vonParlamenten einteilen lassen. Ver-hältniswahlsysteme legen das Ge-wicht auf eine möglichst propor-

Das neue Verfahren1. Die Größe des Bundestags istnach dem seit diesem Jahr gültigenWahlgesetz nicht starr vorgegeben,sondern wird vorab berechnet. Dasgeschieht in drei Schritten. Man be-ginnt mit den bisherigen 589 regu-lären Sitzen. Diese werden mit demSainte-Laguë/Schepers-Verfahren(siehe „Gerechte Algorithmen“) aufdie Bundesländer nach deren Bevöl-kerungsanteil verteilt. Dann wird fürjedes einzelne Land aus der dortigenZweitstimmenverteilung ermittelt,wie viele der auf dieses Land entfal-lenden Sitze den einzelnen Landes-listen der Parteien zustehen. Das ge-schieht wieder nach Sainte-Laguë/Schepers. Diese Sitzzahl oder, fallsgrößer, die Zahl der gewonnenen Di-rektmandate wird für jede Landes -liste vorgemerkt und dann für jedePartei bundesweit addiert. Schließ-lich wird die Sitzzahl des Bundes -tages so lange erhöht, bis jede Par-tei mindestens so viele Sitze erhält,wie ihre bundesweiten Sitzvormer-kungen verlangen.

2. Die Verteilung dieser Bundes-tagssitze auf die Parteien, auchOberverteilung genannt, ermitteltman aus dem bundesweiten Zweit-stimmenergebnis abermals nachSainte-Laguë/Schepers.

3. Für die Zuweisung der Sitze anPersonen, die Unterverteilung, wirdfür jede Landesliste ermittelt, wieviele Sitze aus der Oberverteilung ihrzustehen. Dazu wird eine Variantedes Sainte-Laguë/Schepers-Verfah-rens verwendet, bei dem die Stim-menzahl pro Sitz (der Divisor) so be-stimmt wird, dass die bundesweiteSumme der Landeslisten-Zuweisun-gen einer Partei ihrer Sitzzahl ausder Oberzuteilung entspricht. DieseLandeslisten-Zuweisungen sind abernun nicht einfach die aus den Zweit-stimmenerfolgen. Vielmehr wirdverglichen: Ist die nach Zweitstim-men berechnete Sitzzahl kleiner alsdie Zahl der Direktmandate der be-treffenden Partei im betrachtetenLand, kommen hier nur die Wahl-kreissieger in den Bundestag. Ist siegrößer, ziehen zusätzlich zu denWahlkreissiegern auch entspre-chend viele Kandidaten der Landes-liste ein. Die vorab kalkulierte Größedes Bundestages stellt sicher, dassdie Oberzuteilung immer minde-stens so viele Sitze bereitstellt, wieDirektmandate zu vergeben sind,weswegen es keine Überhangman-date geben kann. Dieses Verfahrenbezeichnet man nach der Univer-sität, an der es entwickelt wurde als„Augsburger Zuteilung“. UvR

VerhältniswahlsystemeVerhältniswahlVerhältniswahl mit starren Listenpersonalisierte Verhältniswahlübertragbare Einzelstimmgebung

Mehrheitswahlsystemerelative MehrheitswahlMehrheitswahl mit StichwahlMehrheitswahl mit sofortiger Stichwahlnichtübertragbare Einzelstimmgebung

Grabenwahlsysteme

keine direkte Parlamentswahlen

Quelle: Idea

Wahlsysteme der WeltDie europäischen Kolonialreichevon einst sind noch gut zu erkennen,wenn man die Staaten der Erde da-nach einfärbt, nach welchem Prinzipdie nationalen Parlamente gewähltwerden. So hat Großbritannien seinMehrheitswahlsystem vielen Staa-ten Afrikas und Südasiens vererbt,die einst Teil des Empires waren. Diefranzösische Variante gibt es nochin West- und Zentralafrika. Und inden meisten ehemaligen spani-schen, portugiesischen und nieder-ländischen Kolonialgebieten findensich Verhältniswahlsysteme.

Es gibt allerdings Abweichungen.So haben sich Australien und Neu-seeland wahltechnisch vom einsti-gen Mutterland England getrennt,

wobei Neuseeland 1996 sogar denradikalen Wechsel von der Mehr-heitswahl zu einer personalisiertenVerhältniswahl ähnlich wie inDeutschland vollzog.

In den Einzelheiten unterscheidensich die Systeme auch innerhalb derhier mit gleicher Farbe versehenenKategorien zum Teil erheblich. Ne-ben unterschiedlichen historischenBedingungen und regionalen Gege-benheiten, etwa starken föderalenStrukturen wie in den VereinigtenStaaten, führt auch die Bedeutungbestimmter Bevölkerungsgruppenzu sehr unterschiedlichen Ausprä-gungen. Insgesamt gibt es kaumzwei Staaten, in denen nach dem-selben System gewählt wird.

Nur wenige Staaten halten gar kei-ne Parlamentswahlen ab. Selbst inder Republik Somaliland, dem nörd-lichen Fragment des kollabiertenStaates Somalia, gibt es heute einegewählte Volksvertretung. Aber wogewählt wird, können die Menschendamit noch lange nicht über ihre Re-gierung mitbestimmen: sei es, weildas Parlament nur formell existiertund nicht als solches arbeitet (wiein Nordkorea), sei es, weil ein Re -gime nur ihm genehme Kandidatenoder Parteien zulässt, die Wahlenmassiv manipuliert werden oder seies auch nur, dass Einschränkungender Pressefreiheit einen fairenWahlkampf beeinträchtigen. Wah-len allein machen eben noch langekeine Demokratie. UvR

mentarischen Regierungssystemenhingegen ist es nach Strohmeiergenau umgekehrt. Hier kommt esin nach Verhältniswahl gewähltenParlamenten oft vor, dass kleinere,also von weniger Wählern unter-stützte Parteien auf der Entschei-dungsebene einen überproportio-nalen Einfluß erhalten. Gerechtersei in parlamentarischen Demo-kratien daher ein Mehrheitswahl-

system, weil ein solches die Mehr-heiten im Wahlvolk von vorne -herein konzentriert und damit aufder wichtigeren Entscheidungs-ebene unmittelbar abbildet. Nachdieser Auffassung wäre die ameri-kanische Präsidentialdemokratiegerechter, wenn zumindest das Re-präsentantenhaus in Verhältnis-wahlen gewählt würde. Und unterbestimmten anderen, von Stroh-meier aufgezählten Kontext-Be-dingungen (die in Deutschlandderzeit erfüllt sind) wäre unser par-lamentarisches System mit einemMehrheitswahlsystem gerechter.

Diese Gerechtigkeitsauffassungsteht letzlich auch hinter Jügen Fal-ters Hinweis auf die Schwächen desderzeitigen deutschen Wahl -systems, und auch für Falter wäreder Wechsel zu einem Mehrheits-wahlsystem oder zumindest zu ei-nem mit mehrheitsverstärkenden

Das allein seligmachende Wahlsystem gibt es nicht.Wie sich Mehrheitswahl und wie sich Verhältniswahl

auswirkt, kann von Staat zu Staat verschieden sein. Für Deutschland kann die Frage nur lauten: Haben wirunter den derzeitigen Bedingungen das richtige System?

Sitzverzerrung

Mandatszahl M

0,6

0,4

0,2

0

–0,2

Partei 1Partei 2Partei 3Partei 4

0 5 10 15 20 3025

Leicht verzerrtDie Verhältniswahl strebt reine Pro-portionalität zwischen Wählerstimmenund Sitzen an. Doch neben Klauselnwie der Fünf-Prozent-Hürde verzerrenauch die Sitzzuteilungsverfahren die-ses Ideal. Wie sehr, hat hier der Ma-thematiker Udo Schwingenschlögl vonder Universität Augsburg für zwei ver-schiedene Verfahren berechnet:

Höhere Sperrklauseln (t=0.05 wäredie 5-Prozent-Hürde) verringern dieVerzerrung, hier für das d’Hondt-Verfahren, M=598 und drei Parteien.

Linke54

SPD 136

Grüne 35

CDU 261

FDP46 598

Sitze

Der 17. Deutsche Bundestag nach dem Graben-Wahlsystem

Linke16

SPD 64

Grüne 1

CSU45

299 Sitze

Der 17. Deutsche Bundestagnach reinem Mehrheitswahlrecht

Sitzverzerrung

Sperrklausel t0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5

0,6

0,4

0,2

0

–0,2

–0,4

–0,6

Partei 1Partei 2Partei 3Literatur: Jürgen W. Falter: „Mehr-

heitswahl und Regierbarkeit“, Zeit-schrift für Politikwissenschaften, 19.Jg. (2009), Sonderheft Wahlsystemre-form, 127–148. Gerd Strohmeier:„Wahlsysteme erneut betrachtet: wa-rum die Mehrheitswahl gerechter ist alsdie Verhältniswahl“, Zeitschrift für Po-litikwissenschaften, 16. Jg. (2006), Heft2, 405–425. Dieter Nohlen: „Zur Reformvon Wahlsystemen“, Zeitschrift für Po-litik, 58. Jg. (2011), Nr 3. 310–323

Nur die Direktmandate hätten gezählt, wenn 2009 Mehrheitswahlrecht gegolten hätte.Das Bild ist insofern nicht ganz realistisch, als viele dann wohl anders gewählt hätten.

Linke 85

SPD 164

Grüne 76CDU 195

CSU 47

FDP 104 671

Sitze

einer einer großen Koalition. VierMillionen von ihnen gaben daherder SPD ihre Zweitstimme – undhalfen damit ungewollt Rot-Grünin den Sattel.

Auch in der alten Bonner Repu-blik konnte sich der FDP-Wählernie ganz sicher sein, ob er mit sei-ner Stimme am Ende eine sozial -liberale oder eine christlich-libera-le Regierung ins Amt brachte.Allerdings war Koalitionsaussagendamals mehr zu trauen als in demfünf-Kräfte-Bundestag von heute.Dabei können kleine, von kaum ei-nem Wähler so gewollte Ursachengroße Wirkung haben. Hätte etwabei den Bundestagswahlen 2002 diePDS drei statt nur zwei Direkt-mandate erhalten, wäre sie trotz

Ganz anders sieht es bei Mehr-heitswahlsystemen aus. Hier setztsich das Parlament aus Kandidatenzusammen, die in ihrem Wahlkreisdie meisten Wähler hinter sichbringen konnten – entweder mitrelativer Mehrheit, wie etwa inEngland, oder nach einer Stich-wahl wie in Frankreich oder auchin Australien, wobei down underdie Stichwahl in den ersten Wahl-gang integriert ist: der Wählerkann dort zusätzlich zu seinem Fa-voriten auch Präferenzen für wei-tere Kandidaten angeben. Grup-pierungen, die nur in wenigen odergar keinen Wahlkreisen eine Chan-ce haben, ihren Kandidaten durch-zubringen, sind daher im Parla-ment kaum oder gar nicht reprä-

tionale Repräsentation: Wenn einePartei einen Prozentsatz X derWählerstimmen auf sich vereini-gen kann, dann sollten möglichst XProzent der Parlamentssitze vonihren Kandidaten besetzt sein.

In der Praxis ist diese Umrech-nung von Wählerzuspruch in Ab-geordnetensitze knifflig, vor allemwenn – wie in Deutschland – da-bei noch auf regionalen Proporzzu achten und die mit der Erst-stimme zum Ausdruck gebrachtePersonenwahl einzuarbeiten ist.Die am Anfang 2013 verabschiede-te Wahlrechtsnovelle zeigt aber,dass man sich der proportionalenRepräsentation auch hier sehr gutannähern kann (siehe „Das Kreuzmit den Überhangmandaten“).

Das Kreuz mit den ÜberhangmandatenDie Sitzverteilung des18. Bundestages wirdnach einem neuenVerfahren berechnet.Was war mit dem altennicht in Ordnung?

Die Sache im Wahlkreis Dres-den Eins brachte das Fass zumÜberlaufen. Elf Tage vor der

Bundestagswahl 2005 verstarb dort dieKandidatin der NPD. Es musste nach-nominiert werden, und die betroffenenDresdner durften erst zwei Wochenspäter wählen als der Rest der Republik– dafür mit Kenntnis des Wahlaus-gangs anderswo. Damit wussten dieCDU-Anhänger unter ihnen, dass ih-re Partei wahrscheinlich ein Bundes-tagsmandat verlieren würde, wenn siezu viele Zweitstimmen bekäme –und konnten das verhindern.

Wenn mehr Zweitstimmen füreine Partei dieser ein Mandat kos -ten, sprechen Wahlmathematikervom „negativen Stimmenge-wicht“. Es war ein paradoxer Ef-fekt des deutschen Wahlrechts, sowie es bis zur Novelle Anfang 2013galt. Dahinter stecken die soge-nannten Überhangmandate, diebislang entstanden, wenn eine Par-tei in einem Bundesland mehr Di-rektmandate errang (also Wahl-kreise über die Erststimmengewann), als ihr aus ihrem Zweit -stimmenerfolg an Sitzen zustan-den. Da man Wahlkreissiegern ihren Parlamentssitz nicht ver-wehren kann, bekam deren Parteidiese Sitze zusätzlich.

Wahlkreissieger zu verletzen? „Na-türlich nicht“, sagt Pukelsheim.„Eines der beiden Prinzipien müs-ste man relativieren. Oder beide.Und das dürfe wieder ein heißes Ei-sen werden.“ Ulf von Rauchhaupt

etwa die bisher als Regelstärke vor-gesehenen 598. Von denen würdebeispielsweise die Hälfte mit denaus den Erstimmen ermitteltenGewinnern der 299 Wahlkreise be-setzt. Die anderen 299 Sitze würdennach Verhältniswahl unter den Par-teien nach Maßgabe ihrer Zweit-stimmen verteilt. „Das hätte denCharme, dass unser gewohntes Sy-stem von Erst- und Zeitstimmenbeibehalten werden könnte“, sagtFalter. „Lediglich die Aufrechnungder durch die Erststimme gewon-nenen Direktmandate gegenüberden Zweitstimmen unterbliebe.“Beide Hälften des Bundestageswürden also nach verschiedenenSystemen besetzt, zwischen ihnenläge ein Graben, daher der Name.

Ein Grabenwahlsystem, das ineinigen Ländern wie Japan oderMexiko praktiziert wird, hättegegenüber der reinen Verhältnis-wahl in vielen – allerdings nichtnotwendig in allen – Fällen einenklaren mehrheitsverstärkenden Ef-fekt. So hätte die Union bei Ver-rechnung der Abstimmungsergeb-nisse der Bundestagswahl 2009nach der Grabenwahl allein regie-ren können – und wäre für dieNichterfüllung ihrer Wahlverspre-chen tatsächlich voll haftbar zu ma-chen gewesen.

Das Dumme ist nur, dass dieZweitstimmenanteile zuerst aufBundesebene mittels eines Zutei-lungsverfahrens (siehe „GerechteAlgorithmen“) in Sitze umgerech-net werden. Die Sitzzahlen jederPartei werden dann auf die Länderverteilt und erst dort mit ihren Di-rektmandaten verrechnet. Daherkann es vorkommen, dass eine Par-tei, sagen wir die CDU, in einemBundesland, etwa Sachsen, etwasmehr Zweitstimmen gewinnt, alssie zuletzt hatte – nicht so viele, umihr bundesweit einen Sitz mehr zubescheren, aber genug, damitSachsens CDU einen der Parteinach ihrem bundesweiten Zweit-stimmenanteil zustehenden Sitzzusätzlich erhält. Der kann abernur aus einem anderen Bundeslandkommen, in dem die CDU weni-ger erfolgreich bei den Zweistim-men war, vielleicht Bremen. Dochwas, wenn in Sachsen schon Über-hangmandate angefallen sind, dieCDU hier also gar keine Sitze ausdem Zweitstimmenerfolg bekom-men kann? Dann ist der BremerSitz trotzdem weg und die CDUhat bundesweit einen Sitz weniger.

Kompliziert? Ja, aber unver-meidlich, wenn man zugleich anZweitstimmenproporz und Über-hangmandaten festhalten will.Diese Überhangmandate warenschon früher so manchem einDorn im Auge gewesen. Denn sieverstoßen offenkundig gegen denGeist der reinen Verhältniswahl.Die Sitzverteilung eines Parla-ments mit Überhangmandaten isteben nicht mehr proportional zuder Zweitstimmenverteilung.

Der 17. Deutsche Bundestag nach dem neuen Verfahren von 2013

CSU 66

Alle heute vertretenen Parteien wären im Bundestag vertreten gewesen, wären 2009 inGrabenwahl 299 Abgeordnete nach Mehrheits-, 299 nach Verhältniswahlrecht bestimmtworden. Doch die Union hätte mit einer satten Mehrheit alleine regieren können.

CDU 173

Das Wahlergebnis von 2009 hätte mit dem Berechnungsverfahren des neuen Wahlge-setzes zu dieser Sitzverteilung geführt. Der Bundestag hätte 51 Sitze mehr haben müs-sen, um die Überhangmadate auszugleichen. Auch hier hätte es für Schwarz-Gelb gereicht.

Sitzverzerrung

Mandatszahl M

0,6

0,4

0,2

0

–0,2

–0,4

Partei 1Partei 2

0 5 10 15 20 3025

Partei 3Partei 4

M Sitze werden auf vier Parteien ver-teilt, 1 ist die stärkste, 4 die schwäch-ste. Mit dem Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers (oben) geht die Ver-zerrung (die Sitzbruchteile, die zuvieloder zu wenig zugewiesen wurden) mitsteigender Parlamentsgröße M schnellgegen Null. Mit dem Verfahren nachd’Hondt (unten) bleiben die Verzer-rungen auch bei großen M erhalten.Dabei wird die stärkste Partei syste-matisch begünstigt.

Literatur: Benjamin Hertlein: „Chan-ce auf mehr Gerechtigkeit?“, Ma gis -ter arbeit, Univ. Mainz 2013. FriedrichPukelsheim und Mathias Rossi: „Im-perfektes Wahlrecht“, Zeitschrift fürGesetzgebung, Heft 3 (2013).

FDP 93

CSU 45

CDU194

Grüne 68

SPD 146

Linke 76

FAZ-FHlöjsT