Kompositum vs. Phrase: Sprachliche und kognitive Unterschiede
Holden Härtl Universität Kassel
Einleitung
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Ökonomie: eine Maschine zum Kehren von Schnee vs. eine Schneekehrmaschine
Warum hat eine Sprache Wortbildung?
Konzeptbildung: ein gelber Karton vs. ein Gelbkarton
Problem: Auch Phrasen sind Konzepte
Kleiner Tümmler, grüner Tee, Mann von Welt
Einleitung
3
Ist Wortbildungsmorphologie eine eigenständige Komponente des Sprachsystems?
Interpretation
Syntax
Artikulation
Lexikon Wortbildung
Einleitung
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Ist Wortbildungsmorphologie eine eigenständige Komponente des Sprachsystems … oder eher nicht?
Interpretation
Strukturbildung
Artikulation
Lexikon
Fragen
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Worin bestehen sprachliche Unterschiede zwischen Komposita und Phrasen?
Werden Komposita und Phrasen unterschiedlich verarbeitet und memorisiert?
Sind neue Komposita im Diskurs markiert?
Sprachliche Unterschiede
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Komposita weisen lexikalische Integrität auf, s. (1b):
(1) a. Mia ist Fahrerin eines Audis. Der hat nun leider einen Motorschaden.
b. Mia ist Audifahrerin. ??Der hat nun leider einen Motorschaden.
Komposita sind drücken eher Artenbegriffe aus:
(2) a. Die Henkelvase wurde in Deutschland erfunden.
b. ??Die Vase mit Henkel wurde in Deutschland erfunden.
cf. Booij (2009); Giegerich (2006)
Sprachliche Unterschiede
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Komposita sind daher auch besser in nenn-Kontexten:
(1) a. ??Man nennt so etwas ein rotes Dach.
b. Man nennt so etwas ein Rotdach.
Komposita können besser bereits vergangene Eigenschaften ausdrücken, s. (2b):
(2) a. Nur einer der Professoren ist ein ??Baby / Stillbaby.
b. Nur einer der Pensionäre ist ??ein Schüler mit Bestnoten / Bestnotenschüler.
cf. Bücking (2009); Carlson (1977); Krifka et al. (1995); Schlücker & Hünning (2009), Rapp (2012)
Sprachliche Unterschiede
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Komposita haben eine spezifischere Bedeutung.
(1) Max ist ein schöner Raucher.
Max ist ein Raucher und schön (intersektiv)
Max ist jemand, der schön raucht (nicht-intersektiv)
(2) Max ist ein Schönraucher.
Max ist jemand, der schön raucht (nicht-intersektiv)
cf. Egg (2006); Schäfer (2010)
Sie weisen andere semantische Lesarten als Phrasen auf:
Werden Komposita kognitiv anders behandelt?
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Komposita und Phrasen unterscheiden sich sprachlich.
Gibt es Gründe anzunehmen, dass sie auch kognitiv anders behandelt werden?
Aphasische Daten: Selektive Beeinträchtigung für syntaktische Phrasen (z.B. strange fever), mit intaktem Kompositum-Zugriff (yellow fever), siehe Mondini et al. (2002)
Morphologie als evolutionär ökonomische Art, komplexe sprachliche Strukturen abzuspeichern, siehe Wunderlich (2008)
Williams-Syndrom: Selektive Beeinträchtigung lexikalisch-morphologischer
Verarbeitung, mit intakter komputationeller Grammatik, siehe Clahsen & Almazan (2000)
Lernstudie
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Learning phase: subjects were asked to memorize unkonwn picture labels
eine Kurzsäge ein breiter Kamm
Compound Phrase
N = 6 N = 6
Lernstudie
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Recall phase: subjects were asked to decide on correct / incorrect labels
eine Kurzsäge eine Flachsäge
Compound: learned Compound: not learned
N = 6 N = 6
Response variable: reaction times to decide
Lernstudie
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ein breiter Kamm ein tiefer Kamm
Phrase: learned Phrase: not learned
N = 6 N = 6
Response variable: reaction times to decide
Recall phase: subjects were asked to decide on correct / incorrect labels
Lernstudie
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Entire procedure was repeated over three days:
Hypothesis: Compounds are memorized differently than phrases over time.
Day 1
Day 4
Day 8
Lernstudie
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Results: main effects
Learned items are decided faster (p < .001)
Phrases are decided faster (p < .01)
You get better over time (p < .001)
Lernstudie
15
ITEM TYPE × DAY interaction (not significant)
neither type is memorized better over time (p < .26)
860
910
960
1010
1060
1110
Session 1 Session 2 Session 3
Compounds
PhrasesRT
Lernstudie
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LEARNED × ITEM TYPE interaction (p < .09)
stronger effect of memorization for compounds (p < .001)
900
950
1000
1050
1100
1150
Phrases Compounds
Not learned
Learned
not learned compounds take longer to decide than phrases (p < .001)
this difference disappears when the compounds are learned (p < .67)
RT
Lernstudie
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Error rates: LEARNED × ITEM TYPE interaction (p < .001)
compounds profit from learning, phrases don’t (p < .75)
4,5
4,6
4,7
4,8
4,9
5,0
5,1
5,2
5,3
5,4
Not learned Learned
CompoundsPhrases
compounds are decided as correctly as phrases when learned (p < .99)
CORRECT
ANSWERS
Lernstudie
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Main findings
> =
> >>
(1)
(2)
Zwischenfazit
Wir finden einen stärkeren Memorisierungseffekt für Komposita: Sie haben zwar einen “schlechten Start”, erreichen dann aber schnell das gleiche Aufwandsniveau wie Phrasen.
Mögliche Erkärung für den “schlechten Start“: Neue Komposita sind sprachlich markiert und daher zunächst schwerer zu verarbeiten.
Hat dieser Markiertheitsffekt eventuell Folgen für die Diskurswertigkeit neuer Komposita?
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Fragebogenstudie
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Minidiskurse: Testsätze mit psychischen Verben und kausalen Nebensätzen
(2) Stim-Phrase: Die flache Säge begeistert Christoph, weil sie …
Stim-Komp: Johanna schätzt das Schmalmesser, weil es …
Hypothese: Die Zuschreibung der weil-Sätze zum Stimulus erhöht sich bei unbekannten Komposita im Vergleich zu Phrasen.
(1) Exp-Stim-Verb: Max beneidet die Direktorin, weil sie / ?er …
Stim-Exp-Verb: Die Direktorin fasziniert Max, weil sie / ?er …
Fragebogenstudie
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Ergebnis: Erwartungsgemäßg erhöhen sich bei Komposita die Stimulus-Zuschreibungen noch einmal
Worin genau ist der Effekt begründet? Semantische Markiertheit? Strukturell?
Zeigt der Effekt sich auch bei der Online-Verarbeitung?
Lesezeitstudie
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Testsätze der folgenden Art wurden selbstbestimmt gelesen:
A-N-Komplex semantisch markiert, weil-Zuweisung an: Exp-Komp: Der Weitlehrer fürchtet Ina, weil er … Exp-Phrase: Der tiefe Arzt fürchtet Ina, weil er …
Gemessen wurde die Reaktionszeit auf dem Pronomen und dem Subjekt.
A-N-Komplex semantisch unmarkiert, weil-Zuweisung an: Exp-Komp: Der Langläufer schätzt Klaus, weil er … Exp-Phrase: Der starke Schmied schätzt Klaus, weil er …
Hypothese: Semantische markierte Komposita (Weitlehrer) vereinfachen die weil-Zuweisung an den Experiencer im Vergleich zur sem. markierten Phrase.
Lesezeitstudie
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Zunächst die bad news:
Aber – es gibt auch gute Nachricht:
In der Subjekt-Position wurden markierte Komposita viel langsamer verarbeitet als markierte Phrasen:
Schlussfolgerung: Semantisch markierte Komposita erfordern mehr Verarbeitungskapazität als markierte Phrasen.
Auf dem Pronomen zeigt sich kein empirisch verwertbarer Effekt.
… Weitlehrer …
… tiefe Arzt …
… Langläufer …
… starke Schmied …
Zusammenfassung
Wir finden einen stärkeren Memorisierungseffekt für Komposita. [10 – 18]
Online bestätigt sich aber zunächst nur der Effekt des „schlechten Starts“ neu gebildeter Komposita, hier wieder anhand der Lesezeit. [22 – 23]
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Wir finden offline Hinweise auf erhöhte Diskurswertigkeit neu gebildeter Komposita. [20 – 21]
Komposita haben eine Benennungsfunktion, die sich sprachlich / semantisch niederschlägt. [Folie 6 – 8]
Unklar ist die genaue Natur dieses Effektes, da es sich auch um ein reines Leseproblem handeln könnte. Und wie verhält es sich mit neuen, aber semantisch transparenten Komposita: Kurzlied, Rumpfkollegium, Langkanon?
Prinzipiell sind unsere Ergebnisse mit der Hypothese einer separaten Wortbildungskomponente gut kompatibel.
Vielen Dank.
References
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Bücking, Sebastian (2009) German nominal compounds as underspecified names for kinds. Linguistische Berichte Sonderheft, 17, 253-281.
Carlson, Greg (1977) A unified analysis of the English bare plural. Linguistics and Philosophy, 1-3, 413-458.
Clahsen, Harald & Mayella Almazan (2001) Compounding and inflection in language impairment: evidence from Williams Syndrome (and SLI), Lingua, 111, 729-757.
Egg, Markus (2006) Anti-Ikonizität an der Syntax-Semantik-Schnittstelle. Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 25-1, 1-38.
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Jespersen, Otto (1942) A Modern English Grammar. Part VI, Morphology. Copenhagen: Ejnar Munksgaard.
Krifka, Manfred; Francis. J. Pelletier; Greg. N. Carlson; Alice ter Meulen; Gennaro Chierchia & Godehard Link (1995) Genericity: an introduction. In Greg N. Carlson & Francis J. Pelletier (eds.), The Generic Book. Chicago/London: University of Chicago Press, 1-124.
Lipka, Leonhard (1977) Lexikalisierung, Idiomatisierung und Hypostasierung als Probleme einer synchronen Wortbildungslehre. In: Brekle, Herbert & Dieter Kastovsky (eds.) Perspektiven der Wortbildungsforschung, Bonn: Bouvier, 155-164.
Mondini, Sara; Gonia Jarema; Claudio Luzzatti; Cristina Burani, and Carlo Semenzai (2002) Why is red cross different from yellow cross? A neuropsychological study of noun-adjective agreement within Italian compounds. Brain and Language, 81, 621-634.
Motsch, Wolfgang (2004) Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin/New York: Walter de Gruyter.
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Schlücker, Barbara & Matthias Hüning (2009) Compounds and phrases. A functional comparison between German A+N compounds and corresponding phtrases, Rivista di Linguistica, 21-1, 209-234.
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