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Ich weiß schon, was Sie denken. Mag ja sein, dass wir grundlegende Gemeinsamkeiten mit Nagetieren haben – zelluläre Mechanismen, motorische Reflexe, eine Vorliebe für Süßes –, aber das menschliche Gehirn und seine aus ihm erwachsenden mentalen Fähigkeiten sind doch etwas ganz Eigenes. Es ist gut, mithilfe von Nagermodellen etwas über die Wirkungen von Stresshormonen auf das Gewicht der Thymusdrüse herausfinden zu wollen, aber neuronale Netzwerke, Aufmerksamkeitsspannen und Metakognition überlasse man doch bitte dem Menschen. Gutes Argument. Ich will ganz bestimmt nicht behaupten, dass Ratten reli-giösen Glauben hegen, dieser oder jener politischen Partei anhängen oder die kognitive Fähigkeit besitzen, militäri-sche Strategien zu planen – ob gut oder schlecht, dies sind rein menschliche Errungenschaften. Aber was das Gehirn zu unserer persönlichen Selbstwahrnehmung und unserer Fähigkeit beiträgt, Informationen in sinnvoller, relevanter Weise zu verarbeiten, tut es nicht erst, seit wir auf der evo-lutionären Bildfläche erschienen sind. In diesem Kapitel werden wir uns damit beschäftigen, was Nager uns über jene überlegenen geistigen Fähigkeiten lehren können, die vermeintlich dem Menschen vorbehalten sind.

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Intelligenz

K. G. Lambert, Lehrmeister Ratte, DOI 10.1007/978-3-642-37341-1_2,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Anthropo… was?

Noch in meinen höheren Studiensemestern – mehr als ein Jahrhundert nach Darwins Vermutung, dass zwischen nichtmenschlichen und menschlichen Säugetieren ein Kontinuum bestehe – schärften unsere Professoren uns ein, professionelle Distanz zu den Tieren zu wahren, die wir er-forschten. Zwar wurden wir darin ausgebildet, Tiermodelle zu entwickeln, aber gleichzeitig warnte man uns davor, ir-gendeine der von uns untersuchten Verhaltensweisen nach menschlichen Maßstäben zu erklären. Schreibt man nicht-menschlichen Tieren in dieser Weise fälschlich menschli-che Eigenschaften zu, nennt man dies Anthropomorphismus. George Romanes, Naturforscher und Freund Darwins, ist dafür bekannt, derlei verpönte Anthropomorphismen kons-truiert zu haben, da er in seinem Buch Animal Intelligence Geschichten von klugen Tieren einstreute. Wenn Ihr Hund vom Sofa springt, sobald Sie das Zimmer betreten, und Sie ihm ein schlechtes Gewissen (das Sie hätten, wenn Sie bei einer Missetat ertappt würden) unterstellen, begehen Sie denselben gängigen Fehler. Verhaltensforscher erklären sein Verhalten dagegen schlichtweg anhand der Assoziationen zwischen seinem Sofaaufenthalt und der absehbaren dar-auf folgenden Bestrafung und schreiben Ihrem vierbeinigen Freund keine Schuldgefühle zu.

Jahrelang befolgte ich die Vorgaben meiner Hochschul-lehrer. Wenn ich Verhaltensweisen beobachtete, die sich über die gesamte Entwicklung der Säugetiere hinweg er-halten haben, ergänzte ich meine geäußerten Vermutungen zu Ähnlichkeiten zwischen den Arten mit entschuldigen-den Formulierungen wie „ohne vermenschlichen zu wollen,

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sind doch …“ oder „ich möchte Anthropomorphismen ver-meiden, aber …“. Nun aber habe ich das Gefühl, es sei an der Zeit, die alten Ratschläge über Bord zu werfen und deutlich zu sagen, dass die von mir untersuchten Ratten unter bestimmten Umständen Emotionen, Motivationen oder Leiden erleben, die denen von uns Menschen ähnlich sind. Laut Elliott Sober, einem führenden Philosophen der Biologie (an der University of Wisconsin in Madison), wäre es sogar ein ebenso großer philosophischer Fehler, solche Gemeinsamkeiten in den kognitiven Fähigkeiten abzustrei-ten. Er prägte dafür den Begriff Anthropodenial, deutsch etwa „Absprechen menschlicher Eigenschaften“.

Bei der Untersuchung von Gemeinsamkeiten bei den geistigen Fähigkeiten von Menschen und Nagern sollte man diese tunlichst weder über- (Anthropomorphismus) noch unterschätzen (Anthropodenial). Lassen wir uns also von der Naturwissenschaft leiten. Ähnlichkeiten zwischen Arten werden nur postuliert, wenn sich dies mit theoreti-schen und empirischen Belegen untermauern lässt. Doch bevor wir uns den höheren kognitiven Fähigkeiten zuwen-den, müssen wir erst einmal die neuronalen Schaltkreise zu-sammenfügen, aus denen diese erwachsen.

Ein Gehirn-Baukasten de luxe

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem mir klar wurde, dass das Gehirn das aufregendste Thema war, mit dem ich es je zu tun hatte. Ich war neunzehn Jahre alt und nahm an einem Kurs in „physiologischer Psychologie“ teil, der als der schwierigste im Hauptstudiengang Psychologie

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galt. Heute gebe ich diesen Kurs selbst, doch trägt er in-zwischen die Bezeichnung Biopsychologie. Da ich als zwei-tes Hauptfach Biologie studierte, klang die für den Kurs angekündigte Kombination aus Biologie und Psychologie vielversprechend. Allerdings ahnte ich nicht, dass das, was ich in diesem Kurs lernte, meine Interessen, Vorlieben und Wahrnehmungen für immer verändern sollte.

Was war es, das mich so fesselte? Meine Professorin Jani-ce Teal enthüllte uns mit ihrem Südstaatenakzent und for-malen Unterrichtsstil gemächlich die Feinheiten des Ge-hirns – so, als würde sie uns Staatsgeheimnisse anvertrauen. Und ich lauschte, als ginge es um mein Leben. Bis dahin hatte für mich noch nie etwas so komplex und wichtig ge-klungen wie das, was sie uns vermittelte. Wir erfuhren von den historischen Versuchen, mehr über das schwer fassbare Hirngewebe herauszufinden, gingen in allen Einzelheiten auf den delikaten Bau der Bausteine des Hirngewebes, der Neurone, ein und diskutierten die bemerkenswerte Art und Weise, in der diese Zellen aktiviert werden und so mit anderen Zellen des Nervensystems kommunizieren kön-nen. Bei annähernd einhundert Milliarden Zellen, die in funktionierende Schaltkreise im menschlichen Gehirn zu integrieren waren, wunderte es mich, dass wir die mentale Fähigkeit besaßen, auch nur einen Tag lang zu überleben. Irgendwie jedoch wurden die dafür nötigen Verbindun-gen gebildet, die passenden Ionen durch Membranen ge-schleust und genau die richtigen neuroaktiven Substanzen aus den winzigen Knöpfchen an den neuronalen Fortsät-zen freigesetzt, um einen Gedanken, eine Emotion oder eine komplexe Verhaltensreaktion zu erzeugen. Wirklich erstaunlich.

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Die Krönung war allerdings die Geschichte über das Rattengehirn. Teals blonde Strähnen wippten über ihrer Stirn, als sie lebhaft davon erzählte, in welch unvorstell-barem Maße sich das Gehirn, die geistigen Fähigkeiten und das Verhalten junger Ratten veränderten, wenn man sie nur dreißig Tage lang in einen Käfig mit vielerlei Spiel-zeug, eine Art Abenteuerspielplatz, setzte. Das war besser als jeder Zaubertrick – Kaninchen aus dem Hut ziehen, pah! Ich hatte soeben erfahren, dass man Ratten in einen Käfig mit anderen Tieren und anregendem Spielzeug setzen und am Ende ein Gehirn mit zahlreicheren Verknüpfun-gen und verbesserter Lernfähigkeit herausbekommen kann. Diese Arbeit, die klassischen Enriched-Environment-Stu-dien (deutsch „bereicherte Umgebung“), wurde von einem Team beeindruckender junger Naturwissenschaftler an der University of California in Berkeley durchgeführt. Nach dieser Vorlesung traten meine anderen Kurse – britische Literatur, Differenzialrechnung, Grundlagen der Soziologie – hinter dieser aufregenden neuen Disziplin, die erforschte, wie unsere Lebensumstände die wesentliche Komponente unseres Daseins, unser Gehirn, beeinflussten, in die zweite Reihe. Seit ich das erste Mal von der Dynamik des Säuge-tiergehirns hörte, widme ich mich mit unveränderter Be-geisterung diesem Thema – seit inzwischen 25 Jahren.

Unser neuronales Gewebe ist nicht in Stein gemeißelt,

sondern wird durch Erfahrungen gestaltet

Marian Diamond leistete zum Thema Enriched Environ-ment schon früh innovative Arbeit. Kürzlich hatte ich

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Gelegenheit, mich mit ihr über das damals herrschende Kli-ma in der Forschung zu unterhalten, als die Wissenschaftler noch davon ausgingen, dass das Gehirn unbeweglich und größtenteils von den Genen gesteuert sei. Der Gedanke, dass das eigene neuronale Schicksal durch die Familiengene vorbestimmt sei, war mit Blick auf Eltern und Verwand-te für manche sicher angenehmer als für andere. Doch die neuen Forschungen ließen vermuten, dass unser neuro-nales Gewebe nicht in Stein gemeißelt ist, sondern durch Erfahrungen gestaltet wird. Unsere genetische Ausstattung beeinflusst zweifellos wichtige Aspekte unserer neuronalen Entwicklung, doch andere Faktoren spielen bei diesem Pro-zess ebenfalls eine wichtige Rolle. So aufregend diese Er-gebnisse damals auch waren, das wissenschaftliche Dogma von der Unveränderlichkeit unseres Gehirns änderte sich nur langsam. Diamond berichtete, wie unangenehm es war, als junge Frau solch revolutionäre Forschungsergebnisse bei einer in Washington, D. C., abgehaltenen Anatomietagung vorzustellen. Ihr war bewusst, dass ihre Ergebnisse den gän-gigen Vorstellungen vom Gehirn widersprachen, aber sie konnte Daten vorweisen, mit denen sie ihre Behauptungen belegte. Würde das genügen? Offensichtlich nicht. Ein Na-turwissenschaftler sprang am Ende der Diskussion auf und rief: „Das Gehirn kann sich nicht verändern, junge Dame!“ Offenbar sind neue Ideen selbst für empirisch gesinnte Wissenschaftler schwer zu verarbeiten.

Nicht alle Hirnforscher hatten die Vorstellung vertre-ten, dass das Gehirn in seiner Form festgelegt sei. Anfang des 19.  Jahrhunderts hatte Johann Christoph Spurzheim, ein Weggefährte Franz Joseph Galls (der die interessan-te Theorie der Phrenologie entwickelt hatte), bereits über

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die vermutliche Plastizität des Hirngewebes nachgedacht. Nach den Lehren der Phrenologie waren individuelle Unterschiede in den geistigen Fähigkeiten auf Unterschiede in bestimmten Gebieten des Gehirns zurückzuführen (so weit, so gut), und die Größe dieser Hirnteile ließ sich an-hand der Wölbungen im Schädel bemessen. Da die meis-ten von uns ziemlich glatte Schädel besitzen, hat sich der wissenschaftliche Wert dieser Theorie mit ihrer Betonung der Wölbungen erledigt. Obwohl also das Vorhandensein von entsprechenden Schädelwölbungen eher fraglich war, machten Gall und Spurzheim aus ihrer Theorie eine vor allem in den USA populäre Bewegung. Im 19. Jahrhundert war es durchaus möglich, dass ein potenzieller Mitarbeiter einer phrenologischen Untersuchung unterzogen wurde, bevor man ihn einstellte. Spurzheim wandte sich schließ-lich von Gall ab und vertrat fortan für damalige Verhältnis-se radikale Ideen – etwa die, dass sich Geisteskrankheiten durch das Trainieren beeinträchtigter Funktionen behan-deln ließen. So kam die radikale Vorstellung von der später so genannten neuronalen Plastizität – derzufolge das Ge-hirn sich das ganze Leben hindurch kontinuierlich verän-dert und durch Erfahrungen geformt werden kann – in die Welt, auch wenn noch einige Zeit vergehen sollte, bis sie durch Daten gestützt wurde. Und wie ich bereits erwähnte, stammten diese Daten, als es sie dann endlich gab, nicht vom Menschen, sondern von Nagern.

Im Einklang mit Spurzheims innovativen Vorstellungen äußerte Charles Darwin 1874 die Vermutung, dass eine komplexe Umgebung für die Hirnentwicklung förderlich sei, indem er feststellte, dass Hauskaninchen ein kleine-res Gehirn haben als Wildkaninchen. Stimulierten die

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Anforderungen, die das Leben in der freien Natur stellte, vielleicht das Gehirnwachstum? Etwa ein Jahrzehnt später machte die Naturforscherin und Kinderbuchautorin Beat-rix Potter eine ähnliche Beobachtung und schrieb: „In mei-ner Jugend hatte ich viele Mäusefreunde. Ich fing immer Mäuse ein und zähmte sie – die gewöhnlichen Wildmäuse sind viel intelligenter und unterhaltsamer als die domesti-zierten.“

Von diesen frühen Vermutungen zum Einfluss der Um-welt auf die Gehirnlandschaft war es noch ein weiter Weg bis ins Labor. Interessanterweise spielten Beobachtungen an zahmen Ratten eine große Rolle bei der Erforschung von bereicherter Umgebung und Gehirn. Der kanadische Psy-chologe Donald Hebb behauptete 1949, dass Ratten, die er als Haustiere mit zu sich nach Hause genommen hatte, bei Lernaufgaben besser abschnitten als die eingesperrten Kä-figratten in seinem Labor. Er vermutete, dass die abwechs-lungsreicheren Lebensumstände in seinem Haus irgendwie zum besseren Abschneiden der Tiere im Labyrinth beige-tragen hätten. An diesem Punkt trat das Team aus Berkeley – Mark Rosenzweig, David Krech, Marian Diamond und Edward Bennett – auf den Plan und führte die berühmten Studien durch, die belegten, dass eine bereicherte Umge-bung zu signifikanten Veränderungen im Gehirn führt.

In den folgenden Jahrzehnten belegten unzählige For-schungsarbeiten diese ersten Ergebnisse der Forscher aus Berkeley. Heute wissen wir, dass sich unser Gehirn tatsäch-lich verändert und die Umgebung, in die wir unser Gehirn bringen, dabei eine wichtige Rolle spielt. Eine der bekann-testen Auswirkungen ist die vermehrte Ausbildung von Verbindungspunkten, den sogenannten Dornen, auf den

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Dendriten der Neurone, also jenen Nervenzellfortsätzen, die sich zwischen zwei Neuronen ausbilden. Doch es gibt noch mehr beeindruckende Effekte außer einer erhöhten Anzahl dendritischer Dornen: Die Hirnrinde (Cortex) ist dicker, bestimmte Neuronenpopulationen weisen größere Zellkörper auf, es bestehen mehr synaptische Verbindun-gen zwischen Neuronen, die Zahl der Glia- oder Stützzellen ist größer, und auch die Kapillaren haben größere Durch-messer, um nur einige zu nennen.

Noch aufregender ist die Beobachtung, dass es offenbar keinerlei zeitliche Einschränkung für diese Modifikationen des Gehirns gibt, zumindest ist keine Altersgrenze erkenn-bar. Der Neurowissenschaftler William Greenough von der University of Illinois hat etliche Studien durchgeführt, die diesen Effekt bei adulten Ratten bestätigen. Wenn die bereicherte Umgebung Spielzeug enthält, das Bewegung verschafft (mehr dazu in Kap. 10), ist zudem eine größe-re Zahl von Blutgefäßen im Gehirn zu beobachten. Eine Kombination aus Abwechslung, fordernden Aufgaben und Bewegung ist also offenbar ideal für die hier untersuchten Rattengehirne. Sie sorgt für komplexere Neurone und eine verbesserte Blutversorgung – unerlässlich für ein gesundes Gehirn, ganz gleich, ob bei Ratte oder Mensch.

Die Formbarkeit oder „Plastizität“ des Gehirns wird heute von allen Neurowissenschaftlern akzeptiert. Kürzlich entdeckte man, dass bereicherte Umgebungen die Bildung neuer Neurone (die Neurogenese) beschleunigen. Be-stimmte Therapien, die die Symptome von Depressionen mildern, wie Antidepressiva und Elektrokrampftherapie, regen ebenfalls die Neurogenese an. Könnte eine berei-cherte Umgebung vor Depressionen schützen oder dazu

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beitragen, deren Symptome zu lindern? Indische Neuro-wissenschaftler konnten nachweisen, dass bereicherte Um-gebungen Ratten vor den schädlichen Auswirkungen von Stress schützten. Das ist bemerkenswert, denn es deutet darauf hin, dass solche Umgebungen in ihrer Fähigkeit, das Gehirn gesund zu erhalten, mit Medikamenten gleichzie-hen oder diese sogar hinter sich lassen könnten.

Der tägliche Trott

Fast jeder liebt seine Kaffeepause. Geben Sie mir einen gro-ßen fettarmen Milchkaffee und ein paar Minuten, um mich zu sammeln, und ich kann wieder ein paar Stunden arbei-ten. An einem arbeitsreichen Nachmittag im Büro tut es gut, eine Pause vom Schreibtisch einzulegen. Dazu gehört nicht unbedingt ein Kaffee, sondern vielleicht ein kleiner Spaziergang, ein kurzes Gespräch mit einem Kollegen oder sich einfach im Schreibtischstuhl zurückzulehnen und da-bei nicht auf den Bildschirm zu blicken. Manche Kulturen gehen noch weiter und nehmen eine längere Pause, eine Siesta, um den Mühen des Arbeitsplatzes zu entfliehen.

Auch Ratten, die bestimmten Aufgabenplänen folgen müssen, zeigen eine besondere Art der Pause. Im Labor nennt man diese Pause post-reinforcement pause (PRP, deutsch etwa „Pause nach Verstärkung“). Der berühmte Verhaltensfor-scher B. F. Skinner von der Harvard University wies vor einem halben Jahrhundert nach, dass Ratten in Käfigen, in dem sie einen Hebel so und so oft drücken mussten, um eine Belohnung zu erhalten (was einem fixierten Quoten-plan entspricht, ähnlich der Arbeit an einem Fließband),

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nach dem Erhalt der Belohnung (also der Verstärkung) kurz pausierten, bevor sie von Neuem ihre Reaktionen zeigten. Je härter sich die Ratten ihre Belohnung verdienen mussten, desto länger fiel die Pause aus. Menschen drücken eben-falls in vorhersehbarer Weise auf Hebel, um Belohnungen zu erhalten – die Kasinos in Las Vegas liefern dafür zahllose Beispiele –, aber das ist eine andere Geschichte.

Eine kürzlich von David Foster und Matthew Wilson am Massachusetts Institute of Technology durchgeführte Stu-die legt nahe, dass es nicht nur erholsam ist, jemandem eine kleine Pause zu gönnen, sondern dass man damit auch das Lernen und die neuronale Verarbeitung steigern kann. Bei dieser Studie konzentrierte man sich auf den Hippocam-pus, eine Gehirnstruktur, die an Lernen und Erinnerung beteiligt ist. Sollten Sie schon einmal einen Kurs in allge-meiner Psychologie besucht haben, erinnern Sie sich be-stimmt an einen berühmten Patienten namens H. M., dem man den Hippocampus entfernt hatte, um seine schweren epileptischen Anfälle zu lindern. Die Behandlung dämmte die Epilepsie erfolgreich ein, doch um einen hohen Preis: H. M. verlor seine Fähigkeit, neue Langzeiterinnerungen anzulegen. Danach erforschte man intensiv an Nagern, wel-che besondere Rolle diese Struktur bei der Bildung von Er-innerungen spielt.

Durch ein Mikroskop zu blicken ist so, als würde man eine

Kathedrale betretenIch widme einen großen Teil meiner Forschungsarbeit dem Hippocampus. Und ich gebe offen zu, dass es keine Gehirnstruktur gibt, der ich meine Zeit lieber widmen

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würde. Manchmal blicke ich durch das Mikroskop auf die zirkulären Muster und deutlich erkennbaren Reihen unter-schiedlicher Zellen und vergesse alles um mich herum. Vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, mich mit dem berühmten Neuroanatomen und Forscher Paul MacLean zu unterhalten, der hauptsächlich an den National In-stitutes of Health geforscht hat. MacLean erlangte einige Bekanntheit dadurch, dass er die Hirnteile benannte, die vornehmlich an Emotionen beteiligt sind – er nannte sie das Limbische System. Im Verlauf unseres Gesprächs über seine frühen Entdeckungen zum Gehirn sagte er mir, durch ein Mikroskop zu blicken sei für ihn so, als würde er eine Kathedrale betreten. Ich weiß genau, was er meint.

Der Hippocampus spielt, wie man inzwischen weiß, eine entscheidende Rolle bei Lernaufgaben, in deren Ver-lauf mehrere Entscheidungen zu treffen sind wie etwa bei der Navigation. Foster und Wilson fragten sich daher, was die Hippocampusneurone in jenen Pausen nach den Ver-haltensreaktionen eigentlich tun, und bauten einen Nager-parcours, bei dem die Tiere Runden zurücklegten und nach jeder Runde eine Belohnung erhielten. Nachdem sie ihren Leckerbissen verspeist hatten, warteten die Tiere unter-schiedlich lange, bevor sie die nächste Runde begannen. Dabei beobachteten die Forscher, dass die Nager ihr Fell pflegten, ihre Tasthaare putzten oder einfach nur dasaßen – so wie wir während unserer Pausen umherblicken, mit einer Haarsträhne spielen oder nur still dasitzen. Was aber spielte sich im Hippocampus ab?

Um diese Frage zu beantworten, brauchten sie viel Ge-duld und eine ausgefeilte Methode. Die Forscher pflanzten winzige ableitende Elektroden in einzelne Zellen dieser

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Struktur. Um Ihnen eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie genau dabei gearbeitet wurde: Das gesamte Rattenhirn hat die Größe einer kleinen Pekannuss, und der Hippo-campus ist in beiden Hemisphären etwa so dick wie eine Nussschale und so lang wie ein Fingernagel. Die einzelnen Neurone sind nur unter dem Mikroskop erkennbar. Ihre winzigen Zellkörper messen etwa fünfzig Mikrometer im Durchmesser, so viel wie ein durchschnittliches menschli-ches Haar. Das nenne ich präzises chirurgisches Arbeiten!

Sind die Elektroden an ihrem Platz, wird jede elektrische Aktivität aufgezeichnet, während das Tier verschiedene Ab-schnitte des Parcours abläuft. So lassen sich Ortszellen iden-tifizieren. Wie der Name schon andeutet, handelt es sich dabei um Nervenzellen, die feuern, wenn sich die Ratte an einem bestimmten Ort befindet. Nachdem man den Code für die Feuersequenz der Neuronen entschlüsselt hatte, konnte man das Schema, nach dem die Nervenzellen in der Pause feuerten, interpretieren. Diese Feuersequenzen ent-sprachen demselben Muster wie beim vorher gegangenen Weg durch den Parcours, jedoch in umgekehrter Reihen-folge und insbesondere dann, wenn die Ratte gerade einen ihr noch unbekannten Weg zurückgelegt hatte. Das Rat-tengehirn schien während der kurzen Pause noch einmal im Stillen zu wiederholen, was es gerade gelernt hatte. Solche Wiederholungssequenzen von Neuronen wurden auch bei Schlafphasen im Anschluss an Lernaufgaben nachgewiesen. Foster äußerte nach seiner Studie die Vermutung, dass die wiederholte Verarbeitung eines Ereignisses anderen Ge-hirnteilen Gelegenheit gibt, die Informationen zu interpre-tieren und abzuspeichern. Wenn etwa in einem bestimmten Gebiet Raubtiere vorkommen, wäre eine bleibende Aktivie-

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rung dieser Ortszellen – entsprechend gekoppelt mit den Hirnzentren für Angst und Wachsamkeit – hilfreich, um ein entsprechendes Erlebnis als Langzeiterinnerung zu spei-chern. Begibt sich die Ratte dann erneut in dieses Gebiet, wird sie entsprechend vorsichtig sein und auf eventuell lau-ernde Raubtiere achten. Vielleicht findet also während die-ser Pausen mehr Lernen statt als während der eigentlichen Aufgaben. Auf den Menschen übertragen erklärt das Befun-de aus der Kognitionsforschung, denen zufolge Menschen besser in mehreren kurzen Perioden lernen als in einer lan-gen. Wenn Ihnen drei Stunden zum Lernen zur Verfügung stehen, sollten Sie demnach lieber dreimal je eine Stunde lang lernen (verteiltes Lernen, distributed studying) als sich einem einzigen dreistündigen Lernmarathon (massiertes Lernen, mass studying) auszusetzen.

Bevor wir uns nun einem weiteren beeindruckenden Beispiel der kognitiven Verarbeitung bei Ratten zuwenden, muss ich noch einmal auf den Kaffee in der Kaffeepause zu sprechen kommen. Ist es kognitiv gesehen förderlich, in der Pause tatsächlich eine Tasse Kaffee zu trinken? Die Wissenschaft ist hier noch zu keinem endgültigen Schluss gekommen. Generell hat man das Koffein, ein kognitives Stimulans, in Modellen zur Parkinson-Erkrankung mit bestimmten neuroprotektiven Wirkungen in Verbindung gebracht, und zweifellos kann es uns wacher und aufmerk-samer machen, was das Lernen kurzfristig beschleunigen mag. Eine kürzlich durchgeführte Studie deutet jedoch darauf hin, dass geringe Dosen Koffein die Neurogenese, also die Bildung neuer Neuronen, hemmen können. Wenn man diesen hemmenden Effekt bei der Neurogenese auf Menschen überträgt, dann wirken vielleicht andere be-

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reichernde Aktivitäten der Koffeinwirkung entgegen und steigern die Bildung wertvoller Neurone oder gleichen den in besagter Studie beobachteten, durch Koffein induzierten Abbau aus. Auch wenn die Wissenschaft noch die genauen Langzeitwirkungen des Koffeins erforscht, haben wir doch aus diesen Studien vor allem gelernt, dass wir in unsere Arbeitspläne unbedingt Pausen (ob mit oder ohne Kaffee) einbauen müssen – jedenfalls wenn wir uns merken wollen, was wir da lernen.

Ähnlicher, als alle dachten

Die Philosophie ist eine spannende intellektuelle Heraus-forderung – eine ganze Disziplin, die sich dem Nachden-ken über … ja, über das Denken widmet. Wenn es einen cerebralen Studiengang gibt, dann ist es die Philosophie. Kaum jemand würde wohl vermuten, dass unsere Nager-freunde uns etwas über die epistemologischen Aktivitäten von Geistesgrößen wie Descartes beibringen können, dem wohl berühmtesten Philosophen und Intellektuellen aller Zeiten. Können wir von Ratten etwas über das Wesen des Wissens lernen und darüber, in welchem Ausmaß wir uns unseres Wissens bewusst sind?

Wie misst man die Metakognition bei einer Ratte?

Bevor ich von der kreativen Forschungsarbeit von Jonathan Crystal und Allison Foote von der University of Georgia gelesen hatte, hätte ich diese Frage nicht einmal gestellt. Nie hätte ich gedacht, dass Ratten wertvolle Informatio-

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nen zu dieser Frage, zum Thema Metakognition, beisteuern könnten. Wie nun misst man die Metakognition bei einer Ratte?

Zunächst einmal trainierte man die Ratten darauf zu unterscheiden, wie lange sie zwei verschiedene Töne hörten, sodass sie feststellen konnten, ob ein Testton länger oder kürzer zu hören ist als der Standardton. Man brachte ihnen bei, ihre Entscheidung kundzutun, indem sie ihre Nase in ein bestimmtes abgetrenntes Fach steckten. Identifizierten die Ratten einen Ton korrekt als kurz oder lang, erhielten sie eine große Belohnung. Nach einer falschen Antwort be-kamen sie keine Belohnung, nicht einmal eine Kleinigkeit. Zuvor schon hatte man nachgewiesen, dass Ratten Aufga-ben meistern konnten, die diskriminatives Lernen erforder-ten. Neu war an dieser Studie, dass bei manchen Durchgän-gen noch eine dritte Option angeboten wurde. Die Ratten erhielten Gelegenheit, sich der Entscheidung zu entziehen, bei der sie ja eine richtige Antwort geben mussten, um eine große Belohnung zu bekommen. Wenn sie sich aber ent-schieden, sich diesen Forced-Choice- oder Einfachauswahl-aufgaben zu entziehen, erhielten sie jeweils einen Trostpreis – eine kleine Belohnung. Erkennen Sie, worauf die Wissen-schaftler abzielten? Wenn die Ratte weiß, dass sie die rich-tige Antwort kennt, ist die klügste Reaktion, mitzuspielen und die große Belohnung einzuheimsen. Hat die Ratte aber Zweifel an der Richtigkeit ihrer Antwort, ist es am klügs-ten, zu gehen und die kleine Belohnung mitzunehmen.

Die Forscher formulierten zweierlei Voraussagen, die be-stätigen würden, dass die Ratten Metakognition zeigten. Erstens müssten die Tiere bei Aufgaben, bei denen die Ton-länge schwerer zu unterscheiden ist, die kleinere Belohnung

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nehmen. Zweitens müssten die Ratten bei diesen schwie-rigeren Durchläufen schlechter abschneiden, wenn sie nicht die Option haben, sich der Entscheidung zu entzie-hen. Und tatsächlich stützen beide Reaktionsstrategien der Ratten genau diese beiden Voraussagen: Die Tiere nutzten geschickt die Option, keine Auswahl zu treffen, wenn die Testfrage schwierig war, spielten aber durchweg mit, wenn sie die richtige Antwort offensichtlich kannten.

Womöglich finden Sie, dass wir hier gerade genau jene Anthropo-ismen bemühen, die ich an früherer Stelle be-schrieben habe. Die Autoren veröffentlichten ihre Studie mit dem forschen Titel „Metacognition in the Rat“ („Meta-kognition bei der Ratte“) und behaupteten, sie lieferten damit den ersten Beweis dafür, dass ein Nicht-Primate Kenntnis über den eigenen geistigen oder kognitiven Zu-stand hat. Ganz gleich, welchen Namen wir dem Kind geben – diese Studie bestätigt, dass Ratten Informationen über die Umwelt (die sich wiederholenden neuronalen Feu-ersequenzen, die im Abschnitt zuvor beschrieben wurden) und ihre eigenen Denkprozesse in sehr anspruchsvoller Weise verarbeiten.

Das Experiment von Crystal und Foote verdeutlicht, wie Wissenschaftler Studien mit Ratten gestalten können, um Antworten auf Fragen zu scheinbar menschlichen Eigen-schaften zu bekommen. Dies ist einer der befriedigendsten Aspekte der Arbeit auf dem Gebiet der Neurokognition: herauszufinden, wie man mithilfe einer bestimmten Auf-gabe Ratten eine ziemlich komplizierte Frage stellen kann. Ich kann mir nicht helfen, ich bin einfach stolz darauf, dass diese philosophierenden Ratten von der University of Georgia stammen, wo ich als Studentin der Biopsychologie

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meine erste Begegnung mit echten Ratten hatte, in dersel-ben Abteilung, in der diese ehrenwerten Ratten ihre beein-druckenden intellektuellen Fähigkeiten bewiesen.

Dass ich hier über die Auswirkungen der Ratten-Metako-gnitionsstudie sinniere, bewirkt eine gewisse Selbst-Metako-gnition, da ich über frühere Erlebnisse mit meinen mensch-lichen Studenten nachdenke. Eine der Herausforderungen des Professorendaseins besteht darin, die Studenten mit dem nötigen Handwerkszeug und der Motivation auszu-rüsten, damit sie die Informationen beherrschen und somit Prüfungen selbstbewusst und im Vertrauen auf ihre Kennt-nis der Materie absolvieren. Es ist sehr entmutigend, wenn sich ein Student sicher ist, den Stoff zu beherrschen, dieses Wissen aber bei einer Prüfung nicht unter Beweis stellen kann. Studenten erzählen mir oft, wie gut ihre Kenntnisse waren, und ich muss mich dann darüber wundern, welch schlechte Ergebnisse sie im Test erzielen. In dem Versuch, etwas mehr über die metakognitiven Fähigkeiten meiner Studenten zu erfahren, verfahre ich seit einigen Jahren mit der Taktik, den Studenten „Couponpunkte“ zu geben, bei-spielsweise fünf Punkte, die sie an irgendeiner Stelle einer Prüfung einsetzen können. Das reduziert ihren Stress, weil sie etwas mehr Kontrolle über die Situation haben und – wie die Ratten – ein paar Fragen auslassen können, die sie ihrer Meinung nach nicht beantworten können (dass ich den Test zum Ausgleich etwas schwieriger gestaltet habe, bemerken sie gar nicht). Diese Prüfungssituation gibt mir Gelegenheit zu beobachten, was meine Studenten über ihr eigenes Wissen wissen. Können sie die Punkte angemessen einsetzen? Manche Studenten haben keine rechte Vorstel-lung davon, welche Antworten sie nicht kennen: Sie las-

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sen mehrere Fragen aus, entscheiden sich aber zugleich, die Punkte für den nächsten Test aufzusparen, obwohl sie gar nicht wissen, wie schwierig dieser sein wird. Andere beant-worten die Fragen richtig, setzen aber trotzdem ihre ver-fügbaren Punkte ein. Sie wissen also offensichtlich nicht so genau, was sie tatsächlich wissen. Und interessanterweise lassen sich manche von der Punktevergabe dermaßen ab-lenken, dass sie am Ende schlechter abschneiden, als wenn sie gar keine Punkte bekommen hätten. Studenten, die da-gegen erfolgreich für die Prüfung gelernt haben, sind sich ihres Wissens sicher und verfolgen in ihren Entscheidungen über den Einsatz ihrer Couponpunkte erfolgreichere Stra-tegien. Wir alle können im Hinblick auf die Einschätzung unseres Wissens noch viel lernen. Vielleicht werden die Ratten uns hier noch manchen wertvollen Einblick in diese mentalen Prozesse gewähren.

Am Ende dieses Kapitels möchte ich noch einmal auf die Ratten in der bereicherten Umgebung (Enriched Environ-ment) zurückkommen. In ihrem Buch Enriching Heredity berichtet Marian Diamond, dass ein Teenager in Shanghai sie einst danach fragte, worin im Gehirn der Unterschied zwischen Kreativität, die typisch für das Alter bis vierzig ist, und Weisheit, die für das reifere Lebensalter eines Men-schen charakteristisch ist, bestehe. Wenn das Gehirn in jüngeren Jahren besser auf Veränderungen reagiere, so frag-te das Mädchen, wie können dann die älteren Menschen weiser sein? Diamond vermutete mit Blick auf ihre Ratten-studien, dass es für das gesammelte Wissen entscheidend sei, nach welchem Muster die Ausbildung dendritischer Dornen gefördert wird. Als sie junge Ratten in bereicher-te Umgebungen setzte, beobachtete sie eine Zunahme der

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Dornen an Dendriten in der Nähe des Zellkörpers, was womöglich mit funktionalen Modifikationen wie etwa fo-kussierterer kreativer Aktivität einhergeht. Ältere Ratten dagegen zeigten die deutlichsten Veränderungen an den äußersten Enden der Dendriten, was bewirkte, dass die Neurone mit einer größeren Vielzahl umliegender Neurone kommunizieren konnten. Diese Fähigkeit, ausgedehntere neuronale Netzwerke zu aktivieren, befähigte sie vielleicht dazu, überlegtere, weisere Urteile zu fällen.

Diamonds Neugier bezüglich der neuroanatomischen Grundlagen von Intelligenz und Weisheit brachte sie dazu, sich an das menschliche Gehirn zu wagen. Sie wollte wis-sen, wie viele Gliazellen (jene Zellen, die die Neuronen mit Nährstoffen versorgen) sich im präfrontalen Cortex und anderen Assoziationsarealen befinden. Ihre Studien an Ratten deuteten darauf hin, dass eine höhere Dichte an Gliazellen, die die Neurone unterstützen, typisch für die am höchsten entwickelten Hirnareale ist. Nachdem sie Hirngewebe von vierzig- bis über achtzigjährigen Männern untersucht hatte, ersuchte Diamond direkt darum, Proben von Albert Einsteins Gehirn zu bekommen. Der Patholo-ge Thomas Harvey bewahrte nach Einsteins Autopsie 1955 dessen Gehirn auf. Ein Vierteljahrhundert später wurden ein paar würfelförmige Proben davon in Diamonds Labor geschickt. Ausgehend von ihrer Arbeit mit Rattengehirnen stellte sie mindestens einen entscheidenden Unterschied zwischen Einstein Gehirn und den Gehirnen der anderen Männer fest. Einstein besaß pro Neuron mehr Gliazellen, besonders in der Pars parietalis inferior des Parietalcortex, einem Hirnabschnitt, der die unterschiedlichsten Informa-tionen von überallher im Gehirn bezieht, eine Art Über-

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Assoziationsareal. Somit gibt es empirische Belege (speku-lativ, da sie nur auf einer Fallstudie beruhen) dafür, dass gesteigerten kognitiven Fähigkeiten bei Nagern (Diamonds Ratten) wie bei Physik-Nobelpreisträgern (Einstein) ähn-liche Mechanismen zugrunde liegen.

Das von Darwin postulierte, alle Säuger umfassende evolutionäre Kontinuum wird durch kluge und aufschluss-reiche Studien wie die in diesem Kapitel beschriebenen Arbeiten bestätigt. Und die Wissenschaftler, die sich diese Befunde zu eigen machen, sehen den Einsatz angemessener Tiermodelle zunehmend als wichtigen und unerlässlichen Schritt auf dem Weg zu den entscheidenden Erkenntnissen über unsere eigenen, kostbaren neuronalen Netzwerke.