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Sprache–Denken–Wirkl ichkeit

§1:DieUrsprüngedesl inguistischenRelativismus

WelchesVerhältnisbestehtzwischenmenschlicherSprache,menschlichemDenkenundaussersprachlicherWirklichkeit?–DieseFragescheintaufdenerstenBlickeinephilosophischezusein.TatsächlichistesinersterLiniederPhilosophLudwigWitt-genstein,derzuBeginndes20.JahrhundertsdenVersucheinerAntwortliefert:„DieGrenzenmeinerSprachebedeutendieGrenzenmeinerWelt.“1FürWittgenstein istSprachefolglichAusdruckdesDenkens–unddarüberhinaus:DennnachWittgen-stein ist dieBedeutung von sprachlichenAusdrücken – vonWörtern undSätzen –einzig durch ihren Gebrauch geprägt. Daher kann es keineWirklichkeit und wohlauchkeinDenkenüberdenSprachgebrauchhinausgeben2.BemerkenswerterweisegibtsichWittgensteinspäterweniger radikal:SobenennterdiemenschlicheSpra-cheinseinemSpätwerk„PhilosophischeUntersuchungen“als„dasVehikeldesDen-kens“,ordnetSprachealsodemDenkenunter3.

Parallel zurPhilosophie besitzt jedoch auch dieSprachwissenschaft einenZugangzumThema„Sprache–Denken–Wirklichkeit“.Dieser istallerdingszurselbenZeitpragmatischer.DieslässtsichamBeispieldesamerikanischenSprachwissenschaft-lersBenjaminLeeWhorf veranschaulichen.NachAbschluss seinesStudiums zumChemieingenieurwarWhorf inden1920erJahrenalsInspektorfürBrandverhütungimDiensteeinerVersicherungsgesellschafttätig.Hierbeibeobachteteerunterande-remfolgendenFall(indeutscherÜbersetzung):„lneinerBrennereifürMethylalkoholbestanddieIsolierungderDestillierkolbenauseinerMasse,dieausKalksteinherge-stelltwarundinderBrennerei‘gerührterKalkstein’genanntwurde.Eswurdekeiner-lei Vorsorge getragen, um diese Isoliermasse vor grosser Hitze oder Flamme zuschützen.NacheinigerZeitgriffdasFeueruntereinemderDestilliergefässeaufden‚Kalkstein’ über, der zum allgemeinen Erstaunen heftig brannte. Die essigsaurenDämpfeausdenDestillenhattendenKalkstein (Kalziumkarbonat) inKalziumazetatverwandelt.WirddiesesimFeuererhitzt,solöstessichunterBildungdesbrennba-renAzetonsauf.DasunvorsichtigeVerhalten,dieIsoliermassenichtgegendasFeu-er zu schützen, war (mangels besonderer Instruktionen!) durch denGebrauch derBezeichnung‘Kalkstein’herbeigeführtworden,weildieserNamemitderSilbe‘-stein’endetunddaherUnbrennbarkeitsuggeriert.“4

1 Wittgenstein1922,5.6.2 S.Vossenkuhl2003,142f.3 Wittgenstein1953,§329.4 ZitiertnachWhorf1973,englischesOriginalausWhorf1941,76:„Inawooddistillationplantthemetalstillswereinsulatedwithacompositionpreparedfromlime-stoneandcalledattheplant ‚spunlimestone.’Noattemptwasmadetoprotectthis

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Derartige anekdotische Beobachtungen waren fürWhorf der Beleg, dass SpracheunsereWahrnehmungderWirklichkeitundunserDenkenbeeinflusst,wennnichtgarbestimmt.

DabeiwarBenjaminLeeWhorfbeileibenichtderersteSprachwissenschaftler, derzugunsteneinesengenVerhältnissesvonSprache,DenkenundindirektWirklichkeitplädierte. So gelangte bereits knapp ein Jahrhundert zuvorWilhelm vonHumboldtzurAnsicht,Sprachesei „durchauskeinblossesVerständigungsmittel,sondernderAbdruck des Geistes und der Weltansicht des Redenden“5. In der Folge kamenFranzBoasundEdwardSapirzuähnlichenErgebnissen.6

RückblickendsindderartigeVersucheunterdemEtikettder„Sapir-Whorf-Hypothese“indieWissenschaftsgeschichteeingegangen:DemnachsinddiemenschlicheWahr-nehmungbzw.InterpretationderWirklichkeitunddasmenschlicheDenkennichtob-jektiv, sondern stets relativ.Denn sie sind durch die jeweilige individuelleSprachebeeinflusst (moderateFormderHypothese imSinneeines„linguistischenRelativis-mus“)odergardurchdiesebestimmt(extensiveFormderHypotheseimSinneeines„linguistischenDeterminismus“)7. IndenWortenvonBenjaminLeeWhorf: „Wearethusintroducedtoanewprincipleofrelativity,whichholdsthatallobserversarenotledbythesamephysicalevidencetothesamepictureoftheuniverse,unlesstheirlinguisticbackgroundsaresimilar,orcaninsomewaybecalibrated.“8Dabeiseiver-einfachendangenommen,diedemIndividuumunterliegendensprachlichenStruktu-ren(bzw.indenWortenvonWhorfdie„linguisticbackgrounds“)seiennebstanderenFaktorendurchdiejeweiligekulturelleUmgebung(alsTeilderWirklichkeit)geformt.Folglich setzt die Theorie einen Kreislauf voraus: „Kultur (als Teil derWirklichkeit)

thiscoveringfromexcessiveheatorthecontactofflame.Afteraperiodofuse,thefirebelowoneof thestillsspread to the ‘limestone;’which toeveryone’sgreatsur-priseburnedvigorously.Exposuretoaceticacidfumesfromthestillshadconvertedpartofthelimestone(calciumcarbonate)tocalciumacetate.Thiswhenheatedinafiredecomposes, forming inflammableacetone.Behavior that tolerated fireclose tothecoveringwasinducedbyuseofthename‘limestone,’whichbecauseitendsin‘-stone’impliesnon-combustibility.“5 Humboldt1973(1827),23.6 S.dieDetailsbeiKoerner1992.7 Für die Zwecke diesesBeitrags genügt diese imText oben gewählte, ober-flächliche Formulierung der Sapir-Whorf-Hypothese. Eine vertiefte Diskussion überdieFormulierungderHypotheseundihrerformalenBestandteilefindetsichbeiLucy1997,294f.8 Whorf1940,214.

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formtSprache.→SprachebeeinflusstDenken.→DenkenverändertKultur (alsTeilderWirklichkeit).→Kultur(alsTeilderWirklichkeit)formtSprache→…“9

§2:Relativismus/DeterminismusversusNativismus

DieAttraktivitätder„Sapir-Whorf-Hypothese“inihrerursprünglichenFormistbisheu-teungebrochen.Allerdingsnahmdas linguistische Interessean ihrseitden1950erJahrenzunächstmerklichab.DenndasAufkommendeslinguistischenNativismus–das inersterLiniedurchdieArbeitenvonNoamChomskygefördertwurde– führtezu einem Umdenken: Gingen der linguistische Relativismus bzw. Determinismusnoch davon aus, die durch die umgebende Kultur geformte Sprache eines Indivi-duumsbeeinflussebzw.bestimmeseinDenken,sonahmderNativismuseineradi-kaleGegenpositionein:Spracheistangeboren,undihreuniversalenStrukturenwer-denwährenddesSpracherwerbsaktiviert.DaherkönnenkulturelleEinflüssegrund-sätzlich nicht in dieSprache bzw. ihreStrukturen eindringen und damit auch nichtdasDenkeneinesIndividuumsprägen.

AusheutigerWartehatsichdasBlattallerdingswiedergewendet:Gegendenlingui-stischenNativismusbzw.gegendasvonihmpostulierteKonzepteinerangeborenenUniversalgrammatiksindvorallemindenletzten20JahrengewichtigeStimmenlautgeworden.Es isthiernichtderPlatz,nurannäherndüberdieKontroversezu infor-mieren10.FürdieZweckediesesBeitragsisteinzigzweierleirelevant:

• Schwer zu bestreiten bleibt aufGrund empirischerHinweise, dass imSinnedeslinguistischenNativismuszumindesteingrammatischesVerarbeitungssy-stemangeboren ist.UmnureinendieserHinweisezunennen: IneinerVer-suchsreihe erwarben Lernende grammatische sowie ungrammatische (derUniversalgrammatik natürlicherSprachennicht entsprechende)Regeln einerihnenzuvorunbekanntenFremdsprache.InderFolgewurdensiemitSätzeninderentsprechendenFremdsprachekonfrontiert. ImFallevongrammatischgebautenSätzenergabsich – imGegensatz zuungrammatischenSätzen –

9 InWirklichkeitäussernsichsowohlEdgarSapirwieBenjaminLeeWhorfeherdiffus zumVerhältnis zwischenSprache undKultur. Zwar nehmen die beidenEin-flüssevonSpracheaufdieumgebendeKulturan (s.Lucy1992a,19ff.bzw.63ff.),klammernjedochandereFaktorenaus,welchedieKultureinerGesellschaftkonstitu-ieren.Deroben imTextangenommeKreislaufwilldiesesMankoausgleichen.– ImÜbrigengeht dieserBeitrag nicht auf dieFrageein, ob unsereGedanken inFormvonSprachevorliegen.WieCasasanto2008,63ff.zeigt,hängtdieWhorf’scheFrage(„Beeinflusst Sprache unser Denken?“) zumindest nicht mittelbar mit der Frage„Denkenwir inSprache?“zusammen.S. füreineaktuelleÜbersichtzurDiskussionüber letztgenannte Frage Gleitman/Papafragou 2005, 637 sowie Boroditsky/Prinz2008,98ff.10 S.füreineaktuelleKritikamNativismusLevinson2003.

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beidenProbandeneineerhöhteAktivitätimSprachzentrumdesBroca-Areals.Daraus folgt: Das menschliche Hirn besitzt die angeborene Fähigkeit, un-grammatischstrukturiertevongrammatischstrukturiertenSequenzenzutren-nen11. Dieses angeborene grammatische Verarbeitungssystem umfasst zu-mindest die erforderlichen syntaktischenRegeln, umeinzelneElemente desLexikons miteinander zu verknüpfen und in eine Hierarchie zu bringen. EsscheintinderTierweltkeinerleiEntsprechungzufinden.

• VomererbtengrammatischenVerarbeitungssystem losgelöst istdasLexikonzubehandeln(wozugemäss jüngstergenerativistischerAuffassungauchdieMorphemegehören).EsisterstensinanderenRegionendesHirnszuveror-ten12. Und beruht zweitens auf anderen hierarchischen Strukturen als dasgrammatischeVerarbeitungssystem,dieansatzweisebereitsbeiPrimatenzufindensind13.

DieseTrennungvongrammatischemVerarbeitungssystemundLexikonbedeutetfürdiePlausibilitätder„Sapir-Whorf-Hypothese“Folgendes:DadasgrammatischeVer-arbeitungssystembisaufWeiteresangeborenunddamituniversalscheint,sindInter-ferenzen zwischen Sprache und Denken im Bereich der Syntax ausgeschlossen.Hingegenbleibensogenannte„Whorf’scheEffekte“imBereichdesLexikonsimwei-terenSinne–also imBereichder lexikalischenundmorphologischenKategorien–vorerstdenkbar.

§3:DieRückkehrder„Sapir-Whorf-Hypothese“

NichtzuletztaufGrundderzunehmendenZweifelam linguistischenNativismuser-fährtdie„Sapir-Whorf-Hypothese“seitden1980erJahreneinleisesComeback.Da-bei lässt sich der Versuch erkennen, die bislang theoretisch wie empirisch nurschwach gestützte Hypothese14 auf ein solides Fundament zu stellen. Charakteri-stischhierfürsind…

11 Mussoetal.2003,777f.:„Thisstandsasneurophysiologicalevidencethattheacquisitionofnewlinguisticcompetenceinadultsinvolvesabrainsystemthatisdif-ferentfromthatinvolvedinlearninggrammarrulesthatviolateUG.Morespecifically,ourresultsshowthatBroca’sareahasakeyroleintheacquisitionof ‘real’rulesoflanguage, independentof the linguistic family towhich the languagebelongs.“–S.zurBedeutungdesBroca-ArealszuletztSahinetal.2009.12 S. Indefrey/Levelt2004:So istanderProduktion lexikalischerElementev.a.derGyrusTemporalisMediusbeteiligt.13 S.Tallerman2009.14 S.Lucy1997,294:„Surprisingly,therehasbeenanalmostcompleteabsenceofdirectempiricalresearchthroughmostofthepresentcentury–perhapshalfado-zenstudiesuptoadecadeago…Theneglectofempiricalworkissoconspicuous

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a. einepräzisierteEingrenzungderHypothese15: ImRahmenderzentralenFrage„Wiebeeinflussteineindividuelle,natürlicheSprache16unsereInterpretationderWirklichkeitbzw.dasDenkendarüber?“steht…

• „Sprache“ für die lexikalisch-morphologischen Merkmale einer Sprache(wasimEinklangmitderobenin§2vorgenommenenEingrenzungsteht).

• „Denken“ fürdieunmittelbarenWahrnehmungen, fürdieEinordnungdie-serWahrnehmungennachindividuellenodersoziokulturellenMustern,fürdie Speicherung dieser eingeordneten Wahrnehmungen im Gedächtnis,fürInferenzenundfürästhetischeUrteile.

• „Wirklichkeit“füralltägliche,traditionelleundbesondereKontexte.

b. eine klare Typologie der unterschiedlichen Methoden, sich der Hypothesewissenschaftlichzunähern17:Hierzugehören…

• die Methode der strukturorientierten Annährung („structure-centered ap-proach“):Sieuntersucht,obundwiesichUnterschiedeinderlexikalischenundmorphologischenStrukturder jeweiligenEinzelsprachen(z.B.die le-xikalischeKategorie derBezeichnungen für die zeitlicheOrientierung) inder Interpretation der Wirklichkeit und im Denken der jeweiligen Spre-cher/innenniederschlagen.

• dieMethodederandenmenschlichenWahrnehmungsfeldernorientiertenAnnäherung („domain-centered approach“). Sie fragt nach, wie zentraleBereiche dermenschlichenWahrnehmung in den jeweiligen Einzelspra-chen realisiert sind (z.B. die lexikalischen Kategorien der Farbbezeich-nungenoderdieBezeichnungenfürdieräumlicheOrientierung)–undobzwischen unterschiedlicher Wahrnehmung und Struktur der jeweiligenEinzelsprachenEntsprechungenbestehen.

• die Methode der verhaltensorientierten Annäherung („behavior-centeredapproach“): Sie geht von unterschiedlichenVerhaltensweisen von indivi-duellenSprachgemeinschaftenausunduntersucht,obdieseunterschied-

thatitmustberegardedasoneofthecentralcharacteristicsofthisareaofresearch…“15 S.Lucy1997,294f.16 ImSinnevonLucy1996,37ff.stelltdie „Sapir-Whorf-Hypothese“ imeigentli-chen Sinne nicht die generelle Frage „Wie beeinflusst Sprache das menschlicheDenken?“(vonLucy,l.c.„semioticrelativity“genannt),sonderndieFrage„Wiebeein-flusstdievonunsgesprochene,natürlicheSpracheunserDenken?“ (vonLucy, l.c.„linguistic(orstructural)relativity“genannt).17 S.Lucy1997,295ff.

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lichenVerhaltensweisenmitUnterschieden inderStrukturder jeweiligenEinzelspracheneinhergehen.

c. dasBekenntniszurempirischenUntermauerungderHypothese:Dementspre-chendsolltenentsprechendeStudien…18

• dieEvidenzausmindestenszweiSprachengegenüberstellen.

• alsUntersuchungsgegenstandmindestenseineodermehrereübergeord-nete lexikalischeodermorphologischeKategorienderbetreffendenSpra-chen(gemäss§2)heranziehen.

• eine klar definierte aussersprachliche „Realität“ als Vergleichsmassstabverwenden.

• vom sprachlichen Untersuchungsgegenstand ausgehende VoraussagenüberdiekognitiveStrukturderbetreffendenSprecherinnenbzw.SprecheranaussersprachlichenVerhaltensweisenprüfen.

Geradeindenletzten20JahrensindzahlreicheStudienerschienen,diediesenAn-forderungengerechtwerden.Siebefassensich–nebstdenbereitsgenanntenlexi-kalischenKategorienderFarbbezeichnungenoderderBezeichnungenfürdieräum-lichesowiezeitlicheOrientierung–unteranderemmitdenmorphologischenKatego-riederZahl-undMassbezeichnungensowiedesgrammatischenGeschlechts19.

DiemethodischeVerbesserungunddieVielseitigkeitderStudienhatzubeachtlichenResultaten geführt. DieseResultate sind allerdings in ihrer Aussage überraschendkomplexundlassensichschweraufeinenNennerbringen.EineindeutigesUrteilzurGültigkeitder„Sapir-Whorf-Hypothese“liegtdaherbisjetztnichtvor20.ImFolgendensollderaktuelleWissensstandanhanddes repräsentativenBeispielsderZahl-undMengenbezeichnungenillustriertwerden.

§4:DasBeispielderZahl-undMengenbezeichnungen

Die Sprachen derWelt gehen zur Zahl- undMengenbezeichnung unterschiedlicheWege.SobesitzendieSprachen indoeuropäischenUrsprungswieetwadasDeut-scheoderEnglischeeinegrammatischeKategorie „Numerus“undbezeichneneineMehrzahlobligatorischdurcheinPluralaffix (z.B.dt.Sg.dieFrau→Pl.dieFrauen;engl.thestone→Pl.thestones)21.Sieunterscheidendemnachkonsequentzwischen

18 S.Lucy/Gaskins2001,258f.19 S.füreinerepräsentativeÜbersichtBoroditsky2003.20 S.dasUrteilvonBoroditsky2003,917:„Somestudieshaveclaimedevidencetotheaffirmative…,whileothersreportevidencetothecontrary…“21 EinenÜberblicküberdieunterschiedlichenNumerussystemeindenSprachenderWeltunddiehistorischeEntwicklungliefertLehmann2002,50ff.–Esseinach-getragen,dassdieobligatorischeBezeichnungdesPluralsamEndederSprachent-

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zählbarem Individualbegriff (z.B. dt.Reiskorn) und nicht zählbarem Mengenbegriff(z.B. dt.Reis). Folglich sind dieBegriffe in ihremLexikon in derRegel hinsichtlichFormbzw.Gestaltsemantischdefiniert.

AndereSprachenkennenkeineobligatorischePluralbezeichnung.HierzugehörtdasyukatekischeMaya – eine am östlichen Zipfel derHalbinsel Yucatan gesprocheneIndianersprache. Das Yukatekische kennt zwar ein Pluralaffix -o'ob’: vgl. z.B. Sg.pèek „Hund“→Pl.pèek-o’ob’ „Hunde“22.DochwirddiesesPluralaffix fakultativundnur bei Begriffen für belebte Objekte verwendet. Eine Äusserung wie yàan pèek’té’elo’„dortdrübenisteinHund/sindHunde“ohnePluralaffixistimYukatekischenal-sogrammatisch.DabeiistdashinsichtlichdesNumerusneutralepèek„Hunde“eineArtMengenbezeichnung,vergleichbarmitdt.WildinAussagenwiedt.dortdrübenistWild.

Sprachen ohne oder mit nur eingeschränkter Pluralbezeichnung scheinen folglichkeinekonsequenteUnterscheidungzwischenzählbarem Individualbegriffundnicht-zählbaremMengenbegriffvorzunehmen.UmgekehrtsinddieBegriffe in ihremLexi-koninderRegelhinsichtlichMaterialbzw.Beschaffenheitsemantischdefiniert.

UmhinsichtlichdesNumerusdennochsemantischeKlarheitzuschaffen,greiftdasYukatekische(wieandereSprachenähnlicherStruktur)zufolgenderStrategie:Wirdein–i.d.R.hinsichtlichdesNumerusneutrales–SubstantivinKombinationmiteinemZahlwortverwendet,ergänzteinNumeralklassifikatordasZahlwort:z.B.ka’-túulxib„zweiMänner“,ka’-p’éel tunich „zweiSteine“.DerNumeralklassifikatornimmtdabeiaufdieFormbzw.dieGestalt des folgendenBegriffsBezug:Sosteht -túul für „ei-genständige,losgelösteGestalt“,-p’éelfür„dreidimensionaleGestalt“.EinSyntagmawieká’a-tz’iit kib’ „zweiKerzen“ zukib’ „Wachs“ stehtursprünglich für „zwei lange,dünne(Einheiten)Wachs“(Numeralklassifikator-tz’iit).DamitentsprichtesfunktionaleinemdeutschenSyntagmadesTypuszweiGläserWasserzuWasser23.

Ausgehend von dieser Analyse und im Zusammenhang mit der „Sapir-Whorf-Hypothese“stelltsichfolgendeFrage:BeeinflussendiebeidenunterschiedlichenSy-stemezurBezeichnungvonZahlundMengediekognitiveStrukturihrerSprecher?–Inmehreren,den in§3beschriebenenAnforderungengenügendenStudienunter-suchteJohnA.Lucy(teilsinZusammenarbeitmitSuzanneGaskins)seitBeginnder90erJahredieseFrage24.HierbeistellteerdasVerhaltenvonSprecherndesYuka-

wicklungschwindenkann:soetwaimDeutschen,wodiePluralbezeichnunginFällenwie(Sg.)derWagen=(Pl.)dieWagenaufgehobenist.22 S.zurPluralbildungimYukatekischenausführlichLucy1992b,46ff.23 Weitere Entsprechungen vonNumeralklassifikatoren und deutschenSyntag-mennenntLehmann2000.24 Lucy1992b,85ff.sowieLucy/Gaskins2001.

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tekischen demjenigen vonSprechern desEnglischen gegenüber und ging von fol-gender,zweiteiligenHypotheseaus:

• Das Englische unterscheidet konsequent zwischen zählbarem Individualbegriffmit grammatischem Plural und nicht-zählbarem Mengenbegriff ohne grammati-schenPlural; indersemantischenStrukturseinesLexikonssindBegriffefolglichhinsichtlich ihrer Form bzw. Gestalt verankert25. Sollte sich die semantischeStrukturinderkognitivenStrukturniederschlagen,müsstenseineSprechermehrGewichtaufFormbzw.Gestalt sowieaufdieAnzahlderbeobachtetenObjektelegen.

• DasYukatekischeunterscheidetnurbeschränkt zwischenzählbarem Individual-begriff undnicht-zählbaremMengenbegriff.VieleNomina sindhinsichtlichFormbzw.Gestaltwenigbestimmt(fürdieSpezifizierungenwerdenNumeralklassifika-torenverwendet);indersemantischenStrukturseinesLexikonssindBegriffefolg-lichhinsichtlichihresMaterialbzw.ihrerBeschaffenheitverankert.SolltesichdieSprachstrukturinderkognitivenStrukturniederschlagen,müsstenseineSprechermehrGewichtaufMaterialbzw.BeschaffenheitderbeobachtetenObjektelegen–hingegenAnzahlundFormbzw.GestaltausserAchtlassen26.

IneinererstenVersuchsreihewurdendieProbandenmitAlltagsszenenkonfrontiert,wobeisiesichandieimBildgezeigtenTiere,Gerätebzw.MaterialienundderenAn-zahlerinnernmussten.IneinerzweitenVersuchsreiheerhieltendieProbandenDrei-ergruppenähnlicherObjektevorgesetzt,vondenen jeweilseinObjektalsReferenz

25 S. für die Annahme unterschiedlicher lexikalischer Strukturen Lucy 1992b,88f.:„…thedifferenceinpluralizationpatternsbetweenEnglishandYucateciscon-nectedtoacovertdifferenceinthefundamentalsemanticstructureoflexicalitemsinthe two languages.… In particular,manyEnglish lexical items seem to encode apresupposable unit as part of their inherent meaning, whereas corresponding Yu-cateclexicalitemsdonot.“26 S.einerseitszurFragederSensitivitätgegenüberderAnzahlvonbeobachte-tenObjektendieFormulierungLucy1992b,87:„Thus,inspeaking,Englishspeakersmustobligatorilyattendto,anddifferentiallysignal,numberwhereYucatecspeakersneednot.Ifthislinguisticpatterntranslatesintoageneralsensitivitytonumber(i.e.,oneversusmany)inothercognitiveactivities,thenEnglishspeakersshouldhabitu-allyattendtothenumberofvariousobjectsofreferencemorethanshouldYucatecspeakers.“–S.andererseitszurFragederSensitivitätgegenüberForm/Gestaltver-susMaterial/BeschaffenheitdieFormulierungbeiLucy/Gaskins2001,262: „If theselinguisticpatternstranslateintogeneralcognitivesensitivitytothesepropertiesofre-ferentsofthediscretetype,thenYucatecspeakersshouldattendrelativelymoretothe material composition of objects (and less to their shape), whereas Englishspeakers should attend relatively less to thematerial composition of such objects(andmoretotheirshape).“

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fungierte, diebeidenanderenmit demReferenzobjekt entwederForm/Gestalt oderMaterial/Beschaffenheit teilten.DieProbandenmussteninderFolgefestlegen,wel-chesderbeidenObjektedemReferenzobjektstärkerentspreche.DabeistellteLucyfest,dass…

• dieSprecherdesEnglischensichindererstenVersuchsreihejeweilsbesserandie genaue Zahl des Vorkommens erinnerten als die Sprecher des Yukateki-schen.DabeistiegderUnterschied inderBehaltensleistung,wenndieProban-dennach(unbelebten)Gerätengefragtwurden27.

• im zweitenVersuchdieSprecher desEnglischenalsEntsprechung zumRefe-renzobjekt mehrheitlich dasjenige Objekt wählten, das dem Referenzobjekt inForm/Gestaltentsprach–dieSprecherdesYukatekischenumgekehrtdasjenigeObjekt,dasdemReferenzobjektinMaterial/Beschaffenheitentsprach28.

DamitschiendievonLucyformulierteHypothesebestätigt:DiekognitiveStrukturderSprecherdesEnglischenbzw.YukatekischenwurdevonderjeweiligenSprachstruk-turbeeinflusst–womitauchdie„Sapir-Whorf-Hypothese“zumindestineinermodera-tenAuslegungbestätigtwar.

§ 5: Die „Sapir-Whorf-Hypothese“ – und die Zahl- undMengenbezeich-nungenaussprachhistorischerWarte

LucysInterpretationundseineErkenntnissegemäss§4sindbisheutekaumbestrit-ten29.SiescheinenvielmehrdurchweiterekontrastiveStudienzusätzlichbestätigt30.Die These, die Art undWeise der Zahl- undMengenbezeichnung in einer Einzel-sprache übe einenEinfluss auf dasDenken und dieWirklichkeitsinterpretation derSprecheraus, istallerdingsengmiteinersynchronenAuffassungvonSprachever-knüpft.Hingegen lässt sie die diachroneSichtweise unberücksichtigt,wonach jedenatürlicheSprachesich instetigemWandelbefindet.SollteeineSprachedasDen-kenihrerSprecherbeeinflussen,somüsstesichdiesesDenkenfolglichparallelzurSprache ebenso stetig verändern – eine Implikation, die von der „Sapir-Whorf-Hypothese“ausserAchtgelassenwird.

Bereits a priori scheint diese Implikation befremdlich. Sie wirkt umso problemati-scher, als Sprachwandel gerne völlig autonom innerhalb eines geschlossenen

27 ResultatebeiLucy1992b,104ff.28 ResultatebeiLucy1992b,136ff.29 S. etwazustimmendBoroditsky2003 (ib., 919: „These findings suggest thataspectsofgrammarcaninfactshapethewayspeakersofalanguageconceptualizetheshapesandmaterialsofobjects“)oderLevinson2003(ib.41:„Thesuggestionisthat the pattern in the grammar has far-reaching correlations with implicit mentalcategories“). 30 S.füreineaktuelleForschungsübersichtBarner/Inagaki/Li2009,329ff.

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Sprachsystemserfolgt.DieslässtsichanderEntstehungvonNumeralklassifikatorenimYukatekischenillustrieren31:

• KardinalzahlensindalsSubstantiveoderAdjektive indiegrammatischeStruktureinerEinzelspracheintegriert.

• Dabeigilt:JeadjektivischerderStatusdieserKardinalzahlenist,destoeherbenö-tigensieStützwörter.EntsprechendeStützwörtererscheinenzunächstinanapho-rischenKonstruktionen.EinSyntagmawie yukatekischHay-túul-e’x? „Wie vieleseid ihr?“–Óox-túul-o’n „Wirsinddrei (Mann)“ findetdabei indt.Wievieleseidihr?–WirsinddreiManneineexakteEntsprechung.SowohlderNumeralklassifi-kator-túulalsReferenzaufbelebteWesenimYukatekischenalsauchdt.Manndienen als Stützwort für das entsprechende Zahlwort. Dies lässt sich im Deut-schenübrigensauchdaranerkennen,dassManneineSonderformaufweist–derregulärePlurallautetdreiMänner,wärejedochinderAntwortWirsinddreiMän-nerungrammatisch32.

• AusgehendvombeschriebenenanaphorischenGebrauchgelangendieseStütz-wörterhinterKardinalzahlenauchinnicht-anaphorischeKontexte.SiewerdensozuNumeralklassifikatorenundbildenmitderKardinalzahleineKlassifikatorphra-se:vgl.yukatekischHe’lóox-túulmáak-a’„HiersinddreiPersonen“.

• Vorerst verfügt dieSprache über eineVielzahl semantisch und funktional diffe-renzierter Numeralklassifikatoren. Die fortschreitende Grammatikalisierung äu-ssertsichinderFolgeinderstarkenReduktiondieserVielzahl,wiesichgutamYukatekischenerkennen lässt:DasmoderneYukatekischesollnochknapp100unterschiedlicher Numeralklassifikatoren kennen33. Tatsächlich jedoch ist derenGebrauchinzwischenstarkgrammatikalisiert,sodassnurnochwenigelebendigsind.Sodient -túul inzwischenalsuniversalerNumeralklassifikatorbeibelebtenWesen, -p’éelbei unbelebtenObjekten. Zusätzlich lässt sich beobachten, dass-p’éelalsunmarkierteForminzwischenauchaufbelebteWesenreferierenkann.

DieseEntstehungvonNumeralklassifikatorenisteinsprachimmanenterProzessundfolgt einemoft beobachtetenGrammatikalisierungspfad: InmanchenSprachen ha-benKardinalzahlenadjektivischenStatusundkönnennichtselbständigimSatzste-hen.DaherbenötigensieStützwörter,ausdenendieNumeralklassifikatorenhervor-gehen.DiestrifftetwafürdieKardinalzahlenimYukatekischenzu–allerdingsnurfürdieeinheimischen.DenndieausdemSpanischenentlehntenKardinalzahlenbenöti-genwieimSpanischenselbstkeineNumeralklassifikatoren:z.B.cuatroxib-o’b„vierMänner“mitausdemSpanischenentlehntenZahlwortcuatroohneNumeralklassifi-kator(versuskán-túulxibmiteinheimischemZahlwortkán-mitNumeralklassifikator).

31 S.fürdiefolgendeDarstellungLehmann2010.32 S.Lehmann2000,252.33 S.dieAuflistungbeiRomeroCastillo1961.

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FürdieBeurteilungder„Sapir-Whorf-Hypothese“führtdieseEinsicht inSprachwan-delprozessezufolgendemSchluss:Spracheverändertsichstetiginsprachimmanen-tenProzessenentlangoftzubeobachtenderGrammatikalisierungspfade.SollteeineEinzelsprache die kognitiven Strukturen ihrer Sprecher beeinflussen oder garbestimmen, so müssten sich diese kognitiven Strukturen parallel zur betreffendenEinzelsprachewandeln.Dieswürde letztlichbedeuten,dassdasmenschlicheDen-kendurchdenautonomenRhythmusvonSprachwandelbestimmtundquasidurchSprachwandelferngesteuertwäre–undsichdarüberhinausnurinnerhalbfestgeleg-terGrenzenundentlangbewährterWegeentwickelnkönnte.

DiediachroneSichtweise führtbeiAkzeptanzder „Sapir-Whorf-Hypothese“ letztlichalsozueinerweit radikalerenVorstellung,alssieohnehinbereitsvondersynchro-nenSichtweisegefördertwird:UnserDenkenistvoneinemvonderWirklichkeitab-gekoppeltenSystem,demSprachsystem,abhängig, inderzukünftigenEntwicklungvorbestimmtsowiestarkeingeschränkt.

§6:Sind„Whorf’scheEffekte“sprachgesteuert?

Angesichtsder radikalenVorstellung,wiesie in§5 formuliert ist,stelltsichdie fol-gendeFrage:Gestattendiein§4beschriebenenResultateeinealternativeInterpre-tation?–TatsächlichwerfenaktuelleStudienundVersuchsreihen in folgenderHin-sichteindifferenziertesLichtaufdie„Sapir-Whorf-Hypothese“.

Gehenwir,wieesetwadieBeobachtungenin§5nahelegen,davonaus,dassSpra-cheeingeschlossenesSystemdarstellt.IndiesemFallkönntendiein§4beschrie-benenBeobachtungensystembedingt sein.Hierbei ist auf einenVersuch vonMut-sumiImaiundDedreGentnerzuverweisen34.DieAutorenkonfrontiertenerwachse-neSprecherdesEnglischenundJapanischensowieKinderimAltervon2und4Jah-renmit–teilsungewöhnlichen–Referenzobjekten.DieReferenzobjektewarenkom-plexerGestalt,einfacherGestaltoderstelltenSubstanzendar. JedemReferenzob-jekt waren jeweils zwei ähnliche Objekte zugeordnet, die sich entweder inForm/Gestalt oder inMaterial/Beschaffenheit vom jeweiligen Referenzobjekt unter-schieden.DieReferenzobjekteselbstwurdenmitdenProbandenunbekanntenNon-sens-Begriffen (z.B. „blicket“)benannt.DieProbandenwurdennunzu jedemRefe-renzobjektgebeten,dasjenigederbeidenjeweilszugeordnetenObjektezunennen,aufdassichderNonsens-Begriff ihrerAuffassungnachebensowieaufdenRefe-renzbegriffanwenden lasse („Wo ist ‚blicket’enthalten?“).Hierbei zeigtesich,dass…

• dieSprecherdesEnglischenwiedesJapanischenbeinaheunabhängigvonderAltersklasseeinemReferenzobjekt komplexerGestaltmehrheitlich dashinsicht-lichForm/GestaltentsprechendeObjektzuordneten.

34 Imai/Gentner1997.

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• dieSprecherdesEnglischeneinemReferenzobjekteinfacherGestaltmehrheitlichdas hinsichtlich Form/Gestalt entsprechende Objekt zuordneten, sich hingegendie Sprecher des Japanischen unentschlossen zeigten. Dabei war die Bereit-schaft,dashinsichtlichForm/GestaltentsprechendeObjektzuzuordnen,inbeidenSprachgruppenbeiKindernimAltervon4Jahrenamgrössten.

• die Sprecher des Japanischen ab dem 2. Lebensjahr umgekehrt einem Refe-renzobjekt, das eine Substanz darstellte, tendenziell das hinsichtlich Materi-al/BeschaffenheitentsprechendeObjektzuordneten,sichhingegendieSprecherdesEnglischenabdem2.Lebensjahrunentschlossenzeigten.

DieseErkenntnissescheinenzunächstdie in§4vorgestelltenErgebnisseausdenVersuchenvonJohnA.Lucyzubestätigen:DieSprecherdesEnglischenklassifizie-ren Objekte in Anlehnung an die Struktur ihrer Muttersprache nach Form/Gestalt.Hingegen richten sich die Sprecher des Japanischen – das wie das YukatekischedenPluralpartiellbezeichnetundstattdessenübereinSystemvonNumeralklassifi-katorenverfügt–tendenziellnachMaterial/Beschaffenheit.

AllerdingsweichtderVersuchvonMutsumiImaiundDedreGentnerineinerwesent-lichenHinsichtvondenVersuchenvonJohnA.Lucyab:DasReferenzobjektistmiteinemdenProbandenunbekanntenNonsens-Begriffbenannt.Damiterfolgtdieas-soziativeZuordnungeinesObjektszumReferenzobjektauchaufeinerlinguistischenGrundlage. Hier setzt ein alternativer Deutungsversuch an: Demnach ist das vonMutsumi Imai und Dedre Gentner beobachtete Verhalten durch lexikostatistischenÜberlegungen bzw.Routinen der Probanden gesteuert35.DieArgumentation lautetwie folgt:DadasEnglischeübereineausgebautePluralflexion verfügt, bezeichnetdie Mehrzahl der englischen Substantive Zählbares bzw. besitzt das semantischeMerkmal[+zählbar].Esistdahernurfolgerichtig,dasseinSprecherdesEnglischeneinen ihm unbekannten Nonsens-Begriff mit etwas Zählbarem assoziiert und demReferenzobjektfolglichdashinsichtlichForm/GestaltdefinierteObjektzuordnet.Um-gekehrtverhältessichbeieinemSprecherdesJapanischen,indessenLexikoneineVielzahlderBegriffehinsichtlichNumerusneutralistbzw.dassemantischeMerkmal[+zählbar] nicht besitzt. Er assoziiert einen ihm unbekannten Nonsens-Begriff ten-denziellmiteinerMasseundordnetdemReferenzobjektfolglichdashinsichtlichMa-terial/BeschaffenheitdefinierteObjektzu36.DieseEffekteverstärkensich,wiedieEr-

35 S.zusammenfassendPapafragou2005,266ff.sowiezuletztBarner/Inagaki/Li2009.36 Vgl.Barner/Inagaki/Li2009,338: „… results favor thehypothesis thatcross-linguisticdifferencesinwordextensionareattributabletoonlinelexicalstatistics.Ac-cordingtothishypothesis,languagesshareauniversalontologyofindividuals.How-ever,whenspeakersofEnglishhearanovelambiguousnoun, theyassume it isacountnounandthereforeinferthatthewordmustindividuate.SpeakersofJapaneseandMandarin,however,donotacquireobligatorymass-countsyntax,andtherefore

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gebnissevonMutsumiImaiundDedreGentnerzeigen,jewenigereindeutigdasRe-ferenzobjektzuklassifizierenistbzw.jekomplexerdamitdiekognitiveAufgabewird:alsobeiReferenzobjekten,dieeineSubstanzdarstellen, sowie ingeringeremAus-massbeiReferenzobjekteneinfacher(unddamitwenigeindeutiger)Gestalt.Hinge-genverfahrendieSprecherbeiderSprachenbeieindeutigklassifizierbaren,daeinekomplexe Gestalt aufweisenden Referenzobjekten mehrheitlich gleich und ordnendemReferenzobjektjeweilsdashinsichtlichForm/GestaltentsprechendeObjektzu.

DavidBarner,ShunjiInagakiundPeggyListützendieselexikostatistischeTheseaufzweiempirischeBeobachtungen37:

• ErstensklassifizierenSprecherdesEnglischenunddesJapanischen ihnenver-traute Lexeme auf einerWortliste unabhängig von der jeweiligen Struktur ihrerMuttersprache beinahe einhellig als jeweils „zählbar“ oder „nicht zählbar(Masse)“.

• ZweitenszeigenmonolingualeSprecherdesEnglischenundbilingualeSprechervonEnglisch bzw.Mandarin – in einer identischenVersuchsanordnungwie beiMutsumiImaiundDedreGentner(s.o.)–kaumVerhaltensunterschiede.Wirdih-neneinReferenzobjektvorgelegt,dasmiteinem ihnenunbekanntenenglischenNonsens-Begriffbenannt ist,soordnenselbstSprechermitMutterspracheMan-darindemmitdemNonsens-BegriffbenanntenReferenzobjektmehrheitlichdashinsichtlichForm/GestaltentsprechendeObjektzu.

DarauslässtsichFolgendeserkennen:WerdendenProbandenihnenvertrauteLe-xemevorgelegt,sogreifensieaufidentischekognitiveKonzeptezurück.DieseKon-zeptehabenkeinerleiBezugzurbetreffendenSprachebzw.zu ihrerStruktur.Wer-dendenProbandenallerdingsObjektevorgelegt,dienichtalltäglichundzusätzlichmit einemNonsens-Begriff benannt sind, dann lassensichbei ihrerKlassifizierungdurch die Struktur der betreffenden Sprache leiten. Wie gezeigt, orientieren sichselbst Sprecher, derenMutterspracheMandarin (und damit eine Klassifikatorspra-che) ist, ingewissenFällenanderStrukturdesEnglischen.Soerkennensie inei-nemunbekanntenenglischenNonsens-Begriff – denstatistischenVerhältnissen im

donotmakesyntacticallymediatedinferencesaboutindividuation.“–S.ähnlichauchschonGleitman/Papafragou2005,644:„…anyEnglishspeakerequippedwithevenaroughsubjectiveprobabilitycountershouldtakeintoaccountthemassiveprepon-deranceofcountnounsovermassnounsinEnglishandconcludethatanewword,blicket,usedtorefertosomeindeterminatedisplay,isprobablyanewcountnounra-ther thananewmassnoun.Countnouns, in turn, tendtodenote individualsratherthanstuffandsohaveshapepredictivity”.37 Vgl.füranalogeBeobachtungenfernerLi/Dunham/Carey2009.

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englischen Lexikon folgend – ein Substantiv für Zählbares und ordnen demRefe-renzobjektfolglichdashinsichtlichForm/GestaltentsprechendeObjektzu38.

Damit scheint sich der oben geäusserteVerdacht zu bestätigen:Die vonMutsumiImaiundDedreGentnerbeobachteteVerhaltensweise istnichtdurchUnterschiedein der kognitivenStruktur der unterschiedlichenSprechergruppen bedingt, sonderndurchdielexikalischeundmorphologischeStrukturderbetreffendenEinzelsprachen.AusgehendvonderlexikalischenundmorphologischenStruktureinerEinzelsprachenehmendie jeweiligenSprecher jeweils Inferenzen vor,wenngewisseRahmenbe-dingungen – etwa ein nicht-alltägliches Referenzobjekt oder die CharakterisierungdurcheinenNonsens-Begriff–diekognitiveAufgabeerschweren39.SpracheundihreStruktursindfolglichalsReferenzrahmennützlich,wennsichdievorhandenenkogni-tivenKonzeptenichteinfachaufdieAufgabeübertragenlassen.Odereinfacherfor-muliert:DenkenverwendetSprache,umgedanklicheKonzeptefestzuhaltenundko-gnitiveAufgabenuntererschwertenBedingungenzulösen.

AprioriliessesichFolgendeseinwenden:DieseInterpretationdesVerhältnissesvonSprache und Denken ist vorerst einzig in Aufgaben belegt, die auf einer linguisti-schenGrundlageberuhen:soetwadieKlassifizierungvonLexemenaufeinerWortli-stehinsichtlichForm/GestaltoderMaterial/Beschaffenheit;fernerdieassoziativeZu-ordnungvonObjektenaneinmiteinemNonsens-BegriffbenanntesReferenzobjekt–waseinerEtikettierungderObjektemitdemNonsens-Begriffgleichkommt.Hingegenlässt sichdasPostulat,DenkennutzeSprache, nicht leichtfertig auf die in §4be-schriebenenResultatevonJohnA.Lucyübertragen.DennwiegezeigtberuhenLu-cysVersuchenichtaufeinersolchenlinguistischenGrundlage,sondernsetzeneinereine Erinnerungsleistung sowie die mechanische Zuordnung von sprachlich nichtspezifiziertenObjektenzueinemReferenzobjektvoraus.

DieserEinwandistabernurbedingtgültig.DennesstelltsichdieFrage,obderartigeVersuchsreihen überhaupt einer linguistischen Grundlage entbehren können. SomüssendieProbandendasErgebniseinerErinnerungsleistungverbalisieren.ZuvoristdenProbandendieAufgabezuerläutern,wasnuraufsprachlichemWegemög-

38 S. Barner/Inagaki/Li 2009, 340: „Our main argument is that nouns in Japa-nese,Mandarin,andEnglishshareauniversalontologyofindividuals,andthatwithinthisontology,therearenounsthatpermitmultipleinterpretations.Bythisview,countsyntaxandclassifiersdonotaddmeaningtonouns,butmerelyselectbetweenthemultiple interpretations that nouns permit. When nouns are novel, speakers bringpriorsyntacticknowledgetobear,andmakeinferencesabouttheirmeaningsbasedonstatisticsrelationsbetweensyntaxandsemantics.Oncewordsareknown,lexicalknowledge replaces inference in interpretation, and cross-linguistic differences dis-appear.”39 DiesesVerhalten könnte sich auch in den vonMihatsch2005beobachtetendiachronenWortbildungsphänomenenwiderspiegeln.

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lich ist40. In denWorten vonLi/Dunham/Carey2009, 518: „First, the sameexplan-ationgiventowhylanguagetypeeffectsareobservedonthelexicalprojectiontaskmayapplyequallytothesimilarityjudgmenttask.Thepragmaticcontextinwhichtheexperimenterpointstoanentity(‘Lookatthis;whichisthesame’)isnotallthatdif-ferentthan(‘Lookatthisblicket;whichistheblicket?’).Thedeicticpronoun‘this’,astheheadofthenounphrase,isservingasalinguisticstandinforanounlabel.Asaresult,thesimilarityjudgmenttaskmaybesubjecttothesamelexicalstatistics.“

Provisorisch soll daher die hier vorgetragene Interpretation auch auf dieResultatevonJohnA.Lucygemäss§4angewandtwerden.

§7:SprachealsMatrixfürdieKognition

Gemäss § 6 nutzt Denken Sprache, um gedankliche Konzepte festzuhalten undkomplexekognitiveAufgabenzulösen.IstdiesesPostulatkorrekt,solltendiefolgen-denbeidenAnnahmenzutreffen:

• Erstens solltenKinder unterschiedlicherMuttersprachen eine kognitiveAufgabeidentischlösen,sofernsiediefürdieAufgabenlösungerforderlichenlexikalischenundmorphologischenKategoriennochnichterworbenhätten.

• Zweitens sollten sichSprecher vonSprachen, in denendie für dieAufgabenlö-sungerforderlichen lexikalischenundmorphologischenKategoriennichtvorhan-den sind, bei der Lösung kognitiver Aufgaben unter erschwerten BedingungendeutlichschwerertunalsSprecher,derenSpracheüberdieerforderlichenKate-gorienverfügt.

TatsächlichlassensichbeideAnnahmenbestätigen:

• IneinemVergleichvonKindernmityukatekischerbzw.englischerMuttersprachezeigtsichbiszumAltervon7JahrendiegemeinsamePräferenz, festeObjektegemäss ihrer Form/Gestalt, verformbare Objekte gemäss ihres Materials/ihrerBeschaffenheitzuklassifizieren.ImAltervon9JahrenhingegenändertsichdasBildbeiyukatekischenKindern:Diesegebennunmehrauchbei festenObjektendemKriteriumMaterial/BeschaffenheitdenVorrang–währendenglischeKinderwiezuvorzwischenForm/Gestaltbeifestenbzw.Material/Beschaffenheitbeiver-formbarenObjektendifferenzieren41.DassdieseVeränderungbeiyukatekischenKindernerstimAlterzwischen7und9Jahreneintritt,scheintaufdenerstenBlicküberraschend.SchliesslicherwerbenyukatekischeKinderdasSystemderNume-ralklassifikatoren bereits im Alter von 2,5 Jahren. Allerdings ist dieses System

40 Lucy1992b,140: „For the first few triads, theoriginalwas indicatedand therespondentwasaskedwhether theoriginalwas ‘more like thisone[pointing to firstalternate]orthisone[pointingtosecondalternate]’.“41 Lucy/Gaskins2001,273ff.sowiedies.2003,478ff.

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sehrkomplex42,sodassanzunehmenist,dassKinderdasSysteminseinergan-zenBreiteerstJahrespäterbeherrschen43.HierfürsprichtdieBeobachtung,dassyukatekische Kinder das Pluralsuffix noch weit häufiger einsetzen, als es dieGrammatikvorsieht.–Eszeigtsichsomit,dassKinderenglischerundyukateki-scherMuttersprachesichbeiderKlassifizierungvonObjektensolangeidentischverhalten,bisdiebetreffendenlexikalischenundmorphologischenStrukturener-worbensindundbeherrschtwerden44.

• DasPirahã–eineIndianerspracheausdemAmazonasgebietBrasiliens–istdieeinzig bekannte natürliche Sprache, die keine Zahlwörter besitzt. StattdessenverwendendiePirahã-IndianerbeizählbarenObjektenrelativeBegriffe:hói„we-niger/kleiner“,hoí „rechtwenig/rechtklein“undbáagiso „genug“45.Versuchebe-legen,dassdiePirahã-IndianerdurchauseinKonzeptvonZahlundMengebesit-zen:LiegtvorihneneinebestimmteAnzahlvonGegenständen,sosindsieinderLage,andereGegenstände inderselbenAnzahlauszuwählen.DochsobalddieAufgabeneinezusätzlicheZähl-undGedächtnisleistungerfordern–etwadieGe-genständenachdemZeigenverborgenwerdenundinzunehmenderAnzahlvor-liegen–,dannscheiterndiePirahã-Indianerdaran,dieentsprechendeAnzahlan-dererGegenständevorzulegen.–DasBeispielderPirahãbelegtsomit,dassdaskognitiveKonzeptvonZahlundMengezwarunabhängigvonSpracheexistiert,Sprache jedochdasSpeichernunddieVerarbeitungvonZahlenwesentlichun-terstützt,wennnichtgarermöglicht46.

42 S.Stephany2002,21: „Thestructureof the transnumeral languageYucatecMayaseemstoinfluencetheacquisitionofnominalnumberintwoways:Ontheonehand, numbermarking emerges rather late, probably due to its optionality.On theotherhand,ittakesaratherlongtimetobemastered,whichisnotsurprisinginviewof thecomplexityofnumbermarkingbynumerals,classifiersandanounoptionallycarryingapluralsuffix.“43 S. für diese Annahme Lucy/Gaskins 2001, 277: „Seven-year-old Yucatec-speakingchildrenreliablyuseclassifierswhencounting,drawappropriatesemanticdistinctionsamongthemincomprehensiontasks,andwilljudgeanumberconstruc-tionlackingthemasfaulty.However,theyfallfarshortofhavingcommandofthefullrangeofclassifiersincomprehensionandtheirrangeinproductionisnarrowerstill.“44 In eine ähnliche Richtung weisen die in § 6 dargestellten Ergebnisse vonImai/Gentner 1997. Allerdings erfolgt die Auseinanderentwicklung von japanischenundenglischenKindernimAlterzwischen2und4JahrenunddamitdeutlichfrüheralsimFallevonyukatekischenundenglischenKindern.45 Franketal.2008,820f.–S.fernerdie(etwasskeptische)DiskussionbeiNe-vins/Pesetsky/Rodrigues2009,386f.46 Franket al. 2008, 823: „… the caseofPirahã suggests that languages thatcanexpresslarge,exactcardinalitieshaveamoremodesteffectonthecognitionof

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SprachebietetfolglicheingeeignetesInstrument,gedanklicheKonzeptefestzuhaltenundkomplexekognitiveAufgabenzustrukturieren.Allerdingsmüssendieerforderli-chenlexikalischenundmorphologischenKategorieneinerEinzelspracheersterwor-benundbeherrschtwerden47–soferndieseüberhauptvorhandensind.

Die bisherigen Überlegungen führen zu einer Absage an die „Sapir-Whorf-Hypothese“. Nicht Sprache bestimmt unser Denken, sondern unser Denken nutztSprache bzw. die von ihr zur Verfügung gestellten lexikalischen und morphologi-schenStrukturen.DadiesevonSprachezuSprachevariieren,bietetjedenatürlicheSprache unterschiedliche Möglichkeiten. Während beispielsweise „Pluralsprachen“wie das Englische oder Deutsche dieWahrnehmung von Zahlenverhältnissen unddieKategorisierungnachForm/GestalteinesObjektserleichtern,bieten „Klassifika-torsprachen“wiedasYukatekischeoderJapanischedasgeeigneteInstrumentariumzurKategorisierungnachMaterial/BeschaffenheitdesbetreffendenObjekts48.DabeischränkteineSprachediekognitivenFähigkeitenihrerSprecherinnenundSprechernichteinoderprägtdieseirreversibel.AllenfallsführtdieroutinierteundökonomischeVerwendungder voneinerSpracheangebotenenAusdrucksmöglichkeitenzueinerAdaptation der kognitiven Strukturen der Sprecherinnen und Sprecher – ganz imSinnedesvonDanSlobinvorgeschlagenen „Thinking forspeaking“49.Beientspre-

theirspeakers:Theyallowthespeakerstorememberandcompareinformationaboutcardinalitiesaccuratelyacrossspace,time,andchangesinmodality.“47 IndiesemZusammenhangzeigtAthanasopoulos2006,dassdieFähigkeitenvonSprechendenmitzunehmendemGradderSprachbeherrschungwachsen.Dem-nachnähertensichbilingualeSprecherjapanischerMutterspracheinihrerFähigkeit,aufähnlichenBilderneinerSerieUnterschiede inderAnzahlderabgebildetenWe-senundGegenständefestzustellen,umsostärkerdenSprechernenglischerMutter-sprachean,jebesserihreEnglischkenntnissewaren.48 Vgl.Barner/Inagaki/Li2009,339: „Languages,weassert,donotalterprefer-encesbetweenconstruals,butratherdifferinwhethertheyprovideobligatorysyntac-ticmechanismsforselectingbetweenthem.Somelanguagesprovidesyntaxforse-lectingamongconstruals (likemass-countsyntax inEnglish),andsome languagesdonotmakesuchanobligatorydistinction(likeJapaneseandMandarin).“49 Slobin1996,76: „Inmyownformulation: theexpressionofexperience in lin-guistictermsconstitutesthinkingforspeaking–aspecialformofthoughtthatismo-bilizedforcommunication.Whatevereffectsgrammarmayormaynothaveoutsideoftheactofspeaking,thesortofmentalactivitythatgoesonwhileformulatingutter-ancesisnottrivialorobvious,anddeservesourattention.Weencounterthecontentsofthemindinaspecialwaywhentheyarebeingaccessedforuse.Thatis,theactiv-ity of thinking takes on a particular quality when it is employed in the activity ofspeaking. Intheevanescenttimeframeofconstructingutterances indiscourseonefits one’s thoughts into available linguistic frames. ‘Thinking for speaking’ involves

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chendemTrainingistesdenSprecherinnenundSprechernjedochstetsmöglich,vondendie jeweiligeSprachecharakterisierendenStrukturenbewusstAbstandzuneh-men50.

FüreinesolcheAbstandsnahmebestehtinderKommunikationspraxisallerdingswe-nigVeranlassung.DenndielexikalischenundmorphologischenStrukturenvonSpra-chebietenaucheineffizientesMittel,einederkomplexestenkognitivenAufgabenzulösen:dieWahrnehmungbzw.KonstruktionvonWirklichkeit.NeueempirischeStudi-enzurkategoriellenWahrnehmungvonFarbewerfenhieraufeinpräziseresLicht51:Demnach erfolgt die kategorielle Wahrnehmung zweier sprachlich differenzierterFarben(alsoetwadt.grünversusblau)besondersraschüberdasrechteGesichts-halbfeld,das indie linkeHemisphäredesGehirnsunddamit indie fürdieSprach-verarbeitung zuständigen Zentren projiziert. Sind die Farben hingegen sprachlichnichtdifferenziert,gehtderGeschwindigkeitsvorteil verlorenbzw. reagiertdas linkeGesichtshalbfeld gar schneller. DasGleiche gilt übrigens auch, wenn der ProzessderkategoriellenWahrnehmungvoneinersprachlichenAufgabebegleitetwird.Dieerfolgreiche Arbeit des rechten Gesichtshalbfeldes ist also von den lexikalischenStrukturenimBereichderFarbbezeichnungenabhängigundlässtsichdurchsprach-licheAktivitätenblockieren.ImIdealfalldurchläuftdabeizumindestdieHälfteunsererWahrnehmungeinenlinguistischenFilter.DabeihabenSpracheundihreStrukturenselbst nur symbolischeBedeutung; denndieBedeutungeiner sprachlichenÄusse-rungwirdautopoietischdurchdasIndividuumselbstzugewiesen.Darausfolgt,dassanderKonstruktionvonWirklichkeitzumindestdievomrechtenGesichtshalbfeldan-gesteuertenRegionendesGehirnsbeteiligtsind.

§8:Zusammenfassung

DiebisherigenAusführungengestattendiefolgendenSchlüsse:

• DerGeltungsbereichder„Sapir-Whorf-Hypothese“mussaufdenBereichderlexi-kalischenundmorphologischenKategorieneingeschränktwerdenunddarfSyn-taxnichtumfassen(§2).

• Methodische Stringenz und interdisziplinäre Forschungsansätze führen in den1990erJahrenzueinerRückkehrder„Sapir-Whorf-Hypothese“(§3).DiedadurcherzieltenResultate–etwaanhanddesBeispielsderZahl-undMengenbezeich-nung–scheinenaufdenerstenBlickeinenEinflussdersprachlichenaufdieko-gnitivenStrukturenzubelegen(§4).

• Betrachtetmandie „Sapir-Whorf-Hypothese“allerdingsausdemBlickwickelderSprachwandeltheorie,führtdieszurradikalenThese,wonachmenschlichesDen-

pickingthosecharacteristicsofobjectsandeventsthat(a)fitsomeconceptualizationoftheevent,and(b)arereadilyencodableinthelanguage.“50 S.dieErfahrungenvonJanuary/Kako2007,424f.51 ÜbersichtbeiRegier/Kay2009.

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keninseinerEntwicklungdurchautonome,vonanderenSystemenabgekoppelteSprachwandelprozessegesteuertwerde.DieseThesescheintschwerakzeptabel(§5).

• Hingegenhatsich inden letztenJahreneineAlternativerklärungetabliert:Dem-nachsind„Whorf’scheEffekte“(wiediein§4beschriebenen)durchlexikostatisti-sche Routinen gesteuert und daher sprachimmanent. Nicht Sprache prägt dasDenken,sonderndasDenkennutztSprache(§6).

• Die lexikalischenStrukturenundgrammatischenKategorien sind folglich Instru-ment, Wahrnehmungen effizient zu strukturieren und bei der Konstruktion vonWirklichkeiteinzusetzen(§7).

AusheutigerSicht istdie„Sapir-Whorf-Hypothese“somit inFragegestellt.Ohneje-den Zweifel hat sie aber den Weg zu einer fruchtbaren Annäherung zwischenSprach-undKognitionswissenschaftengewiesen.

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