Carl R. Rogers
Die Grundlagen des personenzentrierten Ansatzes 1
Ich möchte auf zwei miteinander in Beziehung stehende Richtungen verweisen, die im Laufe der Jahre in meinem Denken immer mehr an Bedeutung gewonnen haben.2 Die eine ist eine aktualisierende Tendenz, ein Merkmal alles organischen Lebens. Die andere ist eine formative Tendenz, die das gesamte Universum durchzieht. Beide zusammen, glaube ich, stellen die Grundsäulen des personenzentrierten Ansatzes dar.
1. Die Merkmale des personenzentrierten Ansatzes
Was verstehe ich nun unter einem personenzentrierten Ansatz? Für mich ist er das primäre Thema meines gesamten Berufslebens geworden, und zwar in dem Maß, als dieses Thema durch Erfahrung, Wechselbeziehung mit anderen und Forschung Gestalt angenommen hat. Ich muß lächeln, wenn ich an die verschiedenen Bezeichnungen denke, die ich diesem Thema im Laufe meiner Karriere gegeben habe: nicht-direktive Beratung, gruppenzentrierte Führung, klientenzentrierte Therapie, studentenzentriertes Lehren. Auf Grund des Anwachsens der Anwendungsbereiche hinsichtlich Zahl und Vielfalt scheint die Bezeichnung "personenzentrierter Ansatz" die anschaulichste zu sein. Die zentrale Hypothese dieses Ansatzes kann kurz dargestellt werden (eine vollständige Erläuterung findet sich in ROGERS, 1959): Sie besteht darin, daß das Individuum unermeßlich reiche Anlagen in sich trägt, sich selbst zu verstehen, das Selbstkonzept, die grundlegenden Einstellungen und das Selbstbestimmte zu verändern, und daß diese Anlagen sich nur dann erschließen können, wenn eine genau definierbare Atmosphäre von fördernden psychologischen Einstellungen geschaffen werden kann. Es gibt drei Bedingungen, die diese wachstumsfördernde Atmosphäre ausmachen, ob wir nun von der Beziehung zwischen Therapeut und Klient, Eltern und Kind, Leiter und Gruppe, Lehrer und Studenten oder Verwalter und Personal sprechen. Diese Bedingungen treffen tatsächlich in jeder Situation zu, die die Entfaltung der Persönlichkeit zum Ziel hat. Ich habe diese Bedingungen schon früher beschrieben. Ich lege hier eine kurze Zusammenfassung vom Standpunkt der Psychotherapie aus vor; jedoch trifft diese Beschreibung auf alle vorhin erwähnten Beziehungen zu. Das erste Element hat mit Echtheit, Wahrhaftigkeit und Kongruenz zu tun. Je mehr der Therapeut in der Beziehung er
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selbst ist und sich hinter keiner beruflichen oder persönlichen Fassade verbirgt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Klient sich wandelt und auf konstruktive Art wächst. Das bedeutet, daß der Therapeut offen die Gefühle und Haltungen, die in ihm in diesem Moment vorgehen, )st". Der Ausdruck "transparent" drückt genau die Bedeutungsnuance dieser Bedingung aus - der Therapeut macht sich selbst dem Klienten gegenüber transparent. Der Klient ist somit in der Lage, genau zu erkennen, was der Therapeut in der Beziehung ist. Der Klient erfährt keinerlei Zurückhaltung seitens des Therapeuten. Was den Therapeuten betrifft, ist alles, was er erlebt, seinem Bewußtsein zugänglich; es kann in der Beziehung gelebt werden und geeignetenfalls vermittelt werden. Demnach herrscht eine Übereinstimmung oder Kongruenz zwischen dem, was der Therapeut im Inneren empfindet, dem, was ihm bewußt ist, und dem, was er dem Klienten gegenüber zum Ausdruck bringt. Die zweite bedeutende Haltung zur Schaffung einer Atmosphäre, die einen Wandel der Persönlichkeit begünstigt, ist die der Anerkennung, der Anteilnahme oder der Wertschätzung, Achtung - eine bedingungslose und positive Zuwendung. Das bedeutet, daß therapeutischer Wandel oder Fortschritt wahrscheinlich ist, wenn der Therapeut eine positive, akzeptierende Haltung gegenüber dem empfindet, was der Klient in diesem Augenblick ist. Das schließt die Bereitschaft des Therapeuten mit ein, dem Klienten gegenüber das zu sein, was immer an unmittelbarem Gefühl in ihm vorgeht - Verwirrung, Ärger, Angst, Zorn, Mut, Liebe oder Stolz. Es handelt sich dabei um eine nicht besitzergreifende Anteilnahme. Der Therapeut zeigt dem Klienten seine bedingungslose Wertschätzung. Der dritte Aspekt, der die Beziehung fördert, ist emphatisches Verstehen. Das bedeutet, daß der Therapeut genau jene Gefühle und persönlichen Bedeutungszusammenhänge aufspürt, die der Klient gerade erfährt, und dieses Verstehen dem Klienten mitteilt. Im günstigsten Falle ist dann der Therapeut so sehr eins mit der privaten Welt des anderen, daß er nicht nur die Bedeutungszusammenhänge, deren sich der Klient bewußt ist, klären kann, sondern sogar solche, die gerade unterhalb der Bewußtseinsgrenze liegen. Diese Art des einfühlenden, aktiven Zuhörens ist höchst selten in unserem Leben. Wir glauben zuzuhören, aber tatsächlich hören wir äußerst selten mit echtem Verständnis und wahrer Einfühlung zu. Doch das Zuhören auf diese ganz spezielle Art ist eine der wirksamsten Kräfte, die ich kenne, die einen Wandel herbeiführen können. Wie kann die Atmosphäre, die ich gerade beschrieben habe, einen Wandel herbeiführen? Kurz gesagt, da die gesamte Person anerkannt und geachtet wird, neigt sie dazu, sich selbst mehr und mehr zu mögen. Durch die einfühlende Aufmerksamkeit ihr gegenüber wird es für sie möglich, dem Ablauf ihrer eige-
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nen inneren Erfahrungen genauer zuzuhören. Und in diesem Maße, in dem die
Person sich selbst versteht und achtet, erfolgt eine Entwicklung ihres Selbst, das
mehr mit dem Erlebten in Einklang steht. Die Person wird dadurch wahrhafti
ger und zugleich echter. Diese Tendenzen, die den Einstellungen des Thera
peuten entsprechen, bedeuten, daß die Person für sich selbst ein erfolgreicherer
Förderer ihrer Entwicklung wird. Es entsteht so eine größere Freiheit, jene Per
son zu sein, die sie in ihrem Innersten ist (ROGERS, 1962).
2. Die Forschung
Es gibt eine ständig steigende Zahl von Forschungsergebnissen, die im großen
und ganzen die Ansicht unterstützen, daß sich tatsächlich ein Wandel in bezug
auf Persönlichkeit und Verhaltensweise vollzieht, wenn diese fördernden
Umstände gegeben sind. Derlei Forschung ist von 1949 bis zum heutigen Tage
durchgeführt worden. Es wurden Studien über Psychotherapie mit gestörten
Personen, mit Schizophrenie, über die Förderung schulischen Lernens und
über andere zwischenmenschliche Beziehungen angestellt. Ausgezeichnete und wenig bekannte Forschungstätigkeit ist in jüngster Zeit von AsPY, RoEBUCK und
anderen im Bereich der Erziehung (1972, 1976) betrieben worden sowie in Deutschland von TAUSCH und seinen Mitarbeitern auf vielen verschiedenen
Gebieten (Zusammenfassung 1978).
3. Ein gerichteter Prozeß
Praxis, Theorie und Forschung heben deutlich hervor, daß der gesamte perso
nenzentrierte Ansatz auf einem grundlegenden Vertrauen in den Organismus
beruht. Von vielen Wissensgebieten kommt Beweismaterial zur Unterstützung
einer noch tiefgreifenderen Behauptung. Man kann sagen, daß es in jedem
Organismus, auf welcher Ebene auch immer, eine zugrunde liegende Ausrich
tung auf eine konstruktive Erfüllung seiner innewohnenden Möglichkeiten
gibt. Auch im Menschen gibt es eine natürliche Tendenz, die auf eine komple
xere und vollständigere Entwicklung ausgerichtet ist. Die dafür am häufigsten
angewandte Bezeichnung ist "aktualisierende Tendenz". Sie findet sich in allen
lebenden Organismen.
Ob wir nun von einer Blume oder Eiche sprechen, von einem Regenwurm oder
einem schönen Vogel, von einem Affen oder einem Menschen, tun wir meiner
Meinung nach gut daran, zu erkennen, daß Leben ein aktiver und kein passiver
Prozeß ist. Ob nun der Stimulus von innen oder außen kommt, ob die Umge
bung vorteilhaft ist oder nicht, man kann sich darauf verlassen, daß die Verhal
tensweisen des Organismus immer auf die Erhaltung, Förderung und Repro
duktion seiner selbst ausgerichtet sind. Das ist die wahre Natur jenes Vorgan-
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ges, den wir Leben nennen. Diese Tendenz ist immer wirksam. Tatsächlich ist
es nur die An- oder Abwesenheit dieses völlig gerichteten Prozesses, die uns die
Beurteilung ermöglicht, ob ein bestimmter Organismus lebendig oder tot ist.
Die aktualisierende Tendenz kann natürlich durchkreuzt oder verfälscht wer
den; man kann sie jedoch nicht zerstören, ohne den Organismus selbst zu zer
stören. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit, daß der Kartoffelbehälter, in
dem wir unseren Winterbedarf an Kartoffeln eingelagert hatten, im Keller etli
che Fuß unter dem Kellerfenster stand. Obwohl die Bedingungen ungünstig
waren, begannen die Kartoffeln immer zu treiben - helle, weiße Keimlinge, so
ganz anders als die gesunden, grünen Triebe, die sie entwickelten, wenn man sie
im Frühjahr in die Erde pflanzte. Aber diese kläglichen, dünnen Triebe wurden
immer zwei bis drei Fuß lang, bis sie an das ferne Licht vom Fenster heranrei
chen konnten. In ihrem bizarren, vergeblichen Wachsen waren sie eine Art ver
zweifelten Ausdrucks dieser gerichteten Tendenz, die ich gerade zu beschreiben
suche. Aus ihnen wurde niemals eine Pflanze, niemals reiften sie heran, niemals
konnten sie ihre wirkliche Entfaltungsmöglichkeit erfüllen. Doch sogar unter
widrigsten Umständen strebten sie nach dem Werden. Das Leben gibt nie auf,
nicht einmal dann, wenn es keine Entfaltungsmöglichkeiten besitzt. Im
Umgang mit Klienten, deren Leben auf furchtbare Weise "verdreht" war, bei
meiner Arbeit mit Männern und Frauen auf den entlegensten Abteilungen der
staatlichen Kliniken habe ich oft an diese Kartoffeltriebe denken müssen. So
ungünstig waren die Bedingungen, unter denen sich diese Leute oft entwickel
ten, daß ihr Leben oft abnorm, verzerrt, kaum menschlich erschien. Trotzdem
kann man sich auf die gerichtete Tendenz in ihnen verlassen. Der Schlüssel
zum Verständnis für ihr Verhalten ist, daß sie - auf die ihnen möglich erscheinenden Arten - danach streben, sich auf Wachstum und Werden auszurich
ten. Mögen die Ergebnisse für uns auch eigenartig und unnütz erscheinen, so
stellen sie doch den verzweifelten Versuch dar, es selbst zu werden. Diese kraft
volle konstruktive Tendenz ist es, die dem personenzentrierten Ansatz zugrunde liegt.
4. Einige Beispiele zur Bekräftigung
Ich bin nicht der einzige, der solch eine aktualisierende Tendenz als die grund
legende Antwort ansieht auf die Frage, was einen Organismus )aufen" läßt.
GOLDSTEIN (1947), MASLow (1954), ANGYAL (1941, 1965), SzENT-GYOERGYI (1974)
und andere sind ähnlicher Ansicht und haben mein eigenes Denken beeinflußt.
Ich habe aufgezeigt, daß diese Tendenz eine Entwicklung in Richtung auf
Unterscheidung von Organen und Funktionen einschließt; sie beinhaltet Steigerung durch Reproduktion. SzENT-GYOERGYI meint, er könne die Geheimnisse
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der biologischen Entwicklung nicht erklären, "ohne in der lebenden Materie eine angeborene Triebkraft, sich selbst zu vervollkommnen, vorauszusetzen" (a. a. 0., S. 17). Der Organismus bewegt sich im Normalzustand auf seine eigene Verwirklichung und Selbstbestimmung sowie auf eine Unabhängigkeit von jeglicher äußeren Kontrolle zu. Aber läßt sich dieser Standpunkt mit Hilfe von weiterem Beweismaterial bekräftigen ;, Lassen Sie mich auf einige Beispiele aus der Biologie verweisen, welche den Begriff der aktualisierenden Tendenz unterstützen. Ein Beispiel, das sich in verschiedenen Formen wiederfindet, ist die Arbeit von DRISCH vor langer Zeit mit Seeigeln. Es gelang ihm, die zwei Zellen, die nach der ersten Teilung des befruchteten Eis gebildet werden, zu separieren. Hätte man ihnen gestattet, sich auf normale Weise zu entwickeln, wäre klarerweise jede von diesen beiden Zellen zum Bestandteil einer Seeigellarve geworden, wobei das Zusammenwirken beider Teile zur Schaffung eines vollständigen Lebewesens benötigt würde. So scheint es gleichfalls offensichtlich, daß bei geschickter Trennung zweier Zellen jede einzelne, wenn sie wächst, sich einfach zu irgendeinem Teil von einem Seeigel entwickeln wird. Dies bedeutet jedoch, die gerichtete und aktualisierende Tendenz zu übersehen, die für jedes organische Wachstum charakteristisch ist. Man hat herausgefunden, daß jede der beiden Zellen, wenn sie am
Leben erhalten werden kann, sich dann in eine komplette Seeigellarve entwikkelt, die zwar ein wenig kleiner als gewöhnlich, jedoch normal und vollständig ist. Ich bin mir bewußt, daß ich dieses Beispiel verwende, weil es so direkt analog zu meiner Erfahrung im Umgang mit Individuen in einer therapeutischen Beziehung, zu meinen Erfahrungen hinsichtlich der Förderung von Intensivgruppen und der Schaffung von "Lernfreiheit" für Studenten im Unterricht ist. In bezug auf den einzelnen Menschen scheint in diesen Situationen die beeindruckendste Tatsache jene seiner gerichteten Tendenz zu sein, die auf Ganzheit und Aktualisierung seiner Möglichkeiten ausgerichtet ist. Niemals habe ich Psychotherapie oder Gruppenerfahrung als erfolgreich betrachtet, wenn ich versuchte, in einem anderen Individuum etwas hervorzurufen, was nicht in ihm
vorhanden ist. Ich bin jedoch draufgekommen, daß diese positive gerichtete Tendenz konstruktive Ergebnisse mit sich bringt, wenn ich die Bedingungen schaffen kann, die für das Wachstum maßgeblich sind. Der Wissenschaftler mit dem geteilten Seeigelei befindet sich in derselben Situation. Er kann die Zelle nicht dazu bringen, sich auf die eine oder andere Art zu entwickeln; wenn er jedoch sein Können auf die Schaffung von Bedingungen richtet, die der Zelle gestatten, zu überleben und zu wachsen, dann werden die Wachstumstendenz und die Richtung des Wachstums offenbar werden und vom Inneren des
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Organismus ausgehen. Mir fällt keine bessere Analogie in Hinblick auf Therapie und Gruppenerfahrung ein, wo bei der Schaffung eines "psychologischen Fruchtwassers" eine konstruktive Vorwärtsbewegung eintritt. Ich möchte noch gerne eine Bemerkung zur Verdeutlichung anfügen. Manchmal spricht man von dieser Wachstumstendenz, als ob sie die Entwicklung aller Möglichkeiten eines Organismus beinhalte. Das trifft natürlich nicht zu. Der Organismus neigt weder dazu, wie jemand dargelegt hat, sein Vermögen zur Übelkeit zu vergrößern, noch verwirklicht er sein Potential zur Selbstzerstörung noch seine Fähigkeit, Schmerz zu ertragen. Nur unter ungewöhnlichen oder verkehrten Umständen werden diese Fähigkeiten aktualisiert. Es ist offensichtlich, daß die aktualisierende Tendenz selektiv und gerichtet wirkt. Es handelt sich also, wenn Sie wollen, um eine konstruktive Tendenz.
5. Bekräftigung durch moderne Theorie und Erfahrung
PENTONY (unveröffentlichte Arbeit 1978) betont nachdrücklich, daß jene, die diese Ansicht von einer aktualisierenden Tendenz begünstigen, "nicht dadurch eingeschränkt sein müssen, daß sie glauben, mit der modernen Wissenschaft oder mit Wissenstheorien in Konflikt zu stehen" (S. 20). Er beschreibt die unterschiedlichen neueren Erkenntnistheorien, besonders jene von MuRAYAMA (1977). Es besteht nun die theoretische Annahme, daß der "genetische Code" nicht alle Informationen enthält, die zur Bestimmung eines reifen Organismus nötig sind. Statt dessen enthält er eine Reihe von Gesetzen, die die Wechselwirkung der sich teilenden Zellen regeln. Es wird viel weniger Information dazu benötigt, diese Gesetze zu verschlüsseln, als dazu, jedes Stadium der reifenden Entwicklung zu steuern. "Demnach kann Information innerhalb des Organismus-Systems erzeugt werden - Information kann wachsen" (S. 9, _Hervorhebungen von mir). Daher folgen DRISCHS Seeigelzellen zweifelsohne den verschlüsselten Gesetzen und sind folglich in der Lage, sich in origineller und nicht in vorher oder streng festgelegter Weise zu entwickeln. All das steht in starkem Widerspruch zu der geläufigen (und möglicherweise überholten) Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften, die daran festhält, daß jeder "Ursache" eine eindeutig festgelegte "Wirkung" folgt. MuRAYAMA und andere sehen das ganz anders: daß es da wechselseitige Beziehungen von Ursache und Wirkung gibt, die die Möglichkeiten für Abweichungen vergrößern und es neuer Information und neuen Formen ermöglichen, sich zu entwicklen. Diese "morphogenetische Erkenntnistheorie" scheint grundlegend für ein Verstehen aller lebenden Systeme zu sein, einschließlich solcher Wachstumsprozesse wie der Entwicklung eines Organismus. MuRAYAMA stellt fest, daß ein Verständnis der Biologie "in der Erkenntnis liegt, daß die biologischen Prozesse gegenseitig
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bedingt und nicht zufällig sind" (1977, S. 130). Andererseits, wie er anderswo
aufzeigt, geht ein Verständnis der Biologie nicht von einer Erkenntnistheorie
aus, die auf einseitigen Ursache-Wirkung-Systemen beruht. Demnach besteht
ein großer Bedarf, das Reiz-Reaktion-Ursache-Wirkungs-Schema, auf welchem
ein Großteil der Sozialwissenschaften beruht, zu überdenken.
Die Forschung auf dem Gebiet der sensorischen Deprivation zeigt, wie stark
die Tendenz des Organismus ist, seine Mannigfaltigkeit zu vergrößern und neue
Information und neue Formen zu schaffen. Sicherlich, Reduktion von Span
nung oder das Fehlen eines Reizes ist weit vom erwünschten Zustand des
Organismus entfernt. FREUD hätte gar nicht mehr irren können in seinem Postu
lat, daß .das Nervensystem ... ein Apparat ist, der sich selbst in einer gänzlich
reizlosen Situation aufrechterhalten würde, wenn es durchführbar wäre" (1953,
S. 63). Ganz im Gegenteil, bei Fehlen der äußeren Reize produziert der
menschliche Organismus eine Flut innerer Reize, die oft sehr außergewöhnli
cher Art sind. John LILLY (1972) war einer der ersten, der von seinen Erfahrun
gen berichten konnte, als er schwerelos in einem schalldichten Wassertank
hing. Er spricht von tranceähnlichen Zuständen, von mystischen Erfahrungen,
vom Gefühl, in Kommunikationsnetze eingeschaltet zu sein, die für das nor
male Bewußtsein nicht greifbar sind, von Erlebnissen, die nur als halluzinato
risch bezeichnet werden können. Es ist ganz klar, daß sich die Person einer
Welle des Erlebens öffnet, die meist über die des täglichen Lebens hinausgeht,
wenn sie ein absolutes Minimum an äußeren Reizen erhält. Das Individuum
verfällt nicht in eine Homoeostase, in ein passives Equilibrium. Das kommt nur
im kranken Organismus vor.
6. Eine zuverlässige Grundlage
Es erscheint mir daher von Bedeutung, festzustellen, daß die Grundlage jeder
Motivation das vom Organismus ausgehende Bestreben nach Erfüllung ist. Die
ses Bestreben kann sich selbst in einer ungeheuren Vielfalt von Verhaltensmu
stern und als Reaktion auf eine große Vielfalt von Bedürfnissen zeigen. Zwar
müssen gewisse Bedürfnisse fundamentaler Art zumindest teilweise befriedigt
werden, bevor andere dringlich werden. Folglich kann das Bestreben des Orga
nismus, sich selbst zu verwirklichen, in manchen Augenblicken zu der Suche
nach Nahrung oder sexueller Befriedigung führen, und doch, wenn diese
Bedürfnisse nicht überwältigend stark sind, werden sogar diese Befriedigungen
auf Weisen gesucht, die das Selbstwertgefühl eher heben als herabsetzen. Auch
Erfüllung anderer Art wird hinsichtlich der Wechselbeziehung mit der Umwelt
gesucht - das Bedürfnis, die Umwelt zu erforschen und Veränderungen her
vorzurufen, zu spielen, sich selbst zu erforschen - wenn dies als ein Weg zur
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reiferen Entwicklung angesehen wird - , all diese und viele andere Verhaltens
weisen sind im Grunde ein Ausdruck der aktualisierenden Tendenz.
Kurz, wir haben es mit einem Organismus zu tun, der immer auf der Suche ist,
immer wieder von vorne beginnt, immer in Bereitschaft ist. Es gibt eine zen
trale Energiequelle im menschlichen Organismus. Es handelt sich um eine
zuverlässige Wirkungsweise mehr des gesamten Systems als eines Teiles davon.
Sie wird vielleicht am einfachsten als ein Bestreben nach Erfüllung, nach
Aktualisierung aufgefaßt, das nicht nur die Erhaltung, sondern auch die Steige
rung des Organismus beinhaltet.
7. Ein umfassenderer Standpunkt: die formative Tendenz
Es gibt jedoch viele, die diesem Standpunkt kritisch begegnen. Für sie ist er zu
optimistisch, da er sich nicht in adäquater Weise mit dem negativen Element,
dem Bösen und der Schattenseite im Menschen auseinandersetzt.
Demnach würde ich diese gerichtete Tendenz gerne in einen weiteren Kontext
stellen. Dabei werde ich mich in großem Ausmaß auf die Arbeit und das Den
ken anderer beziehen, auf Wissensgebiete, die nicht meine eigenen sind. Ich
habe von vielen Wissenschaftlern gelernt, aber ich möchte meine besondere
Verpflichtung erwähnen gegenüber den Werken Albert SzENT-GYOERGYIS (1974),
einem Nobelpreisträger für Biologie, und Lancelot WHYTE (1974), einem Gei
steswissenschaftler.
Meine Hauptthese ist folgende: Es scheint eine formative Tendenz im Univer
sum wirksam zu sein, die auf jeder Ebene beobachtet werden kann. Diese Ten
denz hat weit weniger Aufmerksamkeit erfahren, als sie verdienen würde.
Die Wissenschaftler im Bereich der Physik haben sich bis jetzt vornehmlich auf
die Entropie konzentriert, das Bestreben nach Verfall. Sie wissen viel über diese
auf Unordnung ausgerichtete Tendenz. Durch die Beschäftigung mit geschlos
senen Systemen können sie dieser Tendenz eine klare mathematische Beschrei
bung geben. Sie wissen, daß Ordnung oder Organisation dazu tendiert, in
Unordnung zu zerfallen, wobei jedes Stadium eine geringere Organisation auf
weist als das vorhergehende.
Auch sind wir mit dem Verfall organischen Lebens vertraut. Das System - sei
es nun Pflanze, Tier oder Mensch - verfällt schließlich in einen niedrigeren
Grad funktionierender Organisation, in einen immer minderen Ordnungsgrad,
bis der Verfall einen Endpunkt erreicht hat. In gewissem Sinne ist es das, womit
sich ein Teil der Medizin beschäftigt - mit der Dysfunktion oder dem Verfall
eines Organs oder ganzen Organismus. Der komplexe Prozeß des Todes des
physischen Organismus wird immer besser verstanden. So weiß man ziemlich viel über die universelle Tendenz von Systemen auf allen
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Ebenen, in Richtung einer immer geringeren Ordnung und immer größeren Zufälligkeit auszuarten. Wenn sie wirksam wird, gibt es kein Zurück. Die Welt scheint eine große Maschine zu sein, die abläuft und sich abnützt. Es herrscht jedoch weit weniger Beachtung oder Betonung auf der noch wichtigeren formativen Tendenz, welche ebensogut auf jeder Ebene des Universums beobachtet werden kann. Schließlich geht jede Form, die wir sehen oder kennen, aus einer einfacheren, weniger komplexen Form hervor. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, welches zumindest gleichbedeutend ist wie die Entropie. Beispiele ließen sich von jeder Form des anorganischen oder organischen Lebens finden. Lassen Sie mich nur einige erläutern. _Es sieht so aus, als wäre jede Galaxie, jeder Stern und Planet, einschließlich des. 'unseren, von einem weniger organisierten Wirbelsturm von Teilchen geformt worden. Viele dieser Gestirne sind selbst formativ. Auf der Sonne stoßen Wasserstoffkerne zusammen, um Heliummoleküle viel komplexerer Natur zu bilden. Man nimmt an, daß auf anderen Sternen sogar schwerere Moleküle bei derartigen Wechselwirkungen entstehen. Wenn die einfachen Materialien in der Erdatmosphäre, die schon vorhanden waren, bevor Leben entstand - Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff in Form von Wasser und Ammoniak -, mit elektrischer Ladung oder Strahlung erfüllt sind, beginnen sich zuerst schwere Moleküle und dann Aminosäuren zu bilden. Wir scheinen nur einen Schritt von der Bildung von Viren und noch komplexeren Lebewesen entfernt zu sein. Es ist hier ein kreativer, nicht ein zersetzender Prozeß am Werk. Ein anderes faszinierendes Beispiel liefert uns die Bildung von Kristallen. In jedem Fall geht von einer weniger einheitlichen und symmetrischen fiüssigen Materie eine überraschend einheitliche, geordnete, symmetrische und oft schöne kristalline Form hervor. Ein jeder von uns hat schon die Vollkommenheit und Vielfalt einer Schneeflocke bestaunt. Und doch entsteht sie aus formlosem Dampf. Wenn wir eine einzelne lebende Zelle in Betracht ziehen, entdecken wir, daß sie oft noch komplexere Zellkolonien bildet wie in einem Korallenriff. Noch größere Ordnung tritt auf, wenn aus der Zelle ein Organismus wird, bestehend aus vielen Zellen mit spezialisierten Funktionen. Ich brauche wohl nicht den gesamten, schrittweisen Prozeß der organischen Evolution aufzuzeigen. Wir sind mit der ständig anwachsenden Komplexität der Organismen vertraut. Nicht immer gelingt es ihnen, mit der sich ändernden Umgebung fertig zu werden, aber das Bestreben nach Komplexität ist immer klar ersichtlich. Vielleicht wird für viele von uns der Prozeß der organischen Evolution am besten beim Betrachten der Entwicklung eines einzelnen befruchteten mensch-
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liehen Eis im Laufe der einfachsten Stadien der Zellteilung, dann des embryonalen Stadiums bis zum ungeheuer komplexen, hochorganisierten Menschenkind erkennbar. Wie Jonas SALK feststellte, gibt es eine augenscheinliche und wachsende Ordnung in der Evolution. Darum müssen wir, ohne dabei die Tendenz zum Verfall zu ignorieren, völlig das anerkennen, was SzENT-GYOERGYI als "Syntropie" bezeichnet und was WHYTE die "morphic tendency" nennt, das allzeit wirkende Bestreben nach gesteigerter Ordnung und nach wechselseitiger Komplexität, die sich sowohl auf der anorganischen als auch organischen Ebene erkennen läßt. Das Universum befindet sich immer in einem Zustand des Bauens und Schaffens sowie des Verfalls. Dieser Prozeß ist auch beim Menschen deutlich erkennbar.
8. Die Funktion des Bewußtseins
Welche Rolle spielt nun unser Bewußtsein bei dieser formativen Funktion? Ich glaube, daß das Bewußtsein einen kleinen, aber bedeutenden Platz einnimmt. Die Fähigkeit, bewußte Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, scheint eine der letzten evolutionären Errungenschaften unserer Spezies zu sein. Es ist ein kleiner Höhepunkt des Bewußtseins, die Spitze einer riesigen Pyramide unbewußter organismischer Funktionen. Vielleicht ist es eine bessere Analogie, die den ständigen Wechsel, der vor sich geht, besser kennzeichnet, das Funktionieren des Individuums mit einem großen, pyramidenähnlichen Springbrunnen zu vergleichen. Der oberste Punkt des Brunnens ist zeitweise vom flackernden Licht des Bewußtseins beleuchtet; der ständige Lebensstrom geht jedoch auch in der Dunkelheit vor sich, sowohl auf bewußte als auch unbewußte Weise. Es scheint, als bewege sich der menschliche Organismus noch immer auf eine vollkommenere Bewußtseinsentwicklung zu. Gerade auf dieser Ebene werden neue Formen, vielleicht sogar neue Möglichkeiten für die menschliche Spezies erschlossen. Gerade hier wird die wechselseitige Beziehung von Ursache und Wirkung am nachweislichsten erkennbar. Gerade hier wird eine Auswahl getroffen, werden spontane Formen geschaffen. Wir stehen hier vielleicht vor der höchsten menschlichen Funktion. Einige meiner Kollegen behaupteten, daß die Auswahl, die vom Organismus her getroffen wird - die nonverbale, unbewußte Wahl des Seins -, vom Evolutionsstrom gelenkt wird. Ich stimme zu und gehe einen Schritt weiter. Ich möchte darauf hinweisen, daß wir in der Psychotherapie etwas von den psychologischen Bedingungen gelernt haben, die äußerst günstig für eine Erweiterung dieser höchst wichtigen Selbsterkenntnis wirken. Im Zuge größerer Selbsterkenntnis wird eine informiertere Auswahl möglich, eine Auswahl, die frei von Introjektion ist, eine bewußte Auswahl, die umso mehr in Einklang mit dem
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Evolutionsstrom steht. Solch eine Person besitzt mehr Möglichkeiten, sich nicht nur der von außen auf sie eindringenden Reize, sondern auch ihrer Vorstellungen und Träume, der ablaufenden Gefühlsströmungen und der physiologischen Reaktionen, die sie in sich selbst verspürt, bewußt zu werden. Je stärker dieses Bewußtsein ist, umso sicherer wird sie in eine Richtung treiben, die in Einklang mit dem gerichteten Evolutionsstrom steht. Wenn eine Person auf solche Weise funktioniert, bedeutet dies jedoch nicht, daß es sich dabei um hemmendes Wissen um all das, was im Innersten vorgeht, handelt - wie beim Tausendfüßler, der in seiner Bewegung dadurch gehemmt wurde, daß er sich eines jeden seiner Beine bewußt wurde. Im Gegenteil, solch eine Person ist frei, sowohl ein Gefühl subjektiv zu erleben, als auch sich dessen bewußt zu sein. Sie kann Liebe erfahren oder Leid oder Angst und in diesen Erfahrungen subjektiv leben. Oder sie kann selbst von dieser Subjektivität Abstand nehmen und bewußt erkennen: "Ich habe Schmerzen", Jch habe Angst", "Ich liebe". Der entscheidende Punkt ist der, daß es keine Schranken und kein Gehemmtsein gäbe, die ein völliges Erleben dessen, was im Organismus präsent ist, verhindern könnten. Diese Person würde sich in Richtung Ganzheit, Interpretation und einheitliches Leben bewegen. Das Bewußtsein würde an dieser erweiterten, kreativen, formativen Tendenz teilhaben.
9. Geänderte Bewußtseinszustände
Aber einige führen uns weiter. Forscher wie die GROFS (1977) und John LILLY (197 3) führen uns über die normale Bewußtseinsebene hinaus. Ihre Studien scheinen zu offenbaren, daß in geänderten Bewußtseinszuständen die Personen das Gefühl haben, mit ihrem Evolutionsstrom in Berührung zu stehen und dessen Bedeutung zu erfassen. Sie erfahren ihn als etwas, was an eine transzendierende Einheitserfahrung heranreicht. Sie sehen das individuelle Selbst in einer Ära höherer Werte, besonders der Schönheit, des Einklangs und der Liebe, aufgelöst. Die Person fühlt sich eins mit dem Kosmos. Die nüchterne Forschung scheint die Erfahrung der Mystik von der Einheit mit dem Universum zu bestätigen. Bei mir findet sich dieser Gesichtspunkt auf Grund jüngster Erfahrungen bei der Arbeit mit den Klienten, besonders in der Gruppe, bestärkt. Ich habe schon weiter oben die Merkmale einer wachstumsfördernden Beziehung beschrieben, die von der Forschung untersucht und bekräftigt worden sind. Aber seit kurzem hat mein Standpunkt eine Ausdehnung auf ein weiteres Gebiet erfahren, das noch nicht empirisch erforscht werden konnte. Wenn ich in meiner Funktion als Gruppenfacilitator oder Therapeut in bester Verfassung bin, bemerke ich ein weiteres Merkmal. Wenn ich meinem inneren, intensiven Selbst am
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wirklichsten bin, wenn ich irgendwie in Berührung mit dem Unbekannten in mir bin, wenn ich vielleicht in einem etwas geänderten Bewußtseinszustand bin, dann finde ich, scheint alles, was ich tue, einen heilenden Effekt zu haben. Dann wirkt meine bloße Anwesenheit fördernd und hilfreich. Es gibt nichts, womit ich diese Erfahrung erzwingen kann; wenn ich jedoch in der Lage bin, mich zu entspannen und meinem transzendentalen Innersten nahe bin, dann kann ich mich in der Beziehung auf sonderbare und impulsive Weise verhalten - eine Weise, die ich rational nicht rechtfertigen kann, sie hat nichts mit meinen Denkprozessen zu tun. Aber diese sonderbaren Verhaltensweisen stellensich eigenartigerweise als richtig heraus. In diesen Augenblicken scheint es, alsob meine Seele die Seele des anderen berührt. Unsere Beziehung transzendiertsich selbst und ist Teil von irgend etwas Größerem geworden. Intensives Wachstum, Heilung und Energie sind gegenwärtig.Diese Art transzendenten Phänomens wird sicherlich von Zeit zu Zeit in denGruppen, mit denen ich gearbeitet habe, spürbar; es verändert dabei das Lebenmanches Beteiligten. Ein Workshop-Teilnehmer drückte dies sehr anschaulichaus: "Ich habe es als ein tiefes spirituelles Erlebnis empfunden. Ich fühlte dasEinssein der Seele in der Gemeinschaft. Wir atmeten zusammen, fühltenzusammen, sprachen sogar füreinander. Ich fühlte die Macht der ,Lebenskraft',die einen jeden von uns durchströmt - was man auch immer darunter verstehen mag. Ich fühlte ihre Gegenwart ohne die üblichen Schranken des ,Ichs' unddes ,Dus', es glich einer meditativen Erfahrung, wenn ich mich selbst als Mittelpunkt des Bewußtseins fühle und zugleich als ein Teil eines ausgedehnteren,universalen Bewußtseins. Und doch, trotz dieses außerordentlichen Gefühls desEinsseins, ist die Eigenständigkeit jeder einzelnen Person niemals deutlichergewahrt geblieben."Wie in der Beschreibung von geänderten Bewußtseinszuständen grenzt dieserBericht wieder an das Mystische. Es ist offenbar, daß unsere Erfahrungen dasTranszendente, das Unbeschreibbare, das Spirituelle mit einbeziehen. Ich binfast genötigt, anzunehmen, daß ich selbst, wie viele andere auch, die Wichtigkeit dieser mystischen, spirituellen Dimension unterschätzt habe.
10. Die Wissenschaft und das Mystische
Ich bin sicher, daß viele Leser, was diesen Punkt betrifft, geteilter Meinung mit mir sein werden. Sie werden sich fragen, was aus der Logik und der Nüchternheit der Wissenschaft geworden ist. Aber bevor sie sich endgültig von mir abwenden, möchte ich auf eine überraschende Unterstützung für solche Ansichten, die von höchst unerwarteter Stelle kommt, hinweisen. Fritjof CAPRA (1975), ein bekannter Physikwissenschaftler, hat gezeigt, wie die
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moderne Physik heute alle soliden Konzepte von unserer Welt außer dem von der Energie vollkommen abgeschafft hat. In einer zusammenfassenden Erklärung stellt er fest: "In der modernen Physik wird also das Universum als ein dynamisches, unzertrennbares Ganzes betrachtet, welches den Betrachter immer in essentieller Weise mit einschließt. Durch diese Erfahrung verlieren die herkömmlichen Auffassungen von Raum und Zeit, von isolierten Gegenständen, von Ursache und Wirkung ihre Bedeutung. Eine solche Erfahrung ähnelt jedoch sehr jener der fernöstlichen Mystiker." (A. a. 0., S. 81.) Er verweist dann in weiterer Folge auf erstaunliche Parallelen im Zen, im Taoismus, Buddhismus und anderen orientalischen Lehren. Seine eigene Überzeugung ist, daß Physik und fernöstlicher Mystizismus voneinander getrennte, aber einander ergänzende Wege zur gleichen Erkenntnis sind. Sie vervollständigen einander, indem sie ein besseres Verstehen unseres Universums gewährleisten. Neuerdings bietet das Werk von Ilya PRIGOGINE (Ferguson, 1979), einem Nobelpreisträger für Chemie, eine andere Perspektive an, die ebenso ein neues Licht auf das Gezeigte wirft. Bei dem Versuch, die grundlegende Frage zu beantworten, wie Ordnung und Komplexität aus dem Prozeß der Entropie hervorgehen können, legte er die Grundlagen zu einem ganz neuen theoretischen System. Er entwickelte mathematische Formeln und Beweise, welche veranschaulichen, daß die Welt der lebenden Natur eher auf Zerfall als auf Determinierung beruht. Sein Standpunkt läßt sich auf alle offenen Systeme anwenden, in denen ein Energieaustausch mit der Umwelt erfolgt. Das schließt offenbar auch den menschlichen Organismus mit ein. Kurz, je komplexer die Struktur - sei sie nun chemischer oder menschlicher Natur -, umso mehr Energie wendet sie auf, um jene Komplexität aufrechtzuerhalten. So benötigt beispielsweise das menschliche Gehirn mit nur zwei Prozent des Körpergewichts 20 Prozent des verfügbaren Sauerstoffs! Ein solches System ist unbeständig, ist anfällig für Schwankungen oder "Störungen", wie er sie nennt. In dem Maß, in dem diese Schwankungen zunehmen, finden sie bei den verschiedenen Verbindungen des Systems eine Erweiterung und treiben es so - ob es sich nun um eine chemische Zusammensetzung oder um ein menschliches Individuum handelt - in einen neuen, geänderten Zustand von größerer Ordnung und größerem Zusammenhang als vorher. Da dieser neue Zustand von noch größerer Komplexität ist, verfügt er über noch mehr Möglichkeiten, einen Wandel zu bewirken. Die Umwandlung eines Zustandes in einen anderen ist eine plötzliche Verschiebung, ein nicht-lineares Ereignis, bei dem viele Faktoren sofort aufeinander wirken. Für mich ist es von besonderem Interesse, daß sich das schon bei der Untersuchung von GENDLINS Begriff des "Experiencing" in der Psychotherapie gezeigt hat (GENDLIN, 1978). Wenn ein bisher unterdrücktes Gefühl voll und akzeptierend im Bewußtsein in der Beziehung erlebt wird, dann tritt nicht nur
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eine deutlich spürbare psychologische Veränderung, sondern ein gleichzeitiger physiologischer Wandel in dem Maße ein, in dem ein neuer Zustand der Erkenntnis erreicht wird (DoN, 1977 /78). PRIGOGINES Theorie scheint ein Licht auf Meditations- und Entspannungstechniken und geänderte Bewußtseinszustände zu werfen, in denen Schwankungen auf verschiedene Weisen vermehrt werden. Sie unterstreicht den Wert der vollen Erkenntnis und Ausdrucksmöglichkeit seiner Gefühle positiver und negativer Art und gestattet so die volle Störung des Systems. Er anerkennt die starke Ähnlichkeit zwischen seiner "Komplexitätswissenschaft" und den Einsichten fernöstlicher Weiser und Mystiker sowie den Philosophien WHITEHEADS und
BERGSONS. Sein Standpunkt deutet seiner Meinung nach auf "eine tiefe kollektive Vision" hin. Ziemlich überraschend betitelt sich sein Buch "Vom Sein zum Werden" - eine eigenartige Bezeichnung für einen Band, der von einem Chemiker und Philosophen stammt (PRIGOGINE, 1979). Seine Schlußfolgerung kann ganz kurz zusammengefaßt werden: Je komplexer ein System, umso größer seine Möglichkeit für Selbsttranszendenz: Seine einzelnen Teile tragen zu seiner Reorganisierung bei" (FERGUSON, 1979). Daher kommt von seiten der theoretischen Physik und Chemie einiges an Unterstützung, was Erfahrungen betrifft, die transzendent, unbeschreibbar, unerwartet oder veränderbar sind -die Art von Phänomenen, die wir beobachtet und für Begleiterscheinungen des personenzentrierten Ansatzes angesehen haben.
11. Eine Hypothese für die Zukunft
Mein Versuch, die verschiedenen Themen, die ich dargelegt habe, und einiges verfügbare Beweismaterial, das sie zu bestärken scheint, in Betracht zu ziehen, veranlaßt mich, eine Hypothese auf weitererBasis zu formulieren. Obwohl sie in meinem Denken noch sehr provisorischer Natur ist, will ich sie der Wahrheit halber in deutlichen Begriffen ausdrücken. Es besteht die Hypothese, daß es eine formativ gerichtete Tendenz im Universum gibt, die am Sternensystem, an Kristallen, an den Mikroorganismen, am organischen Leben und am Menschen aufgespürt und beobachtet werden kann. Es ist eine Evolutionstendenz auf eine größere Ordnung, größere Komplexität, größere wechselseitige Beziehung hin. Beim Menschen entwickelt sie sich von einer einzelnen Ursprungszelle zu einer komplexen organischen Funktionsweise, zu einem Wissen und Fühlen unterhalb der Bewußtseinsschwelle, zu einem bewußten Erkennen des Organismus und der äußeren Welt, zu einem transzendenten Bewußtsein des Einklanges und der Einheit im kosmischen System, einschließlich der Menschheit. Es scheint mir geradezu möglich, daß diese Hypothese eine Grundlage darstel-
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len könnte, auf der man eine Theorie einer humanistischen Psychologie aufzu
bauen beginnen könnte. Sie bildet zweifellos die Grundlage des personenzen
trierten Ansatzes.
12. Abschließende Zusammenfassung
Ich habe versucht darzulegen, daß wir bei unserer Arbeit an Einstellungen die
Fähigkeiten entdeckt haben, die nachweislich beim Freisetzen einer konstrukti
ven, auf Wachstum ausgerichteten Veränderung in der Persönlichkeit und im
Verhalten von Individuen wirksam werden. Personen entwickeln in einer
Umwelt mit solchen Einstellungen ein besseres Selbstverständnis, mehr Selbst
vertrauen, eine größere Fähigkeit, ihre Verhaltensweisen auszuwählen. Ihr Ler
nen ist von größerer Bedeutung, sie haben größere Freiheit, zu sein und zu wer
den.
Das Individuum in dieser fruchtbaren Atmosphäre hat die Freiheit, jede Rich
tung zu wählen, doch tatsächlich wählt es positive und konstruktive Wege. Die
aktualisierende Tendenz wird im Menschen als wirksam erfahren. Weiters ist es
äußerst ermutigend, zu erkennen, daß dies nicht nur eine Tendenz in lebenden
Systemen ist, sondern Teil einer starken formativen Tendenz, die das gesamte
Universum durchzieht und auf allen Ebenen sichtbar ist.
Daher schaffen wir eine psychologische Atmosphäre, die den Personen gestat
tet, zu sein - ob es sich nun um Klienten, Studenten, Arbeiter oder Personen
in einer Gruppe handelt -, wir sind nicht in ein zufälliges Ereignis verwickelt.
Wir erschließen eine Tendenz, die das gesamte organische Leben durchzieht,
eine Tendenz, all die Vielfalt zu werden, deren der Organismus fähig ist. Und
auf einer weiteren Stufe, glaube ich, tasten wir uns zu einer mächtigen kreativen
Tendenz vor, die unser Universum geschaffen hat, von der kleinsten Schnee
flocke bis zur größten Galaxie, von der primitiven Amöbe zu der empfindsam
sten und begabtesten Person. Und vielleicht berühren wir die Schneide unserer
Fähigkeit, uns selbst zu transzendieren, um neue und mehr spirituelle Richtun
gen der menschlichen Evolution hervorzubringen.
Diese Art von Formulierung ist es, die für mich die philosophische Grundlage
für einen personenzentrierten Ansatz darstellt. Sie berechtigt mich, mich einer
lebensbejahenden Daseinsweise zu verpflichten.
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Anmerkungen
1 The Foundations of the Person Centered Approach. Education No. 100/2, 1979, 98-107. Übersetzt von Alexandra Gräser und Peter F. Schmid.Vortrag, gehalten am 2. April 1981 an der Universität Wien, veranstaltet vom Institutfür Tiefenpsychologie und Psychotherapie der Universität Wien (Vorstand Prof. Dr.Hans Strotzka), 1090 Wien, Lazarettgasse 14, und der Arbeitsgemeinschaft Personenzentrierte Gesprächsführung, 1050 Wien, Castelligasse 5.
2 Ich beziehe mich in diesem Beitrag vorwiegend auf zwei frühere Artikel von mir, dieeine Reihe von Jahren auseinanderliegen. (Rogers, 1963, 1978.)